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Orientalisches Seminar der Rheinischen Friedrich – Wilhelms Universität Bonn

Veranstaltung: Die arabische Autobiographie (Seminar), SS 1999
Leiter: Prof. S. Wild
Verfasser: Ibrahim Mazari




Latifa al Sajjats Autobiographie „Hamlat taftis -
Awraq sahsiyya“(Durchsuchungen)




                                                            Ibrahim Mazari
                                                            Larstr. 81
                                                            53844 Troisdorf

                                                            fon 02241 391319
                                                            e mail mazari@arcormail.de

                                                            Soziologie, Psychologie,
                                                            Islamwissenschaften




                                                                                         1
2



Inhalt



Einleitung (S. 3)


TEIL I


1. Zur Person Latifa al Sajjat (S. 3)
2.   Zum Buch „Durchsuchungen“ (S. 5)
     3. Hauptmotive (S. 8)
       4. Flucht (S. 8)
       5. „Altes Haus“ versus „Haus in der Wüste“ (S. 12)
       6. Niederlagen (S. 13)



TEIL II
1. Die Autobiographie als literarisches Genre (S. 16)
     2. Roy Pascal (S. 16)

     3. Günter de Bruyn (S. 19)
     4. Joachim Kronsbein (S. 21)
     5. Der autobiographische Pakt (S. 21)
     6. Die Autobiographie in der arabischen Welt (S. 22)



7.   Sind die „Durchsuchungen“ eine Autobiographie? (S. 22)
     8. rückblickende Perspektive (S. 23)
     9. ganzheitliche Darstellung (S. 23)
     10. subjektive Wahrheit (S. 24)
     11. Schilderung der Persönlichkeitsentwicklung als Prozeß (S. 25)
     12. Der autobiographische Pakt (S. 26)



13. Fazit (S. 26)



Literaturverzeichnis (S. 27)




                                                                         2
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Einleitung
Die vorgelegte Arbeit möchte die Autobiographie „Durchsuchungen“ von Latifa
al Sajjat zu ihrem Gegenstand machen. Dies ist eine zweifache Aufgabe: einmal
gilt es das Buch in seinem Aufbau und seinen Inhalten darzustellen die Autorin
vorzustellen, indem ihr Leben nachgezeichnet wird. Das andere Mal ist die
Frage zu beantworten, was eine Autobiographie sei, welche Kriterien ihr eigen
sind und inwieweit sie auf das hier untersuchte Buch zutreffen. Es sollen
verschiedene Theoretiker zu Wort kommen, so daß eine gewisse Vielfalt zu
diesem Themenkomplex gegeben ist.
Wie für jedes Buch so gilt auch hier, daß Lesen Interpretation bedeutet und daß
meine Deutungen die Früchte meiner Anstrengung und Auseinandersetzung
mit diesem Text sind.




TEIL I


14. Zur Person der Latifa al Sajjat
Latifa al Sajjat wurde am 8. August in Damietta (Dumyat) in Ägypten geboren.
Sie war Schriftstellerin, Dozentin, politische Aktivistin und Frauenrechtlerin.
Neben ihrer Autobiographie, die sie vier Jahre vor ihrem Tod veröffentlichen
läßt, hinterläßt sie einige Romane und viele Kurzgeschichten, die erst in letzter
Zeit     im nicht – arabischen Ausland zur Kenntnis genommen werden. Ihre
Autobiographie „Durchsuchungen“ ist ihr erstes Werk, das ins Englische
übersetzt worden ist.
Latifa al Sajjat ist das dritte von vier Kindern. Sie hat zwei ältere Brüder
(Muhammad, Abdelfattah) und eine jüngere Schwester (Safiya). Sie wachsen in
kleinbürgerlichen Verhältnissen auf, der Vater war ein Angestellter der
Stadtverwaltung. Doch aus den Ausführungen in ihrem Buch wird ersichtlich,
daß die Familie in früheren Zeiten sehr wohlhabend war, als der Großvater noch
Seehandel treiben konnte. Aus jener Zeit stammt auch das Haus, in dem Latifa
ihre ersten sechs Lebensjahre verbrachte.




