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# 1 E R F O L G S R E Z E P T E
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apointofview
#
1
EEditorial
PS: Sind Sie neugierig geworden, wünschen detailliertere Infor­
mationen oder möchten uns ein Feedback zur ersten Ausgabe
geben? Wir freuen uns auf Ihre Mail: ihr_partner@edb.gov.sg
Dr. An Wee Moo
Regional Director, Europe
Singapore Economic Development Board
Liebe Leserin, lieber Leser,
Singapur – das ist zweifellos eines der faszinierendsten und
inspirierendsten Fleckchen Erde. Hier treffen prosperierende
Geschäfts- und modernste Hightechwelten auf jahrtausende-
alte Traditionen. Trotz seiner eher überschaubaren Größe von
719 Quadratkilometern hinterlässt der Inselstadtstaat nicht nur
bei seinen jährlich mehr als 17 Millionen internationalen Gästen,
sondern ebenso auf der Weltbühne einen immer prägnanteren
Eindruck. Unter anderem wegen der vielfältigen wirtschaftlichen
Möglichkeiten, die sich hier bieten. Insbesondere auch für
deutsche Unternehmen. Vor Ihnen liegt die erste Ausgabe von
SingaPur, dem Magazin des Singapore Economic Development
Board (EDB) – prall gefüllt mit Perspektiven, Persönlich­keiten,
spannenden Unternehmensporträts und Lifestyle. Ein Magazin,
mit dem wir Ihnen Einblicke geben möchten, wie viel wirt­
schaftliches Potenzial in der Metropole als Tor nach Asien und
im prosperierenden Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN)
steckt. Gleichzeitig wollen wir aber auch die vielfältigen, bunten
und geheimnisvollen Seiten Singapurs beleuchten. In der
Pre­mierenausgabe berichten wir unter anderem über die Start-
up-Szene, beantworten die Frage, warum der deutsche Kultclub
Borussia Dortmund ausgerechnet hier sein erstes Auslands­-
büro eröffnet hat, und fragen in unserer Titelstory bei Erfolgs­
koch Tim Raue nach, warum die Stadt in seinem Leben eine ganz
besondere Rolle spielt.
Zum Thema Wirtschaftspotenzial: Aktuell gehen Experten davon
aus, dass die wichtigsten asiatischen Volkswirtschaften China,
Indien, Japan und ASEAN im Jahr 2017 um bis zu eine Billion
US-Dollar wachsen werden – trotz geopolitischer Veränderungen
und der Unwägbarkeiten der Weltwirtschaft. Auch langfristig be­
trachtet sind die Perspektiven der Region sehr vielversprechend.
Nicht zuletzt deshalb, weil die Länder immer besser miteinander
vernetzt sind. Gründe genug, warum viele deutsche Unternehmen
ihre Asien-Strategie derzeit überdenken. Denn um von diesen
Wachstumsmärkten profitieren zu können, müssen sie – inklusive
der „Mittelstands-Champions“ – hier adäquat vertreten sein.
Singapur hat sich diesbezüglich als idealer Partner für die Inter­
nationalisierungspläne gerade mittelständischer Unternehmen
bewährt. Auf der Basis von Vertrauen, Wissen, Talent, Lebens­
qualität und nicht zuletzt einer besonders unternehmensfreund­
lichen Politik formte sich neben einem weit gefächerten Dienst­
leistungsspektrum ein ausgesprochen vielseitiger Produktionssektor
heraus. Er machte im Jahr 2015 bereits 20 Prozent des BIP aus.
Angesichts der geringen Größe des Inselstaates mit seinen 5,5 Milli­o­
nen Einwohnern ist das erstaunlich und zugleich vielverspre­
chend. Das verstärkte Engagement hinsichtlich Forschung, Inno­
vation und Unternehmertum wird dazu beitragen, Singapur auf
die nächste Entwicklungsstufe zu heben.
Herzlichst
03Editorial
–
04Inhaltsverzeichnis
–
06BVB – Begeisterung überall
–
10News
–
12Smarte Nation Singapur
–
18Wie genau riecht eigentlich Erfolg? – Siemens/Evonik
–
22Talentschmiede Singapur – Nanyang Polytechnic
–
30Made in Germany – Rohde & Schwarz
–
34Gruß aus der Küche – Tim Raue
–
42Raus aus dem Labor, rein in die Welt – Fraunhofer
–
Inhalt
44Zahlen bitte
–
47Schwergewicht auf Samtpfoten – ASEAN-Region
–
50Years of the Dragon – Kenneth Thexeira
–
54Urbanisierung öffnet Marktchancen – Weidmüller
–
56Aus dem Dschungel in den Dschungel
–
58Gründen im Tigerstaat – Start-ups
–
64Schnappschuss – Formel 1
–
68Den nächsten Schritt wagen – Prof. Dr. Venohr
–
70Ausblick
–
71Impressum
–
BEGEISTERUNG
ÜBERALL
Seit mehr als zwei Jahren hat der BVB eine Repräsentanz in
Singapur – und ist damit bis heute ein Bundesliga-Pionier.
Was für Motive stecken hinter dem Südostasien-Engagement
des Kultclubs?
Gleich beim ersten Date mit seiner zukünftigen Frau spricht
Suresh Letchmanan Klartext: Fußball ist seine ganz große Leiden­
schaft und das wird sich auch niemals ändern! Wenn sie ihn haben
will, muss sie damit leben. 15 Jahre ist das inzwischen her – und
bislang ist der gebürtige Singapurer sich selbst treu ge­blie­ben.
Das allein ist natürlich noch nichts Ungewöhnliches. Dass sein
Herz heute vor allem für einen deutschen Fußballclub schlägt,
dagegen schon: Seit Herbst 2014 ist Letchmanan Leiter des ersten
Auslandsbüros des achtmaligen deutschen Meisters Borussia
Dortmund. Seine Hauptaufgaben, die er vom „Nordic European
Centre“ in Singapur aus vorantreiben muss: Kontakte zur Wirt­
schaft und zu den Medien des gesamten südostasiatischen Groß­
raums knüpfen und das BVB-Merchandising ausbauen. Die Be­
geisterung für Fußball war in der Region schon immer groß. Und
sie wächst weiter. Dass in den sogenannten Tigerstaaten viel Geld
zu verdienen ist, wissen britische Spitzenclubs bereits seit Jahr­
zehnten. Manchester United zum Beispiel spült die Vereinsprä­
senz in Südostasien jährlich mehr als 50 Millionen Euro in die
Kasse. Umso verwunderlicher, dass der deutsche Fußball diesen
lukrativen Markt bislang mehr oder weniger vernachlässigte.
Immerhin setzte der BVB 2014 endlich ein Signal und wagte den
Quantensprung gen Osten – als bislang einziger Verein der Bun­
desliga. „Wir spüren ein stark steigendes Interesse am BVB aus
Asien. Gerade in Südostasien liegt für uns ein Großteil der rele­
vanten Auslandsmärkte. Doch damit wir dort nachhaltig arbeiten
können, heißt das eben auch, permanent vor Ort zu sein“, sagte
BVB-Marketingdirektor Carsten Cramer kurz vor der Eröffnung
der Repräsentanz in Singapur. Zwei Jahre später fällt die erste
Zwischenbilanz durchweg positiv aus, wenngleich es natürlich
auch weiterhin viel zu tun gibt. Denn sich hier zu behaupten und
die Sichtbarkeit des Clubs spürbar zu verbessern, sei eine echte
Herausforderung, stellt Singapurs BVB-Mann Suresh Letchmanan
fest. „Schließlich stehen wir hier im Wettbewerb mit internatio­
nalen Topclubs wie Chelsea oder Liverpool“, sagt der 43-Jährige.
Die Begeisterung für deutschen Fußball besteht laut Letchmanan
seit Jahrzehnten. Bereits das Nationalteam von 1982 mit Legen­
den wie Hansi Müller oder Horst Hrubesch habe die ältere Gene­
ration nachhaltig beeinflusst. Doch warum fiel die Wahl für das
erste Auslandsbüro auf den Standort Singapur?
Welche Erfolge gibt es bereits zu verzeichnen und wie unterschei­
den sich eigentlich asiatische von europäischen Fans? „Singa­
Pur“ hat Suresh Letchmanan und Carsten Cramer zum Interview
getroffen.
6
V
Wann hat der Verein die steigende Begeisterung in Asien
erstmals bemerkt und deshalb über ein Büro in Singapur
nachgedacht?
Dass Deutschland die WM 2014 gewonnen hat, war sicherlich ein
entscheidender Trigger-Faktor. Im Team des Weltmeisters spielten
ja gleich fünf BVB-Spieler. Zudem war der asiatische Markt für
interna­tionale Clubs in den vergangenen zehn Jahren auffällig
stark gewachsen, Gleiches gilt für das Bewusstsein dafür, dass es
sich um einen finanziell attraktiven Markt handelt.
Gab es in Asien schon immer eine Faszination für Fußball?
Auf jeden Fall! Dieser Sport war bei uns schon immer ein Phäno­
men. Fast jeder spielt hier hobbymäßig selbst Fußball. Die Fas­
zination und Begeisterung ist überall spürbar. Und der deutsche
Fußball reißt die Menschen hier bereits seit vielen Jahrzehnten
mit. Legenden wie Hansi Müller oder Horst Hrubesch haben be­
reits die ältere Generation fasziniert und beeinflusst.
Wie unterscheiden sich asiatische BVB-Fans von den
euro­päischen?
Sie sind nicht so ungehemmt wie ihre Pendants in Europa oder
Deutschland. Die Fans sind sicher leidenschaftlich – aber auf
eine leisere und konservativere Art. Sie haben sich mehr unter
Kontrolle, was mit der Kultur und Mentalität zu begründen ist.
Was sehr auffällt: Die Loyalität zu einer Stadt oder generell zu
einem Verein ist nicht so ausgeprägt. Die Menschen begeistern
sich hier viel eher für bestimmte Einzelspieler als für ein ganzes
Team. Es sind vor allem die Superstars, die hier die größte Be­
geisterung auslösen.
Welche Fan-Accessoires laufen in Singapur ganz
besonders gut?
An erster Stelle steht natürlich das BVB-Trikot, wobei die Fans
hier mehr auf das Poloshirt stehen. Man kann es nicht nur im
Fußball­stadion, sondern auch im Kino oder im Restaurant anzie­
hen. Sehr gut laufen auch die BVB-Fancaps.
Die Bilanz der Asienreise des BVB im Juli 2016 fiel positiv
aus. Was ist Ihnen persönlich in besonders guter Erinne-
rung geblieben?
Der Enthusiasmus der Fans war einfach unglaublich. Wir hatten
entschieden, dass alle Spieler am Flughafen durch den Hauptaus­
gang und nicht durch eine VIP-Alternative gehen – mit der Folge,
dass sie dort von mehr als 500 Fans in Empfang genommen wur­
den. Weibliche Fans kreischten vor Begeisterung, die Stimmung
war der Wahnsinn. Viele Fans folgten dem Mannschaftsbus bis
zum Hotel und harrten dort teilweise Tag und Nacht aus.
Wie sehr geht es auch auf das Konto von Spielern wie Park
Joo-ho oder Shinji Kagawa, dass der BVB in Asien so
populär ist?
Das ist sicher einer der wichtigsten Faktoren. Vor allem Kagawas
Erfolg begeistert im südostasiatischen Raum besonders viele und
motiviert junge aufstrebende Talente, ebenfalls eine Profikarriere
anzustreben. In Japan, Südkorea oder China sind die beiden um­
schwärmt wie Popstars. Aber Gleiches gilt genauso für Marco
Reus, Sven Bender und viele andere Spieler des BVB.
Suresh
Letchmanan
7
Wie lange rauchten im Vorfeld die Köpfe, bis die Eröffnung
des Singapur-Büros beschlossene Sache war?
Wir sind da ziemlich analytisch vorgegangen und haben diverse
Parameter angeschaut: Welche Regionen boomen besonders? In
welchen asiatischen Ländern findet Bundesliga-Fußball über­
haupt statt und wo wird Fußball „made in Germany“ besonders
wertgeschätzt? Und eine weitere wichtige Frage war für uns:
Wie setzen wir die Internationalisierung unseres Vereins am
besten um?
Gab es eine Initialzündung?
Das war sicher auch die Rückkehr von Shinji Kagawa zum BVB
Ende August 2014. Mit ihm hatten wir wieder ein Gesicht für eine
Region, die ich jetzt mal weitläufig als Asien bezeichnen würde.
Ein Spieler wie Kagawa stellt im asiatischen Raum natür-
lich einen besonderen Joker dar …
Man merkt tatsächlich deutlich, dass die Identifikation der Men­
schen in dieser Region mit einem asiatischen Gesicht sehr groß
ist und dass sich dadurch auch Türen öffnen. Dass Spieler wie
Marco Reus bei einer Asienreise des BVB ebenfalls Riesenhigh­
lights für die Fans darstellen, versteht sich aber von selbst.
Welcher Fußballmarkt Asiens ist der in Ihren Augen am
meisten entwickelte?
Auf jeden Fall Japan. Von dort kommen die meisten asiatischen
Spieler, die international eine teilweise beachtliche Rolle spielen,
es gibt eine professionelle Ligastruktur und Fußball ist eine
Sportart, die sich dort am stärksten nach europäischem Vorbild
entwickelt.
Wie erklären Sie sich die wachsende Begeisterung asiati-
scher Fans für den BVB?
Gerade im Fußball genießt „made in Germany“ einen extrem
guten Ruf. Davon profitieren wir natürlich auch.
Wieso fiel die Standortwahl für das Marketingbüro auf
Singapur?
Zum einen haben wir hier einen der wichtigsten Finanz- und
Wirtschaftsmärkte der Region. Singapur ist ein Schmelztiegel.
Hier kommt die Welt zusammen, trifft Osten auf Westen und es
leben verschiedene Kulturen und Religionen friedlich und in
politisch stabilen Verhältnissen miteinander. Zum anderen ist
da die perfekte Lage und Schlüsselstellung als Plattform für den
übrigen Markt. Von Singapur aus kommst du schnell nach Süd­
ostasien, Nordasien, Japan oder auch Australien. Der Stadtstaat
ist ein relativ neutraler Standort, von dem aus es sich wunderbar
strategisch arbeiten lässt.
Welche Zwischenbilanz ziehen Sie nach zwei Jahren?
Wir sind sehr glücklich über erste Erfolge, etwa die direkte An­
bindung an unseren Hauptsponsor Evonik, in dessen Singapur-
Dependance wir unser Büro haben, und an unseren Ausrüster
Puma. Beide Partner treffen von Singapur aus sehr viele gute
strategische Entscheidungen. Außerdem haben wir mit Suresh
Letchmanan einen super Kollegen gefunden, der uns mit echtem
Know-how im asiatischen Fußball bereichert und zudem ein
Singapurer ist. Das kommt bei unseren Partnern im südostasia­
tischen Raum bestens an.
Haben Sie Beispiele für die ersten Erfolge?
Abgesehen davon, dass die Sichtbarkeit in der Region deutlich
zugenommen hat, konnten wir in Thailand, Malaysia, Singapur,
China und der Mongolei Kooperationspartner gewinnen; in Thai­
land gleich zwei. In diesen Ländern hat der Markt ein ganz be­
sonders großes Potenzial. Das Praktische ist: Wir kommen über­
all schnell hin. Deshalb haben wir uns ja auch für Singapur
entschieden. Weil die Stadt logistisch einfach eine extrem attrak­
tive Lage hat – und natürlich auch deshalb, weil sie absolut fas­
zinierend und spannend ist.
Carsten
Cramer
8
Tanjong Pagar Road: mit dem Taxi auf dem Weg zum Marina Bay Sands Hotel
In jeder Ausgabe des SingaPur-Magazins zeigt uns ein Fotograf seinen Blick auf die Stadt.
Marco Seifet fängt mit seiner Kamera Singapur als „die Stadt der Farben“ ein.
M Y P O I N T O F V I E W
Es ist der erste globale Feldversuch seiner Art: In Singapurs Uni-
viertel One-North befindet sich derzeit ein vier Quadratkilometer
großes Testgebiet für selbstfahrende und selbstlenkende Taxis.
Fahrgäste können die derzeit im Einsatz befindlichen sechs
Autos per Smartphone-App anfordern. Verantwortlich für die
Hightechpremiere ist das US-Start-up-Unternehmen nuTonomy,
das nach der Testphase bis 2018 die Robo-Taxis im gesamten
Stadtstaat auf die Straßen bringen möchte. „Singapur hat unsere
Forschungen von Anfang an unterstützt und auch einen Teil zur
Finanzierung beigetragen. Außerdem waren für uns die Topinfra-
struktur und der gute Zustand der Straßen wichtige Argumente,
unsere Fahrzeuge gerade hier zu testen“, sagt Chief Operating
Officer Doug Parker. Auch wenn der Fahrer fehlt – ganz allein ist
man derzeit noch nicht im Taxi; während der Testphase befindet
sich stets ein Nutonomy-Mitarbeiter mit an Bord, der im Notfall
eingreifen kann.
Weltpremiere
Mit seinen innovativen Produkten für kardiologische Medizin­
technik zählt Biotronik seit Jahren zu den weltweiten Marktfüh-
rern. Jetzt hat das Berliner Unternehmen sein globales Produk­
tionsnetzwerk um einen weiteren hochkarätigen Standort erweitert:
So verfügt das im Herbst in Singapur neu eröffnete Werk unter
anderem über einen 1.500 Quadratmeter großen Reinraum der
ISO-Klasse 7. Für den globalen Markt produziert werden sollen
vor allem innovative Produkte aus den Geschäftsbereichen
Defibrillatoren und Herzrhythmustherapie. „Die hoch qualifizier-
ten Arbeitskräfte, die hervorragende Infrastruktur vor Ort und
das gute Geschäftsumfeld machen Singapur zu einem idealen
Standort für Biotronik“, sagt Geschäftsführer Erik Trip. Das neue
Werk schafft rund 200 neue Arbeitsplätze für Fachkräfte und
Spezialisten im Bereich Forschung und Entwicklung. Biotronik
plant, in den kommenden Jahren weitere 20 Millionen Euro in das
Singapur-Werk zu investieren.
Standort-Jackpot
n e
10
Damit in Zukunft auch mittelständische Unternehmen vermehrt
in der Lage sein werden, modernste Robotertechnologie in ihre
Produktionsprozesse zu integrieren, gibt Singapurs Regierung
zusätzliche Budgets frei: Das 2015 ins Leben gerufene National
Robotics Programme erhält in den kommenden drei Jahren wei­
tere Finanzspritzen von insgesamt rund 296 Millionen Euro. Die
Initiative unterstreicht Singapurs Anspruch, die Automatisierung
zu einem Schwerpunkt des wirtschaftlichen Transformationspro-
zesses zu machen. „Wir möchten Wege finden, dass der Mittel-
stand auch in der Lage ist, die neuen Technologien anzuwenden“,
sagt S. Iswaran, Singapurs Minister für Handel und Industrie.
Robotertechnologien würden viele neue Möglichkeiten bieten
und die Produktivität erhöhen. „Auch wenn dadurch bestimmte
Jobs in Zukunft zunehmend verschwinden, entstehen gleichzeitig
viele neue“, sagt Iswaran. Umschulungs- und Weiterbildungs-
maßnahmen werden zudem ein wichtiger Teil des Restrukturie-
rungsprogramms sein.
Roboter für alle
Dass Singapur zu den weltweiten Vorreitern in Sachen Innova­
tion, Forschung und neue Technologien zählt, ist seit Langem
bekannt. Einen besonders eindrucksvollen Beleg dafür, was für
eine tragende Rolle Forschung und Entwicklung im Stadtstaat
tatsächlich spielt, liefern die Budgetplanungen für die kommen-
den fünf Jahre: 17,3 Milliarden Euro wird die Regierung für RIE
2020 (Research, Innovation and Enterprise) bis 2020 zur Verfü-
gung stellen. Das sind nicht nur 18 Prozent mehr als zwischen
den Jahren 2011 und 2015, in denen 14,5 Milliarden Euro investiert
wurden, sondern ist die bislang höchste Summe überhaupt.
Generell verfügt Singapur über eine sehr gute Infrastruktur für
Aktivitäten in der Forschung und Entwicklung: Wissenschaft
und Wirtschaft führt ein Cluster von mehreren Industrieparks
im Stadtteil One-North zusammen. Dort befinden sich auch eine
staatliche Universität, ein Universitätsklinikum, die Fachhoch-
schule für Polytechnik sowie der Park für angewandte Forschung
Singapore Science Park.
Rekordsumme
w s
Singapur will global die erste
„Smarte Nation“ werden. Was
bedeutet das – und wie können
deutsche Unternehmen davon
profitieren?
SMARTE NATION
SINGAPUR –
NACHHALTIGES
LEBEN
IN EINER
VERNETZTEN
WELT
12
„Singapur ist ein kleines Land“, betont
Goh Chee Kiong, Executive Director Clean-
tech & Cities, Infrastructure & Industrial
Solutions des Singapore Economic Deve­-
l­opment Board (EDB). „Die beengten Ver-
hältnisse in Singapur machen es nötig,
intensiver über die Nutzung des vorhan­
denen knappen Raumes nachzudenken als
in anderen Metropolen.“ Denn der Insel-
stadtstaat kann sich – trotz zahlreicher
erfolgreicher Landgewinnungs­maßnah­
men in den vergangenen Jahren – nicht
mehr viel weiter meerseitig ausdehnen,
ohne in Grenzkonflikte zu geraten. Mit
einem Staatsgebiet von 710 Quadrat­kilo­
metern ist das Territorium etwas kleiner
als die Hansestadt Hamburg. Dafür leben
hier dreimal so viele Menschen: circa
5,5 Millionen. 2030 werden es Prognosen
zufolge mehr als sechs Millionen sein.
Damit die Lebensqualität nicht abnimmt,
sondern sogar noch verbessert wird, un-
ternehme Singapur gewaltige, langfristig
orientierte Anstrengungen, wie Goh sagt,
die alle Bereiche des gesellschaft­lichen
Miteinanders beträfen: von Verkehr und
Healthcare über Wohnen und Sicherheit
bis hin zu Umweltschutz und Infrastruktur.
13
Den Bürgern das Leben erleichtern
Als Schlagwort dafür hat sich internatio-
nal der Begriff „Smart City“ herausgebil-
det. Smart Citys sind gut funktionierende
Organismen, die auch für die nächsten
Generationen vital und lebenswert sind.
In den vergangenen Jahren haben mehrere
Städte auf der ganzen Welt sogenannte
Smart City Solutions umgesetzt, um ihren
Bürgern das Leben zu erleichtern. Dies
geschah – wie in der spanischen Vor­zeige-
stadt Santander – in erster Linie auf
Grundlage einer massiven Erhebung von
Daten. Hier geben beispielsweise Sensoren
an Verkehrsampeln und Überwachungs­
kameras Auskunft über die Situation auf
den Straßen und ermöglichen eine Opti-
mierung des Verkehrsflusses durch regu-
lierende Maßnahmen.
In der Vernetzung liegt die Kraft
Singapur ist aber schon wesentlich weiter.
Es geht hier nicht mehr nur um smarte
Einzelprojekte, sondern um das große
Ganze: Vor zwei Jahren hat Premierminister
Lee Hsien Loong deshalb einen neuen
Entwicklungsplan ausgerufen: „Smart
Nation“. Er sagte: „Es gibt viele Städte,
die ‚smart‘ sein wollen. Der Unterschied
zu uns ist: Singapur ist nicht nur Stadt,
sondern gleichzeitig auch ein Land. Das
bedeutet, wir können das Thema ganz-
heitlich und nicht nur aus der Sicht einer
Kommune angehen. Wir sind in der Lage,
sämtliche Ressourcen von Institutionen,
Bevölkerung und Unternehmen, die eine
Nation ausmachen, zu bündeln, um uns
voll auf die großen komplexen Probleme
zu konzentrieren, also auf all das, was für
uns, für die Menschen, von Bedeutung ist.
Es geht also nicht um berauschende High-
tech, sondern darum, unser Leben positiv
zu verändern.“
Nachhaltigkeit („Sustainability“) ist der
Schlüsselfaktor. Das Programm „Smart
Sustainable Nation“ nutzt konsequent das
Potenzial modernster Informations- und
Kommunikationstechnologie. Im Mittel-
punkt stehen laut Goh Big Data, Analyse-
technologien und vor allem Sensornetz-
werke. Zum einen wird die Datenerhebung
mit neuen Sensoren intensiviert. „Wir
haben mehr als 1.000 Sensoren in der gan-
zen Stadt verteilt, noch einmal so viele
werden in Kürze hinzukommen“, so Goh.
Zum anderen aber – und das ist das Ent-
scheidende – werden die gewonnenen
Daten künftig immer besser miteinander
vernetzt, indem sie durch Datensilos von
Regierungsämtern geleitet werden, die
vertikale Themen wie Umwelt, Sicherheit
oder Energie intelligent miteinander ver-
zahnen.
Mitwirkung der Bürger gefordert
Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Mitwir-
kung der Bürger bei der Erhebung und
Aktualisierung von Daten: Einwohner
von Singapur haben die Möglichkeit, die
Datenbanken, die mit den Orten verknüpft
sind, in denen sie wohnen oder sich
anderweitig aufhalten, selbst zu aktuali-
sieren. So können sie beispielsweise mit
ihrem Mobiltelefon defekte Beleuchtungs-
anlagen melden oder vor Verkehrsun­fäl­
len warnen. Das alles geschieht in Echt-
zeit und wird auf der 3-D-Karte des
Stadtstaates sichtbar gemacht. Goh: „Hier-
bei kommt Singapur zugute, dass wir mit
durchschnittlich mehr als einem Smart-
phone pro Einwohner wohl die höchste
Smartphone-Dichte der Welt haben.“
Auf der öffentlich zugänglichen „Smart
Nation Platform“ (SNP) werden Regierung,
Bürger, privater Sektor und Forschungs-
einrichtungen zusammengebracht. Bei die-
sem ganzheitlichen Ansatz ziehen alle an
einem Strang. Mithilfe der Daten aller Be-
teiligten lassen sich zielgenau neue Tech-
nologien exakt dort einsetzen, wo ihre
Wirkung am größten ist.
„Lebendiges Testlabor“
„Singapur ist wie ein lebendiges Testlabor
für Vorhaben, die hier bereits Realität sind,
während sie woanders bloße Zukunftsvisi-
onen sind“, betont Goh. So wurden zum
Beispiel in Singapur schon die ersten Ver-
suche selbstfahrender Taxis unternom-
men. Außerdem unterstützt der Stadtstaat
Forschungen rund um das autonome Fah-
ren und ermöglichte etwa dem Unterneh-
men nuTonomy, in einem 2,5 Quadrat­
kilometer großen Geschäftsviertel Tests
durchzuführen. Infrastruktur, Wetter und
Straßenverhältnisse sind ideal dafür.
Unternehmen können laut Goh im Schul-
terschluss mit der Regierung innovative
urbane Lösungen entwickeln und ver-
markten. „Sie können hier Tests in einer
sicheren und überwachten Umgebung
durchführen und bei Erfolg relativ prob-
lemlos damit an den Markt gehen“, so
Goh. Setzen sich die Lösungen dann in
Singapur durch – wie jüngst Wasserauf­
bereitungstechnologien oder Transport-
managementtools –, lassen sie sich oft
auch in andere asiatische Länder exportie­
ren und können dabei hohe Skalen­effekte
erzielen. Das heißt, die Kapazitäten wer-
den erhöht, ohne dass die Investitionskos-
ten entsprechend steigen, was wiederum
zur Folge hat, dass der Gewinn wächst.
„Vor allem solche skalierbaren Geschäfts-
ideen sind es, die staatlichen Behörden
am Herzen liegen“, sagt Goh.
Neues ausprobieren – Fehler zulassen
In der Regel werden Initiativen erst ein-
mal im kleinen Maßstab beziehungsweise
in kleinen Mengen erprobt und erst dann
ausgeweitet, wenn sie reif genug sind. Oft
ist dafür ein langer Atem nötig. So habe
laut Goh beispielsweise die nationale
Wasserbehörde in Singapur, das Public
Utilities Board, bislang schon ungefähr
150 Pilotprojekte für Wasseraufbereitungs-
technologien begleitet.
Andere vielversprechende Modelle werden
zunächst in begrenztem Rahmen getestet.
Das können smarte Systeme für die häus-
liche medizinische Pflege von älteren
Menschen in der Nachbarschaft sein oder
neu entwickelte Energieeffizienzmaßnah-
men, die dann zunächst in bestimmten
Stadtgebieten eingesetzt werden. Goh:
„Eine große Anziehungskraft auf Unter-
nehmen geht von unserem systematischen
Ansatz aus. Dieser ist: Neues ausprobieren,
Fehler zulassen, daraus lernen und den Test­
rahmen dann bis zur Marktreife schritt­
weise vergrößern.“ Auf diesem fruchtbaren
Boden gedeihen zukunftsweisende Ideen.
