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Europa ist die Antwort
von
Ibrahim Mazari
Köln, April 2003
Beitrag zum Wettbewerb der Büchergilde Gutenberg
„Sehnsucht nach Sinn – Wertvorstellungen junger Menschen im vereinten Europa“
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Orientierungsrahmen
Junge Menschen stehen heute in Europa vor der Frage nach dem Sinn des Lebens, so wie die
Menschen im Rest der Welt, zu allen Zeiten. Die Fragen sind die gleichen, die Antworten
nicht.
Gibt es eine europäische Antwort? Diese Frage zu beantworten heißt sich darüber klar zu
werden, dass Europa nicht nur eine geographische, politische und wirtschaftliche Variable ist,
sondern darüber hinaus einen Werteraster bildet, in dessen Fängen der suchende Mensch
Antworten finden kann.
Der Mensch begreift sich als Kulturwesen, dessen Ansichten, Traditionen und Werte im sozi-
alen Miteinander gebildet werden. Wir sind abhängig von der Kultur unserer Umwelt, in der
wir hineingeboren werden und deren Werte wir schutzlos ausgesetzt werden, um darin auf-
zugehen, daran Anstoß zu nehmen, sich vereinnahmen zu lassen oder sich davon zu distanzie-
ren. Werte sind dem Wandel unterworfen, aber das heißt nicht, dass sie beliebig sind, son-
dern dass der Erfahrungshorizont, den eine Gesellschaft macht, dazu führt, Werte zu bilden,
zu ändern, zu verwerfen. Und wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen, so tun wir dies in
unserer Zeit mit ihren spezifischen Problemlagen und ihrem Menschenbild.
In Zeiten fester Strukturen ist der Rahmen von Kultur und Normen um die Menschen relativ
eng und klar begrenzt und somit als Leitlinie in der Auseinandersetzung mit existenziellen
Fragen wie die nach Identität und dem Sinn des Lebens vorgegeben. Die Identitätsfrage stellte
sich nicht, Standesnormen gaben vor, wo man sich im Gesamtbild einer harmonisch gedach-
ten Ganzheit des gesellschaftlichen Seins befand. Im Zweifel gaben die Autoritäten die Ant-
worten, seien es der Fürst oder der Papst.
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Dass dieser Prozess auch in frühen Zeiten nicht reibungslos verlief, zeigt die Brüchigkeit
menschlicher Werte und ihrer relativen Instabilität, die im Wandel und im Widerspruch zu-
tage tritt.
Die Legitimität, den Rahmen vorzugeben, der den Menschen vorschreibt, wie sie zu leben
haben und wie ihre Beziehungen untereinander und zur legitimierenden Autorität beschaffen
sein soll, ist heiß umkämpft und begehrt, stellt sie doch auch Macht und Reichtum in Aussicht.
Doch es reichte nie aus nur eine wie auch immer hergeleitete Legitimität zu beanspruchen,
solange sie an den Bedürfnissen der Menschen eklatant vorbeiging.
Eine Problematik, die sich heute schärfer denn je stellt, angesichts der globalisierten Vielfalt
an Lebensentwürfen, Wertemaßstäben etc.
Unterschiedlichste Lebenslagen und Orientierungsrahmen konterkarieren jede Simplifizie-
rung, um eine einheitliche Sinngebung zu organisieren. Obsolet sind der Gedanke an Stand
und Adel schon lange, gefürchtet der Rückgriff nach dem Nationalen, zu offenkundig ist die
Brüchigkeit solcher Ansätze für den offenen nach Sinn suchenden Menschen in Europa. Den-
noch, und das ist als Symptom gerade unserer uneinheitlichen Welt in der globalisierten Hatz
zu begreifen, suchen die Menschen angesichts der erlebten unheimlichen Pluralität an unter-
schiedlichsten Lebensentwürfen, parallelen Lebenswelten und verlorenen Gewissheiten nach
Halt in einfachen Erklärungsmustern, in um so rigideren Orientierungsrahmen wie der Idee
der Blutnation oder dem verheerenden Rückgriff auf engstirnige Auslegungen religiöser An-
sätze, die zuvor an Bedeutung, Legitimität und Deutungsmacht verloren haben.
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Junge Menschen suchen nach Perspektiven
Angesichts der Ungewißheiten und der medial erlebten Gleichzeitigkeit unterschiedlicher und
in der Lebenswirklichkeit sich kaum berührender Lebenskonzepte ist der junge Mensch heu-
te großen Herausforderungen ausgesetzt, die ihm abverlangen nicht nur seinen Platz in der
Gesellschaft zu finden und sich dahingehend zu entwickeln, sondern auch diese Entscheidung
zu legitimieren und ihre Sinnhaftigkeit selbstständig zu definieren. Der junge Mensch sieht sich
da teilweise diametral zueinander stehender Werte ausgesetzt.
Er soll sich in einer kapitalistisch geprägten und organisierten Gesellschaft erfolgreich bewäh-
ren, gleichzeitig den globalen Zusammenhängen von Ökonomie, Ökologie und Armut Rech-
nung tragen, ihm wird Engagement in seiner unmittelbaren Umgebung in der Kommune oder
im Stadtteil nahegelegt, trotz der konstatierten relativen Unfähigkeit von konkreten poli-
tischen Entscheidungen im globalisierten Zusammenhängen von grenzüberschreitendem
Wirtschaften, Arbeiten und Leben.