                                                                             3
4


Als Latifa sechs Jahre alt ist, zieht die Familie nach Mansura, weil der Vater
dorthin versetzt wurde. Es folgen noch weitere Umzüge, darunter auch nach
Asjut und Kairo.
Als Latifa 12 Jahre alt ist, stirbt der Vater. Die Familie zieht nach Kairo, wo sie
nacheinander mehrere Wohnungen beziehen.
1946 macht sie ihren Studienabschluß an der Geisteswissenschaftlichen
Fakultät der Universität Kairo. Kurz danach, genauer gesagt 1949, wird sie
infolge politischer Aktivitäten, die sie schon zu ihren Studienzeiten begann, von
der Geheimpolizei verhaftet und in das Hadra – Frauengefängnis in Alexandria
gebracht. Zu jener Zeit war sie auch schon verheiratet mit einem Mitstreiter und
Kommilitonen. Ihr Ehemann wird zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von 7 Jahren
verurteilt.
Einige Jahre nachdem sie nach relativ kurzer Zeit auf Bewährung aus dem
Gefängnis entlassen wurde, heiratete sie ihren zweiten Ehemann. Diese Ehe
geht von 1952 bis 1965 und hielt folglich 13 Jahre.
Latifa al Sajjat schreibt 1957 ihre Dissertation. Kurz darauf erscheint ihr Roman
„Das offene Tor“ (1960), das als ihr Hauptwerk gilt. In diesem Buch verarbeitet
sie unter anderem ihre Erfahrungen während des Gefängnisaufenthaltes in
Alexandria.
Sie bleibt weiter politisch aktiv, schreibt Romane und Kurzgeschichten, die
nicht alle veröffentlicht werden, und sie ist Dozentin für Literatur an der
Universität.
Infolge ihrer Aktivitäten gegen das Camp – David – Friedensabkommen und
aufgrund ihrer oppositionellen Haltung gegenüber dem Sadat – Regime wird
Latifa al Sajjat am 8. September 1981 verhaftet und ins Frauengefängnis von
Kanatir gebracht.
Danach zieht sich Latifa al Sajjat immer mehr aus dem politischen Leben zurück.
Dennoch wird sie nicht völlig inaktiv, wie ihr Einsatz für den palästenensischen
Intellektuellen Edward Said beweist.
1992 schreibt sie ihre Autobiographie „Durchsuchungen“, die in Ägypten sehr
erfolgreich wird, obwohl sie das Buch ursprünglich nicht veröffentlichen wollte.




                                                                               4
5


In ihren letzten Lebensjahren zieht sie sich auch privat immer mehr zurück, bis
sie nur noch in abgedunkelten Räumen leben kann. Latifa al Sajjat stirbt 1996 in
Kairo.


2. Zum Buch „Durchsuchungen“
Das Buch „Durchsuchungen“1 erschien 1992 in arabischer Sprache. Der
Untertitel im Original lautet „auraq šahsiya“, was mit persönlichen Notizen oder
Aufzeichnungen übersetzt werden kann. Dies weist darauf hin, daß die Autorin
hier eine Autobiographie vorlegt. Die Frage, inwieweit es sich hierbei um eine
Autobiographie handelt, wird noch zu beantworten sein, in diesem Abschnitt
sollen der Aufbau und der Inhalt des Textes erörtert und interpretiert werden.


Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil umfaßt 6 Abschnitte2, die mit
Jahreszahlen tituliert sind. Der zweite Teil des Buches läßt sich in weitere zwei
Abschnitte3 gliedern. Die Texte sind nicht chronologisch angeordnet. Die
Autorin verwendet Teile aus Romanfragmenten und aus ihrem Tagebuch, so
daß auf den ersten Blick keine einheitliche Struktur erkennbar ist.
Der erste Teil des Buches beginnt 1973. Dies ist jedoch nicht der Zeitraum, über
den sie berichtet, sondern der Zeitpunkt, wo sie ihre Aufzeichnungen erstellt.
Der erste Abschnitt des ersten Teils beginnt mit der Nachricht, daß der Bruder
im Sterben liege. Hier berichtet sie auch, daß ihre Autobiographie mit dem Tod
ihres Bruders einen Monat später, nämlich im Mai 1973, innehalte.
Der erste Teil des Buches endet mit der Schilderung des Todes ihres Bruders
Muhammad, so daß hier eine Sinnstruktur den Text verbindet, indem der
Zeitpunkt des Schreibbeginns, also die Perspektive des Schreibers, von der er in
die Vergangenheit zurückblickt, zusammengebracht wird mit der Schilderung
jener Ereignisse am Ende des Buches.
Der      zweite   Teil    umfaßt      nur    Texte,     die   während   bzw.   nach   dem
Gefängnisaufenthalt in Kanatir entstanden sind.
Die Jahreszahlen im ersten Teil des Buches haben verschiedene Bedeutungen.
Einmal benennen sie den Zeitraum, über den Latifa al Sajjat schreibt, ein
1
  Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996
2
  „März 1973“; „1967“; „1963“; „1950“; „1962“; „1973“
3
  „1981“; „Eine Durchsuchung“