80 Prozent grüne Gebäude bis 2030
Eine Anwendung wird beispielsweise bei
der Reinhaltung der Gemeinschaftsan­
lagen in den HDB-Gebäuden (Housing and
Development Board) behilflich sein – den
staatlichen Wohnungen von Singapur,
die fast 80 Prozent des Immobilienbe-
stands ausmachen. Sie informiert in Echt-
zeit über den Umfang der Abfälle, die in
jedem Wohnblock, jeder Straße, jedem
Viertel entsorgt werden müssen. Ein wei-
teres Projekt, das Singapur beispielsweise
im Verkehrsbereich mit großer Dynamik
vorantreibt, ist die „Kilometer-Maut“:
Man zahlt nur für die tatsächlich gefahre-
ne Strecke. Im Umweltsektor wiederum ist
es unter anderem das Ziel, dass bis 2030
mindestens 80 Prozent aller Gebäude in
puncto Energieeffizienz als grüne Gebäude
zertifiziert werden.
14
GOH CHEE
KIONG –
EXECUTIVE
DIRECTOR
CLEANTECH
& CITIES
An all diesen Beispielen wird deutlich:
Die Anstrengungen, die Singapur unter-
nimmt, um seiner Rolle als „lebendiges
Testlabor“ gerecht zu werden, dienen so-
wohl dem Ziel, sich zu einer „smarten,
nachhaltigen und lebenswerten Nation“
zu entwickeln, als auch der Wirtschaft,
indem hier ganz neue Geschäftsfelder und
-möglichkeiten entstehen.
Smarte Industrie – klare Vorteile für
deutsche Unternehmen
Der Begriff „smart“ ist dabei keineswegs
nur auf grüne Technologien oder auf Um-
weltschutz beschränkt. Er steht auch für
die Automatisierung und Digitalisierung
industrieller Produktionen und Prozesse.
Industrie 4.0 (siehe Interview Lim Kok
Kiang), Big Data, Internet of Things – all
das eröffnet neue Perspektiven und be-
schleunigt die Entwicklung Singapurs zur
„Smart Nation“. Das hat viele deutsche
Unternehmen auf den Plan rufen. An vor-
derer Stelle stehen Spezialisten wie der
Industriekonzern Bosch, der Software­
hersteller SAP, der Filtersysteme-Anbieter
Mann+Hummel, der Sensorenentwickler
Pepperl+Fuchs oder der Technologieriese
Siemens, die in Singapur mit Niederlassun-
gen, regionalen Headquarters sowie For-
schungs- und Entwicklungszentren vertre-
ten sind. Die Vorteile liegen auf der Hand,
wie Goh sagt: „Erstens ist Singapur für sie
eine Modellstadt für Asien. Von hier aus
können sie sich ideal auf den Wachstums-
markt vorbereiten. Zweitens finden sie
eine Umgebung vor, in der sie ihre kreati-
ven Ideen direkt auf deren Anwendbarkeit
testen können. Drittens profitieren sie von
enormen Investitionen der Regierung in
die Forschung. Und viertens können sie
auf einen gigantischen Fundus an öffent-
lich zugänglichen Daten zurückgreifen,
der in dieser Komplexität auf der Welt ein-
zigartig ist.“
Zusammengenommen sorgen diese Gege-
benheiten nach den Worten Gohs für ein
gewaltiges Potenzial Singapurs, Lösungen
für Gegenwart und Zukunft zu entwickeln,
die weit über Südostasien hinaus relevant
sind und für veränderte Verhaltensweisen
im globalisierten Zeitalter stehen. Mit dem
Gesamtkonzept „Smart Nation“ will die
pulsierende Millionenmetropole zur nach-
haltigsten und lebenswertesten Stadt in
ganz Asien werden – ein Ziel, das in vie-
lerlei Hinsicht heute schon erreicht ist.
15
Industrie 4.0 – ursprünglich ein
deutscher Begriff für den aktuellen
Trend, IT-Technologien mit Produktions-
technologien zu verschmelzen, um
dadurch neue, innovative Produkte und
Leistungen zu ermöglichen – elektri-
siert seit geraumer Zeit die Wirtschaft.
Was ist so spannend daran?
Industrie 4.0 ist in der Tat eine deutsche
Wortschöpfung. Ähnliche Initiativen gibt
es allerdings in vielen Ländern. In den
Niederlanden beispielsweise besteht sie
unter der Bezeichnung „Smart Manufac­
turing“, zu Deutsch: „Intelligente Ferti-
gung“. Andere nennen sie „Digital Manu-
facturing“, wieder andere „Smart Factory“,
also „Intelligente Fabrik“. Die Chinesen
sprechen von „Made in China 2025“. Ver-
schiedene Länder, verschiedene Regio-
nen, verschiedene Unternehmen verwen-
den also unterschiedliche Begriffe. Sie
alle basieren auf der Grundidee, dass man
eine Reihe ausgereifter fortschrittlicher
Technologien so intelligent miteinander
verzahnt, dass Herstellungsprozesse kom-
plett anders laufen können als bisher be-
kannt. Und das macht es so spannend.
Welche fortschrittlichen Technologien
hat Singapur vor allem im Blick?
Auf der einen Seite interessieren uns
fortschrittliche Fertigungstechnologien,
prozessorientiert, wie 3-D-Druck oder
Robotertechnik. Auf der anderen Seite
Technologien, die digitaler Natur sind und
mit dem Begriff „Internet der Dinge“ ver-
bunden werden. Er bezeichnet die Verknüp-
fung physischer Objekte wie Maschinen,
Geräte, Autos oder Gebäude mit einer vir-
tuellen Repräsentation in einer internet-
ähnlichen Struktur. Prozessoren, Sensoren
und Netzwerktechnik, die in den Objekten
eingebettet sind, ermöglichen die Daten­
erfassung und den Datenaustausch – als
Grundlage für intelligente Automatismen
und optimierte Abläufe. Man kann sagen,
dass Ingenieurkunst und „IT“ immer stär-
ker zusammenwachsen und verschmel­zen.
Das wird die Fertigung revolutionieren.
Warum widmet sich gerade Singapur
so leidenschaftlich diesem Thema?
Ein Grund, warum wir davon so begeistert
sind, ist: Seit unserer Unabhängigkeit 1965
macht die herstellende Industrie einen
großen Teil unserer Wirtschaft aus. Sie trägt
in erheblichem Maß zu unserem Bruttoin-
landsprodukt bei und hat zahlreiche attrak-
tive Arbeits- und Aufstiegsmöglichkeiten
für die Menschen in Singapur geschaffen.
In vielen Bereichen sind wir in puncto
Technologie und Effizienz bereits spitze.
Die Industrie in Singapur hat eine kritische
Masse erreicht, sei es im Halbleitersegment,
in der Luft- und Raumfahrt oder im Erdöl-
und Chemiesektor. Das macht Singapur
wettbewerbsfähig und als Investitionsstand­
ort begehrt. Deutsche Firmen spielen hier-
„WIR BEOBACHTEN EINE
AUFREGENDE DYNAMIK“
LIM KOK
KIANG –
ASSISTANT
MANAGING
DIRECTOR
DES EDB
16
bei eine große Rolle, etliche von ihnen
sind schon seit langer Zeit hier, wie Siemens,
Evonik oder Infineon. Heute ist Singapur
für sie ein wichtiges strategisches Stand-
bein. Sie schätzen es, dass sie hier ein ide-
ales Umfeld vorfinden, um das Zukunfts­
projekt Industrie 4.0 in ihren Fabriken
und Werkstätten umsetzen und vorantreiben
zu können. Auch wir profitieren davon.
Deutsche Unternehmen sind starke Part-
ner für uns, nicht zuletzt weil sie im Inge-
nieurwesen und in der Fertigung führend
sind. Die Kooperation mit ihnen hilft uns
dabei, in der digitalen Herstellung Gel-
tung zu erlangen und an Industrie 4.0 zu
partizipieren. Es ist ein perfektes Zusam-
menspiel.
Der andere Grund, warum Singapur von
Industrie 4.0 begeistert ist: Die Initia­tive
ist geradezu existenziell für uns, weil
unsere Ressourcen nun mal knapp sind.
Humankapital, Land und Raum sind be-
grenzt. Industrie 4.0 versetzt Singapur in
die Lage, diese Verknappung in gewisser
Weise zu überwinden und dadurch auf
dem Gebiet der Fertigungsindustrie wett-
bewerbsfähig zu bleiben und sogar noch
zu wachsen. Deshalb gehen wir hier we-
sentlich offensiver vor als andere Länder,
indem wir Entwicklungen anstoßen und
Unternehmen dabei unterstützen, den
nächsten Schritt in diese Richtung zu wa-
gen. Tatsächlich beobachten wir eine auf-
regende Dynamik.
Singapur ist wirtschaftliche Dreh-
scheibe für ASEAN und Asien.
Wie wird sich diese Rolle angesichts
Industrie 4.0 verändern?
Es gibt einige unausweichliche Entwick-
lungen. Asien wird als Wirtschaftsraum
wachsen. Aber wir wissen auch, dass Asien
zersplittert ist. Einige würden sagen, dass
sogar China nicht homogen ist und gewis-
sermaßen aus mehreren Chinas besteht,
was etwa die Nachfragesituation und wei-
tere wirtschaftliche Rahmenbedingungen
betrifft. ASEAN wiederum besteht offen-
kundig aus zehn recht unterschiedlichen
Nationen. Es ist ein gigantischer Markt,
aber durch teils stark differierende Merk-
male und Eigenheiten gekennzeichnet.
Mit den Möglichkeiten, die Industrie 4.0
bietet, kann man den jeweiligen Märkten
und Marktbedürfnissen noch besser gerecht
werden als bislang – etwa durch datenge-
triebene Serviceleistungen und Lösungen,
aber auch durch Herstellungsverfahren,
die es erlauben, ohne ausufernde Kosten
maßgeschneidert zu produzieren. Die
Digitalisierung wird auch die Logistik be-
einflussen. Ich kann beispielsweise einen
3-D-Drucker, der Sportschuhe exakt nach
den Wünschen des jeweiligen Kunden
„druckt“, in China genau dort aufstellen,
wo die Nachfrage groß ist, und muss nicht
mehr aus Kostengründen umständlich in
einem anderen Land produzieren und
dann von dort anliefern lassen. Je nach
Industriezweig kann die digitale Fertigung
auf der einen Seite serielle Maßanferti-
gung und Dezentralisierung der Produk­
tion bedeuten, aber auf der anderen Seite
auch zur Zentralisierung des gesamten
Herstellungsprozesses an einem Standort
führen. Es kommt auf den Bedarf an und
das Produkt.
Ich denke, dass Singapur eine wichtige
Rolle für Unternehmen spielen wird, die
in diesem Bereich investieren wollen.
Wie gesagt ist die Fertigungsindustrie hier
zu Hause und wird gefördert. Unsere
Vision ist, dass alle Herstellungsbetriebe
in Singapur zu den besten am Markt ge­
hören – bezogen auf Technologie, Produk­
tivität und Effizienz. Darum entwickeln
wir kontinuierlich weiter, seien es Produkte,
Prozesse oder Lösungskonzepte, die in
der Region umsetzbar sind. Sollte sich ein
Unternehmen dazu entschließen, die Fer-
tigung zu dezentralisieren und in verschie-
dene Länder zu verlagern, dann empfiehlt
sich Singapur als geeigneter Sitz, von wo
aus alles gemanagt werden kann, nicht
zuletzt deshalb, weil hier geistiges Eigen-
tum und Echtzeitdaten sicher sind und
zuverlässig geschützt werden. Man mag
beispielsweise in jedem asiatischen Markt
3-D-Drucker installieren, um nah an den
Konsumenten zu produzieren. Allerdings
muss es eine Zentrale geben, von wo aus die
Produktion gesteuert und kontrolliert wird.
Dafür ist Singapur der ideale Standort.
DIE BEDEUTUNG
VON INDUSTRIE 4.0
FÜR SINGAPUR, ASIEN
UND DEUTSCHE
UNTERNEHMEN
17
W I E
G E N A U
R I E C H T 	 E I G E N T L I C H
	 E R F O L G
	?
Siemens und Evonik
öffnen gemeinsam neue Horizonte
für die industrielle Digitalisierung
18
Wer an der Zukunft arbeitet, möchte wissen, wer ihm dabei über
die Schulter schaut. Schon im Bus die erste Passkontrolle. Sind
auch alle Journalisten registriert? Dann die Schranke passieren,
aussteigen. Leibesvisitation, nochmals Identität feststellen,
Daten­vergleich. Wieder in den Bus zurück, erneut durchzählen,
weiter geht’s. Die kilometerlangen Straßen hinter der Absperrung
führen zu den Chemieanlagen internationaler Big Player wie
BASF, BP und LANXESS. Wo man hinsieht, verschlungene Rohre,
im Sonnenlicht aufblitzend. Arbeiter, denen die Hitze nichts aus-
zumachen scheint. Mehr als 100 Unternehmen der Spezialchemie
und petrochemischen Industrie tummeln sich auf Jurong Island
in Singapur.
Eldorado für die Chemieindustrie
Ehemals war dieser südliche Zipfel des Stadtstaates lediglich
eine Ansammlung von sieben kleinen, mückengeplagten Inseln,
die zusammen etwa zehn Quadratkilometer groß waren. Um Platz
zu schaffen, ließ die Regierung ab 1995 die Flächen dazwischen
mit Sand aufschütten. Mittlerweile erstreckt sich der Industrie-
park auf 32 Quadratkilometer und bildet den größten Chemie­
cluster in Südostasien. Weil Asien als Absatzmarkt für chemische
Erzeugnisse an Bedeutung gewinnt, drängen die Konzerne in die
Region. Eine Studie der Unternehmensberatung Roland Berger
kommt zu dem Ergebnis, dass bis 2035 der Anteil des asiatischen
Marktes am weltweiten Chemieumsatz auf 62 Prozent steigen wird.
Evonik erweitert Kapazitäten
Unser Ziel an diesem Tag: die Anlage für Öladditive des Essener
Spezialchemieunternehmens Evonik. Peter Meinshausen, Regio-
nal President Südostasien, Australien und Neuseeland, ist be­
eindruckt von der Infrastruktur auf Jurong Island, seiner idealen
geografischen Lage, der Verfügbarkeit von Rohstoffen und quali-
fizierten Arbeitskräften und nicht zuletzt der lokalen Unterstüt-
zung durch Singapurs Regierungsorganisationen wie die Behörde
für Wirtschaftsentwicklung, das Singapore Economic Development
Board (EDB). Wir steigen aus. Es weht uns ein süßer, beißender
Geruch entgegen. Es ist der Geruch des Erfolgs: Die steigende
Mobilität in Asien, der höhere Stellenwert von Ressourceneffizi-
enz und Kraftstoffeinsparung sowie die strengeren Vorgaben
von Emissionsgrenzwerten kurbeln die Nachfrage nach Hochleis-
tungsschmierstoffen an, wie Meinshausen berichtet. Deshalb
haben die Essener vor einem Jahr die Produktionskapazität der
2008 für zehn Millionen Euro errichteten Ölzusatzanlage erwei-
tert. Sie ist nun die größte innerhalb des weltweiten Evonik-
Netzes. Derzeit bedient Evonik die Mehrheit seiner Kunden aus
dem asiatischen Raum mit Produkten aus der Anlage in Singapur.
Auch ein Technology Center, das neue Anwendungen für Öladdi-
tivprodukte entwickelt und testet, hat seit 2014 hier seinen Sitz.
Rekordinvest für die Essener
Einige Hundert Meter weiter steht die bislang größte Investition
der Firmengeschichte von Evonik: die im November 2014 eröffnete,
rund 500 Millionen Euro teure Anlage zur Produktion von Me­
thionin. Das sind Aminosäuren, die zur Herstellung von Futter-
mitteln in der Tierernährung eingesetzt werden. Jahreskapazität:
150.000 Tonnen. Doch das reicht nicht. Anfang 2016 wurde der
Startschuss gegeben, um bis 2019 hier eine weitere Methionin-
Anlage zu errichten. Angeschlossen ist seit 2013 zudem ein Analy­
tikzentrum für Aminosäuren. Auch viele Marketing- und Vertriebs-
aktivitäten sowie die meisten internen Dienstleistungen für die
Region hat das Unternehmen in Singapur gebündelt. Evonik weist
keine separaten Finanzzahlen für Singapur aus. Dem Geschäfts-
bericht ist zu entnehmen, dass der Konzern im Asien-Pazifik-
Raum 2,84 Milliarden Euro Umsatz macht – ungefähr 21 Prozent
des Gesamtumsatzes. Mehr als 900 Mitarbeiter sind in Südost­
asien beschäftigt.
Vertrauter Partner Siemens
Das Unternehmen strebt danach, eines der innovativsten der Welt
zu werden. Um die Entwicklung voranzutreiben, ist Evonik auf
kompetente Partner angewiesen, mit denen man auf Zukunftsfel-
dern wie der Digitalisierung vertrauensvoll zusammenarbeiten
kann. Und hier kommt ein weiteres deutsches Unternehmen ins
Spiel: Siemens. Der Münchener Technologiekonzern arbeitet schon
seit vielen Jahren in Deutschland, Europa und anderen Teilen der
Welt eng mit Evonik zusammen. Die ausgeklügelte Stromversor-
gungstechnik für die Methionin-Anlage auf Jurong Island bei-
spielsweise stammt von Siemens. Das Alarmmanagementsystem
der Öladditiveanlage ebenso. Hier sorgen softwaregesteuerte,
miteinander kommunizierende Analyseinstrumente und integ-
rierte Prozessautomatisierungen dafür, dass Fehler oder kritische
Situationen schnell erkannt, bewertet, priorisiert und sicher be-
hoben werden. Mithilfe von Siemens lassen sich die Alarme und
die Auslöser der Alarme besser aussteuern – ein enormer Zeit­
gewinn und ressourcenschonend obendrein.
Singapur als Vorzeigemarkt
Seit 1908, also mehr als 100 Jahre, ist Siemens in Singapur.
„40 Prozent der Energie des Stadtstaates werden von Turbinen
der Münchener erzeugt“, betont Dr. Armin Bruck, CEO von Siemens
Singapur und ASEAN. Die Nähe zu den wachsenden asiatischen
Märkten, eine breite Auswahl kompetenter Mitarbeiter und das
gute Networking der lokalen Universitäten, Polytechnika und der
öffentlichen Forschungsinstitute machen Singapur für Siemens so
attraktiv. Aber auch die Unterstützung durch die Regierung bezie-
hungsweise deren Einrichtungen und nicht zuletzt die politische
Stabilität. „Singapur ist für uns ein Vorzeigemarkt“, so Bruck.
19
„Weil er anderen Ländern in der Region zeigt, wo sie selbst stehen
können in den kommenden 10, 15 oder 20 Jahren.“ 2015 beschäf-
tigte das Unternehmen über 1.500 Mitarbeiter im Land und
erwirtschaftete 436 Millionen Euro. Die Hauptgeschäftsfelder
sind Energie, Medizintechnik, Industrie und Infrastruktur. Bruck
geht von einem dynamischen Wachstum in den kommenden
Jahren aus. Das Bankhaus Goldman Sachs bezifferte die voraus-
sichtliche Nachfrage allein nach Energie und Mobilität im
ASEAN-Raum auf 525 Milliarden US-Dollar bis 2020. „Eine Menge
Geld und eine fantastische Chance für unser Haus“, so Bruck.
Fokus Digitalisierung
Seit mehr als 30 Jahren forscht und entwickelt Siemens auch
in Singapur. Der Fokus liegt dabei auf Elektrifizierung, Auto­
matisierung und insbesondere Digitalisierung.
„Industrieunternehmen in Südostasien sehen sich durch die
Globalisierung einem wachsenden Wettbewerb ausgesetzt“,
erklärt Raimund Klein, Executive Vice President und Head of
Industry Siemens ASEAN. „Sie müssen die Digitalisierung voran-
treiben, um ihre Produk­tivität zu erhöhen und gleichzeitig ihre
Kosten zu senken. Siemens unterstützt sie dabei.“ Dafür bietet
Siemens ein breites Spektrum an Lösungen, die Hardware, Soft-
ware und technischen Service vereinen. „Wir helfen unseren
Kunden, einen weiteren Schritt in Richtung Industrie 4.0 zu
machen“, so Klein.
Der „digitale Zwilling“ simuliert die Realität
Siemens verwendet beispielsweise heute schon den „digitalen
Zwilling“, der ein Abbild eines Produktes, einer realen Maschine
oder einer realen Fabrik in virtueller Realität simulieren kann.
Wenn es nach Raimund Klein ginge, würde dieser „digitale Zwil-
ling“ schon bald jede Phase der Wertschöpfungskette be­gleiten –
angefangen beim Produktdesign über die Produktionsplanung
und das Engineering bis hin zu Inbetriebnahme, Betrieb, Service
und Modernisierung.
Beispiel Fertigungsindustrie: Wo entstehen Flaschenhälse? Wo
wird in der Fertigung unnötig Zeit verschwendet? Wann empfiehlt
sich der Einsatz von Robotern anstelle von Menschen? Welche
Gefahrenquellen gibt es für die Mitarbeiter? All diese Fragen kann
der „digitale Zwilling“ in seiner virtuellen Welt beantworten, noch
bevor überhaupt der erste Stein der realen Fabrik gelegt, die erste
Schraube für die Maschine angefasst wird. Das reduziere laut
Klein die Kosten, beschleunige die Produktion und minimiere das
Risiko von Fehlern und Störungen, die früher nur aufwendig und
unter Zeitdruck zu beheben waren. „Wir können mit unseren
Programmen die Produktion eines gesamten Monats simulieren,
mit mehreren virtuellen Personen, die in der Fertigung arbeiten“,
so Klein. Bis zu 6.000 Stück ließen sich in seiner Computer-
welt „vor“produzieren. Dadurch werde beispielsweise sichtbar,
wo sich die Mitarbeiter gegenseitig im Weg stehen, wo der Pro-
zess ins Stocken gerät. Entsprechend könne dann das Konzept
nachjustiert werden.
Ist die Realisierung der Fabrik erfolgt, läuft der „digitale Zwil-
ling“ dennoch weiter mit und wird mit Messdaten von moderns-
ten Sensoren gefüttert, die überall angebracht sind. So lassen
sich Umrüstvorgänge und der Produktfluss über den gesamten
Lebenszyklus virtuell nachstellen, kann die Fertigung optimiert
oder das Produkt modifiziert werden, um etwa den Energiever-
brauch weiter zu senken oder Ressourcen einzusparen.
Kernelement ist eine interdisziplinäre Datenplattform
Basis dafür sind nicht nur leistungsstarke Programme, die in der
Lage sind, alle Informationen zur Maschine, zur Produktionslinie
oder zum Betrieb so zu verarbeiten und aufzubereiten, dass
daraus virtuelle 1:1-Gegenstücke entstehen. Voraussetzung dafür,
dass der ganz große Coup gelingt, sprich die vollständige Digi­
talisierung der Wertschöpfungskette, sei nach den Worten Kleins
insbesondere eine einheitliche Datenplattform, die „interdis­
ziplinär einen lückenlosen Datenfluss über alle Unternehmens­
ebenen und Projektphasen hinweg ermöglicht“. Sämtliche
Informa­tionen, ob aus der Mechanik oder Elektronik, werden
dafür in einer zentralen Datenbank gespeichert, sodass alle am
Projekt Beteiligten sowohl in der Planungs- als auch in der
Betriebsphase darauf zugreifen können. „Nur so lässt sich die
gesamte Fabrik bis hin zu einzelnen Bauteilen jederzeit und welt-
weit funktions­orientiert und fachübergreifend betrachten und
weiterent­wickeln“, sagt Klein. Dieses Prinzip gilt nicht nur für die
Fertigungsindustrie, wie hier dargestellt, sondern ebenfalls –
entsprechend angepasst – für die Prozessindustrie. Auch hierfür
haben Klein und sein Team Modelle entwickelt.
Auf dem Weg zur komplett digitalen Fabrik
Siemens hat bislang bei Unternehmen zwar immer nur Teilbe­
reiche der Wertschöpfungskette digitalisiert. Das könnte sich
aber bald ändern. Denn in Zukunft wird es immer mehr Fabriken
und Anlagen geben, bei denen der komplette Produktionsprozess
digitalisiert ist. Für dieses ganzheitliche Konzept haben Siemens
und Evonik die Saat gelegt.
20
M Y P O I N T O F V I E W
1 Cantonment Road: Blick vom Wohngebäude Pinnacle@Duxton
TALENT
SCHMIEDE
SINGAPUR
David Wong und
seine „Lernfabrik“
an der
Nanyang Polytechnic
–
Treffpunkt Nanyang Polytechnic (NYP) in Singapur.
Auf den ersten Blick wirkt hier im Eingangsbereich
alles sehr nüchtern und kühl. Im gewienerten
Boden spiegeln sich die Aufzugstüren. Im Vorder­
grund eine hohe Glas­wand, dahinter Treppen zu
einem Zwischengeschoss, das offensichtlich zu
einer gigantischen Halle führt.
22
23
16.30 Uhr und niemand zu sehen Von den 17.000 Studierenden
der Fachhochschule keine Spur. Gerade ist Examenszeit. Die
meisten büffeln oder werden geprüft. Wenn es nicht zu heiß ist,
trifft man einige von ihnen mit ihrem Laptop auf dem Schoß ir-
gendwo auf dem ausladenden Campus. Denn das gesamte Areal
verfügt über WLAN. Auf seiner 300.000 Quadratmeter großen
Fläche hätten etwa 60 Fußballfelder Platz. Kon­zipiert wie eine
Kleinstadt, befinden sich hier Schul- und Verwaltungsgebäude,
eine Bibliothek, Studenten­apartments, Wohnhäuser fürs Perso-
nal, Mensen, Cafeterien, ein Auditorium, Labore, ein Theater und
Fremdsprachenzentrum, Fitnesscenter und Erholungsstätten
sowie Einkaufsmöglichkeiten. Wer möchte, kann einem der zahl-
reichen Clubs der NYP beitreten. Von Tanz und Sport bis Kultur
wird alles ge­boten. Jeder Unterrichtsraum ist mit Computern und
Beamern ausgestattet, und an diversen Druckständen lassen sich
Manuskripte schnell vervielfältigen. Das alles hat einen Anteil
daran, warum Singapur im weltweiten Wettbewerb um die klügs-
ten Köpfe nun schon zum dritten Mal in Folge auf Platz 2 kam –
hinter der Schweiz. Der Stadtstaat ist damit das einzige asiatische
Land in den TopTen des Global Talent Competitive Index, der von
der renommierten französischen Wirtschafts­universität INSEAD
jährlich ermittelt wird. Die Studie, die 83,8 Prozent der Welt­
bevölkerung und 96,2 Prozent der Weltwirtschaft (BIP) abdeckt,
misst die Wettbewerbsfähigkeit einer Nation in Bezug darauf, wie
sie Talente findet, fördert und hält. Deutschland liegt auf Rang 16.
Von München begeistert Plötzlich eine Männerstimme – aus
Richtung der Aufzüge kommend und sehr vertraut klingend.
Ja, es ist Deutsch: „Rüdiger, nicht wahr? Freut mich sehr.
Willkommen!“ David Wong ist Chef des Additive Manufacturing
Innovation Centre (AMIC) an der NYP. Er war Mitte der 70er drei
Jahre in Darmstadt, wo er zum Facharbeiter für Maschinenbau
ausgebildet wurde. Danach besuchte er die Meisterschule in
München und wurde Handwerksmeister im Maschinenbau. Es
folgten ingenieurwissenschaftliche und betriebswirtschaft­liche
Masterabschlüsse an der Cranfield-Universität in Groß­britannien
und der National University of Singapore. Darmstadt sei ihm
nicht so sehr in Erinnerung geblieben, aber München habe ihn
begeistert. Die schöne Stadt, das bergige Panorama, die herzli-
chen Menschen. Seit dieser Zeit ist Wong eng mit Deutschland
verbunden und unterstützt seit Jahren die akademische Zusam-
menarbeit mit Singapur. Er kann sich noch gut daran erinnern,
wie Exbundeskanzler Helmut Schmidt und Singapurs Staats­
gründer Lee Kuan Yew 1982 gemeinsam das German-Singa­pore
Institute aus der Taufe hoben. Es fördert den bilateralen Wissens­
transfer und wurde 1993 in die NYP eingegliedert. „Ich habe
viele Technologiepartner in Deutschland“, betont Wong. In den
vergangenen zehn Jahren ist er immer wieder dorthin gereist,
um Kontakte zu pflegen, neue Kooperationen zu schmieden und
Partnerschaften einzugehen. „Wenn ich zehn Tage in Deutsch-
land bin, besuche ich täglich zwei, drei Firmen, unter anderem
um Praktika für meine Studenten aus­zumachen und Möglichkei-
ten der technologischen Zusammenarbeit zu prüfen.“ Auch arbei-
tet er intensiv mit diversen deutschen Fachhochschulen zusam-
men. „Es gibt mittlerweile einen regen Studentenaustausch
zwischen Singapur und Deutschland – aber auch mit anderen
Ländern. Mit China, Japan, Großbritannien, Frankreich und den
USA beispielsweise stehen wir in engem Kontakt“, so Wong.
