Demenzerkrankte und ihre Angehörige wissen um die österreichische Pflegelücke. Sie tut sich immer dann auf, wenn Pflege- und Betreuungsdienstleistungen nur eingeschränkt verfügbar sind. Denn wird man in Österreich pflegebedürftig, besteht derzeit die Wahl zwischen der (informellen) Betreuung durch Angehörige auf der einen Seite, und der stationären Versorgung im Alten- oder Pflegeheim auf der anderen Seite. Dazwischen gibt es kaum Angebote, die den unterschiedlichsten Bedürfnissen der Menschen mit Pflegebedarf und deren Angehörigen entsprechen würden. Gibt es diese Angebote doch in der Nähe, sind sie oft nicht leistbar. Die Schließung der Pflegelücke ist daher – vor allem auch in Zusammenhang mit Demenz – ein Gebot der Stunde. Zudem wirken sich aktuelle Überlegungen wie die Erschwerung des Zuganges zu den Pflegestufen I und II kontraproduktiv auf die Situation von Menschen mit Demenz aus. Aus sozialpolitischer Perspektive müssen daher dringend Maßnahmen getroffen werden, um die Lebensqualität von Betroffenen zu erhöhen.
Von Mag.a Katharina Meichenitsch/Diakonie Österreich
Vergessen, aber nicht vergessen werden - Demenz aus sozialpolitischer Perspektive
1. Vergessen,
aber nicht vergessen werden!
Demenz aus sozialpolitischer Perspektive
Katharina Meichenitsch
Hartheim Konferenz, 14.-15. November 2014
Diakonie Österreich
2. Ängste beim Älterwerden
weltweite Befragung Konsumforschung
40 % der InderInnen haben Angst, graues Haar zu bekommen
(weltweiter Durchschnitt 15 %)
35 % der JapanerInnen haben Angst, Falten zu bekommen
(weltweit 16 %)
25 % der BrasilianerInnen haben Angst, im Alter die sexuelle Lust
zu verlieren (weltweit 10 %)
37 % der ÄgypterInnen haben keine Ängste, wenn sie an das Alter
denken (weltweit 8 %)
70 % der Deutschen haben Angst, im Alter das Gedächtnis zu
verlieren (weltweit 47 %)
Diakonie Österreich
3. Woher kommt die Angst?
• Wer spricht über Demenz?
• Wie wird Demenz in der Öffentlichkeit dargestellt?
• Was traue ich mir und meiner Familie zu?
• Welche Unterstützung erhalte ich?
Diakonie Österreich
4. Wohlfahrtsstaatliche Überlegungen
Esping-Andersen
•Liberaler Wohlfahrtsstaat
(Fürsorge, Individualität, Marktwirtschaftliche Prinzipien, z.B. USA,
Kanada)
•Konservativer Wohlfahrtsstaat
(Versicherung, korporatistisch, traditionelle Familienstrukturen, z.B.
Deutschland, Österreich, Frankreich)
•Sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat
(Versorgung, Universalität, Umverteilung, z.B. Schweden, Norwegen)
Kritik: fehlende Überlegungen zu Gender, unbezahlte Arbeit
Diakonie Österreich
5. Wo steht Österreich?
• Männlicher Alleinverdiener (geringe Arbeitsmarktbeteiligung von
Frauen, hohe Teilzeitquote, hohe Lohnunterschiede)
• Frauen in der Betreuung (geringes Angebot für Betreuung von
unter 3jährigen, geringe Haushaltsbeteiligung von Männern)
• Hohe Geldleistungen, niedrige Sachleistungen
• Subsidiaritätsprinzip
• Versicherungen statt Versorgungsleistungen
Wie drückt sich das konkret bei der Bevölkerung aus?
Was heißt das für die Langzeitpflege und Versorgung von
Menschen mit Demenz?
Diakonie Österreich
6. Wie wollen Sie einmal gepflegt werden?
Diakonie Österreich
7. Wie hoch schätzen Sie den % Anteil Ihres
Haushaltseinkommens, den Sie für die
Pflege Ihrer Eltern ausgeben werden?
Diakonie Österreich
8. Wer sollte für die Pflege Ihrer Eltern
bezahlen?