                                                                                      5
6


anderes Mal ist es der Zeitpunkt, an dem der Text erstellt wurde. Vor allem bei
den Romanfragmenten trifft zweiteres zu.
So ist es manchmal schwierig nachzuvollziehen, wie der Text einzuordnen ist.
Es geht hier nicht nur um die Chronologie der Ereignisse, sondern auch um die
Frage, welche Teile fiktiv sind. Dies ist um so virulenter, als dadurch die
Authentizität des gesamten Textes bezweifelt werden kann.4


Der erste Abschnitt des ersten Teiles umfaßt neben dem kurzen Prolog über die
Nachricht vom Sterbeprozeß ihres Bruders Muhammad die Schilderung ihrer
Geburtsstadt und ihrer Kindheit. Sie beschreibt das alte Haus und seine
Geschichte; wie es aufgebaut wurde. Dabei erfährt der Leser auch einiges über
die Familienstruktur und über die Herkunft der Autorin. Sie schildert den
wirtschaftlichen Verfall der Familie5, der sich gleichfalls am Haus manifestiere.
Sie berichtet von den Erzählungen ihrer Großmutter über die alten Zeiten und
über Latifas Vater, wie dieser als kleiner Junge war und wie er zum Mann
herangewachsen sei. Es ist erstaunlich, wieviel Raum Latifa al Sajjat diesen
Schilderungen gibt, die ihren Vater plastisch beschreiben. Hier zeigt sich die
Bedeutung, die der Vater für die Autorin hatte, denn eine ähnliche Beschreibung
über die Mutter fehlt völlig. Es wird berichtet von den weiblichen Verführungen,
denen der Vater an der hauseigenen Zisterne zu widerstehen hatte und von
seinem Eintritt in die Männerwelt als Knabe. Dabei ist die Autorin stolz, daß der
Vater den Verführungen nicht nachgab, so als ob er dadurch der Unterdrückung
ihrer eigenen Weiblichkeit Nachdruck verleihe.
Der Vater wird später kaum erwähnt, so daß der Leser nur das lebendige Bild
vom Knaben hat.
Die Autorin beschreibt auch eine Diskrepanz zwischen den Erzählungen der
Großmutter über das Leben im alten Haus und den erinnerten Erfahrungen der
Autorin.         Hier     mag       der     langsame          wirtschaftliche   und   somit   auch
gesellschaftliche Verfall zum Ausdruck kommen, aber auch die negativen
Gefühle, die die Autorin mit dem alten Haus verbindet. Das alte Haus ist eben
nicht nur Hort der ungetrübten Kindheit, sondern auch Stätte der Angst, was

4
    s. S. 20 (in dieser Arbeit)
5
    Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 14



                                                                                               6
7


die Geschichte mit der Schlange, die den Aufgang zum Dach des Hauses
verwehrt, deutlich macht.6
Hannah Davis Taieb konstatiert in ihrem Aufsatz7, daß das alte Haus ein Bild für
ihre Unfreiheit sei, so wie sie es in ihrer zweiten Ehe erlebt habe.


„... the old house, the paternal house, associated with a regressive and illusory return to childhood
under the tutelage of her conformist second husband.“8



Mit Werner Brettschneider gesprochen kann man sagen, daß uns die Autorin
mit der Schilderung ihrer Kindheit die Hauptthemen und -konflikte ihres ganzen
Lebens      bildhaft     vorwegnimmt.           So    spricht     Brettschneider      in   diesem
Zusammenhang von „Kindheitsmuster“9, die uns erlaubten, in der Kindheit all
jenes unverfälschte Sein des Menschen zu erblicken, das uns die Frage nach
dem Leben als ganzes beantworte. Dieses alte Haus ist eine Lebensmetapher,
es steht für Schicksal, Erbe, Geborgenheit und Zuflucht in den Armen der
Mutter.10


Die Hauptmotive dieses Buches werden uns noch beschäftigen. Das alte Haus
ist eins davon.
Neben dem Gebrauch solcher Motive, „Lebensmetaphern“, kennzeichnet diesen
Text die Verknüpfung von Erinnerungsinhalten. Dies ist der rote Faden, der sich
für den Leser auftut, wenn er das Buch liest. Wie ich bereits betont habe, hält
sich der Text nicht an die chronologische Abfolge der Ereignisse. Aber die
einzelnen Textabschnitte sind miteinander verknüpft durch Assoziationen. So
verbindet Latifa al Sajjat die Beschreibung des emotionslosen Blickes der
Großmutter mit dem Blick ihres toten Vaters und weiter mit dem Blick jener
Statue, die sie im Naturhistorischen Museum in London betrachtet.11
Oder wie sie verschiedene Ereignisse wie ihren Gefängnisaufenthalt in
Alexandria, den Tod ihres Vaters, die Ehe mit ihrem ersten Mann und die Ehe