„Poly goes UAS“ als Meilenstein Eines seiner Steckenpferde
ist die 2014 gestartete Initiative „Poly goes UAS“ (siehe Kasten
Seite 27): Deutsche mittelständische Unternehmen ermöglichen
begabten Studenten der beiden Fachhochschulen NYP und SP
(Singapore Polytechnic), ihr Studium der Ingenieurwissenschaft
an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Stutt-
gart oder an der Hochschule München (HM) fortzusetzen. Der
Nachwuchs sammelt hier wertvolle Job-Erfahrung, indem er Prak-
tika in verschiedenen Abteilungen der teilnehmenden Unterneh-
men durchläuft. Für Singapur in diesem Umfang eine Novität: Die
Studierenden sind circa vier Jahre in Deutschland. Sie schnup-
pern in Bereiche wie Produktmanagement, Design, Forschung
und Entwicklung oder technischer Kundenservice und erhalten
ein Stipendium in Höhe von 800 bis 1.400 Euro im Monat.
Eigene Fachkräfte heranziehen Für die Sponsoren ist es das
Ziel, sich quasi ihre eigenen Fachkräfte heranzuziehen, die dank
des Programms tief in die spezifische Materie eintauchen, sich
Praxiskenntnisse aneignen und – nicht zu unterschätzen – auch
die eigene Unternehmenskultur kennenlernen. Nachdem die Aus-
erwählten erfolgreich ihren ingenieurwissenschaftlichen Bache-
lorstudiengang abgeschlossen haben, bekommen sie einen An-
stellungsvertrag an den Standorten in Singapur, um von dort aus
mitzuhelfen, den asiatischen Markt zu bearbeiten. So der Plan.
Denn die deutschen Industrieunternehmen, die das Programm
nutzen, wissen, dass sie auf diesem Weg exzellent ausgebildete
Experten mit einem umfassenden technischen Know-how erhal-
ten. Jack Goh, Managing Director von Sick, beschrieb sie jüngst
so: „Ingenieure mit einer Leidenschaft für Kreativität verbunden
mit deutscher technologischer Intelligenz.“ Die ­Sick AG mit Sitz
in Waldkirch ist einer der weltweit führenden Hersteller von Sen-
soren und Sensor­lösungen für die Fabrik-, Logistik- und Prozess­
automation und nimmt seit Jahren an der Initiative teil.
Praxis öffnet Perspektiven „Poly goes UAS ist eine exzel­lente
Idee“, sagt Wong. „Qualifiziertes Personal wird immer wich­ti­ger
und gleichzeitig knapper. Egal ob in den USA, in Japan oder
Deutschland – alle suchen händeringend nach geeigneten Fach­
kräften für ihre Expansionsstrategien.“ Hinzu komme, dass die
Ansprüche an zukünftige Angestellte aufgrund von Globalisie-
rungsprozessen und konstanten Veränderungen in Industrie und
Gesellschaft einem steten Wandel unterworfen seien. Die stetige
Weiterentwicklung sei die neue Normalität. In diesem Zusammen­
hang wachse die Relevanz praktischer Erfahrungen. Sie bilden
die Basis für lebenslanges Lernen und eröffnen neue Perspekti-
ven. Wong: „In den Bereichen Ingenieurwesen und Feinmechanik
ist Deutschland seit vielen Jahren unser Vorbild für die passende
Ausbildung. Deshalb ist die Kooperation so wertvoll.“
Mehr Vielfalt zulassen Was noch besser laufen könnte? „Ich
würde mir wünschen, dass die am Programm ‚Poly goes UAS‘ teil-
nehmenden Unternehmen pro Jahr nicht nur ein, zwei Studenten
aufnehmen, sondern vier, fünf“, sagt Wong. Zudem lasse der lan-
ge Aufenthalt in Deutschland so manchen poten­­ziellen Kandida-
ten zurückschrecken. Vier Jahre weg von zu Hause sei für junge
Leute schon eine große Herausforderung. Länder, wie Großbri-
tannien, die ähnliche Programme haben, erlauben beispielsweise,
dass die Studenten zwischendurch auch mal eine Zeit lang an
24
David
Wong
Head /Additive
Manufacturing
Innovation
Centre
25
dem Firmenstandort in ihrer Heimat arbeiten. Das würde „Poly
goes UAS“ noch attraktiver für Topstudenten machen und wäre
sogar von Vorteil, denn so könnten sie gleich beide Welten haut-
nah in der Praxis kennenlernen, meint Wong. „Man kann ja
nicht alles, was in Deutschland üblich ist und gelernt wird, ein-
fach auf Asien übertragen.“ Die Industriecluster-Struktur in
Deutschland zum Beispiel führe dazu, dass sich Ingenieure etwa
an den Standorten München und Stuttgart vor allem auf die Auto­
mobilindustrie spezialisieren. Kommen sie dann nach Singapur,
seien die Aufgaben für sie oft wesentlich vielseitiger. Die Anfor-
derungen, um hier erfolgreich zu sein, seien andere. Aus diesem
Grund sollte nach Wongs Ansicht die praktische Ausbildung brei-
ter aufgestellt sein und mehr Vielfalt zulassen.
SIT-Programm setzt aufs Lokale Damit noch mehr Studenten
von den Vorzügen eines dualen Studiums profitieren können,
startete das Singapore Institute of Technology (SIT) 2015 eine
lokale Version. Diese staatlich geförderte Initiative erlaubt es
den Lernenden, zwischen Theorie im SIT und Praxis bei den in
Singapur ansässigen Unternehmen hin und her zu wechseln.
Deutsche Firmen, die im Inselstaat in der Networking-Community
„German Center“ organisiert sind, haben bei der Erstellung des
Lehrplans ihre Erfahrungen eingebracht. Neun von ihnen neh-
men an dem Programm teil – zum Beispiel der Mischkonzern
Bosch mit Stammsitz in Gerlingen und der Systemlieferant für
Pharmazeutika-Verpackungen Uhlmann, dessen Zentrale sich in
Laupheim befindet.
Meisterprüfung mit Ritterschlag Ein anderes nationales Pro-
jekt, das Wong mit großer Leidenschaft vorantreibt und seit
Gründung leitet, betrifft nicht in erster Linie Studenten, sondern
junge und auch ältere Menschen mit Schulabschluss: die Meister-
ausbildung – ebenfalls nach deutschem Muster. Ende 2013 setzte
Singapur mit der Einführung des Meisterbriefs für das Feinme-
chaniker-Handwerk (Precision Engineering Master Craftsman –
PeMC) einen neuen Meilenstein. Mehr als 60 Feinmechanikun­ter­
nehmen verpflichteten sich zu entsprechenden Standards. Dann
der Ritterschlag im Mai 2014: Die NYP wurde als erste nicht
deutsche Bildungseinrichtung international für ihr vollständig
lokal entwickeltes Feinmechanikmeister-Programm ausgezeich-
net. Nach einer dreitägigen Prüfung des Lehrplans durch drei
Mitglieder der deutschen Industrie- und Handelskam­mern
26
München und Oberbayern sowie der Auslandshandelskammer in
Singapur wurde der NYP bescheinigt, dass PeMC alle Kriterien
erfülle und man vom Programm schwer beeindruckt sei. „Mitt­
lerweile wurden 200 Meisterkurs-Teilnehmern die Diplome zu­
erkannt, 20 davon haben auch schon ihren Meisterbrief in der
Tasche“, bilanziert Wong. Bis 2024 sollen 2.800 Arbeitskräfte auf
Meister-Level agieren.
Erst Diplom, dann Meisterbrief Anders als in Deutschland, wo
die Meisterausbildung nach einem Jahr mit der Prüfung und –
im Erfolgsfall – dem Meisterbrief endet, erhalten die Meisteran­
wärter in Singapur nach der Ausbildung „lediglich“ ein Diplom.
Wong: „Danach hat man erst einmal ein, zwei Jahre zu arbeiten,
um das, was man gelernt hat, in einem Unternehmen praktisch
anzuwenden. Damit man sich dann um den Meisterbrief bewer­
ben kann, sind eine Bestätigung und Empfehlung des Arbeit­
gebers nötig.“ Wenn alle Punkte erfüllt sind, lädt die Singapore
Manufacturing Federation (SMF) zum Test. Diese ein, zwei Jahre
zusätzliche Praxis werden eingeschoben, weil Unternehmen
sichergehen wollen, dass nur die Besten der Besten das Zerti­fikat
erhalten.
„Lernfabrik“ mit Spitzentechnologie Wong ist davon über­
zeugt, dass diejenigen, die bei ihm in der NYP den Meisterkurs
durchlaufen und das Diplom machen, eigentlich genug prak­
tische Erfahrung haben. Denn sie arbeiten an der Polytechnik mit
fortschrittlichen technischen Geräten, wie auch die Studenten
der Ingenieurwissenschaften. Zeit, ins Innere des Geschehens zu
blicken: Im ersten Stock der „Lernfabrik“, wie Wong es nennt,
befinden sich moderne Großraumbüros für Ingenieurdesign.
Unten läuft in hellen, hohen Laboren die Fertigung. Die Räume
sind in freundlichen Farben gelb-grün und orange gestrichen und
mit Spitzentechnologie ausgestattet, die weltweit ihresgleichen
sucht. Der Wert der Maschinenkolosse, die von der Regierung
finanziert oder von Technologiepartnern und der Industrie ge­
sponsert beziehungsweise zur Verfügung gestellt werden, liegt im
zweistelligen Millionen-Euro-Bereich. Hier werden Teile für die
Raumfahrt kreiert und gefertigt, medizinische Geräte, Implantate
und Maschinenkomponenten, Nanoteilchen und riesige Flugzeug­
rotoren. Die Industrie gibt Aufträge – auch für die Komplettferti­
gung von Produkten für Endkunden. Mehr Marktnähe geht nicht.
Singapurs Talente sind auf die Zukunft vorbereitet
Bildungseinrichtungen wie die NYP sind für neue Entwicklungen
und Trends wie 3-D-Drucken und Industrie 4.0 hervorragend auf­
gestellt und bestens dafür geeignet, den innovativen und unter­
nehmerischen Geist der Studenten zur Entfaltung zu bringen. Vor
allem die massigen metallischen 3-D-Drucker haben es Wong an­
getan. „Sie erstellen bis ins letzte Detail genaue Modelle und ge­
brauchsfertige Produkte für die Neuro­chirurgie, Zahnfüllungen
aus Titan, winzige Geräteteile voller verschlun­ge­­ner Kanäle und
filigraner Komponenten – alles ohne Nahtstel­len, Schicht für
Schicht aufgetragen“, schwärmt er. In diesen sogenannten gene­
rativen Fertigungsverfahren, auf Englisch „additive manufactu­
ring“, sieht er ohne Zweifel die Zukunft der herstellenden Indus­
trie. Eine Revolution. Produkte lassen sich per Rechner digital
individualisieren und auch in kleinen Mengen fertigen, ohne
dass dann gleich die Kosten explodieren. Das Stichwort dazu lau­
tet: Customizing – die Anpassung eines Serienartikels an die
Bedürfnisse eines Kunden. Es wird nicht mehr nötig sein, Men­
schenmassen mit Einheitsware zu überschütten, damit sich das
Investment in den Fertigungsprozess rechnet. Irgendwann wer­
den nur noch Daten digital eingegeben und dann genau das drei­
dimensional gedruckt, was wirklich gebraucht werde, ganz ohne
Überschuss und Materialverlust, erklärt der Institutschef. Ferti­
gungsmaschinen, wie wir sie heute kennen, werden allmählich
verdrängt. Neue Technologien werden entstehen, und die NYP
wird diese Entwicklungen begleiten sowie durch eigene For­
schungsarbeit vorantreiben. Um diesem Anspruch gerecht zu
werden, gibt es innerhalb der NYP nicht zuletzt ein rege genutztes
Ideenportal und eine sehr aktive Start-up-Community. Die NYP
hat dafür unter anderem auf dem Gelände „NEST“ (NYP Entre­
preneurship Start-up) gegründet. Es handelt sich um ein zentra­
les Gründerzentrum mit Besprechungsräumen, Computerarbeits­
plätzen und drahtloser Internetverbindung, um das Interagieren,
Networking und die Zusammenarbeit zwischen dem Mitarbeiter­
stab der NYP, Studenten, Alumni und Mentoren zu fördern. „All
diese Möglichkeiten innerhalb der NYP sorgen dafür, dass die
Nachwuchskräfte in Singapur für die Zukunft optimal vorbereitet
sind und diese aktiv mitgestalten werden“, fasst Wong zusammen.
„Poly goes UAS“: Ausbildung nach deutschem Vorbild
Vor zwei Jahren exportierten die vier Familienunternehmen Festo
in Esslingen (Lösungen für Fabrik- und Prozessautomatisierung),
Pepperl + Fuchs in Mannheim (elektronische Sensoren und
Komponenten), Rohde & Schwarz in München (Mess-, Funk-,
Ortungs- und Kommunikationstechnologie) und Sick in Wald­
kirch (Sensoren und Sensorlösungen für industrielle Anwendun­
gen) das „duale Studium“ nach Asien. Im Schulterschluss mit
der Behörde für Wirtschaftsentwicklung, dem Singapore Econo­
mic Development Board (EDB), und ausgewählten Bildungsein­
richtungen starteten sie in Singapur die Initiative „Poly goes
UAS“ (UAS steht für „Universities of Applied Science“, sprich
Fachhochschulen). Mittlerweile haben sich weitere deutsche
Firmen dem weg­weisenden Projekt angeschlossen, unter ande­
rem der Tech­nologiekonzern Heraeus in Hanau, Mann+Hummel
in Ludwigsburg (Hersteller für Flüssigkeits- und Luftfiltersys­
teme) und ifm in Essen (Anbieter von Automatisierungstechnik).
Beide Seiten profitieren von der Ausbildung der Fachkräfte nach
deutschem Vorbild: Singapur festigt seinen Status als attraktiver
Investitionsstandort für den asiatischen Wirtschaftsraum und
hilft Talenten auf dem Karriereweg. Deutsche Firmen wiederum
können auf solide ausgebildetes Personal in der Region zurück­
greifen. Auch die Meisterkurse, die hier ange­boten werden, und
weitere deutsch-singapurische Austauschprogramme unterstrei­
chen die Vorrangstellung des Stadt­staates, wenn es darum geht,
die klügsten Köpfe zu rekrutieren.
27
M Y P O I N T O F V I E W
Maxwell Rd, Red Dot Design Museum
M
E
G
M
Y
A
I
E
A
D
N
R
N
– und immer mehr in Singapur
30
Für Rohde & Schwarz ist „Made in Singapore“ längst ein
Gütesiegel. Das sehen die asiatischen Kunden des bayeri-
schen Unternehmens genauso. Der Elektrotechnik-Spezialist
mit F&E-Standort in Singapur schaut sich die Markttrends
hier ganz aus der Nähe an. Das Ergebnis: perfekt angepasste
Hightechprodukte.
Wenn „Made in Germany“ auf Gehäusen und Karossen steht, er-
warten Käufer das Besondere. Ein Unternehmen, das das weltweite
Gütesiegel mit Recht auf seine Produkte prägt, ist Rohde & Schwarz.
Rohde & Schwarz hat heute 9.300 Mitarbeiter in über 70 Ländern,
macht 1,9 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr und ist deutscher Mittel-
stand par excellence. Kein Dax-Unternehmen, aber dennoch schon
seit vielen Jahren mit Forschung und Entwicklung in Singapur
präsent. Die Firma stellt Produkte für sichere Kommunikation
her. Ihre Mess- und Sendetechnik wird auf Schiffen und in Flug-
zeugen eingesetzt, in Funkortung und -erfassung. Die Kunden
kommen aus den Bereichen Mobilfunk, Rundfunk, Elektronik­
industrie, Luftfahrt, Verteidigung, Homeland Security.
Während für AGs gute Quartalszahlen heilige Kuh und Erfolgs­
parameter Nummer eins zugleich sind, kombiniert der Mittel-
ständler sein technisches Know-how mit einer Geschäftsführung,
die in langfristigen Zyklen denkt. In Kurzatmigkeit zu verfallen
ist Sache der Münchener nicht – eine ideale Formel für Wachs-
tum in Asien. Gegründet von zwei Ingenieuren in der bayerischen
Landeshauptstadt, ging die Firma schon früh auf Expansions-
kurs. Im südostasiatischen Stadtstaat Singapur wurde 1997 ein
Systemhaus eröffnet. Schritt für Schritt bauten die zielstrebigen
Bayern Vertrieb, eine eigene Produktion und eine Forschungs-
und Entwicklungsabteilung auf, siedelten schließlich ein globa-
les Sourcing- und Supply-Chain-Management an.
31
S Ü D O S T A S I E N
A N D E R S
T I C K T
Vom Systemhaus zur Vertriebszentrale
Warum in Singapur investieren? Rohde & Schwarz lockte die
attraktive Mischung aus Stabilität und Wachstumsperspektiven –
weit über die Grenzen des Stadtstaates hinaus. Singapur ist in
Asien das Land mit dem höchsten BIP pro Kopf (52.090 US-­Dollar
2015). Die Wirtschaft wächst solide, die Arbeitslosenquote ist
niedrig.
Der Stadtstaat an der viel befahrenen Wasserstraße wurde für
Rohde & Schwarz als zweites Standbein allmählich so wichtig,
dass das Unternehmen hier neben München einen weiteren
Hauptsitz eröffnete. Die strategische Bedeutung spiegelt sich
auch in der Tatsache wider, dass hier die Vertriebs­zentrale für
den Asien-Pazifik-Raum angesiedelt ist.
Die in Singapur entwickelten Produkte liefert Rohde & Schwarz
in die ganze Welt aus. Vor Ort durchlaufen sie alle Produktions-
schritte, vom Entwurf des Designs und des Layouts der Produkte
bis zur Programmierung der Software. Ein Großteil der Mess-
und Sendegeräte wird in den ASEAN-Ländern (Association of
Southeast Asian Nations) eingesetzt. So unterschiedlich Staaten
wie Indonesien und Thailand sein mögen, das hohe Nachfrage-
potenzial lässt Rohde & Schwarz von frischen Wachstumsimpul-
sen träumen. Das reale Bruttoinlandsprodukt der ASEAN-Region
liegt heute bei 2,5 Billionen US-Dollar, mit Steigerungsraten für
die nächsten Jahre von fünf Prozent und mehr. Laut Schätzungen
der EU-Kommission sollen die kaufkräftigen Mittelschichten bis
2030 fast zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen. Der Appetit
auf Qualitätsprodukte nimmt zu.
Südostasien tickt anders
Wer es in Südostasien schaffen will, muss die erheblichen Unter-
schiede zu westeuropäischen und deutschen Märkten kennen.
Die Anforderungen an Produktentwicklungen sind heterogener –
je nach Branche und Markt. Das macht eine erhebliche Anpas-
sungsleistung notwendig, die umso besser gelingt, je näher das
Unternehmen an seinen Kunden ist.
Laut See Loke Ho, Leiter der Abteilung Forschung und Entwick-
lung in Singapur, will Rohde & Schwarz deshalb in den nächsten
Jahren rund 100 neue Fachkräfte im Bereich Forschung und Ent-
wicklung einstellen. Dann werden 250 hoch qualifizierte Mitar-
beiter an neuen Lösungen für die asiatischen Märkte tüfteln.
Ohne gut ausgebildete Mitarbeiter ist es nicht möglich, in einem
Hightechmarkt ständig innovativ und erfolgreich zu sein. Gut
also, dass diese in Singapur leicht zu finden sind, denn die regu-
lierten Arbeitsbedingungen und ein attraktives Umfeld machen
den Stadtstaat für hoch qualifizierte Arbeitnehmer aus aller Welt
attraktiv. Unternehmen wie Rohde & Schwarz können aus dem
Vollen schöpfen.
Kooperation mit Spitzenuniversitäten
Dazu tragen auch die Bildungseinrichtungen bei, die viele quali-
fizierte Fachkräfte im technischen Bereich ausbilden. Die Natio-
nal University of Singapore beispielsweise ist nach dem aktuellen
QS World University Rankings von QS Quacquarelli Symonds die
beste Universität von ganz Asien. Sie rangiert gleich nach der
renommierten Princeton University in den USA weltweit auf Platz 12,
gefolgt von der ebenfalls in Singapur ansässigen Nanyang Tech-
nological University (NTU). Mit dem Forschungsinstitut Centre
for Wireless Communications der NUS arbeitet Rohde & Schwarz
seit Jahren eng zusammen. Kooperationen zwischen universitärer
Forschung und der mittelständischen Firma sichern das Know-
how. „Die grundlegende Forschung kommt von den Wissen-
schaftlern, wir nehmen dann die Ergebnisse und wenden sie real
bis zur Fertigung eines finalen Produktes an“, erklärt See Loke Ho.
„Ein wirklich wichtiger Faktor waren die rechtlichen Rahmenbe-
dingungen, die der Stadtstaat bietet – ergänzt durch eine solide
Finanzpolitik und eine stabile Regierung, die ein langfristiges
Planen erst möglich machen“, erklärt Andy Goh, Leiter der Pro-
duktion für die Region Asien, warum Singapur der optimale
Standort ist, um alle Aktivitäten zu steuern. Auch ist der Indika-
tor für Korruption laut Transparency International so niedrig wie
nirgendwo sonst in Asien. Und beim Schutz geistigen Eigentums
gehört die Republik Singapur ohnehin zu den zuverlässigsten
Ländern der Welt. Dafür steht „Made in Singapore“ – und passt
so exzellent zum Qualitätsversprechen des deutschen Mittel-
ständlers Rohde & Schwarz.
32
M Y P O I N T O F V I E W
South Bridge Road, Ecke Pagoda Street, Sri Mariamman Temple
34
Um es gleich zu Beginn zu sagen. Mit Tim Raue führt man kein
Interview. Tim Raue führt das Interview. Das kleine samtbezogene
Sofa, auf dem er während des Gesprächs sitzt, wirkt deshalb
fast ein wenig wie Tarnung für den Mann, dessen Energie sein
Restaurant „TIM RAUE“ bis auf Platz 34 der besten Restaurants
der Welt getragen hat. Aber Bange machen gilt nicht. Oder um es
mit Tim Raue zu sagen: „Ich sehe nur aggressiv aus.“ Nun denn.
Wie jedes Interview beginnt auch dieses mit einer Frage.
GRUSS
AUS
DER
KÜCHE
Eine Erfolgsgeschichte.
–
Eine Liebesgeschichte.
35
36
„Darf ich jetzt mal was sagen?“ lautet der eher rhetorische Ein-
stieg von Raue und auf einmal sitzt man mit ihm im Jahr 2003
im Restaurant von Sam Leong, der Vorläufer für Contemporary
Chinese Food war. Vor uns eine Pekingente. Oder anders gesagt:
die Verbindung zwischen kantonesischer und europäischer Küche.
Die gewohnt knusprige Haut, darunter aber eine französische
Entenstopfleberterrine. Warum wir diese Reise in die Vergangen-
heit angetreten haben? Weil dieser Moment das Leben des Kochs
Tim Raue komplett auf den Kopf stellt. Oder um es mit Tim Raue
zu sagen: „In der französischen Küche geht es um Harmonie.
Nicht so viele Aromen. Alles ist schön und nett. Ich bin aber nicht
nett.“ In den nächsten drei Jahren reist Raue mehr als 20 Mal
nach Singapur, probiert in einfachen Garküchen, sucht auf Märk-
ten und in Drogerien nach neuen Inspirationen. Und nach drei
Jahren war in seinem Kopf eine neue, komplett eigene Philo­so­phie
entstanden. Im Jahr 2006 erhält Tim Raue seinen ersten Stern,
und wird Koch des Jahres in Deutschland. Und erfindet sich noch
einmal neu. „Ich wollte das machen, was ich liebe, was mein
Herz berührt.“ Und dass Raue nicht nur die Küche, sondern auch
das Land Singapur liebt, steht außer Zweifel. Was Singapur für
ihn so einzigartig macht, ist der Zugang zu unterschiedlichsten
Kulturen und Märkten. Zum australischen Markt, was gerade für
die Qualität von Gemüse und Fleisch enorm wichtig ist. Fisch,
Obst, Gemüse aus Japan. Vor Ort unterschiedlichste Küchen vom
Luxussegment bis zur einfachen Garküche. Dazu passt, dass mit
Chan Hon Meng vor wenigen Wochen der Besitzer eines solchen
kleinen Imbisses einen Michelin-Stern erhielt. Und noch etwas
begeistert den Mann auf dem Samtsofa in Singapur.„Es gibt keinen
Kontinent, auf dem ich nicht gekocht habe, ich kenne keine
anderen Menschen, die so verrückt nach gutem Essen sind!“ Der
gemeinsame Nenner der Singapurer ist ihre Lust auf Neues. Es
sind immer wieder faszinierende Parallelen, die Raue in seinem
Leben als Berliner und Teilzeit-Singapurer entdeckt. Sei es seine
Jugend, die er auf einer Insel, nämlich im Westberlin vor dem Fall
der Mauer, verbrachte. Oder die Tatsache, dass Raue als über-
zeugter Preuße heute viele der typisch preußischen Tugenden
wie Disziplin eher in Singapur als in Berlin erlebt. Überhaupt ist
Disziplin für Raue die Basis von allem. Organisa­tion, Effizienz
und Strukturiertheit beschreibt er als sein Erfolgsrezept. Darauf
kommen Leidenschaft und Kreativität. Attribute, die genauso zur
Erfolgsgeschichte Singapurs passen. Man sitzt diesem vor Energie
nur so sprühenden Menschen gegenüber und glaubt ihm aufs
Wort, wenn er verrät: „Ich habe früher in der Küche so geschrien,
dass man die Musik im Restaurant nicht mehr gehört hat.“ Und
stellt fest, dass er auch hier von den Singapurern inspiriert wurde:
„Schreien wird dort nicht als Stärke gesehen, sondern als
Schwäche. Was es am Ende ja auch ist.“ Nicht die einzige singa-
purische Philosophie, die er für sich und auch für seine Restau-
rants übernommen hat. Begrüße Gäste so, als wären es Bekannte,
die dann als Freunde gehen. „Stell dir vor, es sind Menschen, die
bei dir zu Hause Gast sind, und du möchtest, dass sie deine
Freunde werden.“
Gibt es überhaupt etwas, was dem Berliner in Blau in Singapur
fehlen würde? Raue muss lange überlegen: „Wenn überhaupt,
ist das Einzige, was mir da drüben wirklich fehlt, tatsächlich mal
ein Tag, an dem es nicht so warm ist. Ich kann mich damit aber
durchaus arrangieren. Ich schwitze lieber genervt, als dass ich
gedemütigt friere.“
» DER GEMEINSAME
NENNER DER
SINGAPURER IST IHRE
LUST AUF NEUES. «
37
Tempowechsel. Die Zeit drängt. Das Restaurant in Berlin füllt
sich. Zehn Fragen mit der Bitte um schnelle Antworten.
Hat Singapur ein ganz besonderes Innovationsklima?
Es ist definitiv der innovativste Platz, den ich auf diesem Plane-
ten kenne, wo es wirklich immer was Neues geben muss. Auch
um die Menschen bei Laune zu halten, da es einfach so grandiose
Konsumenten sind.
So, empfinden Sie Singapur als das Herz oder Zentrum des
asiatischen Raumes?
Bangkok, Tokio, Hongkong, Seoul und Singapur sind die Städte,
in denen ich in meinem Leben am häufigsten war. Für mich ist
Singapur einfach die sinnvollste Stadt, weil das Englisch wirklich
extrem gut geht, das Rechtssystem ist sinnvoll, man kann da
wirklich Business machen und es hat alles.
Wo steht Singapur im weltweiten kulinarischen Ranking?
Für mich ist Singapur eine der drei kulinarischen Weltstädte,
die anderen sind Hongkong und New York.
