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2 | 2015via
Erleben Interview Martin Suter
Zur Person
MartinSuter,geboren1948in
Zürich,istSchriftsteller,Kolumnist
undDrehbuchautor.Bis1991
arbeiteteeralsWerbetexterund
CreativeDirector,bisersich
ausschliesslichfürsSchreiben
entschied.SeineRomaneund
Business-Class-Geschichtensowie
seineAllmen-Krimiseriesind
auchinternationalgrosseErfolge.
MartinSuterlebtmitseinerFamilie
inZürich.
2. Die Einstiegsszene zu Ihrem neuen Roman
«Montecristo» spielt in einem Intercity. Einem
Passagier bekommt das gar nicht gut. Fahren Sie
Zug?
Ich fahre Zug, ja. Gerne sogar. Ich habe früher einmal
in Basel gewohnt und in Zürich gearbeitet, war also
Pendler. Aus dieser Zeit kenne ich auch den Speise-
wagen und dessen Gäste: Damals waren das viele
Banker.
Sie schicken den Videojournalisten Jonas Brand in
einen Wirtschaftskrimi von grösster Dramatik.
Dabei werfen Sie auch existenzielle Fragen auf.
Etwa die, ob man einen einzelnen Menschen
opfern darf, um Millionen anderer zu retten.
Darf man?
Es gibt ja die Ansicht, dass Ideen und Systeme nichts
taugen, die auch nur ein einziges Menschenleben
kosten. Ich habe keine Antwort auf die Frage. Ich ver-
suche immer, eine Geschichte möglichst wertfrei zu
erzählen.
Haben sich unsere Moralvorstellungen in
den vergangenen Jahren verändert?
Ich würde mich wundern, wenn sich etwas funda-
mental geändert hätte.
Im Nachwort zu «Montecristo» danken Sie Peter
Siegenthaler und Urs Rohner für die fachliche
Unterstützung. Der eine hat für den Bund die
UBS-Krise gemanaged, der andere ist Verwal-
tungsratspräsident der CS. Liest man Ihr Buch,
muss man denken: Alles war noch viel schlimmer.
Ich weiss nicht, ob es schlimmer war. Jedenfalls habe
ich von den beiden keine Hinweise bekommen (lacht
herzlich). Peter Siegenthaler meinte, dass die Staats-
macht nicht so weit gehe, wie ich es im Buch beschrei-
be. Mindestens in der Schweiz nicht.
Hat Urs Rohner Ihnen die Mechanismen
der Bankenwelt erklärt?
Urs Rohner und ich sind befreundet. Er hat das Buch
gelesen und mich auf einen dramaturgischen Punkt
hingewiesen, womit er sehr Recht hatte.
Verraten Sie es uns?
Ich sage nicht, was das war,
nein (lacht wieder). Seinen
Rat habe ich mir aber zu
Herzen genommen. Da sieht
man doch, dass es Banker gibt, die nicht nur von Geld
eine Ahnung haben.
Es gibt in einer Geschichte keine Guten ohne die
Bösen. In «Montecristo» verwischen sich die
Grenzen. Der Leser muss sich immer wieder
selber fragen, wie er in dieser oder jener Situation
gehandelt hätte.
Es ist ja nicht nur die Wirtschaftswelt, es ist die ganze
Welt. Die Geschichte ist unmoralisch und hat das
Ende gebraucht, das sie nun hat. Sie handelt von der
Fallhöhe. Das Motiv des unmoralischen Endes findet
sich schon in «Ein perfekter Freund».
Ich bin Ihnen schon etwas böse wegen dem
Schluss. Ich hatte mir ein anderes Ende gewünscht.
In diesen Tagen ist Martin Suters neuer Roman «Montecristo» erschienen. Im
Interview spricht er über Moral, das Schreiben und das Altern. Und er erklärt,
warum er seine Figuren nach dem letzten Satz gerne wieder sich selbst überlässt.
Text:Gaston Haas; Foto:Christian Grund
«Was stimmen kann,
muss stimmen»
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Interview Martin Suter Erleben
«MeineGeschichten
spieleninderGegenwart»
FotoshootingmitfreundlicherUnterstützungderTinaBarinZürich
3. Erleben Interview Martin Suter
Tatsächlich? Das tut mir leid (amüsiert sich). Aber
natürlich habe ich nichts dagegen, wenn meine Ge-
schichten den Lesern auch nach der letzten Seite noch
etwas im Kopf rumgeistern.
Sie haben ein fast schon erschreckendes Gespür für
Themen, die uns allen unter den Nägeln brennen.
Warum erschreckt Sie das?
Ich meine das positiv. Alzheimer und das Alter,
die Zeit, die Frage nach Identität. Jetzt die Finanz-
industrie und ihre Regisseure. Viele dieser
Themen machen uns ratlos. Wie finden Sie Ihre
Geschichten?
Es ist nicht so, dass ich sage: Jetzt suche ich
ein Thema, das möglichst vielen gefällt.