6
  a.a.O. S. 22
7
  Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998)
8
  a.a.O. S. 207
9
  Brettschneider, Werner: „Kindheitsmuster“, Berlin 1982, S. 11
10
   Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 27f u. S. 49
11
   a.a.O. S.18



                                                                                                7
8


mit ihrem zweiten Mann zusammenbringt, indem sie die permanente Umzüge
von einem zum anderen Ort mit den jeweiligen Ereignissen assoziiert.12


2.1. Hauptmotive
Neben der Verknüpfung durch Assoziation gibt es noch die Motive, die dem
Text als ganzes eine einheitliche Struktur geben. Vorausgesetzt es handelt sich
hier um eine Autobiographie – was noch zu prüfen ist – so ist zu erwarten, daß
die Autorin ihre Persönlichkeit im Werden durch Motive und Metapher
veranschaulicht.


2.1.1. Flucht
Das Hauptmotiv dieses Buches ist die Flucht. Es ist eine Flucht, die aus
zweierlei resultiert: einmal aus der Angst vor Isolation, das andere Mal aus
Angst vor der Ohnmacht.
Die Flucht aus Angst vor Isolation ist das Verhalten des kleinen Mädchens, das
sich in den Armen der Mutter flüchtet oder jenes Verhalten, das die Autorin als
junge Frau zeigt, als sie vor die Studenten tritt und flammende Reden hält oder
als sie in die Menschenmenge bei einer Demonstration geht und sich mit ihr
eins fühlt. Hannah Davis Taieb stellt in ihrem Aufsatz fest, daß die Flucht eher
mystisch und transzendental als politisch zu begreifen sei.13
So schildert Latifa al Sajjat in ihrem Buch mehrmals den Wunsch, mit den
„Ganzen“, dem „Absoluten“ zu verschmelzen. So schreibt sie über ihren Roman
„Das offene Tor“, wobei sie deutlich das Gesagte auf sich bezieht:


„Der Mensch in diesem Roman findet sich erst wirklich und versteht sich selbst erst vollständig,
nachdem er in etwas Größerem als seiner engen Individualität aufgegangen ist. Das offene Tor,
das Zugang zur Harmonie mit sich selbst gewährt, ist das Tor zur Zugehörigkeit zu einer Gruppe,

einer Gesamtheit – im Handeln, im Reden, im Leben.“14

Hier zeigt sich, daß das zentrale Thema ihres Hauptwerkes „Das offene Tor“
gleichfalls ein zentrales Thema für ihr Leben ist.



12
   a.a.O. S. 24 – 25
13
   Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998), S. 207f.
14
   Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 120



                                                                                                 8
9


Dieses Sujet findet sich immer wieder, wie etwa in der Beschreibung ihrer
Bewunderung für den Dichter al Hamschari, der in Mansura im gleichen Haus
wie die Familie al Sajjat lebte und von dem die Autorin schreibt, er sei „die
Schönheit an sich, die absolute Vollkommenheit. Mit ihnen wurde ich eins,
befreit von den Fesseln der Körperlichkeit und der Relativität von Zeit und
Raum...“15 Dieser Dichter steht für die Literatur, die für Latifa al Sajjat ihr ganzes
Leben ein Zufluchtsort sein sollte. Und über die große Liebe schreibt sie:


„Die große Liebe war für mich immer gleichbedeutend mit dem Wunsch nach Vereinigung mit
etwas Absolutem, dem brennenden Wunsch, mich im anderen aufzulösen. (...) Mein Streben nach
Dauerhaftigkeit in menschlichen, also durch Veränderung gekennzeichneten Beziehungen war eine
jener ungeheuren Anstrengungen, in einer Welt der Relativität das Absolute zu verwirklichen.“16



Hier ist ein geradezu infantiles Verständnis von Liebe, wenn man diese
Aussagen psychologisch interpretiert. Doch die Autorin meint eher das
mystische Aufgehen in etwas Ganzes, genau wie es die Sufis anstreben. Sie
erwähnt den Sufismus auch im Zusammenhang mit Tod und Liebe.17 Dies ist
kein Widerspruch, spricht sie doch oft von Tod, wenn sie das Absolute
beschreibt:


„Heute ist mir klar, daß ich mein ganzes Leben lang nach etwas Absolutem gesucht habe, daß
aber das Absolute mit dem Tod eins ist ...“18



Dieses metaphysische Streben findet auch Eingang in ihrem politischen
Denken. So sieht sich al Sajjat nicht primär als Aktivistin für die Liberalisierung
ihres eigenen Lebens, vielmehr tritt sie mit dem Anspruch auf, für die Nation
und die Gesellschaft als ganzes zu sprechen und zu kämpfen.19 Sie nimmt somit
eine globale Perspektive ein, die ein weniger individualistisches, sondern eher
ein kollektivistisches Bild vom Menschen zeichnet. Deshalb ist es auch
schwierig, Latifa al Sajjat als Feministin zu bezeichnen, da sie selber vehement
dagegen ist, sich partikularistischen Interessen zu beugen. Zudem zeigt sie sich
15
    a.a.O. S. 46
16
    a.a.O. S. 47
17
    a.a.O. S. 93
18
   a.a.O. S. 47
19
    Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998), S. 208f.