Welche Küche könnte Singapur überraschen oder bereichern?
Das ist egal, das ist auch eben der Vorteil, du kannst nach
Singapur gehen und Currywurst machen, sie muss einfach nur
Weltklasse sein. Die Singapurer sind so offen für alles, was aus
der ganzen Welt kommt. Es muss nur einfach Weltklasse sein.
So, jetzt kommt wieder eine Frage, die finde ich ganz span-
nend. Wann ist ein Restaurant ein Erfolg?
Wenn es voll ist.
» ES MUSS NUR EINFACH
WELTKLASSE SEIN. «
38
39
40
»	SINGAPUR HAT MICH 	
	 EXTREM GEFANGEN. «
Die wichtigste Managementregel in der Küche?
Das ist schwierig, Managementregel klingt komisch, also für
mich ist das Wichtigste in der Küche, dass ich Talent erkenne,
es fördere und begleite.
Wo ist in einem Restaurant der beste Platz, um
Geschäfte zu machen?
Ich finde, dass das Essen eher dazu dienen sollte, Empathie
aufzubauen.
Was war für Sie die schönste Erfolgsbestätigung?
Der absolute Höhepunkt meines Lebens ist, jetzt Platz 34 auf der
„The World’s 50 Best Restaurants“-Liste, mehr geht nicht.
Was muss man in Singapur probiert haben, also außer
eingangs beschriebener Ente?
Also für mich gibt es in Singapur drei Plätze: André, einer der
50 besten Köche der Welt, der einfach ein überragendes Restau-
rant hat. Die East Coast wegen der Garnelen und all dem anderen
Zeug, was da aus dem Meer und nicht aus dem Kühlregal kommt.
Und „Newton“, auch wenn das touristisch gesehen wird, ich
fühle mich da unheimlich wohl. Die Möglichkeit zu haben,
Menschen kennenzulernen, das ist für mich die Quintessenz
Singapurs, alles zusammen, jeder aus jeder Schicht, jede Rasse.
Letzte Frage:
Tim Raue und Singapur. War das Liebe auf den ersten Blick?
Mit dem Wort Liebe bin ich sehr vorsichtig, aber Singapur hat
mich extrem gefangen, also wenn ich heute die Wahl hätte, wo
ich den Rest meines Leben verbringen sollte oder könnte und
dürfte: Singapur, definitiv.
41
A U S
R E I N
D I E W E LT
R A U S
D E M L A B O R ,
I N
Fraunhofer IDM@NTU in Singapur:
Forschen im Auftrag der Zukunft
Die Forschung darf nicht in den Labo-
ren verbleiben, sondern muss hinaus
in die Welt. Das hat sich die Fraunhofer-
Gesellschaft, München, auf die Fahnen
geschrieben. Mit 24.000 Mitarbeitern,
67 Instituten und einem Budget von
2,1 Milliarden Euro ist sie die größte
Organisation für ange­wand­te Forschung
in Europa. Seit knapp 20 Jahren be-
treibt sie auch ein Institut in Singapur.
Der Schwerpunkt liegt auf grafischer
Daten­verarbeitung.
Typisch für die digitalisierte Welt voller
Informationen: Nur allzu schnell verliert
man den Überblick, findet nicht das
Gewünschte und geht verloren im Daten­
dschungel. Helfen kann uns dabei unser
sehr leistungsfähiger visueller Sinn, der
über eine hohe Aufnahmefähigkeit ver­
fügt. Dessen Potenzial auszuschöpfen,
dafür ist das zur Fraunhofer-Gesellschaft
gehörende Institut für Graphische Daten­
verarbeitung in Darmstadt, kurz IGD, zu­
ständig – weltweit führend auf dem Gebiet
der Forschung zum Thema angewandtes
Visual Computing. Dazu gehören 3-D-
Digitalisierung, virtuelle und erweiterte
Realität sowie die 3-D-­Visualisierung, und
das selbst auf kleinen mobilen Endgerä­
ten. Weil es dafür international Bedarf
gibt, gründete das IGD 1998 zusammen
mit der Nanyang Technological University
(NTU) in Singapur das von der dortigen
National Research Foundation (NRF) ge­
förderte Center for Advanced Media Tech­
nology (CAM-Tech), woraus dann 2010
das heutige Projektzentrum Fraunhofer
IDM@NTU hervorging. Im Auftrag von
Wirtschaft, Industrie und Behörden be­
treibt es direkte Forschung zu aktuellen
Frage­stellungen und engagiert sich für
interaktive digitale Medien (IDM).
Aus Infos werden Bilder –
und vice versa
Etwa 30 hauptamtliche Mitarbeiter führen
Studien durch, beraten, entwickeln Kon­
zepte und Software oder passen Programme
an neue Umgebungen an. „Überall dort,
wo moderne Computertechnologien einge­
setzt werden, finden sich Einsatzgebiete
des Visual Computings und somit unter­
stützende Lösungen, um die Arbeit zu
erleichtern“, erklärt Standortleiter Prof.
Dr.-Ing. Wolfgang Müller-Wittig. Kernbran­
chen sind Gesundheit, Stadtentwicklung,
„Smart Manufacturing“ oder Industrie 4.0,
maritime Wirtschaft, Logistik sowie der
Bildungs- und Schulungsbereich.
Visuelle Themenreisen
Vereinfacht ausgedrückt machen die For­
scher in Singapur aus Informationen Bil­
der und holen aus Bildern Informa­tionen.
Wie das aussehen kann, zeigt Müller-Wittig
Besuchern gern an einem großen Multi­
touch-Bildschirm im Kon­ferenzraum des
Instituts, das direkt auf dem Campus der
NTU angesiedelt ist: Wir erleben, wie ein­
fach etwa mit dem Service- und Präsen­
tationstool InfoLand spannende visuelle
und interak­tive Informationsreisen er­
zeugt werden können. Beispiel „Discover
42
Germany“ („Entdecke Deutschland“), ein
Programm, das unter anderem für die
deutsche Botschaft in Singapur entwickelt
wurde. Wie die Äste eines Baumes erstreckt
sich die Themensammlung über das Dis­
play. Der Betrachter öffnet, bewegt und
schließt auf dem Schirm intuitiv verschie­
dene „Zweige“. Auf der visuellen Reise
durch Deutschland werden Informationen
durch Bilder, Videos, Texte und 3-D-Simu­
lationen zu Kultur, Fußball, Visabestim­
mungen und mehr per Fingertipp erlebbar.
Die Navigation ist kinderleicht. Auch die
Stadt Singapur setzt InfoLand ein, um
ihren Masterplan für die Raumnutzung im
Rahmen der zukünftigen Stadtentwicklung
zu visualisieren. „Das Einpflegen der
Daten geht schnell und einfach“, erklärt
Müller-Wittig. „Mit einem einfachen Drag-
and-drop können Medien eingefügt werden
und stehen dann als neue Informations­
knoten sofort zur Verfügung.“ Program­
mierkenntnisse sind nicht nötig. So lassen
sich auf spannende interaktive Weise
auch die Unternehmenswelt von Firmen,
Produktportfolios, Service­suites oder
komplexe Sachverhalte und Prozesse ver­
mitteln.
An die Töpfe
2014 betrug der Gesamthaushalt des
Fraunhofer IGD mit seinen Standorten
Darmstadt, Rostock, Graz und Singapur
rund 19 Millionen Euro. Davon entfielen
circa 1,3 Millionen Euro auf Singapur.
Die Hauptanteile der externen Finanzie­
rung kamen mit rund 58 Prozent aus nati­
onalen öffentlich geförderten Forschungs­
programmen und zu 42 Prozent aus direkt
beauftragten Projekten. Die direkt beauf­
tragten Projekte stammten zu 38 Prozent
aus der Industrie und zu 62 Prozent von
öffent­lichen Stellen. „An Fördermittel zu
gelangen, läuft in Singapur anders als in
Deutschland“, räumt Müller-Wittig ein.
In Deutschland melde die Wirtschaft Be­
darf an und wende sich damit etwa an
das Bundesministerium für Bildung und
Forschung (BMBF), das für den „Software-
Cluster“ extra Fördertöpfe bereitstellt,
oder an das Bundeswirtschaftsministe­ri­
um (BMWi). „In Singapur ist dieser
Mechanismus noch nicht so ausgeprägt.
Hier müssen häufig wir selbst aktiv wer­
den“, so Müller-Wittig. Das liege nicht zu­
letzt daran, dass die mittelständischen
Unternehmen teils noch sehr klein seien
und man sie mitunter antreiben müsse, zu
forschen und entwickeln. Seine Anlauf­
stelle sei dann beispielsweise die staatli­
che Zukunftsbehörde A*STAR (Agency for
Science, Technology and Research), die in
Singapur ganze Wissenschaftsareale wie
„Biopolis“ oder „Fusionopolis“ finanziert.
A*STAR vergibt aber nicht nur Gelder,
sondern sieht sich ebenfalls als Plattform,
die Wissenschaftler mit multinationalen
Unternehmen und talentierten Leuten lo­
kaler Firmen zusammenbringt. „Die Agen­
tur steht damit gewissermaßen auch im
Wettbewerb zu uns“, sagt Müller-Wittig.
Fraunhofer als Marke
Fraunhofer IDM@NTU habe allerdings
auch einige Trümpfe in der Tasche. „Wir
haben weltweit einen hervorragenden
Ruf“, zählt er auf. Außerdem gelte das
Topthema für technischen Fortschritt,
sprich Industrie 4.0, als deutsche Marke.
Wenn es also um Förderung von „Smart
Manufacturing“ gehe, dann öffneten sich
die Türen meist. Ein weiterer Pluspunkt:
Fraunhofer kenne sich wie kein anderer
mit angewandter Forschung aus. Das
mache das Institut auch attraktiv für die
Unternehmen. „Dank unserer Expertise
ziehen wir weltweit Firmen an“, betont
Müller-Wittig. „Wir können ihnen helfen,
sich strategisch zu entwickeln, neue Ge­
schäftsfelder zu erschließen und Singapur
als Drehscheibe für Südost­asien zu nut­
zen.“ Darüber hinaus profitieren die
Kunden vom guten Ecosystem und vom
Know-how-Transfer mit der NTU, an der
führende Wissenschaftler Asiens arbeiten.
Unglaubliche Dynamik
Das Fraunhofer IDM@NTU hat über die
Jahre deshalb schon für zahlreiche Unter­
nehmen geforscht. Darunter viele deut­
sche wie BMW, Symrise oder Lufthansa,
aber auch für lokale Unternehmen wie
Suntec, ST Electronics oder PSA. Müller-
Wittig selbst ist seit 2001 in Singapur.
„Mich fasziniert die unglaubliche Dyna­
mik, die hier zu spüren ist, und die rasche
Umsetzung“, sagt er. „Es hat sich inner­
halb kurzer Zeit eine weltweit führende
Forschungslandschaft entwickelt. Und
wenn die Regierung sich für ein Thema in­
teressiert, dann geht alles ganz schnell.“
Auch mag er, dass Singapur so multikul­
turell und international sei. Zudem sei die
Fülle von qualifizierten Fachkräften ein­
zigartig – insbesondere für das Boom-
Thema Digitalisierung.
Weitere Ableger geplant
Darum werden in Kürze auch zwei weitere
Fraunhofer-Institute in Singapur eröffnet:
ein Ableger des Fraunhofer-Instituts für
Sichere Informations­technologie (SIT),
Darmstadt, und des Fraunhofer-Instituts
für Keramische Technologien und Systeme
(IKTS), Dresden, das unter anderem im
3-D-Druckverfahren Maßstäbe setzt.
43
Z A H L E N
B I T T E
I N 7 H F L U G Z E I T E R R E I C H T M A N
4 , 2 M I L L I A R D E N M E N S C H E N
1 0 0 A I R L I N E S I N S G E S A M T
E R R E I C H E N 2 0 0 S T Ä D T E M I T
6 . 8 0 0 F L Ü G E N P R O W O C H E
S I N G A P U R
K U A L A L U M P U R
B A N G K O K
N E U - D E L H I H O N G K O N G
S C H A N G H A I
T O K I O
T A I W A N
P E R T H
M E L B O U R N E
M Y P O I N T O F V I E W
Changi Airport – auf dem Weg zur Metro
Sie ist die dynamischste Wachstumsregion
der Welt und deshalb seit Jahren unver­
zichtbar für weltweit operierende Firmen.
So zum Beispiel auch für das Rückgrat der
deutschen Wirtschaft: den Mittelstand.
Um im asiatischen Markt mitmischen zu
können, haben sich deutsche Familien­
unternehmen lange auf China und Indien
konzentriert, bis sie einen neuen einfluss­
reichen Akteur für sich entdeckten: den
Verband Südostasiatischer Nationen, kurz
ASEAN (Association of Southeast Asian
Nations). Von Singapur, Thailand, Indo­
nesien, Malaysia und den Philippinen
gegründet, verfügt die ASEAN über eine
lange Tradition von Kooperationen auf
politischem, soziokulturellem und ökono­
mischem Gebiet sowie in Sicherheitsfragen.
Mit einem derzeitigen Anteil am Welthan­
del von mehr als sechs Prozent verfügen
die ASEAN-Staaten über ein überdurch­
schnittlich großes Wirtschaftspotenzial.
Die ASEAN, deren 50. Geburtstag 2017
gefeiert wird, ist heute die siebtgrößte
Volkswirtschaft der Welt. Innerhalb weniger
Jahre wird der Markt zusätzliche Geschäfte
im dreistelligen Milliardenbereich ermög­
lichen, prognostizieren die Unternehmens­
berater von McKinsey. Eine einzigartige
Erfolgsgeschichte, die auf Samtpfoten
dahergekommen ist und deshalb von eini­
gen Teilen der Weltwirtschaft nur bedingt
wahrgenommen wurde. Bis jetzt. Allein
Deutschland hat im Jahr 2015 hier mehr
als acht Milliarden Euro investiert (Quelle:
EY ASEAN Report 2015). Ein Großteil des
asiatischen Potenzials ist in der stark
wachsenden Mittelklasse verankert. Bis
2030 wird mehr als die Hälfte der aus der
Mittelklasse stammenden Konsumenten
weltweit in der asiatisch-pazifischen Re­
gion wohnen und für 80 Prozent der glo­
balen Konsumausgaben verantwortlich
sein. Mit rund 623 Millionen (Stand 2015)
hat die Staatengemeinschaft mehr − und
zudem überwiegend junge − Einwohner
als die gesamte EU mit 510 Millionen
(Stand 2015). „Die Bevölkerung wächst
dort durchschnittlich um mehr als ein
Prozent jährlich“, sagt Dr. An Wee Moo,
Regionaldirektorin, Europa des Singapore
Economic Development Board (lokale
Behörde für Wirtschaftsentwicklung). Mit
einem jeweils überdurchschnittlich star­
ken Jahreswirtschaftswachstum legen alle
zehn Mitgliedsländer eine überzeugende
Performance hin und weisen somit großes
Potenzial auf. Heute bringen es die fast
neun Prozent der Weltbevölkerung bereits
auf eine Wirtschaftsleistung von rund
2,3 Milliarden Euro.
Aber nicht nur der Markt boomt, auch der
Wettbewerb wird zunehmend härter. Die
Folge: Firmen müssen noch besser auf die
speziellen Bedürfnisse ihrer Kunden ein­
gehen. Sie benötigen nicht nur hochquali­
tative Produktionszentren oder F&E-Abtei­
lun­gen, sondern müssen sich auch in der
ASEAN-Region ansiedeln. Nur so werden
sie in der Lage sein, die Bedürfnisse der
wachsenden Mittelklasse zu erfüllen und
wettbewerbsfähig zu bleiben. Betriebe, die
innerhalb der Freihandelszone produzieren,
sind im Vorteil. Denn sie müssen keine
Einfuhrzölle entrichten.
Für viele Firmen einschließlich deutscher
Mittelständler waren das genügend über­
zeugende Gründe, um sich in der Region
niederzulassen. Dabei wählten die Unter­
nehmen meist Singapur, den Mittelpunkt
der ASEAN, als Basis in Asien. Der Stadt­
staat liegt im Zentrum der rund 4,5 Mil­
lionen Quadrat­kilometer großen Region.
Hier treffen die Wirtschaftsmächte China,
SCHWERGEWICHT
AUF
SAMTPFOTEN
Warum die ASEAN-Staatengemeinschaft
als treibende Kraft der globalen Wirtschaft in Zukunft
noch erfolgreicher sein wird und welche
Schlüsselfunktionen Singapur dabei übernimmt.
47
1
Quelle: World Economic Forum. 2
Quelle: Weltbank.
3
Quelle: United Nations Conference on Trade and Development, 2016.
Indien, die ASEAN-Staaten sowie global
tätige Konzerne aufeinander und beflü­
geln sich gegenseitig. Dank seiner strate­
gisch günstigen Lage im Herzen Südost­
asiens und am Knotenpunkt bedeutender
Schifffahrts­­wege ist Singapur ein wichti­
ges Logistikzentrum für den Welthandel.
„Immer mehr Unternehmen sehen dort
ihr strategisches zweites Standbein, um
das Potenzial der schnell wachsenden
Region zu nutzen. Ein stabiles politisches
Umfeld, qualifiziertes Personal und eine
exzellente Infrastruktur machen Singapur
zu einem zuverlässigen und hoch ent­
wickelten Partner für die deutsche Wirt­
schaft, insbesondere den Mittelstand“,
sagt Dr. An Wee Moo.
Ungefähr 1.500 deutsche Firmen sind heute
dort präsent. Viele von ihnen, wie zum
Beispiel das Familienunternehmen SICK,
zählen zum deutschen Mittelstand. Für
den Entwickler von Sensoren und Anwen­
dungslösungen für den industriellen
Gebrauch zahlt sich Singapurs Effizienz
doppelt aus: Einerseits sind in diesem
Industriezweig tätige Firmen Direktkunden
des Unternehmens, andererseits unter­
stützt Singapur SICK als logistischer
Knotenpunkt, Kunden in puncto Lieferung
zufriedenzustellen. Laut dem vom Welt­
wirtschaftsforum erstellten Global Compe­
titiveness Report 2015/2016 ist Singapur
zudem eines der wenigen asiatischen
Länder, die einen hohen Schutz von geis­
tigem Eigentum bieten. Die Wachstums­
raten bestimmter Industriezweige und die
Nähe zu den Geschäftspartnern sind zu­
sätzliche überzeugende Argumente für
diesen Standort.
Singapur steht für genau die Werte, die
deutsche Familienunternehmen erfolg­
reich gemacht haben: Als kleiner Staat mit
hoher Bevölkerungsdichte hat Singapur
seine Fähigkeit bewiesen, langfristig und
ökonomisch nachhaltig zu planen. In
dieser Hinsicht ähnelt der Stadtstaat dem
deutschen Mittelstand: Firmeninhaber
möchten ihre Unternehmen fit für zukünf­
tige Generationen machen und denken
deshalb nicht in Quartalsergebnissen,
sondern planen langfristig. Ökonomische
Nachhaltigkeit, angetrieben von langfristi­
gem Denken zugunsten zukünftiger Gene­
rationen, ist Teil von Singapurs DNA.
Welches der zehn ASEAN-Mitgliedsländer
bietet welche Art von Chancen und Gele­
genheiten für neue Geschäfte? „SingaPur“
wirft einen Blick auf die individuelle Ent­
wicklung der einzelnen Staaten.
Myanmar
1.221 $
6,9 %
Bruttoinlandsprodukt
(pro Kopf / jährl. Wachstum)1
170 /190 Unternehmerfreundlichkeit2
131 /140 Wettbewerbsfähigkeit1
0,95 Mrd. $
Investitionen
aus dem Ausland3
Schlüsselbranchen
Energiesektor / Öl- und Gasförderung /
Bergbau / Tourismus
Thailand
5.445 $
5,0 %
Bruttoinlandsprodukt
(pro Kopf / jährl. Wachstum)1
46 /190 Unternehmerfreundlichkeit2
32 /140 Wettbewerbsfähigkeit1
11,5 Mrd. $
Investitionen
aus dem Ausland3
Schlüsselbranchen
Automobil / Elektronik / Medizintechnik / 
Tourismus
Kambodscha
1.081 $
7,3 %
Bruttoinlandsprodukt
(pro Kopf / jährl. Wachstum)1
131/190 Unternehmerfreundlichkeit2
90 /140 Wettbewerbsfähigkeit1
1,7 Mrd. $
Investitionen
aus dem Ausland3
Schlüsselbranchen
Bau / Textil / Landwirtschaft /
Tourismus
Singapur
56.319 $
3,6 %
Bruttoinlandsprodukt
(pro Kopf / jährl. Wachstum)1
2 /190 Unternehmerfreundlichkeit2
2 /140 Wettbewerbsfähigkeit1
72,1 Mrd. $
Investitionen
aus dem Ausland2
Schlüsselbranchen
Elektronik / Chemie / Maschinenbau /
Logistik / Finanzsektor
48
Malaysia
10.804 $
5,2 %
Bruttoinlandsprodukt
(pro Kopf / jährl. Wachstum)1
23 /190 Unternehmerfreundlichkeit2
18 /140 Wettbewerbsfähigkeit1
10,7 Mrd. $
Investitionen
aus dem Ausland3
Schlüsselbranchen
Elektronik / Öl- und Gasförderung /
Automobil / Holz / Tourismus
Brunei
28.236 $
7,4 %
Bruttoinlandsprodukt
(pro Kopf / jährl. Wachstum)1
72 /190 Unternehmerfreundlichkeit2
58 /140 Wettbewerbsfähigkeit1
0,75 Mrd. $
Investitionen
aus dem Ausland3
Schlüsselbranchen
Hightech / Öl- und Gasförderung /
Landwirtschaft / Tourismus
Vietnam
2.053 $
5,4 %
Bruttoinlandsprodukt
(pro Kopf / jährl. Wachstum)1
82 /190 Unternehmerfreundlichkeit2
56 /140 Wettbewerbsfähigkeit1
9,2 Mrd. $
Investitionen
aus dem Ausland3
Schlüsselbranchen
Elektronik / Textil / Maschinenbau /
Tourismus
Indonesien
3.534 $
6,0 %
Bruttoinlandsprodukt
(pro Kopf / jährl. Wachstum)1
91/190 Unternehmerfreundlichkeit2
37 /140 Wettbewerbsfähigkeit1
22,3 Mrd. $
Investitionen
aus dem Ausland3
Schlüsselbranchen
Tourismus / Chemie / Maschinenbau /
Automobil / Landwirtschaft
Philippinen
2.865 $
5,5 %
Bruttoinlandsprodukt
(pro Kopf / jährl. Wachstum)1
99 /190 Unternehmerfreundlichkeit2
47 /140 Wettbewerbsfähigkeit1
6,2 Mrd. $
Investitionen
aus dem Ausland3
Schlüsselbranchen
Elektronik / Chemie / Maschinenbau /
Logistik / Finanzsektor
Laos
1.693 $
7,6 %
Bruttoinlandsprodukt
(pro Kopf / jährl. Wachstum)1
139 /190 Unternehmerfreundlichkeit2
83 /140 Wettbewerbsfähigkeit1
0,9 Mrd. $
Investitionen
aus dem Ausland3
Schlüsselbranchen
Bergbau / Tourismus / Bau / Holz /
Energie- und Wasserkraft
49
50
Tagsüber arbeitet Kenneth Thexeira als Redakteur bei einer
Living-Zeitschrift. Doch abends schlüpft er immer wieder
in ein hautenges Sportoutfit – und frönt mit unbändiger
Leiden­schaft seinem Hobby: Als „The Eurasian Dragon“
mischt er die langsam, aber stetig wachsende Wrestling-
Szene von Singapur auf.
Es sind nur knapp 30 Quadratmeter. Mehr Platz haben die Män-
ner nicht. Fast hätte der massive Wrestling-Ring überhaupt nicht
in den zum Minitrainingscenter umfunktionierten Lagerraum
hineingepasst. Im Rest des Raums lagern ein paar Tischplatten,
Crashpad-Matratzen und unidentifizierbares Gerümpel. Die
Szenerie im Gold­pine Industrial Building hat etwas Rührendes:
Ansteckender Idealismus geht hier Hand in Hand mit Improvi­
sationstalent und Mut zum Chaos. Kenneth Thexeira und sein
Trainingspartner Mohammed Taufik stören sich nicht weiter an
den suboptimalen Bedingungen. Hauptsache, sie können sich
gemeinsam mit weiteren Glaubensbrüdern ihrer großen Leiden-
schaft widmen: dem Wrestling. Jenem Sport, für den die Männer
seit Jahren brennen und für den sie gerne ihre Abende und
Wochenenden opfern. „Es gibt zwar immer wieder Menschen, die
mich dafür belächeln, dass ich das Wrestling mit so viel Enga­
gement und Hin­gabe betreibe. Zumal sich in Singapur bislang
nur eine eingeschworene Fangemeinde für das interessiert, was
ich mache. Aber das befeuert mich nur noch mehr in meinem
Ehrgeiz, es am Ende ganz weit zu bringen und es meinen Zweif-
lern zu zeigen“, sagt Kenneth Thexeira. Heute Abend trainieren
er und Kumpel Mohammed ein paar der wichtigsten Kampftech-
niken. Techniken wie Bodyslam, Back Body Drop oder Fireman’s
Carry. Massive Männerkörper prallen mit voller Wucht aufein­
ander oder fallen mit lautem Klatschgeräusch in die Mitte des
Trainingsrings. Immer und immer wieder. Alle Muskeln sind
angespannt, Schweiß fließt, Testosteron erfüllt jede Ecke des
Raums. Kenneth Thexeira und Mohammed Taufik sind Teil der
bislang immer noch kleinen, aber wachsenden Wrestling-Szene
in Singapur und ganz Südostasien: „Als ich vor vier Jahren aktiv
in diesen Sport einstieg, zählten wir noch zum Underground.
Heute haben wir uns bereits eine Fangemeinde von ein paar
­Tausend Leuten erobert, und ich bin mir sicher, dass wir in den
kommenden Jahren weiter spürbar wachsen werden“, sagt der
28-jährige Kenneth in einer Trainings­pause.
Auch Wrestling-Promoter Vadim Koryagin aus Russland, der seit
einigen Jahren in Singapur lebt und arbeitet, glaubt fest an das
Potenzial der Region. Im Februar 2012 beschloss er deshalb, ge-
meinsam mit dem südostasiatischen Regionalchampion Andruew
Tang die Singa­pore-Pro-Wrestling-Promotionagentur (SPW) zu
gründen. Mit seinem Geschäftspartner Tang trainiert er in der
SPW-Schule zudem junge Talente wie Thexeira.
Y E A R S O F
T H E D R A G O N
51
Trotz Euphorie und Optimismus: Von Show-Spektakeln, wie sie
das WWE (World Wrestling Entertainment) seit Jahrzehnten auf
die Beine stellt und die jeweils Tausende Fans an den Rand der
Raserei bringen, können Thexeira und seine circa 20 professio-
nellen Wrestling-Kollegen, die im Alltag Berufen wie Fitness­
trainer, Restaurantkoch oder Flug­hafen-Angestellter nachgehen,
bislang nur träumen. Natürlich wäre es für ihn das Größte, wenn
er eines Tages von den Fights leben und sich ganz seinem ge­
liebten Kampfsport widmen könnte. Aber bis es irgendwann tat-
sächlich so weit ist, sind es Leidenschaft und Idealismus, die ihn
tragen. Man müsse halt kleinere Brötchen backen, wenn man
beim Singapur Pro Wrestling nur lokal, unabhängig und ohne die
finanzstarke Hilfe von milliardenschweren Organisationen am
Start sei. Es müssten viel mehr Marketingmaßnahmen und
Koopera­tionen mit internationalen Wrestling-Events her, damit
„Mighty Black Arrow“, „The Statement Andrew“ oder „The
Eurasian Dragon“ endlich von mehr als nur rund 100 Fans pro
Fight-Event bejubelt werden.
„The Eurasian Dragon“, das ist Kenneths Alter Ego im Wrestling-
Zirkus. „Ich wurde 1988 im Jahr des Drachen geboren und habe
eurasische Wurzeln“, erklärt er seine Wahl des Künstlernamens.
Tagsüber arbeitet der Kumpeltyp als Living-Redakteur für das
Interieur-Magazin „DCRS“. Doch an ein paar Abenden pro Monat,
wenn wieder mal ein Fight ansteht, schlüpft er in sein goldenes
Ringhöschen, hängt sich sein babyblaues Cape um und räumt als
Good Guy im Ring auf. Als Elfjähriger sah er spät­abends zum
ersten Mal im TV eine Show des WWE und war sofort fasziniert
von dem derben Mix aus Action, Athletik und Entertainment.