Diakonie Österreich
9. Trends in Europa
• Demografische Entwicklungen (Demenzen)
• Sparpolitiken als Antwort auf die Wirtschaftskrise
• Umbau der Pflegesysteme als Antwort auf zufällige politische
Diskussionen, kein systematischer Ausbau (FR, AT)
• Ausbau mobiler Dienste, Forcieren von Geldleistungen um
informellen Sektor zu stützen
• Leistungserbringung vermehrt durch gewinnorientierte
Organisationen
• Männer in die Pflege? (Attraktivität Berufsbild)
Diakonie Österreich
10. Pflege und Betreuung in Österreich
• Pflegegeld, 440.000 BezieherInnen
• Bundesweite Geldleistung, steuerfinanziert in 7 Stufen
• Freie Verwendung, einkommensunabhängig
• Ziel: Teil-Abdeckung des pflegebedingten Mehraufwandes
ABER
• Hohe Inanspruchnahme bei Stufe I und II (mehr als Hälfte aller
BezieherInnen, mehr als 70 % aller Neuzuerkennungen)
• Zugang wird laufend eingeschränkt, aber keine Kompensationen
• Demenzzuschlag wird nicht erhöht
• Wertverlust in den vergangenen 20 Jahren: durchschnittlich 28,5 %
Diakonie Österreich
11. Pflege und Betreuung in Österreich
• Zersplittertes System
• Einheitliche Geldleistung, aber unterschiedlicher Zugang zu
Sachleistungen
• Unterschiede bei Pflegegeldeinstufungen, Selbstbehalten und
Versorgungsniveaus
• 1/5 stationär, 1/5 mobil, 3/5 ausschließlich informell
• Pflegebedürftigkeit als Armutsrisiko (sog. Eigenregress wirkt wie
100% Vermögenssteuer)
• Pflege ist soziales Risiko, aber Verantwortung bei Familien
Entweder bedarfsgerechtes Angebot nicht verfügbar, oder nicht
leistbar
Diakonie Österreich
12. Sind wir Weltmeister?
• Ja, viele Menschen bekommen wenig
• Ja, viele Menschen haben geringen Zugang zu Leistungen
• Nein, wir geben relativ wenig aus
• Nein, wir unterstützen Angehörige zu wenig
Diakonie Österreich
13. Was ist die Pflegelücke?
Versorgung entweder durch Angehörige daheim, oder stationär im
Pflege- oder Altenheim.
Dazwischen oft keine Leistung verfügbar, oder nicht leistbar.
Alternativen:
•Mobile Dienste (mehr als 3 h am Tag)
•Kurzzeitpflege / Übergangspflege
•Tageszentren
•Betreutes Wohnen
•Alltagsbetreuung / Besuchsdienste
Diakonie Österreich
14. Speziell für Demenz
• Hausgemeinschaften
• Akutpflegedienste
• Ausbau von Angeboten in Sport und Kultur
• Demenzfreundliche Gemeinden
• Demenzschulungen für MitarbeiterInnen in Polizei, Rettung,
Supermärkten, Geschäften
Auch für Angehörige
• Alzheimer Cafes
• Demenzberatungsstellen und Infos im Netz (z.B. www.demenzinfo.at)
• Infos über Vorsorgevollmachten, PatientInnenverfügung,
Sachwalterschaften, etc.
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15. Speziell für Demenz - Tageszentren
• Betreuung tagsüber durch geschultes Pflegepersonal
• Auch nur tageweise möglich, abends und nachts in der gewohnten
Umgebung (zu Hause)
• Derzeit nur knapp 6.000 betreute Personen in Österreich
Vereinbarkeit von Beruf und Betreuung
Evaluierung Tageszentren in Salzburg:
• Verbesserung von physisch und psychosozialen Gesundheitszustand
• Entlastung der Angehörigen
• Prävention: Verzögerter Einzug in Alten-/Pflegeheim
• Besonders geeignet für Demenz
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16. Politische Entwicklungen
Demenzbericht
Bundesministerium für Gesundheit
Demenzstrategie
Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz
Bis Ende 2014?
Diakonie Österreich
17. Forderungen
• Keine weiteren
Verschärfungen zum Zugang
• Aktiver und mutiger Ausbau
von sozialen
Dienstleistungen, vor allem
Pflege und Betreuung
(„social investment package“)
• Voneinander lernen –
Föderalismus nutzen
• Gesamtkonzept
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