                                                                                                  9
10


nicht als weibliches Wesen, da sie das Feminine in sich verleugnet und sich als
Menschen bezeichnet, auch wenn sie im Buch schildert, wie sie sich langsam
ihrer    Weiblichkeit         bewußt        wurde.       Und   sie   verschweigt       nicht   ihre
Schwierigkeiten mit ihrem Körper und ihren Minderwertigkeitsgefühlen.
Dennoch besteht sie darauf, nicht primär als Frau gesehen zu werden.


„Als Mensch, und nicht als Frau wirkte sie in der Öffentlichkeit, und das war gut so.“20



Neben der Flucht aus Angst vor Isolation, die sie in die Menge trieb, wo sie das
Absolute erhoffte, gibt es noch die Flucht vor ihrer Ohnmacht.
So schreibt sie etwa, daß sie als Schülerin in Damietta immer davonlief, wenn
sie Aussätzige, deren Körper von der Syphilis zerfressen wurde, sah.21
Ähnlich verhält sich Latifa als sie als kleines Kind die Geschichte von den
beiden Mörderinnen Rajja und Sakina hört. Sie ist hilflos und sucht Zuflucht bei
ihrer Mutter.22
Ein zentrales Ereignis im Leben der Autorin war die Demonstration vor ihrem
Haus in Mansura, bei der sie als Kind mit ansehen mußte, wie Dutzende
Demonstranten niedergeschossen worden sind. Sie beschreibt sehr intensiv ihre
Ohnmacht bei dieser Szene:


„Ich schreie meine Machtlosigkeit hinaus, meine Unfähigkeit, etwas zu tun...“23



Ganz anders erlebt sie die Demonstartion Jahrzehnte später auf einer Nilbrücke
in Kairo, wo sie als Studenten politisch aktiv ist. Hier ist der Duktus ein ganz
anderer. Sie beschreibt sich in geradezu pathetischen Worten, wenn sie sagt:


„Mit dabei war auch die junge Frau, die in der Menge als Tropfen im Meer, Zuflucht fand; sie ist
ganz Freude, tätige Kraft (...).Hände, viele Hände, auch ihre, recken sich und tragen die Leichen,
hoch wie die Flaggen auf den Händen der Liebenden. Der Baum der Liebe lebt und stirbt niemals,
auch nicht das Wir – ich und die anderen.“24



20
   Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 126
21
   a.a.O. S. 43
22
   a.a.O. S. 48
23
   a.a.O. S. 50
24
   a.a.O. S. 53



                                                                                               10
11


Doch in der ersten Demonstration ist sie ohnmächtig. Sie flieht aus der Kindheit
und beschließt, reif zu sein, nun da sie erkannt hat, daß weder ihr Vater noch
die Arme der Mutter Zuflucht bieten können.
Hannah       Davis     Taieb      sieht    in    dieser     Szene      der    Demonstration     das
Schlüsselereignis im Leben der Latifa al Sajjat, das sie zu ihrem politischen
Engagement gebracht habe. Solche Ereignisse der Ungerechtigkeit und der
Unterdrückung seien häufig der Anlaß für Menschen aus dem Bürgertum, sich
politisch zu engagieren. Da auch Latifa al Sajjat dem Bürgertum entstammt,
spielt das Motiv der Flucht eine weitere Rolle: die widerstrebende Tendenz
sowohl nach innen als auch nach außen hin Zuflucht zu suchen resultiert nach
Hannah Davis Taieb aus der Not des Kleinbürgertums und der Zwangslage der
Frau in der patriarchalischen Gesellschaft.25
Die Autorin verknüpft fast jedes wichtige Ereignis in ihrem Leben unter dem
Gesichtspunkt der Flucht. Genauso verhält es sich mit den Ehen, vor allem mit
der zweiten Ehe, die für sie sehr unglücklich war.
Sie hat ihren zweiten Mann geheiratet, obwohl ihr erster Mann noch im
Gefängnis saß. Sie schreibt über diesen Umstand auch keine Zeile.
Sie sieht in ihrer zweiten Ehe einen Autonomieverlust26 und einen Rückfall in
eine alte Abhängigkeit des kleinen Kindes zum Vater.