Doch erst Wrestling-Superstar Dwayne „The Rock“ Johnson –
heute übrigens bestbezahlter Schauspieler Hollywoods – löste
in ihm den Wunsch aus, sich selbst im Ring zu versuchen.
Gab’s schon mal Fight-Situationen, bei denen ihn ein mulmiges
Gefühl überkam? Bis heute unvergessen ist für Thexeira jener
Moment, in dem während eines Hardcore-Fights, in dem auch
Waffen wie leichte Stühle oder Tische erlaubt sind, sein Gegner
ein ganz besonderes Utensil hervorholte: ein Keyboard! „Sekunden
später knallte er es mir über meinen Kopf und es zersprang
in tausend Teile“, erinnert er sich. Doch nach einem kurzen
Schockmoment ging es ihm auch danach immer noch bestens.
Er gewann das Match, feierte die Nacht wild und ausgelassen
mit seinen Jungs und fühlte sich für ein paar Stunden unver-
wundbar. „Erst am Morgen danach wurde mir klar, dass meine
heftigen Kopfschmerzen nicht nur eine Folge der vielen Drinks
waren …“
Wenn der 179-Zentimeter-Mann vom Wrestling erzählt, dann stets
mit Enthusiasmus. Man spürt, dass er gerne ein bisschen verrückt
und anders ist; dass er mit Überzeugung zu Menschen gehört, die
sich abseits von Altbekanntem bewegen und auch mal Pionierar-
beit leisten. Eine Einstellung, die in Singapur viele mit ihm tei-
len, wie Thexeira betont: „Ich lebe in einer viel bunteren und
vielfältigeren Stadt, als es auf den ersten Blick vielleicht erschei-
nen mag. Eine Metropole, in der es eine Menge ungewöhnlicher
Berufe und Berufungen gibt. Und ein Ort, an dem viele Menschen
alles dafür tun, dass ihr großer Traum irgendwann wahr wird.“
52
T E S T O S T E R O N E R F Ü L LT
J E D E E C K E D E S R A U M S
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SingaPur Magazin_issue #1

  • 1. a point of view # 1 E R F O L G S R E Z E P T E
  • 4. PS: Sind Sie neugierig geworden, wünschen detailliertere Infor­ mationen oder möchten uns ein Feedback zur ersten Ausgabe geben? Wir freuen uns auf Ihre Mail: ihr_partner@edb.gov.sg Dr. An Wee Moo Regional Director, Europe Singapore Economic Development Board Liebe Leserin, lieber Leser, Singapur – das ist zweifellos eines der faszinierendsten und inspirierendsten Fleckchen Erde. Hier treffen prosperierende Geschäfts- und modernste Hightechwelten auf jahrtausende- alte Traditionen. Trotz seiner eher überschaubaren Größe von 719 Quadratkilometern hinterlässt der Inselstadtstaat nicht nur bei seinen jährlich mehr als 17 Millionen internationalen Gästen, sondern ebenso auf der Weltbühne einen immer prägnanteren Eindruck. Unter anderem wegen der vielfältigen wirtschaftlichen Möglichkeiten, die sich hier bieten. Insbesondere auch für deutsche Unternehmen. Vor Ihnen liegt die erste Ausgabe von SingaPur, dem Magazin des Singapore Economic Development Board (EDB) – prall gefüllt mit Perspektiven, Persönlich­keiten, spannenden Unternehmensporträts und Lifestyle. Ein Magazin, mit dem wir Ihnen Einblicke geben möchten, wie viel wirt­ schaftliches Potenzial in der Metropole als Tor nach Asien und im prosperierenden Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) steckt. Gleichzeitig wollen wir aber auch die vielfältigen, bunten und geheimnisvollen Seiten Singapurs beleuchten. In der Pre­mierenausgabe berichten wir unter anderem über die Start- up-Szene, beantworten die Frage, warum der deutsche Kultclub Borussia Dortmund ausgerechnet hier sein erstes Auslands­- büro eröffnet hat, und fragen in unserer Titelstory bei Erfolgs­ koch Tim Raue nach, warum die Stadt in seinem Leben eine ganz besondere Rolle spielt. Zum Thema Wirtschaftspotenzial: Aktuell gehen Experten davon aus, dass die wichtigsten asiatischen Volkswirtschaften China, Indien, Japan und ASEAN im Jahr 2017 um bis zu eine Billion US-Dollar wachsen werden – trotz geopolitischer Veränderungen und der Unwägbarkeiten der Weltwirtschaft. Auch langfristig be­ trachtet sind die Perspektiven der Region sehr vielversprechend. Nicht zuletzt deshalb, weil die Länder immer besser miteinander vernetzt sind. Gründe genug, warum viele deutsche Unternehmen ihre Asien-Strategie derzeit überdenken. Denn um von diesen Wachstumsmärkten profitieren zu können, müssen sie – inklusive der „Mittelstands-Champions“ – hier adäquat vertreten sein. Singapur hat sich diesbezüglich als idealer Partner für die Inter­ nationalisierungspläne gerade mittelständischer Unternehmen bewährt. Auf der Basis von Vertrauen, Wissen, Talent, Lebens­ qualität und nicht zuletzt einer besonders unternehmensfreund­ lichen Politik formte sich neben einem weit gefächerten Dienst­ leistungsspektrum ein ausgesprochen vielseitiger Produktionssektor heraus. Er machte im Jahr 2015 bereits 20 Prozent des BIP aus. Angesichts der geringen Größe des Inselstaates mit seinen 5,5 Milli­o­ nen Einwohnern ist das erstaunlich und zugleich vielverspre­ chend. Das verstärkte Engagement hinsichtlich Forschung, Inno­ vation und Unternehmertum wird dazu beitragen, Singapur auf die nächste Entwicklungsstufe zu heben. Herzlichst
  • 5. 03Editorial – 04Inhaltsverzeichnis – 06BVB – Begeisterung überall – 10News – 12Smarte Nation Singapur – 18Wie genau riecht eigentlich Erfolg? – Siemens/Evonik – 22Talentschmiede Singapur – Nanyang Polytechnic – 30Made in Germany – Rohde & Schwarz – 34Gruß aus der Küche – Tim Raue – 42Raus aus dem Labor, rein in die Welt – Fraunhofer – Inhalt
  • 6. 44Zahlen bitte – 47Schwergewicht auf Samtpfoten – ASEAN-Region – 50Years of the Dragon – Kenneth Thexeira – 54Urbanisierung öffnet Marktchancen – Weidmüller – 56Aus dem Dschungel in den Dschungel – 58Gründen im Tigerstaat – Start-ups – 64Schnappschuss – Formel 1 – 68Den nächsten Schritt wagen – Prof. Dr. Venohr – 70Ausblick – 71Impressum –
  • 7. BEGEISTERUNG ÜBERALL Seit mehr als zwei Jahren hat der BVB eine Repräsentanz in Singapur – und ist damit bis heute ein Bundesliga-Pionier. Was für Motive stecken hinter dem Südostasien-Engagement des Kultclubs? Gleich beim ersten Date mit seiner zukünftigen Frau spricht Suresh Letchmanan Klartext: Fußball ist seine ganz große Leiden­ schaft und das wird sich auch niemals ändern! Wenn sie ihn haben will, muss sie damit leben. 15 Jahre ist das inzwischen her – und bislang ist der gebürtige Singapurer sich selbst treu ge­blie­ben. Das allein ist natürlich noch nichts Ungewöhnliches. Dass sein Herz heute vor allem für einen deutschen Fußballclub schlägt, dagegen schon: Seit Herbst 2014 ist Letchmanan Leiter des ersten Auslandsbüros des achtmaligen deutschen Meisters Borussia Dortmund. Seine Hauptaufgaben, die er vom „Nordic European Centre“ in Singapur aus vorantreiben muss: Kontakte zur Wirt­ schaft und zu den Medien des gesamten südostasiatischen Groß­ raums knüpfen und das BVB-Merchandising ausbauen. Die Be­ geisterung für Fußball war in der Region schon immer groß. Und sie wächst weiter. Dass in den sogenannten Tigerstaaten viel Geld zu verdienen ist, wissen britische Spitzenclubs bereits seit Jahr­ zehnten. Manchester United zum Beispiel spült die Vereinsprä­ senz in Südostasien jährlich mehr als 50 Millionen Euro in die Kasse. Umso verwunderlicher, dass der deutsche Fußball diesen lukrativen Markt bislang mehr oder weniger vernachlässigte. Immerhin setzte der BVB 2014 endlich ein Signal und wagte den Quantensprung gen Osten – als bislang einziger Verein der Bun­ desliga. „Wir spüren ein stark steigendes Interesse am BVB aus Asien. Gerade in Südostasien liegt für uns ein Großteil der rele­ vanten Auslandsmärkte. Doch damit wir dort nachhaltig arbeiten können, heißt das eben auch, permanent vor Ort zu sein“, sagte BVB-Marketingdirektor Carsten Cramer kurz vor der Eröffnung der Repräsentanz in Singapur. Zwei Jahre später fällt die erste Zwischenbilanz durchweg positiv aus, wenngleich es natürlich auch weiterhin viel zu tun gibt. Denn sich hier zu behaupten und die Sichtbarkeit des Clubs spürbar zu verbessern, sei eine echte Herausforderung, stellt Singapurs BVB-Mann Suresh Letchmanan fest. „Schließlich stehen wir hier im Wettbewerb mit internatio­ nalen Topclubs wie Chelsea oder Liverpool“, sagt der 43-Jährige. Die Begeisterung für deutschen Fußball besteht laut Letchmanan seit Jahrzehnten. Bereits das Nationalteam von 1982 mit Legen­ den wie Hansi Müller oder Horst Hrubesch habe die ältere Gene­ ration nachhaltig beeinflusst. Doch warum fiel die Wahl für das erste Auslandsbüro auf den Standort Singapur? Welche Erfolge gibt es bereits zu verzeichnen und wie unterschei­ den sich eigentlich asiatische von europäischen Fans? „Singa­ Pur“ hat Suresh Letchmanan und Carsten Cramer zum Interview getroffen. 6
  • 8. V Wann hat der Verein die steigende Begeisterung in Asien erstmals bemerkt und deshalb über ein Büro in Singapur nachgedacht? Dass Deutschland die WM 2014 gewonnen hat, war sicherlich ein entscheidender Trigger-Faktor. Im Team des Weltmeisters spielten ja gleich fünf BVB-Spieler. Zudem war der asiatische Markt für interna­tionale Clubs in den vergangenen zehn Jahren auffällig stark gewachsen, Gleiches gilt für das Bewusstsein dafür, dass es sich um einen finanziell attraktiven Markt handelt. Gab es in Asien schon immer eine Faszination für Fußball? Auf jeden Fall! Dieser Sport war bei uns schon immer ein Phäno­ men. Fast jeder spielt hier hobbymäßig selbst Fußball. Die Fas­ zination und Begeisterung ist überall spürbar. Und der deutsche Fußball reißt die Menschen hier bereits seit vielen Jahrzehnten mit. Legenden wie Hansi Müller oder Horst Hrubesch haben be­ reits die ältere Generation fasziniert und beeinflusst. Wie unterscheiden sich asiatische BVB-Fans von den euro­päischen? Sie sind nicht so ungehemmt wie ihre Pendants in Europa oder Deutschland. Die Fans sind sicher leidenschaftlich – aber auf eine leisere und konservativere Art. Sie haben sich mehr unter Kontrolle, was mit der Kultur und Mentalität zu begründen ist. Was sehr auffällt: Die Loyalität zu einer Stadt oder generell zu einem Verein ist nicht so ausgeprägt. Die Menschen begeistern sich hier viel eher für bestimmte Einzelspieler als für ein ganzes Team. Es sind vor allem die Superstars, die hier die größte Be­ geisterung auslösen. Welche Fan-Accessoires laufen in Singapur ganz besonders gut? An erster Stelle steht natürlich das BVB-Trikot, wobei die Fans hier mehr auf das Poloshirt stehen. Man kann es nicht nur im Fußball­stadion, sondern auch im Kino oder im Restaurant anzie­ hen. Sehr gut laufen auch die BVB-Fancaps. Die Bilanz der Asienreise des BVB im Juli 2016 fiel positiv aus. Was ist Ihnen persönlich in besonders guter Erinne- rung geblieben? Der Enthusiasmus der Fans war einfach unglaublich. Wir hatten entschieden, dass alle Spieler am Flughafen durch den Hauptaus­ gang und nicht durch eine VIP-Alternative gehen – mit der Folge, dass sie dort von mehr als 500 Fans in Empfang genommen wur­ den. Weibliche Fans kreischten vor Begeisterung, die Stimmung war der Wahnsinn. Viele Fans folgten dem Mannschaftsbus bis zum Hotel und harrten dort teilweise Tag und Nacht aus. Wie sehr geht es auch auf das Konto von Spielern wie Park Joo-ho oder Shinji Kagawa, dass der BVB in Asien so populär ist? Das ist sicher einer der wichtigsten Faktoren. Vor allem Kagawas Erfolg begeistert im südostasiatischen Raum besonders viele und motiviert junge aufstrebende Talente, ebenfalls eine Profikarriere anzustreben. In Japan, Südkorea oder China sind die beiden um­ schwärmt wie Popstars. Aber Gleiches gilt genauso für Marco Reus, Sven Bender und viele andere Spieler des BVB. Suresh Letchmanan 7
  • 9. Wie lange rauchten im Vorfeld die Köpfe, bis die Eröffnung des Singapur-Büros beschlossene Sache war? Wir sind da ziemlich analytisch vorgegangen und haben diverse Parameter angeschaut: Welche Regionen boomen besonders? In welchen asiatischen Ländern findet Bundesliga-Fußball über­ haupt statt und wo wird Fußball „made in Germany“ besonders wertgeschätzt? Und eine weitere wichtige Frage war für uns: Wie setzen wir die Internationalisierung unseres Vereins am besten um? Gab es eine Initialzündung? Das war sicher auch die Rückkehr von Shinji Kagawa zum BVB Ende August 2014. Mit ihm hatten wir wieder ein Gesicht für eine Region, die ich jetzt mal weitläufig als Asien bezeichnen würde. Ein Spieler wie Kagawa stellt im asiatischen Raum natür- lich einen besonderen Joker dar … Man merkt tatsächlich deutlich, dass die Identifikation der Men­ schen in dieser Region mit einem asiatischen Gesicht sehr groß ist und dass sich dadurch auch Türen öffnen. Dass Spieler wie Marco Reus bei einer Asienreise des BVB ebenfalls Riesenhigh­ lights für die Fans darstellen, versteht sich aber von selbst. Welcher Fußballmarkt Asiens ist der in Ihren Augen am meisten entwickelte? Auf jeden Fall Japan. Von dort kommen die meisten asiatischen Spieler, die international eine teilweise beachtliche Rolle spielen, es gibt eine professionelle Ligastruktur und Fußball ist eine Sportart, die sich dort am stärksten nach europäischem Vorbild entwickelt. Wie erklären Sie sich die wachsende Begeisterung asiati- scher Fans für den BVB? Gerade im Fußball genießt „made in Germany“ einen extrem guten Ruf. Davon profitieren wir natürlich auch. Wieso fiel die Standortwahl für das Marketingbüro auf Singapur? Zum einen haben wir hier einen der wichtigsten Finanz- und Wirtschaftsmärkte der Region. Singapur ist ein Schmelztiegel. Hier kommt die Welt zusammen, trifft Osten auf Westen und es leben verschiedene Kulturen und Religionen friedlich und in politisch stabilen Verhältnissen miteinander. Zum anderen ist da die perfekte Lage und Schlüsselstellung als Plattform für den übrigen Markt. Von Singapur aus kommst du schnell nach Süd­ ostasien, Nordasien, Japan oder auch Australien. Der Stadtstaat ist ein relativ neutraler Standort, von dem aus es sich wunderbar strategisch arbeiten lässt. Welche Zwischenbilanz ziehen Sie nach zwei Jahren? Wir sind sehr glücklich über erste Erfolge, etwa die direkte An­ bindung an unseren Hauptsponsor Evonik, in dessen Singapur- Dependance wir unser Büro haben, und an unseren Ausrüster Puma. Beide Partner treffen von Singapur aus sehr viele gute strategische Entscheidungen. Außerdem haben wir mit Suresh Letchmanan einen super Kollegen gefunden, der uns mit echtem Know-how im asiatischen Fußball bereichert und zudem ein Singapurer ist. Das kommt bei unseren Partnern im südostasia­ tischen Raum bestens an. Haben Sie Beispiele für die ersten Erfolge? Abgesehen davon, dass die Sichtbarkeit in der Region deutlich zugenommen hat, konnten wir in Thailand, Malaysia, Singapur, China und der Mongolei Kooperationspartner gewinnen; in Thai­ land gleich zwei. In diesen Ländern hat der Markt ein ganz be­ sonders großes Potenzial. Das Praktische ist: Wir kommen über­ all schnell hin. Deshalb haben wir uns ja auch für Singapur entschieden. Weil die Stadt logistisch einfach eine extrem attrak­ tive Lage hat – und natürlich auch deshalb, weil sie absolut fas­ zinierend und spannend ist. Carsten Cramer 8
  • 10. Tanjong Pagar Road: mit dem Taxi auf dem Weg zum Marina Bay Sands Hotel In jeder Ausgabe des SingaPur-Magazins zeigt uns ein Fotograf seinen Blick auf die Stadt. Marco Seifet fängt mit seiner Kamera Singapur als „die Stadt der Farben“ ein. M Y P O I N T O F V I E W
  • 11. Es ist der erste globale Feldversuch seiner Art: In Singapurs Uni- viertel One-North befindet sich derzeit ein vier Quadratkilometer großes Testgebiet für selbstfahrende und selbstlenkende Taxis. Fahrgäste können die derzeit im Einsatz befindlichen sechs Autos per Smartphone-App anfordern. Verantwortlich für die Hightechpremiere ist das US-Start-up-Unternehmen nuTonomy, das nach der Testphase bis 2018 die Robo-Taxis im gesamten Stadtstaat auf die Straßen bringen möchte. „Singapur hat unsere Forschungen von Anfang an unterstützt und auch einen Teil zur Finanzierung beigetragen. Außerdem waren für uns die Topinfra- struktur und der gute Zustand der Straßen wichtige Argumente, unsere Fahrzeuge gerade hier zu testen“, sagt Chief Operating Officer Doug Parker. Auch wenn der Fahrer fehlt – ganz allein ist man derzeit noch nicht im Taxi; während der Testphase befindet sich stets ein Nutonomy-Mitarbeiter mit an Bord, der im Notfall eingreifen kann. Weltpremiere Mit seinen innovativen Produkten für kardiologische Medizin­ technik zählt Biotronik seit Jahren zu den weltweiten Marktfüh- rern. Jetzt hat das Berliner Unternehmen sein globales Produk­ tionsnetzwerk um einen weiteren hochkarätigen Standort erweitert: So verfügt das im Herbst in Singapur neu eröffnete Werk unter anderem über einen 1.500 Quadratmeter großen Reinraum der ISO-Klasse 7. Für den globalen Markt produziert werden sollen vor allem innovative Produkte aus den Geschäftsbereichen Defibrillatoren und Herzrhythmustherapie. „Die hoch qualifizier- ten Arbeitskräfte, die hervorragende Infrastruktur vor Ort und das gute Geschäftsumfeld machen Singapur zu einem idealen Standort für Biotronik“, sagt Geschäftsführer Erik Trip. Das neue Werk schafft rund 200 neue Arbeitsplätze für Fachkräfte und Spezialisten im Bereich Forschung und Entwicklung. Biotronik plant, in den kommenden Jahren weitere 20 Millionen Euro in das Singapur-Werk zu investieren. Standort-Jackpot n e 10
  • 12. Damit in Zukunft auch mittelständische Unternehmen vermehrt in der Lage sein werden, modernste Robotertechnologie in ihre Produktionsprozesse zu integrieren, gibt Singapurs Regierung zusätzliche Budgets frei: Das 2015 ins Leben gerufene National Robotics Programme erhält in den kommenden drei Jahren wei­ tere Finanzspritzen von insgesamt rund 296 Millionen Euro. Die Initiative unterstreicht Singapurs Anspruch, die Automatisierung zu einem Schwerpunkt des wirtschaftlichen Transformationspro- zesses zu machen. „Wir möchten Wege finden, dass der Mittel- stand auch in der Lage ist, die neuen Technologien anzuwenden“, sagt S. Iswaran, Singapurs Minister für Handel und Industrie. Robotertechnologien würden viele neue Möglichkeiten bieten und die Produktivität erhöhen. „Auch wenn dadurch bestimmte Jobs in Zukunft zunehmend verschwinden, entstehen gleichzeitig viele neue“, sagt Iswaran. Umschulungs- und Weiterbildungs- maßnahmen werden zudem ein wichtiger Teil des Restrukturie- rungsprogramms sein. Roboter für alle Dass Singapur zu den weltweiten Vorreitern in Sachen Innova­ tion, Forschung und neue Technologien zählt, ist seit Langem bekannt. Einen besonders eindrucksvollen Beleg dafür, was für eine tragende Rolle Forschung und Entwicklung im Stadtstaat tatsächlich spielt, liefern die Budgetplanungen für die kommen- den fünf Jahre: 17,3 Milliarden Euro wird die Regierung für RIE 2020 (Research, Innovation and Enterprise) bis 2020 zur Verfü- gung stellen. Das sind nicht nur 18 Prozent mehr als zwischen den Jahren 2011 und 2015, in denen 14,5 Milliarden Euro investiert wurden, sondern ist die bislang höchste Summe überhaupt. Generell verfügt Singapur über eine sehr gute Infrastruktur für Aktivitäten in der Forschung und Entwicklung: Wissenschaft und Wirtschaft führt ein Cluster von mehreren Industrieparks im Stadtteil One-North zusammen. Dort befinden sich auch eine staatliche Universität, ein Universitätsklinikum, die Fachhoch- schule für Polytechnik sowie der Park für angewandte Forschung Singapore Science Park. Rekordsumme w s
  • 13. Singapur will global die erste „Smarte Nation“ werden. Was bedeutet das – und wie können deutsche Unternehmen davon profitieren? SMARTE NATION SINGAPUR – NACHHALTIGES LEBEN IN EINER VERNETZTEN WELT 12
  • 14. „Singapur ist ein kleines Land“, betont Goh Chee Kiong, Executive Director Clean- tech & Cities, Infrastructure & Industrial Solutions des Singapore Economic Deve­- l­opment Board (EDB). „Die beengten Ver- hältnisse in Singapur machen es nötig, intensiver über die Nutzung des vorhan­ denen knappen Raumes nachzudenken als in anderen Metropolen.“ Denn der Insel- stadtstaat kann sich – trotz zahlreicher erfolgreicher Landgewinnungs­maßnah­ men in den vergangenen Jahren – nicht mehr viel weiter meerseitig ausdehnen, ohne in Grenzkonflikte zu geraten. Mit einem Staatsgebiet von 710 Quadrat­kilo­ metern ist das Territorium etwas kleiner als die Hansestadt Hamburg. Dafür leben hier dreimal so viele Menschen: circa 5,5 Millionen. 2030 werden es Prognosen zufolge mehr als sechs Millionen sein. Damit die Lebensqualität nicht abnimmt, sondern sogar noch verbessert wird, un- ternehme Singapur gewaltige, langfristig orientierte Anstrengungen, wie Goh sagt, die alle Bereiche des gesellschaft­lichen Miteinanders beträfen: von Verkehr und Healthcare über Wohnen und Sicherheit bis hin zu Umweltschutz und Infrastruktur. 13
  • 15. Den Bürgern das Leben erleichtern Als Schlagwort dafür hat sich internatio- nal der Begriff „Smart City“ herausgebil- det. Smart Citys sind gut funktionierende Organismen, die auch für die nächsten Generationen vital und lebenswert sind. In den vergangenen Jahren haben mehrere Städte auf der ganzen Welt sogenannte Smart City Solutions umgesetzt, um ihren Bürgern das Leben zu erleichtern. Dies geschah – wie in der spanischen Vor­zeige- stadt Santander – in erster Linie auf Grundlage einer massiven Erhebung von Daten. Hier geben beispielsweise Sensoren an Verkehrsampeln und Überwachungs­ kameras Auskunft über die Situation auf den Straßen und ermöglichen eine Opti- mierung des Verkehrsflusses durch regu- lierende Maßnahmen. In der Vernetzung liegt die Kraft Singapur ist aber schon wesentlich weiter. Es geht hier nicht mehr nur um smarte Einzelprojekte, sondern um das große Ganze: Vor zwei Jahren hat Premierminister Lee Hsien Loong deshalb einen neuen Entwicklungsplan ausgerufen: „Smart Nation“. Er sagte: „Es gibt viele Städte, die ‚smart‘ sein wollen. Der Unterschied zu uns ist: Singapur ist nicht nur Stadt, sondern gleichzeitig auch ein Land. Das bedeutet, wir können das Thema ganz- heitlich und nicht nur aus der Sicht einer Kommune angehen. Wir sind in der Lage, sämtliche Ressourcen von Institutionen, Bevölkerung und Unternehmen, die eine Nation ausmachen, zu bündeln, um uns voll auf die großen komplexen Probleme zu konzentrieren, also auf all das, was für uns, für die Menschen, von Bedeutung ist. Es geht also nicht um berauschende High- tech, sondern darum, unser Leben positiv zu verändern.“ Nachhaltigkeit („Sustainability“) ist der Schlüsselfaktor. Das Programm „Smart Sustainable Nation“ nutzt konsequent das Potenzial modernster Informations- und Kommunikationstechnologie. Im Mittel- punkt stehen laut Goh Big Data, Analyse- technologien und vor allem Sensornetz- werke. Zum einen wird die Datenerhebung mit neuen Sensoren intensiviert. „Wir haben mehr als 1.000 Sensoren in der gan- zen Stadt verteilt, noch einmal so viele werden in Kürze hinzukommen“, so Goh. Zum anderen aber – und das ist das Ent- scheidende – werden die gewonnenen Daten künftig immer besser miteinander vernetzt, indem sie durch Datensilos von Regierungsämtern geleitet werden, die vertikale Themen wie Umwelt, Sicherheit oder Energie intelligent miteinander ver- zahnen. Mitwirkung der Bürger gefordert Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Mitwir- kung der Bürger bei der Erhebung und Aktualisierung von Daten: Einwohner von Singapur haben die Möglichkeit, die Datenbanken, die mit den Orten verknüpft sind, in denen sie wohnen oder sich anderweitig aufhalten, selbst zu aktuali- sieren. So können sie beispielsweise mit ihrem Mobiltelefon defekte Beleuchtungs- anlagen melden oder vor Verkehrsun­fäl­ len warnen. Das alles geschieht in Echt- zeit und wird auf der 3-D-Karte des Stadtstaates sichtbar gemacht. Goh: „Hier- bei kommt Singapur zugute, dass wir mit durchschnittlich mehr als einem Smart- phone pro Einwohner wohl die höchste Smartphone-Dichte der Welt haben.“ Auf der öffentlich zugänglichen „Smart Nation Platform“ (SNP) werden Regierung, Bürger, privater Sektor und Forschungs- einrichtungen zusammengebracht. Bei die- sem ganzheitlichen Ansatz ziehen alle an einem Strang. Mithilfe der Daten aller Be- teiligten lassen sich zielgenau neue Tech- nologien exakt dort einsetzen, wo ihre Wirkung am größten ist. „Lebendiges Testlabor“ „Singapur ist wie ein lebendiges Testlabor für Vorhaben, die hier bereits Realität sind, während sie woanders bloße Zukunftsvisi- onen sind“, betont Goh. So wurden zum Beispiel in Singapur schon die ersten Ver- suche selbstfahrender Taxis unternom- men. Außerdem unterstützt der Stadtstaat Forschungen rund um das autonome Fah- ren und ermöglichte etwa dem Unterneh- men nuTonomy, in einem 2,5 Quadrat­ kilometer großen Geschäftsviertel Tests durchzuführen. Infrastruktur, Wetter und Straßenverhältnisse sind ideal dafür. Unternehmen können laut Goh im Schul- terschluss mit der Regierung innovative urbane Lösungen entwickeln und ver- markten. „Sie können hier Tests in einer sicheren und überwachten Umgebung durchführen und bei Erfolg relativ prob- lemlos damit an den Markt gehen“, so Goh. Setzen sich die Lösungen dann in Singapur durch – wie jüngst Wasserauf­ bereitungstechnologien oder Transport- managementtools –, lassen sie sich oft auch in andere asiatische Länder exportie­ ren und können dabei hohe Skalen­effekte erzielen. Das heißt, die Kapazitäten wer- den erhöht, ohne dass die Investitionskos- ten entsprechend steigen, was wiederum zur Folge hat, dass der Gewinn wächst. „Vor allem solche skalierbaren Geschäfts- ideen sind es, die staatlichen Behörden am Herzen liegen“, sagt Goh. Neues ausprobieren – Fehler zulassen In der Regel werden Initiativen erst ein- mal im kleinen Maßstab beziehungsweise in kleinen Mengen erprobt und erst dann ausgeweitet, wenn sie reif genug sind. Oft ist dafür ein langer Atem nötig. So habe laut Goh beispielsweise die nationale Wasserbehörde in Singapur, das Public Utilities Board, bislang schon ungefähr 150 Pilotprojekte für Wasseraufbereitungs- technologien begleitet. Andere vielversprechende Modelle werden zunächst in begrenztem Rahmen getestet. Das können smarte Systeme für die häus- liche medizinische Pflege von älteren Menschen in der Nachbarschaft sein oder neu entwickelte Energieeffizienzmaßnah- men, die dann zunächst in bestimmten Stadtgebieten eingesetzt werden. Goh: „Eine große Anziehungskraft auf Unter- nehmen geht von unserem systematischen Ansatz aus. Dieser ist: Neues ausprobieren, Fehler zulassen, daraus lernen und den Test­ rahmen dann bis zur Marktreife schritt­ weise vergrößern.“ Auf diesem fruchtbaren Boden gedeihen zukunftsweisende Ideen. 80 Prozent grüne Gebäude bis 2030 Eine Anwendung wird beispielsweise bei der Reinhaltung der Gemeinschaftsan­ lagen in den HDB-Gebäuden (Housing and Development Board) behilflich sein – den staatlichen Wohnungen von Singapur, die fast 80 Prozent des Immobilienbe- stands ausmachen. Sie informiert in Echt- zeit über den Umfang der Abfälle, die in jedem Wohnblock, jeder Straße, jedem Viertel entsorgt werden müssen. Ein wei- teres Projekt, das Singapur beispielsweise im Verkehrsbereich mit großer Dynamik vorantreibt, ist die „Kilometer-Maut“: Man zahlt nur für die tatsächlich gefahre- ne Strecke. Im Umweltsektor wiederum ist es unter anderem das Ziel, dass bis 2030 mindestens 80 Prozent aller Gebäude in puncto Energieeffizienz als grüne Gebäude zertifiziert werden. 14