Überhaupt nicht. Aber ich mag den Realis-
mus in der Literatur. Meine Geschichten
spielen in der Gegenwart. Deswegen be-
schreibe ich die Welt, wie sie ist. Dann hebe ich gerne
ab in einer Geschichte. Aber um abheben zu können,
brauche ich zuerst festen Boden unter den Füssen.
Was meinen Sie mit «abheben»?
Das Lügen. Das Verlassen der Realität. Man kann die
Realität nur verlassen, wenn man sie zuerst genau be-
schrieben hat. Früher habe ich gesagt, dass man eine
einzige Lüge in zehn Wahrheiten verpacken müsse,
um glaubwürdig zu sein.
War das zu Ihrer Zeit als Werber?
(Lacht) Nein, dort ist es wahrscheinlich eher umge-
kehrt. Ich bin sehr genau bei meinen Recherchen.
Grobe Fehler können eine ganze Geschichte zerstö-
ren. Wenn ein Autor zum Beispiel im «Spiegel» einen
offensichtlichen Blödsinn über die Schweiz erzählt,
dann kann die Glaubwürdigkeit des ganzen Magazins
darunter leiden. Der Leser sagt sich dann: Also, wenn
schon das und das nicht stimmt, was kann ich denn
denen überhaupt noch glauben? Was stimmen kann,
muss stimmen.
Sie müssten immer den letzten Satz eines Romans
kennen, bevor Sie zu schreiben anfangen, haben
Sie einmal gesagt.
Keinen ersten Satz ohne den letzten, ja, das ist so bei
mir. Ich muss wissen, wie eine Geschichte anfängt.
Wo Literatur
entsteht:
Martin Suter
an seinem
Arbeitsplatz
auf Ibiza.
«MankanndieRealitätnur
verlassen,wennmansiezuerst
genaubeschriebenhat.»
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das Beatles-
Musical.
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4. Exklusiv
für via-Leser
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Martin Suter. Schreiben
Sie uns ein E-Mail an
redaktion@via.ch,
Stichwort «Montecristo».
Mit etwas Glück halten
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aufreibenden Finanzthriller
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Macht in Ihren Händen.
Einsendeschluss
ist der 31. März.
diogenes.ch
Ich muss aber auch den Schluss kennen, bevor ich zu
schreibenanfange.Ichmusswissen,wodieGeschich-
te hingeht, und ich muss den Weg dorthin einiger-
massen kennen.
Heisst das, dass Sie mit dem ersten Satz schon
den Plot samt allen Figuren im Kopf haben?
Da biegen beim Schreiben nicht plötzlich neue
Charaktere um die Ecke?
Ich erlaube meinen Figuren schon, sich ein wenig zu
entwickeln. Ein bisschen Freiheit haben sie. Aber das
ist nicht immer gleich. In «Die dunkle Seite des Mon-
des» gibt es viele Erzählebenen. Deshalb musste ich
die Geschichte ganz exakt aufbauen. Da kann ich mir
keinen Fehler erlauben. Wenn sich der Autor verirrt,
dann wird es dem Leser nicht besser gehen.
Wie halten Sie all die Personen und Handlungen
im Blick? Hängen Sie Zettel an die Wand, die Sie
dann mit Linien verbinden?
Dieses Zettelsystem habe ich früher tatsächlich ver-
wendet. Heute gibt es dafür Software für den Compu-
ter. Ich erzähle ja sehr oft in Szenen. Das macht diesen
Aufbau ein wenig einfacher. Aber na-
türlichstrukturiereichmeineGeschich-
ten, manche genauer, andere weniger.
Einfach draufloszuschreiben ist also
nicht so Ihr Ding?
Dashabeicheinmalgemacht.Ichwuss-
te nicht, wohin die Reise gehen sollte.
Das kann man als junger Mensch mal
machen. Dann sagt man nach andert-
halb Jahren: Gut, das war nichts, jetzt
schreibe ich halt ein neues Buch. Mit
zunehmendem Alter geht man mit der
Zeit geiziger um. Also ist Struktur wich-
tig. Und dann ist da auch eine erzähleri-
sche Komponente: Bei mir muss eine
Geschichte immer gestossen und gezo-
gen werden. Wenn ich den Anfang ken-
ne, kann ich stossen. Ziehen kann ich
aber nur, wenn ich das Ende kenne. Ich
brauche beim Schreiben den Wissens-
vorsprung vor dem Leser.
Geht das anderen Autoren auch so?
Das ist wahrscheinlich sehr indivi-
duell. Bei Agatha Christie zum Beispiel
hat man bei manchen Romanen das
Gefühl, sie habe bis kurz vor Schluss nicht gewusst,
werderMörderseinwürde.Dashatsieaufdenletzten
Seiten zum Improvisieren gezwungen. Ich habe es Ihr
als Leser dann übelgenommen, dass ich keine Chance
hatte, den Mörder zu erraten. Weil sie es selbst nicht
wusste. ■
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Foto:BastianSchweitzer/DiogenesVerlag