„Sie glaubte, nun sei auch das letzte Band zwischen ihr und dem alten Haus zerrissen und endlich
von ihr abgefallen. Und auch am Tag, da sie sich verliebte und ihre zweite Ehe einging, begriff sie
nicht, daß sie in die Arme des Vaters und in das alte Haus zurückgekehrt war.“27



Ihr Bemühen, sich von zu Hause loszulösen und erwachsen zu werden,
scheiterte in diesem Punkt. Sie heiratete einen Mann, der ihr weder politisch
noch menschlich nahe war. Es verwundert deshalb, daß sie die Scheidung als
einen feministischen Akt sieht, der den Frauen in ihrer Gesellschaft beweise,
daß das alte „Muster“ der Männer durchbrochen werden konnte.28




25
    Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998), S. 208
26
   Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 25
27
   a.a.O. S. 29f.
28
   a.a.O. S. 60



                                                                                                11
12


Dies ist nur vor dem Hintergrund der patriarchalischen Strukturen des
damaligen (und größten Teil auch heutigen) Ägyptens und der islamischen
Staaten zu sehen.


2.1.2. „Altes Haus“ versus „Haus in der Wüste“
Die Erwähnung des alten Hauses gibt Aufschluß über ein weiteres Motiv, das
metaphorisch die Erfahrung von Flucht und Autonomie zusammenfaßt, nämlich
die Dichotomie zwischen dem „alten Haus“ und dem „Haus in der Wüste“. Das
alte, elterliche Haus ist assoziiert mit einem regressiven Rückgriff auf die
Kindheit,      unter     der     Vormundschaft           ihres     zweiten       Ehemannes,    der
konformistisch ist.29
Das zweite Haus jedoch versinnbildlicht ihren politischen Kampf, ihr Aufgehen
in der Menge, ihre erste Ehe mit einem politischen Mitkämpfer, einem
Kommunisten, und ihrem Streben nach Autonomie.


„Das alte Haus war mein Schicksal und mein Erbe, das Haus in Sidi Bischr mein Werk und meine
Wahl.“30



Das alte Haus ist das Sinnbild für Vergänglichkeit und für Tod, nicht nur in
seinem Verfall und Verschwinden, sondern auch für die Autorin. Sie beschreibt
auch eine Szene, in der Latifa Hagelkörner auf einem Teller sammelt, obwohl
ihre Mutter es ihr verbietet.31 Nun, da sie erwachsen ist, sieht sie die
Vergänglichkeit aller Dinge in diesem Bild der Hagelkörner.
Die Autorin beschreibt die Abhängigkeit zu diesem alten Haus und erklärt
dabei, daß es ihr auch als junge kämpferische Frau nicht vollends gelungen ist,
die angestrebte Autonomie zu erringen. Die zweite Ehe beweise diesen
Rückfall.




29
   Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998), S. 207
30
    Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 26
31
   a.a.O. S. 28



                                                                                               12
13


2.1.3. Niederlagen
Wenn man das Buch liest, so hat man den Eindruck, daß das gesamte Leben der
Latifa al Sajjat ein ewiger Kampf um Autonomie, für sich und für ihr Land,
darstellt.
Wir erfahren auch sehr viel über ihre Qualen, die sie auf der Flucht vor der
Geheimpolizei und in den Gefängnissen erleiden mußte. Vor allem die
Aufenthalte in den Gefängnissen als junge und Jahrzehnte später als reife Frau
prägen das Leben der Autorin naturgemäß. So schildert der gesamte zweite Teil
des Buches die Erfahrungen während des Gefängnisaufenthaltes in Kanatir. Ihre
erste Gefängniserfahrung hat sie unter anderem im Theaterstück „Einkauf und
Verkauf“ verarbeitet. Das Leben ist für die Autorin nicht nur immerwährender
Kampf, es ist auch bestimmt von ständigen Niederlagen. So ist die zweite Ehe
eine Niederlage gegen ihr Bestreben nach Autonomie vom Vater und dem alten
Haus.
Ihre Ohnmacht angesichts der Ungerechtigkeit bei der Demonstration vor dem
Haus ist gleichfalls eine Niederlage, denn sie muß sich eingestehen, daß sie
unfähig sei.
Genauso verhält es sich mit ihrer zweiten Demonstration, auch wenn sie sich
uns als eine aktive Person schildert, so ist sie nicht in der Lage, ihre politischen
Ziele zu realisieren.
Die Niederlagen der arabischen Welt gegen Israel treffen Latifa al Sajjat sehr, es
sind auch ihre persönlichen Niederlagen.