  • 16. GOH CHEE KIONG – EXECUTIVE DIRECTOR CLEANTECH & CITIES An all diesen Beispielen wird deutlich: Die Anstrengungen, die Singapur unter- nimmt, um seiner Rolle als „lebendiges Testlabor“ gerecht zu werden, dienen so- wohl dem Ziel, sich zu einer „smarten, nachhaltigen und lebenswerten Nation“ zu entwickeln, als auch der Wirtschaft, indem hier ganz neue Geschäftsfelder und -möglichkeiten entstehen. Smarte Industrie – klare Vorteile für deutsche Unternehmen Der Begriff „smart“ ist dabei keineswegs nur auf grüne Technologien oder auf Um- weltschutz beschränkt. Er steht auch für die Automatisierung und Digitalisierung industrieller Produktionen und Prozesse. Industrie 4.0 (siehe Interview Lim Kok Kiang), Big Data, Internet of Things – all das eröffnet neue Perspektiven und be- schleunigt die Entwicklung Singapurs zur „Smart Nation“. Das hat viele deutsche Unternehmen auf den Plan rufen. An vor- derer Stelle stehen Spezialisten wie der Industriekonzern Bosch, der Software­ hersteller SAP, der Filtersysteme-Anbieter Mann+Hummel, der Sensorenentwickler Pepperl+Fuchs oder der Technologieriese Siemens, die in Singapur mit Niederlassun- gen, regionalen Headquarters sowie For- schungs- und Entwicklungszentren vertre- ten sind. Die Vorteile liegen auf der Hand, wie Goh sagt: „Erstens ist Singapur für sie eine Modellstadt für Asien. Von hier aus können sie sich ideal auf den Wachstums- markt vorbereiten. Zweitens finden sie eine Umgebung vor, in der sie ihre kreati- ven Ideen direkt auf deren Anwendbarkeit testen können. Drittens profitieren sie von enormen Investitionen der Regierung in die Forschung. Und viertens können sie auf einen gigantischen Fundus an öffent- lich zugänglichen Daten zurückgreifen, der in dieser Komplexität auf der Welt ein- zigartig ist.“ Zusammengenommen sorgen diese Gege- benheiten nach den Worten Gohs für ein gewaltiges Potenzial Singapurs, Lösungen für Gegenwart und Zukunft zu entwickeln, die weit über Südostasien hinaus relevant sind und für veränderte Verhaltensweisen im globalisierten Zeitalter stehen. Mit dem Gesamtkonzept „Smart Nation“ will die pulsierende Millionenmetropole zur nach- haltigsten und lebenswertesten Stadt in ganz Asien werden – ein Ziel, das in vie- lerlei Hinsicht heute schon erreicht ist. 15
  • 17. Industrie 4.0 – ursprünglich ein deutscher Begriff für den aktuellen Trend, IT-Technologien mit Produktions- technologien zu verschmelzen, um dadurch neue, innovative Produkte und Leistungen zu ermöglichen – elektri- siert seit geraumer Zeit die Wirtschaft. Was ist so spannend daran? Industrie 4.0 ist in der Tat eine deutsche Wortschöpfung. Ähnliche Initiativen gibt es allerdings in vielen Ländern. In den Niederlanden beispielsweise besteht sie unter der Bezeichnung „Smart Manufac­ turing“, zu Deutsch: „Intelligente Ferti- gung“. Andere nennen sie „Digital Manu- facturing“, wieder andere „Smart Factory“, also „Intelligente Fabrik“. Die Chinesen sprechen von „Made in China 2025“. Ver- schiedene Länder, verschiedene Regio- nen, verschiedene Unternehmen verwen- den also unterschiedliche Begriffe. Sie alle basieren auf der Grundidee, dass man eine Reihe ausgereifter fortschrittlicher Technologien so intelligent miteinander verzahnt, dass Herstellungsprozesse kom- plett anders laufen können als bisher be- kannt. Und das macht es so spannend. Welche fortschrittlichen Technologien hat Singapur vor allem im Blick? Auf der einen Seite interessieren uns fortschrittliche Fertigungstechnologien, prozessorientiert, wie 3-D-Druck oder Robotertechnik. Auf der anderen Seite Technologien, die digitaler Natur sind und mit dem Begriff „Internet der Dinge“ ver- bunden werden. Er bezeichnet die Verknüp- fung physischer Objekte wie Maschinen, Geräte, Autos oder Gebäude mit einer vir- tuellen Repräsentation in einer internet- ähnlichen Struktur. Prozessoren, Sensoren und Netzwerktechnik, die in den Objekten eingebettet sind, ermöglichen die Daten­ erfassung und den Datenaustausch – als Grundlage für intelligente Automatismen und optimierte Abläufe. Man kann sagen, dass Ingenieurkunst und „IT“ immer stär- ker zusammenwachsen und verschmel­zen. Das wird die Fertigung revolutionieren. Warum widmet sich gerade Singapur so leidenschaftlich diesem Thema? Ein Grund, warum wir davon so begeistert sind, ist: Seit unserer Unabhängigkeit 1965 macht die herstellende Industrie einen großen Teil unserer Wirtschaft aus. Sie trägt in erheblichem Maß zu unserem Bruttoin- landsprodukt bei und hat zahlreiche attrak- tive Arbeits- und Aufstiegsmöglichkeiten für die Menschen in Singapur geschaffen. In vielen Bereichen sind wir in puncto Technologie und Effizienz bereits spitze. Die Industrie in Singapur hat eine kritische Masse erreicht, sei es im Halbleitersegment, in der Luft- und Raumfahrt oder im Erdöl- und Chemiesektor. Das macht Singapur wettbewerbsfähig und als Investitionsstand­ ort begehrt. Deutsche Firmen spielen hier- „WIR BEOBACHTEN EINE AUFREGENDE DYNAMIK“ LIM KOK KIANG – ASSISTANT MANAGING DIRECTOR DES EDB 16
  • 18. bei eine große Rolle, etliche von ihnen sind schon seit langer Zeit hier, wie Siemens, Evonik oder Infineon. Heute ist Singapur für sie ein wichtiges strategisches Stand- bein. Sie schätzen es, dass sie hier ein ide- ales Umfeld vorfinden, um das Zukunfts­ projekt Industrie 4.0 in ihren Fabriken und Werkstätten umsetzen und vorantreiben zu können. Auch wir profitieren davon. Deutsche Unternehmen sind starke Part- ner für uns, nicht zuletzt weil sie im Inge- nieurwesen und in der Fertigung führend sind. Die Kooperation mit ihnen hilft uns dabei, in der digitalen Herstellung Gel- tung zu erlangen und an Industrie 4.0 zu partizipieren. Es ist ein perfektes Zusam- menspiel. Der andere Grund, warum Singapur von Industrie 4.0 begeistert ist: Die Initia­tive ist geradezu existenziell für uns, weil unsere Ressourcen nun mal knapp sind. Humankapital, Land und Raum sind be- grenzt. Industrie 4.0 versetzt Singapur in die Lage, diese Verknappung in gewisser Weise zu überwinden und dadurch auf dem Gebiet der Fertigungsindustrie wett- bewerbsfähig zu bleiben und sogar noch zu wachsen. Deshalb gehen wir hier we- sentlich offensiver vor als andere Länder, indem wir Entwicklungen anstoßen und Unternehmen dabei unterstützen, den nächsten Schritt in diese Richtung zu wa- gen. Tatsächlich beobachten wir eine auf- regende Dynamik. Singapur ist wirtschaftliche Dreh- scheibe für ASEAN und Asien. Wie wird sich diese Rolle angesichts Industrie 4.0 verändern? Es gibt einige unausweichliche Entwick- lungen. Asien wird als Wirtschaftsraum wachsen. Aber wir wissen auch, dass Asien zersplittert ist. Einige würden sagen, dass sogar China nicht homogen ist und gewis- sermaßen aus mehreren Chinas besteht, was etwa die Nachfragesituation und wei- tere wirtschaftliche Rahmenbedingungen betrifft. ASEAN wiederum besteht offen- kundig aus zehn recht unterschiedlichen Nationen. Es ist ein gigantischer Markt, aber durch teils stark differierende Merk- male und Eigenheiten gekennzeichnet. Mit den Möglichkeiten, die Industrie 4.0 bietet, kann man den jeweiligen Märkten und Marktbedürfnissen noch besser gerecht werden als bislang – etwa durch datenge- triebene Serviceleistungen und Lösungen, aber auch durch Herstellungsverfahren, die es erlauben, ohne ausufernde Kosten maßgeschneidert zu produzieren. Die Digitalisierung wird auch die Logistik be- einflussen. Ich kann beispielsweise einen 3-D-Drucker, der Sportschuhe exakt nach den Wünschen des jeweiligen Kunden „druckt“, in China genau dort aufstellen, wo die Nachfrage groß ist, und muss nicht mehr aus Kostengründen umständlich in einem anderen Land produzieren und dann von dort anliefern lassen. Je nach Industriezweig kann die digitale Fertigung auf der einen Seite serielle Maßanferti- gung und Dezentralisierung der Produk­ tion bedeuten, aber auf der anderen Seite auch zur Zentralisierung des gesamten Herstellungsprozesses an einem Standort führen. Es kommt auf den Bedarf an und das Produkt. Ich denke, dass Singapur eine wichtige Rolle für Unternehmen spielen wird, die in diesem Bereich investieren wollen. Wie gesagt ist die Fertigungsindustrie hier zu Hause und wird gefördert. Unsere Vision ist, dass alle Herstellungsbetriebe in Singapur zu den besten am Markt ge­ hören – bezogen auf Technologie, Produk­ tivität und Effizienz. Darum entwickeln wir kontinuierlich weiter, seien es Produkte, Prozesse oder Lösungskonzepte, die in der Region umsetzbar sind. Sollte sich ein Unternehmen dazu entschließen, die Fer- tigung zu dezentralisieren und in verschie- dene Länder zu verlagern, dann empfiehlt sich Singapur als geeigneter Sitz, von wo aus alles gemanagt werden kann, nicht zuletzt deshalb, weil hier geistiges Eigen- tum und Echtzeitdaten sicher sind und zuverlässig geschützt werden. Man mag beispielsweise in jedem asiatischen Markt 3-D-Drucker installieren, um nah an den Konsumenten zu produzieren. Allerdings muss es eine Zentrale geben, von wo aus die Produktion gesteuert und kontrolliert wird. Dafür ist Singapur der ideale Standort. DIE BEDEUTUNG VON INDUSTRIE 4.0 FÜR SINGAPUR, ASIEN UND DEUTSCHE UNTERNEHMEN 17
  • 19. W I E G E N A U R I E C H T E I G E N T L I C H E R F O L G ? Siemens und Evonik öffnen gemeinsam neue Horizonte für die industrielle Digitalisierung 18
  • 20. Wer an der Zukunft arbeitet, möchte wissen, wer ihm dabei über die Schulter schaut. Schon im Bus die erste Passkontrolle. Sind auch alle Journalisten registriert? Dann die Schranke passieren, aussteigen. Leibesvisitation, nochmals Identität feststellen, Daten­vergleich. Wieder in den Bus zurück, erneut durchzählen, weiter geht’s. Die kilometerlangen Straßen hinter der Absperrung führen zu den Chemieanlagen internationaler Big Player wie BASF, BP und LANXESS. Wo man hinsieht, verschlungene Rohre, im Sonnenlicht aufblitzend. Arbeiter, denen die Hitze nichts aus- zumachen scheint. Mehr als 100 Unternehmen der Spezialchemie und petrochemischen Industrie tummeln sich auf Jurong Island in Singapur. Eldorado für die Chemieindustrie Ehemals war dieser südliche Zipfel des Stadtstaates lediglich eine Ansammlung von sieben kleinen, mückengeplagten Inseln, die zusammen etwa zehn Quadratkilometer groß waren. Um Platz zu schaffen, ließ die Regierung ab 1995 die Flächen dazwischen mit Sand aufschütten. Mittlerweile erstreckt sich der Industrie- park auf 32 Quadratkilometer und bildet den größten Chemie­ cluster in Südostasien. Weil Asien als Absatzmarkt für chemische Erzeugnisse an Bedeutung gewinnt, drängen die Konzerne in die Region. Eine Studie der Unternehmensberatung Roland Berger kommt zu dem Ergebnis, dass bis 2035 der Anteil des asiatischen Marktes am weltweiten Chemieumsatz auf 62 Prozent steigen wird. Evonik erweitert Kapazitäten Unser Ziel an diesem Tag: die Anlage für Öladditive des Essener Spezialchemieunternehmens Evonik. Peter Meinshausen, Regio- nal President Südostasien, Australien und Neuseeland, ist be­ eindruckt von der Infrastruktur auf Jurong Island, seiner idealen geografischen Lage, der Verfügbarkeit von Rohstoffen und quali- fizierten Arbeitskräften und nicht zuletzt der lokalen Unterstüt- zung durch Singapurs Regierungsorganisationen wie die Behörde für Wirtschaftsentwicklung, das Singapore Economic Development Board (EDB). Wir steigen aus. Es weht uns ein süßer, beißender Geruch entgegen. Es ist der Geruch des Erfolgs: Die steigende Mobilität in Asien, der höhere Stellenwert von Ressourceneffizi- enz und Kraftstoffeinsparung sowie die strengeren Vorgaben von Emissionsgrenzwerten kurbeln die Nachfrage nach Hochleis- tungsschmierstoffen an, wie Meinshausen berichtet. Deshalb haben die Essener vor einem Jahr die Produktionskapazität der 2008 für zehn Millionen Euro errichteten Ölzusatzanlage erwei- tert. Sie ist nun die größte innerhalb des weltweiten Evonik- Netzes. Derzeit bedient Evonik die Mehrheit seiner Kunden aus dem asiatischen Raum mit Produkten aus der Anlage in Singapur. Auch ein Technology Center, das neue Anwendungen für Öladdi- tivprodukte entwickelt und testet, hat seit 2014 hier seinen Sitz. Rekordinvest für die Essener Einige Hundert Meter weiter steht die bislang größte Investition der Firmengeschichte von Evonik: die im November 2014 eröffnete, rund 500 Millionen Euro teure Anlage zur Produktion von Me­ thionin. Das sind Aminosäuren, die zur Herstellung von Futter- mitteln in der Tierernährung eingesetzt werden. Jahreskapazität: 150.000 Tonnen. Doch das reicht nicht. Anfang 2016 wurde der Startschuss gegeben, um bis 2019 hier eine weitere Methionin- Anlage zu errichten. Angeschlossen ist seit 2013 zudem ein Analy­ tikzentrum für Aminosäuren. Auch viele Marketing- und Vertriebs- aktivitäten sowie die meisten internen Dienstleistungen für die Region hat das Unternehmen in Singapur gebündelt. Evonik weist keine separaten Finanzzahlen für Singapur aus. Dem Geschäfts- bericht ist zu entnehmen, dass der Konzern im Asien-Pazifik- Raum 2,84 Milliarden Euro Umsatz macht – ungefähr 21 Prozent des Gesamtumsatzes. Mehr als 900 Mitarbeiter sind in Südost­ asien beschäftigt. Vertrauter Partner Siemens Das Unternehmen strebt danach, eines der innovativsten der Welt zu werden. Um die Entwicklung voranzutreiben, ist Evonik auf kompetente Partner angewiesen, mit denen man auf Zukunftsfel- dern wie der Digitalisierung vertrauensvoll zusammenarbeiten kann. Und hier kommt ein weiteres deutsches Unternehmen ins Spiel: Siemens. Der Münchener Technologiekonzern arbeitet schon seit vielen Jahren in Deutschland, Europa und anderen Teilen der Welt eng mit Evonik zusammen. Die ausgeklügelte Stromversor- gungstechnik für die Methionin-Anlage auf Jurong Island bei- spielsweise stammt von Siemens. Das Alarmmanagementsystem der Öladditiveanlage ebenso. Hier sorgen softwaregesteuerte, miteinander kommunizierende Analyseinstrumente und integ- rierte Prozessautomatisierungen dafür, dass Fehler oder kritische Situationen schnell erkannt, bewertet, priorisiert und sicher be- hoben werden. Mithilfe von Siemens lassen sich die Alarme und die Auslöser der Alarme besser aussteuern – ein enormer Zeit­ gewinn und ressourcenschonend obendrein. Singapur als Vorzeigemarkt Seit 1908, also mehr als 100 Jahre, ist Siemens in Singapur. „40 Prozent der Energie des Stadtstaates werden von Turbinen der Münchener erzeugt“, betont Dr. Armin Bruck, CEO von Siemens Singapur und ASEAN. Die Nähe zu den wachsenden asiatischen Märkten, eine breite Auswahl kompetenter Mitarbeiter und das gute Networking der lokalen Universitäten, Polytechnika und der öffentlichen Forschungsinstitute machen Singapur für Siemens so attraktiv. Aber auch die Unterstützung durch die Regierung bezie- hungsweise deren Einrichtungen und nicht zuletzt die politische Stabilität. „Singapur ist für uns ein Vorzeigemarkt“, so Bruck. 19
  • 21. „Weil er anderen Ländern in der Region zeigt, wo sie selbst stehen können in den kommenden 10, 15 oder 20 Jahren.“ 2015 beschäf- tigte das Unternehmen über 1.500 Mitarbeiter im Land und erwirtschaftete 436 Millionen Euro. Die Hauptgeschäftsfelder sind Energie, Medizintechnik, Industrie und Infrastruktur. Bruck geht von einem dynamischen Wachstum in den kommenden Jahren aus. Das Bankhaus Goldman Sachs bezifferte die voraus- sichtliche Nachfrage allein nach Energie und Mobilität im ASEAN-Raum auf 525 Milliarden US-Dollar bis 2020. „Eine Menge Geld und eine fantastische Chance für unser Haus“, so Bruck. Fokus Digitalisierung Seit mehr als 30 Jahren forscht und entwickelt Siemens auch in Singapur. Der Fokus liegt dabei auf Elektrifizierung, Auto­ matisierung und insbesondere Digitalisierung. „Industrieunternehmen in Südostasien sehen sich durch die Globalisierung einem wachsenden Wettbewerb ausgesetzt“, erklärt Raimund Klein, Executive Vice President und Head of Industry Siemens ASEAN. „Sie müssen die Digitalisierung voran- treiben, um ihre Produk­tivität zu erhöhen und gleichzeitig ihre Kosten zu senken. Siemens unterstützt sie dabei.“ Dafür bietet Siemens ein breites Spektrum an Lösungen, die Hardware, Soft- ware und technischen Service vereinen. „Wir helfen unseren Kunden, einen weiteren Schritt in Richtung Industrie 4.0 zu machen“, so Klein. Der „digitale Zwilling“ simuliert die Realität Siemens verwendet beispielsweise heute schon den „digitalen Zwilling“, der ein Abbild eines Produktes, einer realen Maschine oder einer realen Fabrik in virtueller Realität simulieren kann. Wenn es nach Raimund Klein ginge, würde dieser „digitale Zwil- ling“ schon bald jede Phase der Wertschöpfungskette be­gleiten – angefangen beim Produktdesign über die Produktionsplanung und das Engineering bis hin zu Inbetriebnahme, Betrieb, Service und Modernisierung. Beispiel Fertigungsindustrie: Wo entstehen Flaschenhälse? Wo wird in der Fertigung unnötig Zeit verschwendet? Wann empfiehlt sich der Einsatz von Robotern anstelle von Menschen? Welche Gefahrenquellen gibt es für die Mitarbeiter? All diese Fragen kann der „digitale Zwilling“ in seiner virtuellen Welt beantworten, noch bevor überhaupt der erste Stein der realen Fabrik gelegt, die erste Schraube für die Maschine angefasst wird. Das reduziere laut Klein die Kosten, beschleunige die Produktion und minimiere das Risiko von Fehlern und Störungen, die früher nur aufwendig und unter Zeitdruck zu beheben waren. „Wir können mit unseren Programmen die Produktion eines gesamten Monats simulieren, mit mehreren virtuellen Personen, die in der Fertigung arbeiten“, so Klein. Bis zu 6.000 Stück ließen sich in seiner Computer- welt „vor“produzieren. Dadurch werde beispielsweise sichtbar, wo sich die Mitarbeiter gegenseitig im Weg stehen, wo der Pro- zess ins Stocken gerät. Entsprechend könne dann das Konzept nachjustiert werden. Ist die Realisierung der Fabrik erfolgt, läuft der „digitale Zwil- ling“ dennoch weiter mit und wird mit Messdaten von moderns- ten Sensoren gefüttert, die überall angebracht sind. So lassen sich Umrüstvorgänge und der Produktfluss über den gesamten Lebenszyklus virtuell nachstellen, kann die Fertigung optimiert oder das Produkt modifiziert werden, um etwa den Energiever- brauch weiter zu senken oder Ressourcen einzusparen. Kernelement ist eine interdisziplinäre Datenplattform Basis dafür sind nicht nur leistungsstarke Programme, die in der Lage sind, alle Informationen zur Maschine, zur Produktionslinie oder zum Betrieb so zu verarbeiten und aufzubereiten, dass daraus virtuelle 1:1-Gegenstücke entstehen. Voraussetzung dafür, dass der ganz große Coup gelingt, sprich die vollständige Digi­ talisierung der Wertschöpfungskette, sei nach den Worten Kleins insbesondere eine einheitliche Datenplattform, die „interdis­ ziplinär einen lückenlosen Datenfluss über alle Unternehmens­ ebenen und Projektphasen hinweg ermöglicht“. Sämtliche Informa­tionen, ob aus der Mechanik oder Elektronik, werden dafür in einer zentralen Datenbank gespeichert, sodass alle am Projekt Beteiligten sowohl in der Planungs- als auch in der Betriebsphase darauf zugreifen können. „Nur so lässt sich die gesamte Fabrik bis hin zu einzelnen Bauteilen jederzeit und welt- weit funktions­orientiert und fachübergreifend betrachten und weiterent­wickeln“, sagt Klein. Dieses Prinzip gilt nicht nur für die Fertigungsindustrie, wie hier dargestellt, sondern ebenfalls – entsprechend angepasst – für die Prozessindustrie. Auch hierfür haben Klein und sein Team Modelle entwickelt. Auf dem Weg zur komplett digitalen Fabrik Siemens hat bislang bei Unternehmen zwar immer nur Teilbe­ reiche der Wertschöpfungskette digitalisiert. Das könnte sich aber bald ändern. Denn in Zukunft wird es immer mehr Fabriken und Anlagen geben, bei denen der komplette Produktionsprozess digitalisiert ist. Für dieses ganzheitliche Konzept haben Siemens und Evonik die Saat gelegt. 20
  • 22. M Y P O I N T O F V I E W 1 Cantonment Road: Blick vom Wohngebäude Pinnacle@Duxton
  • 23. TALENT SCHMIEDE SINGAPUR David Wong und seine „Lernfabrik“ an der Nanyang Polytechnic – Treffpunkt Nanyang Polytechnic (NYP) in Singapur. Auf den ersten Blick wirkt hier im Eingangsbereich alles sehr nüchtern und kühl. Im gewienerten Boden spiegeln sich die Aufzugstüren. Im Vorder­ grund eine hohe Glas­wand, dahinter Treppen zu einem Zwischengeschoss, das offensichtlich zu einer gigantischen Halle führt. 22
  • 24. 23