Die Sorgen junger Menschen sind heute geprägt von diesen Widersprüchen. Wie kann es
gelingen, die Gesellschaft zusammenzuhalten trotz der offensichtlichen Brüche? Droht nicht
die Balkanisierung, wenn der Wohlstand, an dem alle zu unterschiedlichem Grade parti-
zipieren, irgendwann auf der Kippe steht? Welche Perspektiven haben junge Menschen in Eu-
ropa heute, da alte Muster wie der Nationalstaat in Frage gestellt werden? Kann es einen neu-
en Rahmen geben, der die alten hinfälligen umfassen kann?
Europa als Perspektive
Aus den Erfahrungen der Schrecken des Zweiten Weltkriegs und all jener Kämpfe in der Ver-
gangenheit, die tiefe Gräben zwischen den Bewohnern dieses Kontinents schlugen, aber auch
aus dem Wissen der Gemeinsamkeiten wie der Geist der Aufklärung und dem Streben vieler
Menschen nach Hohem in der Kunst und in den Wissenschaften, beschlossen Visionäre in den
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Nationen des daniederliegenden Europas die Errichtung eines gemeinsamen Wirtschaftsrau-
mes und die Entwicklung politischer Strukturen bis hin in unsere Zeit mit der Einführung
einer einheitlichen Währung und der Diskussion um eine Verfassung für ein föderiertes Euro-
pa, das sich nicht dem Irrtum des Nationalen verschreibt und die unterschiedlichsten Lebens-
lagen negiert.
Das vielmehr aus dem Wissen der fruchtbaren und manchmal auch spannungsreichen Unter-
schiedlichkeit der europäischen Lebenswelten den Menschen Halt gibt dadurch, dass man
sich als Schicksalsgemeinschaft auf Gemeinsames im Trennenden beruft.
Aber auch Europa bedarf der Legitimität, will es ein Europa der Menschen sein und nicht nur
eine aufgequollene supranationale Behörde und ein Bürokratenmonstrum. Legitimität dahin-
gehend, dass Europäer partizipieren können und die Institutionen den nationalen demokrati-
schen Maßstäben genügen.
Europa als Perspektive für junge Menschen ist trotz der umzusetzenden Reformen der Insti-
tutionen heute schon Realität. Indem es jetzt schon einen grenzüberschreitenden Arbeits-
markt bietet, zum Studium an den europäischen Universitäten einlädt und Mehrsprachigkeit
honoriert. Es ist eine Notwendigkeit sich dieser Perspektive Europa zu bedienen. Aber dar-
über hinaus ist Europa für viele junge Menschen eine Antwort auf die Fragen der
Globalisierung, denn immer mehr wächst die Erkenntnis, dass nur im größeren Verband poli-
tische und wirtschaftliche Ziele eingefordert werden können, Kriege verhindert oder, wenn
sie ausbrechen, geschlichtet werden können. Dass dies nicht der Fall war in Bosnien, als
Europäer auf Europäer schossen und das institutionelle Europa nur zuschaute und nicht zu
handeln vermochte, zeigt um so mehr die Dringlichkeit der Perspektive einer gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik.
Aber der junge Mensch ringt auch um eine europäische Identität in Anerkennung der Unter-
schiede und angesichts der nicht mehr befriedigenden alten Ansätze und Traditionen wie die
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der nationalen Einheit auf der Grundlage des Blutes und der daraus resultierend verklärten
Volksseele (Stichwort: Leitkultur).
Gerade die Brüche in der Gesellschaft und die Existenz so unterschiedlicher Lebensentwürfe,
seien es Immigranten und deren in Europa geborenen Kinder, seien es die zahlreichen
Jugendstile, Menschen mit grundsätzlich unterschiedlichsten religiösen Überzeugungen oder
mit überzeugter Nicht-Religiosität, Menschen aus allen Schichten und gesellschaftlichen Grup-
pierungen, mit anderen Lebenszielen, -entwürfen, politischen Überzeugungen, kulturellen
Präferenzen, Sprachen, Geschlechtern, sexuellen Orientierungen – gerade diese Unterschie-
de werden als nicht bedrohlich definiert in einem gemeinsamen Haus Europa, sondern als
konstitutionelles Element. Und das vermag gemeinsam mit dem Wissen der kulturellen und
geistigen Wurzeln Europas in Musik, Malerei, Architektur, Literatur und Wissenschaft eine
europäische Identität für junge Menschen im Hier und Heute, in Paris, in Köln, in Florenz
oder auch in Budapest zu bilden.
Europa ist nicht nur eine gemeinsame Chance für Arbeit und Wohlstand, sondern kann für
uns junge Menschen, die Krieg nicht kennen, weil Europa Erfolg hatte als Idee, identitätsstif-
tend sein. Ja mehr noch, es kann uns in der Suche nach dem Sinn des Lebens helfen, indem es
uns zeigt nicht daran zu verzweifeln, dass es so viele Antworten auf die Frage nach dem Sinn
des Lebens gibt, sondern gerade darin Reichtum zu sehen, so wie Europa trotz der of-
fensichtlichen Kakophonie der Sprachen, Ideen und Ideologien unzählige Antworten gab und
gibt, und genau daraus seine Stärken bezieht. Dies tröstet und ermutigt, ein eigenständiges
und selbstbewußtes Leben zu wagen, und sich dennoch, trotz der Kakophonie der unter-
schiedlichsten Orientierungsrahmen, eine Perspektive zu eröffnen: Europa als Antwort.