„Die Niederlage von 1967 brach über mich herein und wurde zur Trennungslinie zwischen zwei

Epochen, zwei Leben.“32



Auf diese Niederlage reagiert sie mit Aktionismus auf dem Hohen Literaturrat,
dann aber mit Flucht in die verdunkelte Wohnung; wieder also das Motiv der
Flucht nach außen, zur Menge hin, dann wieder die Flucht nach innen, zum
alten Haus.




32
     a.a.O. S. 63



                                                                                      13
14


„Ich zog mich in meine verdunkelte Wohnung im oberen Stock zurück, suchte wie ein verwundetes
Tier in meinem Bau Zuflucht und wickelte mich in die Decke auf dem Bett wie in ein Leichentuch;
wie Salz brannten mir in den Augen die Tränen, die nicht hervorbrechen wollten.(...) Ich floh die
Wahrheit, die mir unerträglich war.“33


Die Autorin schreibt über weitere Niederlagen und Verluste, wie etwa über den
Yum – Kippur – Krieg und über ihre Depressionen34, sie erzählt vom Verlust ihr
nahestehender Menschen. Ihr Schwager und ihr Bruder sterben.35 Sie schildert
ihre jugendliches politisches Engagement, räumt aber ein, daß sie nach der
Niederlage im Sechs – Tage – Krieg und dem Camp – David – Abkommen
desillusioniert wurde.36
Dennoch kommt sie letztlich zum Schluß, daß die politische Arbeit ihre „Ernte
des Lebens“ gewesen sei.37
Sie schildert die Begräbnis Taha Hussains, um dann auf ihren Bruder zu
kommen und den Sterbeprozeß zu schildern. Es wird ersichtlich, daß der Bruder
ihr sehr viel bedeutete und daß sie eine innige Beziehung zu ihm hatte.38
Selbst während ihres Gefängnisaufenthaltes in Kanatir, in dem sie dem Verhör
und der Folter ausgeliefert ist, berichtet sie von Solidarität mit Mitgefangenen,
die einer ganz anderen politischen Überzeugung sind. Diese Erfahrungen
machen sehr viele inhaftierte Intellektuelle. Es gibt zahlreiche vergleichbare
Schilderungen von arabischen Schriftstellern, wie sie sich im Gefängnis mit
anderen Gefangenen solidarisieren, was in Freiheit undenkbar gewesen wäre.
Latifa al Sajjat schildert im letzten Teil ihres Buches eine Durchsuchung, bei der
sich die Autorin mit den „Islamistinnen“ solidarisiert, indem sie ihnen
nacheinander ihre Umhänge auf die Toilette bringt, damit sie sich vor dem
eingetroffenen Kommissar verhüllen können. Und sie tut dies, obwohl sie ihr
einziges Kleid vermißt und obwohl bereits ein erbitterter Kampf zwischen
unverhüllten Islamistinnen und Wärterinnen tobt.
Hannah Davis Taieb sieht in der Solidarität zwischen Latifa al Sajjat und den
Islamistinnen eine typische Flucht aus ihrer Isolation.39
33
   a.a.O. S. 66
34
   a.a.O. S. 81
35
   a.a.O. S. 82
36
   a.a.O. S. 111
37
   a.a.O. S. 119
38
   a.a.O. S. 90
39
   Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998), S. 209f.



                                                                                                 14
15


Obwohl sie in Haft ist, schreibt sie, daß sie sich behaupte gegen die
Folterknechte:


„Ich weiß, daß man es immer auf die Fähigkeit des Menschen zu denken abgesehen hat und daß
Gefängnis, Vertreibung, Drohung, Verfolgung und Folter nichts anderes sind als Instrumente, um
dem Menschen sein Menschsein, seine Fähigkeit zu kritischem Denken zu rauben.“40


Sie behält ihr Denken und sieht sich deshalb als Siegerin. Mit der Szene der
Durchsuchung endet das Buch.




40
     Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 114 ff.



                                                                                          15
16


TEIL II


7. Die Autobiographie als literarisches Genre
In diesem Abschnitt möchte ich mich der Frage widmen, was unter einer
Autobiographie zu verstehen ist. Wenn es darum geht zu prüfen, ob ein
bestimmtes Werk eine Autobiographie ist, so ist eine Verständigung über die
Kriterien, die darüber befinden, unumgänglich.
So stellt Sandra Frieden41 die Gattungsgrenzen in Frage und bestreitet gar die
Möglichkeit, verifizierbare Kriterien zu benennen, nach denen ein Werk
eingeordnet werden kann. Sie bezweifelt die Konstanz eines literarischen Ichs,
indem sie ausführt:


„Emil Benvenistes linguistische Analysen postulieren das ,Ich‘ eines schriftlichen Diskurses als ,
Leerformel‘, die vom Diskurs, in dem sie erscheint, selbst konstituiert wird (...).“42