  • 25. 16.30 Uhr und niemand zu sehen Von den 17.000 Studierenden der Fachhochschule keine Spur. Gerade ist Examenszeit. Die meisten büffeln oder werden geprüft. Wenn es nicht zu heiß ist, trifft man einige von ihnen mit ihrem Laptop auf dem Schoß ir- gendwo auf dem ausladenden Campus. Denn das gesamte Areal verfügt über WLAN. Auf seiner 300.000 Quadratmeter großen Fläche hätten etwa 60 Fußballfelder Platz. Kon­zipiert wie eine Kleinstadt, befinden sich hier Schul- und Verwaltungsgebäude, eine Bibliothek, Studenten­apartments, Wohnhäuser fürs Perso- nal, Mensen, Cafeterien, ein Auditorium, Labore, ein Theater und Fremdsprachenzentrum, Fitnesscenter und Erholungsstätten sowie Einkaufsmöglichkeiten. Wer möchte, kann einem der zahl- reichen Clubs der NYP beitreten. Von Tanz und Sport bis Kultur wird alles ge­boten. Jeder Unterrichtsraum ist mit Computern und Beamern ausgestattet, und an diversen Druckständen lassen sich Manuskripte schnell vervielfältigen. Das alles hat einen Anteil daran, warum Singapur im weltweiten Wettbewerb um die klügs- ten Köpfe nun schon zum dritten Mal in Folge auf Platz 2 kam – hinter der Schweiz. Der Stadtstaat ist damit das einzige asiatische Land in den TopTen des Global Talent Competitive Index, der von der renommierten französischen Wirtschafts­universität INSEAD jährlich ermittelt wird. Die Studie, die 83,8 Prozent der Welt­ bevölkerung und 96,2 Prozent der Weltwirtschaft (BIP) abdeckt, misst die Wettbewerbsfähigkeit einer Nation in Bezug darauf, wie sie Talente findet, fördert und hält. Deutschland liegt auf Rang 16. Von München begeistert Plötzlich eine Männerstimme – aus Richtung der Aufzüge kommend und sehr vertraut klingend. Ja, es ist Deutsch: „Rüdiger, nicht wahr? Freut mich sehr. Willkommen!“ David Wong ist Chef des Additive Manufacturing Innovation Centre (AMIC) an der NYP. Er war Mitte der 70er drei Jahre in Darmstadt, wo er zum Facharbeiter für Maschinenbau ausgebildet wurde. Danach besuchte er die Meisterschule in München und wurde Handwerksmeister im Maschinenbau. Es folgten ingenieurwissenschaftliche und betriebswirtschaft­liche Masterabschlüsse an der Cranfield-Universität in Groß­britannien und der National University of Singapore. Darmstadt sei ihm nicht so sehr in Erinnerung geblieben, aber München habe ihn begeistert. Die schöne Stadt, das bergige Panorama, die herzli- chen Menschen. Seit dieser Zeit ist Wong eng mit Deutschland verbunden und unterstützt seit Jahren die akademische Zusam- menarbeit mit Singapur. Er kann sich noch gut daran erinnern, wie Exbundeskanzler Helmut Schmidt und Singapurs Staats­ gründer Lee Kuan Yew 1982 gemeinsam das German-Singa­pore Institute aus der Taufe hoben. Es fördert den bilateralen Wissens­ transfer und wurde 1993 in die NYP eingegliedert. „Ich habe viele Technologiepartner in Deutschland“, betont Wong. In den vergangenen zehn Jahren ist er immer wieder dorthin gereist, um Kontakte zu pflegen, neue Kooperationen zu schmieden und Partnerschaften einzugehen. „Wenn ich zehn Tage in Deutsch- land bin, besuche ich täglich zwei, drei Firmen, unter anderem um Praktika für meine Studenten aus­zumachen und Möglichkei- ten der technologischen Zusammenarbeit zu prüfen.“ Auch arbei- tet er intensiv mit diversen deutschen Fachhochschulen zusam- men. „Es gibt mittlerweile einen regen Studentenaustausch zwischen Singapur und Deutschland – aber auch mit anderen Ländern. Mit China, Japan, Großbritannien, Frankreich und den USA beispielsweise stehen wir in engem Kontakt“, so Wong. „Poly goes UAS“ als Meilenstein Eines seiner Steckenpferde ist die 2014 gestartete Initiative „Poly goes UAS“ (siehe Kasten Seite 27): Deutsche mittelständische Unternehmen ermöglichen begabten Studenten der beiden Fachhochschulen NYP und SP (Singapore Polytechnic), ihr Studium der Ingenieurwissenschaft an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Stutt- gart oder an der Hochschule München (HM) fortzusetzen. Der Nachwuchs sammelt hier wertvolle Job-Erfahrung, indem er Prak- tika in verschiedenen Abteilungen der teilnehmenden Unterneh- men durchläuft. Für Singapur in diesem Umfang eine Novität: Die Studierenden sind circa vier Jahre in Deutschland. Sie schnup- pern in Bereiche wie Produktmanagement, Design, Forschung und Entwicklung oder technischer Kundenservice und erhalten ein Stipendium in Höhe von 800 bis 1.400 Euro im Monat. Eigene Fachkräfte heranziehen Für die Sponsoren ist es das Ziel, sich quasi ihre eigenen Fachkräfte heranzuziehen, die dank des Programms tief in die spezifische Materie eintauchen, sich Praxiskenntnisse aneignen und – nicht zu unterschätzen – auch die eigene Unternehmenskultur kennenlernen. Nachdem die Aus- erwählten erfolgreich ihren ingenieurwissenschaftlichen Bache- lorstudiengang abgeschlossen haben, bekommen sie einen An- stellungsvertrag an den Standorten in Singapur, um von dort aus mitzuhelfen, den asiatischen Markt zu bearbeiten. So der Plan. Denn die deutschen Industrieunternehmen, die das Programm nutzen, wissen, dass sie auf diesem Weg exzellent ausgebildete Experten mit einem umfassenden technischen Know-how erhal- ten. Jack Goh, Managing Director von Sick, beschrieb sie jüngst so: „Ingenieure mit einer Leidenschaft für Kreativität verbunden mit deutscher technologischer Intelligenz.“ Die ­Sick AG mit Sitz in Waldkirch ist einer der weltweit führenden Hersteller von Sen- soren und Sensor­lösungen für die Fabrik-, Logistik- und Prozess­ automation und nimmt seit Jahren an der Initiative teil. Praxis öffnet Perspektiven „Poly goes UAS ist eine exzel­lente Idee“, sagt Wong. „Qualifiziertes Personal wird immer wich­ti­ger und gleichzeitig knapper. Egal ob in den USA, in Japan oder Deutschland – alle suchen händeringend nach geeigneten Fach­ kräften für ihre Expansionsstrategien.“ Hinzu komme, dass die Ansprüche an zukünftige Angestellte aufgrund von Globalisie- rungsprozessen und konstanten Veränderungen in Industrie und Gesellschaft einem steten Wandel unterworfen seien. Die stetige Weiterentwicklung sei die neue Normalität. In diesem Zusammen­ hang wachse die Relevanz praktischer Erfahrungen. Sie bilden die Basis für lebenslanges Lernen und eröffnen neue Perspekti- ven. Wong: „In den Bereichen Ingenieurwesen und Feinmechanik ist Deutschland seit vielen Jahren unser Vorbild für die passende Ausbildung. Deshalb ist die Kooperation so wertvoll.“ Mehr Vielfalt zulassen Was noch besser laufen könnte? „Ich würde mir wünschen, dass die am Programm ‚Poly goes UAS‘ teil- nehmenden Unternehmen pro Jahr nicht nur ein, zwei Studenten aufnehmen, sondern vier, fünf“, sagt Wong. Zudem lasse der lan- ge Aufenthalt in Deutschland so manchen poten­­ziellen Kandida- ten zurückschrecken. Vier Jahre weg von zu Hause sei für junge Leute schon eine große Herausforderung. Länder, wie Großbri- tannien, die ähnliche Programme haben, erlauben beispielsweise, dass die Studenten zwischendurch auch mal eine Zeit lang an 24
  • 27. dem Firmenstandort in ihrer Heimat arbeiten. Das würde „Poly goes UAS“ noch attraktiver für Topstudenten machen und wäre sogar von Vorteil, denn so könnten sie gleich beide Welten haut- nah in der Praxis kennenlernen, meint Wong. „Man kann ja nicht alles, was in Deutschland üblich ist und gelernt wird, ein- fach auf Asien übertragen.“ Die Industriecluster-Struktur in Deutschland zum Beispiel führe dazu, dass sich Ingenieure etwa an den Standorten München und Stuttgart vor allem auf die Auto­ mobilindustrie spezialisieren. Kommen sie dann nach Singapur, seien die Aufgaben für sie oft wesentlich vielseitiger. Die Anfor- derungen, um hier erfolgreich zu sein, seien andere. Aus diesem Grund sollte nach Wongs Ansicht die praktische Ausbildung brei- ter aufgestellt sein und mehr Vielfalt zulassen. SIT-Programm setzt aufs Lokale Damit noch mehr Studenten von den Vorzügen eines dualen Studiums profitieren können, startete das Singapore Institute of Technology (SIT) 2015 eine lokale Version. Diese staatlich geförderte Initiative erlaubt es den Lernenden, zwischen Theorie im SIT und Praxis bei den in Singapur ansässigen Unternehmen hin und her zu wechseln. Deutsche Firmen, die im Inselstaat in der Networking-Community „German Center“ organisiert sind, haben bei der Erstellung des Lehrplans ihre Erfahrungen eingebracht. Neun von ihnen neh- men an dem Programm teil – zum Beispiel der Mischkonzern Bosch mit Stammsitz in Gerlingen und der Systemlieferant für Pharmazeutika-Verpackungen Uhlmann, dessen Zentrale sich in Laupheim befindet. Meisterprüfung mit Ritterschlag Ein anderes nationales Pro- jekt, das Wong mit großer Leidenschaft vorantreibt und seit Gründung leitet, betrifft nicht in erster Linie Studenten, sondern junge und auch ältere Menschen mit Schulabschluss: die Meister- ausbildung – ebenfalls nach deutschem Muster. Ende 2013 setzte Singapur mit der Einführung des Meisterbriefs für das Feinme- chaniker-Handwerk (Precision Engineering Master Craftsman – PeMC) einen neuen Meilenstein. Mehr als 60 Feinmechanikun­ter­ nehmen verpflichteten sich zu entsprechenden Standards. Dann der Ritterschlag im Mai 2014: Die NYP wurde als erste nicht deutsche Bildungseinrichtung international für ihr vollständig lokal entwickeltes Feinmechanikmeister-Programm ausgezeich- net. Nach einer dreitägigen Prüfung des Lehrplans durch drei Mitglieder der deutschen Industrie- und Handelskam­mern 26
  • 28. München und Oberbayern sowie der Auslandshandelskammer in Singapur wurde der NYP bescheinigt, dass PeMC alle Kriterien erfülle und man vom Programm schwer beeindruckt sei. „Mitt­ lerweile wurden 200 Meisterkurs-Teilnehmern die Diplome zu­ erkannt, 20 davon haben auch schon ihren Meisterbrief in der Tasche“, bilanziert Wong. Bis 2024 sollen 2.800 Arbeitskräfte auf Meister-Level agieren. Erst Diplom, dann Meisterbrief Anders als in Deutschland, wo die Meisterausbildung nach einem Jahr mit der Prüfung und – im Erfolgsfall – dem Meisterbrief endet, erhalten die Meisteran­ wärter in Singapur nach der Ausbildung „lediglich“ ein Diplom. Wong: „Danach hat man erst einmal ein, zwei Jahre zu arbeiten, um das, was man gelernt hat, in einem Unternehmen praktisch anzuwenden. Damit man sich dann um den Meisterbrief bewer­ ben kann, sind eine Bestätigung und Empfehlung des Arbeit­ gebers nötig.“ Wenn alle Punkte erfüllt sind, lädt die Singapore Manufacturing Federation (SMF) zum Test. Diese ein, zwei Jahre zusätzliche Praxis werden eingeschoben, weil Unternehmen sichergehen wollen, dass nur die Besten der Besten das Zerti­fikat erhalten. „Lernfabrik“ mit Spitzentechnologie Wong ist davon über­ zeugt, dass diejenigen, die bei ihm in der NYP den Meisterkurs durchlaufen und das Diplom machen, eigentlich genug prak­ tische Erfahrung haben. Denn sie arbeiten an der Polytechnik mit fortschrittlichen technischen Geräten, wie auch die Studenten der Ingenieurwissenschaften. Zeit, ins Innere des Geschehens zu blicken: Im ersten Stock der „Lernfabrik“, wie Wong es nennt, befinden sich moderne Großraumbüros für Ingenieurdesign. Unten läuft in hellen, hohen Laboren die Fertigung. Die Räume sind in freundlichen Farben gelb-grün und orange gestrichen und mit Spitzentechnologie ausgestattet, die weltweit ihresgleichen sucht. Der Wert der Maschinenkolosse, die von der Regierung finanziert oder von Technologiepartnern und der Industrie ge­ sponsert beziehungsweise zur Verfügung gestellt werden, liegt im zweistelligen Millionen-Euro-Bereich. Hier werden Teile für die Raumfahrt kreiert und gefertigt, medizinische Geräte, Implantate und Maschinenkomponenten, Nanoteilchen und riesige Flugzeug­ rotoren. Die Industrie gibt Aufträge – auch für die Komplettferti­ gung von Produkten für Endkunden. Mehr Marktnähe geht nicht. Singapurs Talente sind auf die Zukunft vorbereitet Bildungseinrichtungen wie die NYP sind für neue Entwicklungen und Trends wie 3-D-Drucken und Industrie 4.0 hervorragend auf­ gestellt und bestens dafür geeignet, den innovativen und unter­ nehmerischen Geist der Studenten zur Entfaltung zu bringen. Vor allem die massigen metallischen 3-D-Drucker haben es Wong an­ getan. „Sie erstellen bis ins letzte Detail genaue Modelle und ge­ brauchsfertige Produkte für die Neuro­chirurgie, Zahnfüllungen aus Titan, winzige Geräteteile voller verschlun­ge­­ner Kanäle und filigraner Komponenten – alles ohne Nahtstel­len, Schicht für Schicht aufgetragen“, schwärmt er. In diesen sogenannten gene­ rativen Fertigungsverfahren, auf Englisch „additive manufactu­ ring“, sieht er ohne Zweifel die Zukunft der herstellenden Indus­ trie. Eine Revolution. Produkte lassen sich per Rechner digital individualisieren und auch in kleinen Mengen fertigen, ohne dass dann gleich die Kosten explodieren. Das Stichwort dazu lau­ tet: Customizing – die Anpassung eines Serienartikels an die Bedürfnisse eines Kunden. Es wird nicht mehr nötig sein, Men­ schenmassen mit Einheitsware zu überschütten, damit sich das Investment in den Fertigungsprozess rechnet. Irgendwann wer­ den nur noch Daten digital eingegeben und dann genau das drei­ dimensional gedruckt, was wirklich gebraucht werde, ganz ohne Überschuss und Materialverlust, erklärt der Institutschef. Ferti­ gungsmaschinen, wie wir sie heute kennen, werden allmählich verdrängt. Neue Technologien werden entstehen, und die NYP wird diese Entwicklungen begleiten sowie durch eigene For­ schungsarbeit vorantreiben. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, gibt es innerhalb der NYP nicht zuletzt ein rege genutztes Ideenportal und eine sehr aktive Start-up-Community. Die NYP hat dafür unter anderem auf dem Gelände „NEST“ (NYP Entre­ preneurship Start-up) gegründet. Es handelt sich um ein zentra­ les Gründerzentrum mit Besprechungsräumen, Computerarbeits­ plätzen und drahtloser Internetverbindung, um das Interagieren, Networking und die Zusammenarbeit zwischen dem Mitarbeiter­ stab der NYP, Studenten, Alumni und Mentoren zu fördern. „All diese Möglichkeiten innerhalb der NYP sorgen dafür, dass die Nachwuchskräfte in Singapur für die Zukunft optimal vorbereitet sind und diese aktiv mitgestalten werden“, fasst Wong zusammen. „Poly goes UAS“: Ausbildung nach deutschem Vorbild Vor zwei Jahren exportierten die vier Familienunternehmen Festo in Esslingen (Lösungen für Fabrik- und Prozessautomatisierung), Pepperl + Fuchs in Mannheim (elektronische Sensoren und Komponenten), Rohde & Schwarz in München (Mess-, Funk-, Ortungs- und Kommunikationstechnologie) und Sick in Wald­ kirch (Sensoren und Sensorlösungen für industrielle Anwendun­ gen) das „duale Studium“ nach Asien. Im Schulterschluss mit der Behörde für Wirtschaftsentwicklung, dem Singapore Econo­ mic Development Board (EDB), und ausgewählten Bildungsein­ richtungen starteten sie in Singapur die Initiative „Poly goes UAS“ (UAS steht für „Universities of Applied Science“, sprich Fachhochschulen). Mittlerweile haben sich weitere deutsche Firmen dem weg­weisenden Projekt angeschlossen, unter ande­ rem der Tech­nologiekonzern Heraeus in Hanau, Mann+Hummel in Ludwigsburg (Hersteller für Flüssigkeits- und Luftfiltersys­ teme) und ifm in Essen (Anbieter von Automatisierungstechnik). Beide Seiten profitieren von der Ausbildung der Fachkräfte nach deutschem Vorbild: Singapur festigt seinen Status als attraktiver Investitionsstandort für den asiatischen Wirtschaftsraum und hilft Talenten auf dem Karriereweg. Deutsche Firmen wiederum können auf solide ausgebildetes Personal in der Region zurück­ greifen. Auch die Meisterkurse, die hier ange­boten werden, und weitere deutsch-singapurische Austauschprogramme unterstrei­ chen die Vorrangstellung des Stadt­staates, wenn es darum geht, die klügsten Köpfe zu rekrutieren. 27
  • 29. M Y P O I N T O F V I E W
  • 30. Maxwell Rd, Red Dot Design Museum
  • 32. Für Rohde & Schwarz ist „Made in Singapore“ längst ein Gütesiegel. Das sehen die asiatischen Kunden des bayeri- schen Unternehmens genauso. Der Elektrotechnik-Spezialist mit F&E-Standort in Singapur schaut sich die Markttrends hier ganz aus der Nähe an. Das Ergebnis: perfekt angepasste Hightechprodukte. Wenn „Made in Germany“ auf Gehäusen und Karossen steht, er- warten Käufer das Besondere. Ein Unternehmen, das das weltweite Gütesiegel mit Recht auf seine Produkte prägt, ist Rohde & Schwarz. Rohde & Schwarz hat heute 9.300 Mitarbeiter in über 70 Ländern, macht 1,9 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr und ist deutscher Mittel- stand par excellence. Kein Dax-Unternehmen, aber dennoch schon seit vielen Jahren mit Forschung und Entwicklung in Singapur präsent. Die Firma stellt Produkte für sichere Kommunikation her. Ihre Mess- und Sendetechnik wird auf Schiffen und in Flug- zeugen eingesetzt, in Funkortung und -erfassung. Die Kunden kommen aus den Bereichen Mobilfunk, Rundfunk, Elektronik­ industrie, Luftfahrt, Verteidigung, Homeland Security. Während für AGs gute Quartalszahlen heilige Kuh und Erfolgs­ parameter Nummer eins zugleich sind, kombiniert der Mittel- ständler sein technisches Know-how mit einer Geschäftsführung, die in langfristigen Zyklen denkt. In Kurzatmigkeit zu verfallen ist Sache der Münchener nicht – eine ideale Formel für Wachs- tum in Asien. Gegründet von zwei Ingenieuren in der bayerischen Landeshauptstadt, ging die Firma schon früh auf Expansions- kurs. Im südostasiatischen Stadtstaat Singapur wurde 1997 ein Systemhaus eröffnet. Schritt für Schritt bauten die zielstrebigen Bayern Vertrieb, eine eigene Produktion und eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung auf, siedelten schließlich ein globa- les Sourcing- und Supply-Chain-Management an. 31
  • 33. S Ü D O S T A S I E N A N D E R S T I C K T Vom Systemhaus zur Vertriebszentrale Warum in Singapur investieren? Rohde & Schwarz lockte die attraktive Mischung aus Stabilität und Wachstumsperspektiven – weit über die Grenzen des Stadtstaates hinaus. Singapur ist in Asien das Land mit dem höchsten BIP pro Kopf (52.090 US-­Dollar 2015). Die Wirtschaft wächst solide, die Arbeitslosenquote ist niedrig. Der Stadtstaat an der viel befahrenen Wasserstraße wurde für Rohde & Schwarz als zweites Standbein allmählich so wichtig, dass das Unternehmen hier neben München einen weiteren Hauptsitz eröffnete. Die strategische Bedeutung spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass hier die Vertriebs­zentrale für den Asien-Pazifik-Raum angesiedelt ist. Die in Singapur entwickelten Produkte liefert Rohde & Schwarz in die ganze Welt aus. Vor Ort durchlaufen sie alle Produktions- schritte, vom Entwurf des Designs und des Layouts der Produkte bis zur Programmierung der Software. Ein Großteil der Mess- und Sendegeräte wird in den ASEAN-Ländern (Association of Southeast Asian Nations) eingesetzt. So unterschiedlich Staaten wie Indonesien und Thailand sein mögen, das hohe Nachfrage- potenzial lässt Rohde & Schwarz von frischen Wachstumsimpul- sen träumen. Das reale Bruttoinlandsprodukt der ASEAN-Region liegt heute bei 2,5 Billionen US-Dollar, mit Steigerungsraten für die nächsten Jahre von fünf Prozent und mehr. Laut Schätzungen der EU-Kommission sollen die kaufkräftigen Mittelschichten bis 2030 fast zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen. Der Appetit auf Qualitätsprodukte nimmt zu. Südostasien tickt anders Wer es in Südostasien schaffen will, muss die erheblichen Unter- schiede zu westeuropäischen und deutschen Märkten kennen. Die Anforderungen an Produktentwicklungen sind heterogener – je nach Branche und Markt. Das macht eine erhebliche Anpas- sungsleistung notwendig, die umso besser gelingt, je näher das Unternehmen an seinen Kunden ist. Laut See Loke Ho, Leiter der Abteilung Forschung und Entwick- lung in Singapur, will Rohde & Schwarz deshalb in den nächsten Jahren rund 100 neue Fachkräfte im Bereich Forschung und Ent- wicklung einstellen. Dann werden 250 hoch qualifizierte Mitar- beiter an neuen Lösungen für die asiatischen Märkte tüfteln. Ohne gut ausgebildete Mitarbeiter ist es nicht möglich, in einem Hightechmarkt ständig innovativ und erfolgreich zu sein. Gut also, dass diese in Singapur leicht zu finden sind, denn die regu- lierten Arbeitsbedingungen und ein attraktives Umfeld machen den Stadtstaat für hoch qualifizierte Arbeitnehmer aus aller Welt attraktiv. Unternehmen wie Rohde & Schwarz können aus dem Vollen schöpfen. Kooperation mit Spitzenuniversitäten Dazu tragen auch die Bildungseinrichtungen bei, die viele quali- fizierte Fachkräfte im technischen Bereich ausbilden. Die Natio- nal University of Singapore beispielsweise ist nach dem aktuellen QS World University Rankings von QS Quacquarelli Symonds die beste Universität von ganz Asien. Sie rangiert gleich nach der renommierten Princeton University in den USA weltweit auf Platz 12, gefolgt von der ebenfalls in Singapur ansässigen Nanyang Tech- nological University (NTU). Mit dem Forschungsinstitut Centre for Wireless Communications der NUS arbeitet Rohde & Schwarz seit Jahren eng zusammen. Kooperationen zwischen universitärer Forschung und der mittelständischen Firma sichern das Know- how. „Die grundlegende Forschung kommt von den Wissen- schaftlern, wir nehmen dann die Ergebnisse und wenden sie real bis zur Fertigung eines finalen Produktes an“, erklärt See Loke Ho. „Ein wirklich wichtiger Faktor waren die rechtlichen Rahmenbe- dingungen, die der Stadtstaat bietet – ergänzt durch eine solide Finanzpolitik und eine stabile Regierung, die ein langfristiges Planen erst möglich machen“, erklärt Andy Goh, Leiter der Pro- duktion für die Region Asien, warum Singapur der optimale Standort ist, um alle Aktivitäten zu steuern. Auch ist der Indika- tor für Korruption laut Transparency International so niedrig wie nirgendwo sonst in Asien. Und beim Schutz geistigen Eigentums gehört die Republik Singapur ohnehin zu den zuverlässigsten Ländern der Welt. Dafür steht „Made in Singapore“ – und passt so exzellent zum Qualitätsversprechen des deutschen Mittel- ständlers Rohde & Schwarz. 32
  • 34. M Y P O I N T O F V I E W South Bridge Road, Ecke Pagoda Street, Sri Mariamman Temple
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  • 36. Um es gleich zu Beginn zu sagen. Mit Tim Raue führt man kein Interview. Tim Raue führt das Interview. Das kleine samtbezogene Sofa, auf dem er während des Gesprächs sitzt, wirkt deshalb fast ein wenig wie Tarnung für den Mann, dessen Energie sein Restaurant „TIM RAUE“ bis auf Platz 34 der besten Restaurants der Welt getragen hat. Aber Bange machen gilt nicht. Oder um es mit Tim Raue zu sagen: „Ich sehe nur aggressiv aus.“ Nun denn. Wie jedes Interview beginnt auch dieses mit einer Frage. GRUSS AUS DER KÜCHE Eine Erfolgsgeschichte. – Eine Liebesgeschichte. 35
  • 37. 36
  • 38. „Darf ich jetzt mal was sagen?“ lautet der eher rhetorische Ein- stieg von Raue und auf einmal sitzt man mit ihm im Jahr 2003 im Restaurant von Sam Leong, der Vorläufer für Contemporary Chinese Food war. Vor uns eine Pekingente. Oder anders gesagt: die Verbindung zwischen kantonesischer und europäischer Küche. Die gewohnt knusprige Haut, darunter aber eine französische Entenstopfleberterrine. Warum wir diese Reise in die Vergangen- heit angetreten haben? Weil dieser Moment das Leben des Kochs Tim Raue komplett auf den Kopf stellt. Oder um es mit Tim Raue zu sagen: „In der französischen Küche geht es um Harmonie. Nicht so viele Aromen. Alles ist schön und nett. Ich bin aber nicht nett.“ In den nächsten drei Jahren reist Raue mehr als 20 Mal nach Singapur, probiert in einfachen Garküchen, sucht auf Märk- ten und in Drogerien nach neuen Inspirationen. Und nach drei Jahren war in seinem Kopf eine neue, komplett eigene Philo­so­phie entstanden. Im Jahr 2006 erhält Tim Raue seinen ersten Stern, und wird Koch des Jahres in Deutschland. Und erfindet sich noch einmal neu. „Ich wollte das machen, was ich liebe, was mein Herz berührt.“ Und dass Raue nicht nur die Küche, sondern auch das Land Singapur liebt, steht außer Zweifel. Was Singapur für ihn so einzigartig macht, ist der Zugang zu unterschiedlichsten Kulturen und Märkten. Zum australischen Markt, was gerade für die Qualität von Gemüse und Fleisch enorm wichtig ist. Fisch, Obst, Gemüse aus Japan. Vor Ort unterschiedlichste Küchen vom Luxussegment bis zur einfachen Garküche. Dazu passt, dass mit Chan Hon Meng vor wenigen Wochen der Besitzer eines solchen kleinen Imbisses einen Michelin-Stern erhielt. Und noch etwas begeistert den Mann auf dem Samtsofa in Singapur.„Es gibt keinen Kontinent, auf dem ich nicht gekocht habe, ich kenne keine anderen Menschen, die so verrückt nach gutem Essen sind!“ Der gemeinsame Nenner der Singapurer ist ihre Lust auf Neues. Es sind immer wieder faszinierende Parallelen, die Raue in seinem Leben als Berliner und Teilzeit-Singapurer entdeckt. Sei es seine Jugend, die er auf einer Insel, nämlich im Westberlin vor dem Fall der Mauer, verbrachte. Oder die Tatsache, dass Raue als über- zeugter Preuße heute viele der typisch preußischen Tugenden wie Disziplin eher in Singapur als in Berlin erlebt. Überhaupt ist Disziplin für Raue die Basis von allem. Organisa­tion, Effizienz und Strukturiertheit beschreibt er als sein Erfolgsrezept. Darauf kommen Leidenschaft und Kreativität. Attribute, die genauso zur Erfolgsgeschichte Singapurs passen. Man sitzt diesem vor Energie nur so sprühenden Menschen gegenüber und glaubt ihm aufs Wort, wenn er verrät: „Ich habe früher in der Küche so geschrien, dass man die Musik im Restaurant nicht mehr gehört hat.“ Und stellt fest, dass er auch hier von den Singapurern inspiriert wurde: „Schreien wird dort nicht als Stärke gesehen, sondern als Schwäche. Was es am Ende ja auch ist.“ Nicht die einzige singa- purische Philosophie, die er für sich und auch für seine Restau- rants übernommen hat. Begrüße Gäste so, als wären es Bekannte, die dann als Freunde gehen. „Stell dir vor, es sind Menschen, die bei dir zu Hause Gast sind, und du möchtest, dass sie deine Freunde werden.“ Gibt es überhaupt etwas, was dem Berliner in Blau in Singapur fehlen würde? Raue muss lange überlegen: „Wenn überhaupt, ist das Einzige, was mir da drüben wirklich fehlt, tatsächlich mal ein Tag, an dem es nicht so warm ist. Ich kann mich damit aber durchaus arrangieren. Ich schwitze lieber genervt, als dass ich gedemütigt friere.“ » DER GEMEINSAME NENNER DER SINGAPURER IST IHRE LUST AUF NEUES. « 37
  • 39. Tempowechsel. Die Zeit drängt. Das Restaurant in Berlin füllt sich. Zehn Fragen mit der Bitte um schnelle Antworten. Hat Singapur ein ganz besonderes Innovationsklima? Es ist definitiv der innovativste Platz, den ich auf diesem Plane- ten kenne, wo es wirklich immer was Neues geben muss. Auch um die Menschen bei Laune zu halten, da es einfach so grandiose Konsumenten sind. So, empfinden Sie Singapur als das Herz oder Zentrum des asiatischen Raumes? Bangkok, Tokio, Hongkong, Seoul und Singapur sind die Städte, in denen ich in meinem Leben am häufigsten war. Für mich ist Singapur einfach die sinnvollste Stadt, weil das Englisch wirklich extrem gut geht, das Rechtssystem ist sinnvoll, man kann da wirklich Business machen und es hat alles. Wo steht Singapur im weltweiten kulinarischen Ranking? Für mich ist Singapur eine der drei kulinarischen Weltstädte, die anderen sind Hongkong und New York. Welche Küche könnte Singapur überraschen oder bereichern? Das ist egal, das ist auch eben der Vorteil, du kannst nach Singapur gehen und Currywurst machen, sie muss einfach nur Weltklasse sein. Die Singapurer sind so offen für alles, was aus der ganzen Welt kommt. Es muss nur einfach Weltklasse sein. So, jetzt kommt wieder eine Frage, die finde ich ganz span- nend. Wann ist ein Restaurant ein Erfolg? Wenn es voll ist. » ES MUSS NUR EINFACH WELTKLASSE SEIN. « 38
  • 40. 39
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  • 42. » SINGAPUR HAT MICH EXTREM GEFANGEN. « Die wichtigste Managementregel in der Küche? Das ist schwierig, Managementregel klingt komisch, also für mich ist das Wichtigste in der Küche, dass ich Talent erkenne, es fördere und begleite. Wo ist in einem Restaurant der beste Platz, um Geschäfte zu machen? Ich finde, dass das Essen eher dazu dienen sollte, Empathie aufzubauen. Was war für Sie die schönste Erfolgsbestätigung? Der absolute Höhepunkt meines Lebens ist, jetzt Platz 34 auf der „The World’s 50 Best Restaurants“-Liste, mehr geht nicht. Was muss man in Singapur probiert haben, also außer eingangs beschriebener Ente? Also für mich gibt es in Singapur drei Plätze: André, einer der 50 besten Köche der Welt, der einfach ein überragendes Restau- rant hat. Die East Coast wegen der Garnelen und all dem anderen Zeug, was da aus dem Meer und nicht aus dem Kühlregal kommt. Und „Newton“, auch wenn das touristisch gesehen wird, ich fühle mich da unheimlich wohl. Die Möglichkeit zu haben, Menschen kennenzulernen, das ist für mich die Quintessenz Singapurs, alles zusammen, jeder aus jeder Schicht, jede Rasse. Letzte Frage: Tim Raue und Singapur. War das Liebe auf den ersten Blick? Mit dem Wort Liebe bin ich sehr vorsichtig, aber Singapur hat mich extrem gefangen, also wenn ich heute die Wahl hätte, wo ich den Rest meines Leben verbringen sollte oder könnte und dürfte: Singapur, definitiv. 41
  • 43. A U S R E I N D I E W E LT R A U S D E M L A B O R , I N Fraunhofer IDM@NTU in Singapur: Forschen im Auftrag der Zukunft Die Forschung darf nicht in den Labo- ren verbleiben, sondern muss hinaus in die Welt. Das hat sich die Fraunhofer- Gesellschaft, München, auf die Fahnen geschrieben. Mit 24.000 Mitarbeitern, 67 Instituten und einem Budget von 2,1 Milliarden Euro ist sie die größte Organisation für ange­wand­te Forschung in Europa. Seit knapp 20 Jahren be- treibt sie auch ein Institut in Singapur. Der Schwerpunkt liegt auf grafischer Daten­verarbeitung. Typisch für die digitalisierte Welt voller Informationen: Nur allzu schnell verliert man den Überblick, findet nicht das Gewünschte und geht verloren im Daten­ dschungel. Helfen kann uns dabei unser sehr leistungsfähiger visueller Sinn, der über eine hohe Aufnahmefähigkeit ver­ fügt. Dessen Potenzial auszuschöpfen, dafür ist das zur Fraunhofer-Gesellschaft gehörende Institut für Graphische Daten­ verarbeitung in Darmstadt, kurz IGD, zu­ ständig – weltweit führend auf dem Gebiet der Forschung zum Thema angewandtes Visual Computing. Dazu gehören 3-D- Digitalisierung, virtuelle und erweiterte Realität sowie die 3-D-­Visualisierung, und das selbst auf kleinen mobilen Endgerä­ ten. Weil es dafür international Bedarf gibt, gründete das IGD 1998 zusammen mit der Nanyang Technological University (NTU) in Singapur das von der dortigen National Research Foundation (NRF) ge­ förderte Center for Advanced Media Tech­ nology (CAM-Tech), woraus dann 2010 das heutige Projektzentrum Fraunhofer IDM@NTU hervorging. Im Auftrag von Wirtschaft, Industrie und Behörden be­ treibt es direkte Forschung zu aktuellen Frage­stellungen und engagiert sich für interaktive digitale Medien (IDM). Aus Infos werden Bilder – und vice versa Etwa 30 hauptamtliche Mitarbeiter führen Studien durch, beraten, entwickeln Kon­ zepte und Software oder passen Programme an neue Umgebungen an. „Überall dort, wo moderne Computertechnologien einge­ setzt werden, finden sich Einsatzgebiete des Visual Computings und somit unter­ stützende Lösungen, um die Arbeit zu erleichtern“, erklärt Standortleiter Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Müller-Wittig. Kernbran­ chen sind Gesundheit, Stadtentwicklung, „Smart Manufacturing“ oder Industrie 4.0, maritime Wirtschaft, Logistik sowie der Bildungs- und Schulungsbereich. Visuelle Themenreisen Vereinfacht ausgedrückt machen die For­ scher in Singapur aus Informationen Bil­ der und holen aus Bildern Informa­tionen. Wie das aussehen kann, zeigt Müller-Wittig Besuchern gern an einem großen Multi­ touch-Bildschirm im Kon­ferenzraum des Instituts, das direkt auf dem Campus der NTU angesiedelt ist: Wir erleben, wie ein­ fach etwa mit dem Service- und Präsen­ tationstool InfoLand spannende visuelle und interak­tive Informationsreisen er­ zeugt werden können. Beispiel „Discover 42
  • 44. Germany“ („Entdecke Deutschland“), ein Programm, das unter anderem für die deutsche Botschaft in Singapur entwickelt wurde. Wie die Äste eines Baumes erstreckt sich die Themensammlung über das Dis­ play. Der Betrachter öffnet, bewegt und schließt auf dem Schirm intuitiv verschie­ dene „Zweige“. Auf der visuellen Reise durch Deutschland werden Informationen durch Bilder, Videos, Texte und 3-D-Simu­ lationen zu Kultur, Fußball, Visabestim­ mungen und mehr per Fingertipp erlebbar. Die Navigation ist kinderleicht. Auch die Stadt Singapur setzt InfoLand ein, um ihren Masterplan für die Raumnutzung im Rahmen der zukünftigen Stadtentwicklung zu visualisieren. „Das Einpflegen der Daten geht schnell und einfach“, erklärt Müller-Wittig. „Mit einem einfachen Drag- and-drop können Medien eingefügt werden und stehen dann als neue Informations­ knoten sofort zur Verfügung.“ Program­ mierkenntnisse sind nicht nötig. So lassen sich auf spannende interaktive Weise auch die Unternehmenswelt von Firmen, Produktportfolios, Service­suites oder komplexe Sachverhalte und Prozesse ver­ mitteln. An die Töpfe 2014 betrug der Gesamthaushalt des Fraunhofer IGD mit seinen Standorten Darmstadt, Rostock, Graz und Singapur rund 19 Millionen Euro. Davon entfielen circa 1,3 Millionen Euro auf Singapur. Die Hauptanteile der externen Finanzie­ rung kamen mit rund 58 Prozent aus nati­ onalen öffentlich geförderten Forschungs­ programmen und zu 42 Prozent aus direkt beauftragten Projekten. Die direkt beauf­ tragten Projekte stammten zu 38 Prozent aus der Industrie und zu 62 Prozent von öffent­lichen Stellen. „An Fördermittel zu gelangen, läuft in Singapur anders als in Deutschland“, räumt Müller-Wittig ein. In Deutschland melde die Wirtschaft Be­ darf an und wende sich damit etwa an das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das für den „Software- Cluster“ extra Fördertöpfe bereitstellt, oder an das Bundeswirtschaftsministe­ri­ um (BMWi). „In Singapur ist dieser Mechanismus noch nicht so ausgeprägt. Hier müssen häufig wir selbst aktiv wer­ den“, so Müller-Wittig. Das liege nicht zu­ letzt daran, dass die mittelständischen Unternehmen teils noch sehr klein seien und man sie mitunter antreiben müsse, zu forschen und entwickeln. Seine Anlauf­ stelle sei dann beispielsweise die staatli­ che Zukunftsbehörde A*STAR (Agency for Science, Technology and Research), die in Singapur ganze Wissenschaftsareale wie „Biopolis“ oder „Fusionopolis“ finanziert. A*STAR vergibt aber nicht nur Gelder, sondern sieht sich ebenfalls als Plattform, die Wissenschaftler mit multinationalen Unternehmen und talentierten Leuten lo­ kaler Firmen zusammenbringt. „Die Agen­ tur steht damit gewissermaßen auch im Wettbewerb zu uns“, sagt Müller-Wittig. Fraunhofer als Marke Fraunhofer IDM@NTU habe allerdings auch einige Trümpfe in der Tasche. „Wir haben weltweit einen hervorragenden Ruf“, zählt er auf. Außerdem gelte das Topthema für technischen Fortschritt, sprich Industrie 4.0, als deutsche Marke. Wenn es also um Förderung von „Smart Manufacturing“ gehe, dann öffneten sich die Türen meist. Ein weiterer Pluspunkt: Fraunhofer kenne sich wie kein anderer mit angewandter Forschung aus. Das mache das Institut auch attraktiv für die Unternehmen. „Dank unserer Expertise ziehen wir weltweit Firmen an“, betont Müller-Wittig. „Wir können ihnen helfen, sich strategisch zu entwickeln, neue Ge­ schäftsfelder zu erschließen und Singapur als Drehscheibe für Südost­asien zu nut­ zen.“ Darüber hinaus profitieren die Kunden vom guten Ecosystem und vom Know-how-Transfer mit der NTU, an der führende Wissenschaftler Asiens arbeiten. Unglaubliche Dynamik Das Fraunhofer IDM@NTU hat über die Jahre deshalb schon für zahlreiche Unter­ nehmen geforscht. Darunter viele deut­ sche wie BMW, Symrise oder Lufthansa, aber auch für lokale Unternehmen wie Suntec, ST Electronics oder PSA. Müller- Wittig selbst ist seit 2001 in Singapur. „Mich fasziniert die unglaubliche Dyna­ mik, die hier zu spüren ist, und die rasche Umsetzung“, sagt er. „Es hat sich inner­ halb kurzer Zeit eine weltweit führende Forschungslandschaft entwickelt. Und wenn die Regierung sich für ein Thema in­ teressiert, dann geht alles ganz schnell.“ Auch mag er, dass Singapur so multikul­ turell und international sei. Zudem sei die Fülle von qualifizierten Fachkräften ein­ zigartig – insbesondere für das Boom- Thema Digitalisierung. Weitere Ableger geplant Darum werden in Kürze auch zwei weitere Fraunhofer-Institute in Singapur eröffnet: ein Ableger des Fraunhofer-Instituts für Sichere Informations­technologie (SIT), Darmstadt, und des Fraunhofer-Instituts für Keramische Technologien und Systeme (IKTS), Dresden, das unter anderem im 3-D-Druckverfahren Maßstäbe setzt. 43
  • 45. Z A H L E N B I T T E I N 7 H F L U G Z E I T E R R E I C H T M A N 4 , 2 M I L L I A R D E N M E N S C H E N 1 0 0 A I R L I N E S I N S G E S A M T E R R E I C H E N 2 0 0 S T Ä D T E M I T 6 . 8 0 0 F L Ü G E N P R O W O C H E
  • 46. S I N G A P U R K U A L A L U M P U R B A N G K O K N E U - D E L H I H O N G K O N G S C H A N G H A I T O K I O T A I W A N P E R T H M E L B O U R N E
  • 47. M Y P O I N T O F V I E W Changi Airport – auf dem Weg zur Metro
  • 48. Sie ist die dynamischste Wachstumsregion der Welt und deshalb seit Jahren unver­ zichtbar für weltweit operierende Firmen. So zum Beispiel auch für das Rückgrat der deutschen Wirtschaft: den Mittelstand. Um im asiatischen Markt mitmischen zu können, haben sich deutsche Familien­ unternehmen lange auf China und Indien konzentriert, bis sie einen neuen einfluss­ reichen Akteur für sich entdeckten: den Verband Südostasiatischer Nationen, kurz ASEAN (Association of Southeast Asian Nations). Von Singapur, Thailand, Indo­ nesien, Malaysia und den Philippinen gegründet, verfügt die ASEAN über eine lange Tradition von Kooperationen auf politischem, soziokulturellem und ökono­ mischem Gebiet sowie in Sicherheitsfragen. Mit einem derzeitigen Anteil am Welthan­ del von mehr als sechs Prozent verfügen die ASEAN-Staaten über ein überdurch­ schnittlich großes Wirtschaftspotenzial. Die ASEAN, deren 50. Geburtstag 2017 gefeiert wird, ist heute die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt. Innerhalb weniger Jahre wird der Markt zusätzliche Geschäfte im dreistelligen Milliardenbereich ermög­ lichen, prognostizieren die Unternehmens­ berater von McKinsey. Eine einzigartige Erfolgsgeschichte, die auf Samtpfoten dahergekommen ist und deshalb von eini­ gen Teilen der Weltwirtschaft nur bedingt wahrgenommen wurde. Bis jetzt. Allein Deutschland hat im Jahr 2015 hier mehr als acht Milliarden Euro investiert (Quelle: EY ASEAN Report 2015). Ein Großteil des asiatischen Potenzials ist in der stark wachsenden Mittelklasse verankert. Bis 2030 wird mehr als die Hälfte der aus der Mittelklasse stammenden Konsumenten weltweit in der asiatisch-pazifischen Re­ gion wohnen und für 80 Prozent der glo­ balen Konsumausgaben verantwortlich sein. Mit rund 623 Millionen (Stand 2015) hat die Staatengemeinschaft mehr − und zudem überwiegend junge − Einwohner als die gesamte EU mit 510 Millionen (Stand 2015). „Die Bevölkerung wächst dort durchschnittlich um mehr als ein Prozent jährlich“, sagt Dr. An Wee Moo, Regionaldirektorin, Europa des Singapore Economic Development Board (lokale Behörde für Wirtschaftsentwicklung). Mit einem jeweils überdurchschnittlich star­ ken Jahreswirtschaftswachstum legen alle zehn Mitgliedsländer eine überzeugende Performance hin und weisen somit großes Potenzial auf. Heute bringen es die fast neun Prozent der Weltbevölkerung bereits auf eine Wirtschaftsleistung von rund 2,3 Milliarden Euro. Aber nicht nur der Markt boomt, auch der Wettbewerb wird zunehmend härter. Die Folge: Firmen müssen noch besser auf die speziellen Bedürfnisse ihrer Kunden ein­ gehen. Sie benötigen nicht nur hochquali­ tative Produktionszentren oder F&E-Abtei­ lun­gen, sondern müssen sich auch in der ASEAN-Region ansiedeln. Nur so werden sie in der Lage sein, die Bedürfnisse der wachsenden Mittelklasse zu erfüllen und wettbewerbsfähig zu bleiben. Betriebe, die innerhalb der Freihandelszone produzieren, sind im Vorteil. Denn sie müssen keine Einfuhrzölle entrichten. Für viele Firmen einschließlich deutscher Mittelständler waren das genügend über­ zeugende Gründe, um sich in der Region niederzulassen. Dabei wählten die Unter­ nehmen meist Singapur, den Mittelpunkt der ASEAN, als Basis in Asien. Der Stadt­ staat liegt im Zentrum der rund 4,5 Mil­ lionen Quadrat­kilometer großen Region. Hier treffen die Wirtschaftsmächte China, SCHWERGEWICHT AUF SAMTPFOTEN Warum die ASEAN-Staatengemeinschaft als treibende Kraft der globalen Wirtschaft in Zukunft noch erfolgreicher sein wird und welche Schlüsselfunktionen Singapur dabei übernimmt. 47
  • 49. 1 Quelle: World Economic Forum. 2 Quelle: Weltbank. 3 Quelle: United Nations Conference on Trade and Development, 2016. Indien, die ASEAN-Staaten sowie global tätige Konzerne aufeinander und beflü­ geln sich gegenseitig. Dank seiner strate­ gisch günstigen Lage im Herzen Südost­ asiens und am Knotenpunkt bedeutender Schifffahrts­­wege ist Singapur ein wichti­ ges Logistikzentrum für den Welthandel. „Immer mehr Unternehmen sehen dort ihr strategisches zweites Standbein, um das Potenzial der schnell wachsenden Region zu nutzen. Ein stabiles politisches Umfeld, qualifiziertes Personal und eine exzellente Infrastruktur machen Singapur zu einem zuverlässigen und hoch ent­ wickelten Partner für die deutsche Wirt­ schaft, insbesondere den Mittelstand“, sagt Dr. An Wee Moo. Ungefähr 1.500 deutsche Firmen sind heute dort präsent. Viele von ihnen, wie zum Beispiel das Familienunternehmen SICK, zählen zum deutschen Mittelstand. Für den Entwickler von Sensoren und Anwen­ dungslösungen für den industriellen Gebrauch zahlt sich Singapurs Effizienz doppelt aus: Einerseits sind in diesem Industriezweig tätige Firmen Direktkunden des Unternehmens, andererseits unter­ stützt Singapur SICK als logistischer Knotenpunkt, Kunden in puncto Lieferung zufriedenzustellen. Laut dem vom Welt­ wirtschaftsforum erstellten Global Compe­ titiveness Report 2015/2016 ist Singapur zudem eines der wenigen asiatischen Länder, die einen hohen Schutz von geis­ tigem Eigentum bieten. Die Wachstums­ raten bestimmter Industriezweige und die Nähe zu den Geschäftspartnern sind zu­ sätzliche überzeugende Argumente für diesen Standort. Singapur steht für genau die Werte, die deutsche Familienunternehmen erfolg­ reich gemacht haben: Als kleiner Staat mit hoher Bevölkerungsdichte hat Singapur seine Fähigkeit bewiesen, langfristig und ökonomisch nachhaltig zu planen. In dieser Hinsicht ähnelt der Stadtstaat dem deutschen Mittelstand: Firmeninhaber möchten ihre Unternehmen fit für zukünf­ tige Generationen machen und denken deshalb nicht in Quartalsergebnissen, sondern planen langfristig. Ökonomische Nachhaltigkeit, angetrieben von langfristi­ gem Denken zugunsten zukünftiger Gene­ rationen, ist Teil von Singapurs DNA. Welches der zehn ASEAN-Mitgliedsländer bietet welche Art von Chancen und Gele­ genheiten für neue Geschäfte? „SingaPur“ wirft einen Blick auf die individuelle Ent­ wicklung der einzelnen Staaten. Myanmar 1.221 $ 6,9 % Bruttoinlandsprodukt (pro Kopf / jährl. Wachstum)1 170 /190 Unternehmerfreundlichkeit2 131 /140 Wettbewerbsfähigkeit1 0,95 Mrd. $ Investitionen aus dem Ausland3 Schlüsselbranchen Energiesektor / Öl- und Gasförderung / Bergbau / Tourismus Thailand 5.445 $ 5,0 % Bruttoinlandsprodukt (pro Kopf / jährl. Wachstum)1 46 /190 Unternehmerfreundlichkeit2 32 /140 Wettbewerbsfähigkeit1 11,5 Mrd. $ Investitionen aus dem Ausland3 Schlüsselbranchen Automobil / Elektronik / Medizintechnik /  Tourismus Kambodscha 1.081 $ 7,3 % Bruttoinlandsprodukt (pro Kopf / jährl. Wachstum)1 131/190 Unternehmerfreundlichkeit2 90 /140 Wettbewerbsfähigkeit1 1,7 Mrd. $ Investitionen aus dem Ausland3 Schlüsselbranchen Bau / Textil / Landwirtschaft / Tourismus Singapur 56.319 $ 3,6 % Bruttoinlandsprodukt (pro Kopf / jährl. Wachstum)1 2 /190 Unternehmerfreundlichkeit2 2 /140 Wettbewerbsfähigkeit1 72,1 Mrd. $ Investitionen aus dem Ausland2 Schlüsselbranchen Elektronik / Chemie / Maschinenbau / Logistik / Finanzsektor 48
  • 50. Malaysia 10.804 $ 5,2 % Bruttoinlandsprodukt (pro Kopf / jährl. Wachstum)1 23 /190 Unternehmerfreundlichkeit2 18 /140 Wettbewerbsfähigkeit1 10,7 Mrd. $ Investitionen aus dem Ausland3 Schlüsselbranchen Elektronik / Öl- und Gasförderung / Automobil / Holz / Tourismus Brunei 28.236 $ 7,4 % Bruttoinlandsprodukt (pro Kopf / jährl. Wachstum)1 72 /190 Unternehmerfreundlichkeit2 58 /140 Wettbewerbsfähigkeit1 0,75 Mrd. $ Investitionen aus dem Ausland3 Schlüsselbranchen Hightech / Öl- und Gasförderung / Landwirtschaft / Tourismus Vietnam 2.053 $ 5,4 % Bruttoinlandsprodukt (pro Kopf / jährl. Wachstum)1 82 /190 Unternehmerfreundlichkeit2 56 /140 Wettbewerbsfähigkeit1 9,2 Mrd. $ Investitionen aus dem Ausland3 Schlüsselbranchen Elektronik / Textil / Maschinenbau / Tourismus Indonesien 3.534 $ 6,0 % Bruttoinlandsprodukt (pro Kopf / jährl. Wachstum)1 91/190 Unternehmerfreundlichkeit2 37 /140 Wettbewerbsfähigkeit1 22,3 Mrd. $ Investitionen aus dem Ausland3 Schlüsselbranchen Tourismus / Chemie / Maschinenbau / Automobil / Landwirtschaft Philippinen 2.865 $ 5,5 % Bruttoinlandsprodukt (pro Kopf / jährl. Wachstum)1 99 /190 Unternehmerfreundlichkeit2 47 /140 Wettbewerbsfähigkeit1 6,2 Mrd. $ Investitionen aus dem Ausland3 Schlüsselbranchen Elektronik / Chemie / Maschinenbau / Logistik / Finanzsektor Laos 1.693 $ 7,6 % Bruttoinlandsprodukt (pro Kopf / jährl. Wachstum)1 139 /190 Unternehmerfreundlichkeit2 83 /140 Wettbewerbsfähigkeit1 0,9 Mrd. $ Investitionen aus dem Ausland3 Schlüsselbranchen Bergbau / Tourismus / Bau / Holz / Energie- und Wasserkraft 49
  • 51. 50
  • 52. Tagsüber arbeitet Kenneth Thexeira als Redakteur bei einer Living-Zeitschrift. Doch abends schlüpft er immer wieder in ein hautenges Sportoutfit – und frönt mit unbändiger Leiden­schaft seinem Hobby: Als „The Eurasian Dragon“ mischt er die langsam, aber stetig wachsende Wrestling- Szene von Singapur auf. Es sind nur knapp 30 Quadratmeter. Mehr Platz haben die Män- ner nicht. Fast hätte der massive Wrestling-Ring überhaupt nicht in den zum Minitrainingscenter umfunktionierten Lagerraum hineingepasst. Im Rest des Raums lagern ein paar Tischplatten, Crashpad-Matratzen und unidentifizierbares Gerümpel. Die Szenerie im Gold­pine Industrial Building hat etwas Rührendes: Ansteckender Idealismus geht hier Hand in Hand mit Improvi­ sationstalent und Mut zum Chaos. Kenneth Thexeira und sein Trainingspartner Mohammed Taufik stören sich nicht weiter an den suboptimalen Bedingungen. Hauptsache, sie können sich gemeinsam mit weiteren Glaubensbrüdern ihrer großen Leiden- schaft widmen: dem Wrestling. Jenem Sport, für den die Männer seit Jahren brennen und für den sie gerne ihre Abende und Wochenenden opfern. „Es gibt zwar immer wieder Menschen, die mich dafür belächeln, dass ich das Wrestling mit so viel Enga­ gement und Hin­gabe betreibe. Zumal sich in Singapur bislang nur eine eingeschworene Fangemeinde für das interessiert, was ich mache. Aber das befeuert mich nur noch mehr in meinem Ehrgeiz, es am Ende ganz weit zu bringen und es meinen Zweif- lern zu zeigen“, sagt Kenneth Thexeira. Heute Abend trainieren er und Kumpel Mohammed ein paar der wichtigsten Kampftech- niken. Techniken wie Bodyslam, Back Body Drop oder Fireman’s Carry. Massive Männerkörper prallen mit voller Wucht aufein­ ander oder fallen mit lautem Klatschgeräusch in die Mitte des Trainingsrings. Immer und immer wieder. Alle Muskeln sind angespannt, Schweiß fließt, Testosteron erfüllt jede Ecke des Raums. Kenneth Thexeira und Mohammed Taufik sind Teil der bislang immer noch kleinen, aber wachsenden Wrestling-Szene in Singapur und ganz Südostasien: „Als ich vor vier Jahren aktiv in diesen Sport einstieg, zählten wir noch zum Underground. Heute haben wir uns bereits eine Fangemeinde von ein paar ­Tausend Leuten erobert, und ich bin mir sicher, dass wir in den kommenden Jahren weiter spürbar wachsen werden“, sagt der 28-jährige Kenneth in einer Trainings­pause. Auch Wrestling-Promoter Vadim Koryagin aus Russland, der seit einigen Jahren in Singapur lebt und arbeitet, glaubt fest an das Potenzial der Region. Im Februar 2012 beschloss er deshalb, ge- meinsam mit dem südostasiatischen Regionalchampion Andruew Tang die Singa­pore-Pro-Wrestling-Promotionagentur (SPW) zu gründen. Mit seinem Geschäftspartner Tang trainiert er in der SPW-Schule zudem junge Talente wie Thexeira. Y E A R S O F T H E D R A G O N 51
  • 53. Trotz Euphorie und Optimismus: Von Show-Spektakeln, wie sie das WWE (World Wrestling Entertainment) seit Jahrzehnten auf die Beine stellt und die jeweils Tausende Fans an den Rand der Raserei bringen, können Thexeira und seine circa 20 professio- nellen Wrestling-Kollegen, die im Alltag Berufen wie Fitness­ trainer, Restaurantkoch oder Flug­hafen-Angestellter nachgehen, bislang nur träumen. Natürlich wäre es für ihn das Größte, wenn er eines Tages von den Fights leben und sich ganz seinem ge­ liebten Kampfsport widmen könnte. Aber bis es irgendwann tat- sächlich so weit ist, sind es Leidenschaft und Idealismus, die ihn tragen. Man müsse halt kleinere Brötchen backen, wenn man beim Singapur Pro Wrestling nur lokal, unabhängig und ohne die finanzstarke Hilfe von milliardenschweren Organisationen am Start sei. Es müssten viel mehr Marketingmaßnahmen und Koopera­tionen mit internationalen Wrestling-Events her, damit „Mighty Black Arrow“, „The Statement Andrew“ oder „The Eurasian Dragon“ endlich von mehr als nur rund 100 Fans pro Fight-Event bejubelt werden. „The Eurasian Dragon“, das ist Kenneths Alter Ego im Wrestling- Zirkus. „Ich wurde 1988 im Jahr des Drachen geboren und habe eurasische Wurzeln“, erklärt er seine Wahl des Künstlernamens. Tagsüber arbeitet der Kumpeltyp als Living-Redakteur für das Interieur-Magazin „DCRS“. Doch an ein paar Abenden pro Monat, wenn wieder mal ein Fight ansteht, schlüpft er in sein goldenes Ringhöschen, hängt sich sein babyblaues Cape um und räumt als Good Guy im Ring auf. Als Elfjähriger sah er spät­abends zum ersten Mal im TV eine Show des WWE und war sofort fasziniert von dem derben Mix aus Action, Athletik und Entertainment. Doch erst Wrestling-Superstar Dwayne „The Rock“ Johnson – heute übrigens bestbezahlter Schauspieler Hollywoods – löste in ihm den Wunsch aus, sich selbst im Ring zu versuchen. Gab’s schon mal Fight-Situationen, bei denen ihn ein mulmiges Gefühl überkam? Bis heute unvergessen ist für Thexeira jener Moment, in dem während eines Hardcore-Fights, in dem auch Waffen wie leichte Stühle oder Tische erlaubt sind, sein Gegner ein ganz besonderes Utensil hervorholte: ein Keyboard! „Sekunden später knallte er es mir über meinen Kopf und es zersprang in tausend Teile“, erinnert er sich. Doch nach einem kurzen Schockmoment ging es ihm auch danach immer noch bestens. Er gewann das Match, feierte die Nacht wild und ausgelassen mit seinen Jungs und fühlte sich für ein paar Stunden unver- wundbar. „Erst am Morgen danach wurde mir klar, dass meine heftigen Kopfschmerzen nicht nur eine Folge der vielen Drinks waren …“ Wenn der 179-Zentimeter-Mann vom Wrestling erzählt, dann stets mit Enthusiasmus. Man spürt, dass er gerne ein bisschen verrückt und anders ist; dass er mit Überzeugung zu Menschen gehört, die sich abseits von Altbekanntem bewegen und auch mal Pionierar- beit leisten. Eine Einstellung, die in Singapur viele mit ihm tei- len, wie Thexeira betont: „Ich lebe in einer viel bunteren und vielfältigeren Stadt, als es auf den ersten Blick vielleicht erschei- nen mag. Eine Metropole, in der es eine Menge ungewöhnlicher Berufe und Berufungen gibt. Und ein Ort, an dem viele Menschen alles dafür tun, dass ihr großer Traum irgendwann wahr wird.“ 52
  • 54. T E S T O S T E R O N E R F Ü L LT J E D E E C K E D E S R A U M S 53