1.1. Roy Pascal
Anders geht Roy Pascal43 vor, indem er versucht, das Wesen der Autobiographie
in Abgrenzung zu anderen literarischen Genres zu definieren.
Zunächst stellt er fest, daß die Autobiographie nur eine von mehreren Formen
der Mitteilung von persönlichen Erfahrungen sei.44 Weiterhin konstatiert er, daß
die Autobiographie als Genre eine genuin europäische Erscheinung darstelle.
Dem widerspricht jedoch Martina Häusler,45 die darauf hinweist, daß im
arabischen Kulturkreis diese Form der Literatur eine sehr lange Tradition
besitzt.




41
   Frieden, Sandra: „ ,Falls es strafbar ist, die Grenzen zu verwischen‘: Autobiographie, Biographie und
Christa Wolf.“, in: Grimm, R. / Hermand, J.: „Vom Anderen und vom Selbst“, Königstein 1982
42
   a.a.O. S. 153
43
   Pascal, Roy: „Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt“, Stuttgart 1965
44
   a.a.O. S. 12
45
   Häusler, Martina: „Fiktive ägyptische Autobiographien der zwanziger und dreißiger Jahre“, Frankfurt 1990



                                                                                                       16
17


Für Roy Pascal ist der Wesen der Autobiographie


„von der Suche nach der geistigen Identität der Person geprägt, wie sie sich ausdrückt in dem, was
Misch ,ihre konkret erfahrene Wirklichkeit‘ nennt. Die vielfältigen Einzelerfahrungen eines Lebens
werden durch Reflexion im Bewußtsein miteinander verknüpft.“46



In Abgrenzung zum Tagebuch besitzt nach Pascal der Autobiograph einen
einheitlichen Blickwinkel, eine Perspektive, von der er rückwärtsgewandt die
gemachten Erfahrungen erinnert und wichtet. Beim Tagebuch dagegen gebe es
nur kleine, chronologisch aufeinanderfolgende Rückblicke, die sich auch nur auf
einen kurzen Zeitraum beschränkten.47
Und im Gegensatz zu den Memoiren tritt bei der Autobiographie die eigene
Person in den Mittelpunkt der Betrachtung. Memoiren schildern zumeist eine
Rolle, die man erfolgreich ausfüllte, und konzentrieren sich dabei zumeist auf
andere Personen.48
Bei Autobiographien von Politikern und Staatsmännern gibt es da natürlich
Überschneidungen. Nach Pascal ist es dann eine Autobiographie, wenn die
politische Aufgabe elementar für das Verständnis des Autors ist und wenn sie
Bestandteil einer umfassenden geistigen Haltung ist, wie etwa bei Ghandi.
Die Autobiographie verlangt einen Autor, der sein Leben als ein Muster zu
beschreiben vermag. Roy Pascal sagt dazu:


„Autobiographie [ist] Formung der Vergangenheit... Sie legt einem Leben ein Muster (,pattern‘)
unter, konstruiert aus ihm eine kohärente Geschichte. Sie gliedert ein Leben in bestimmte
Stationen, verbindet sie miteinander und stellt (...) eine bestimmte Konsequenz in der Beziehung
zwischen Ich und Umwelt fest.“49


Er konstatiert weiterhin, daß die besten Autobiographien jene seien, die von
Menschen geschrieben sind, die etwas Großes geleistet hätten. Ihnen sei
automatisch ein Standpunkt gegeben, von dem sie ihr Leben erinnern und
einordnen. Und dadurch, daß der Standpunkt in dem Moment der Niederschrift


46
   Pascal, Roy: „Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt“, Stuttgart 1965, S. 12
47
   a.a.O. S. 13
48
   a.a.O. S. 16
49
   a.a.O. S. 21



                                                                                             17
18


eingenommen sei, enthülle die Autobiographie vielmehr die jetzige Situation
des Autors als daß sie die Vergangenheit entschleiere.50
Diese Vermutung bestätigen auch Untersuchungen zur Erinnerungsleistung des
Menschen. So ist hinlänglich bekannt, daß das Erinnerte nicht unverändert
gespeichert und jederzeit abgerufen werden kann, sondern daß die Erinnerung
ein aktiver Filterungs- und Interpretationsprozeß ist. Das was ich erinnere wird
maßgeblich von dem bestimmt, wie ich jetzt wahrnehme. Und selbst bei kurz
zurückliegenden Ereignisse macht sich dieser individuelle Faktor bemerkbar,
etwa wenn man Zeugenaussagen miteinander vergleicht.
Roy Pascal verlangt von einer Autobiographie, daß sie den langen Prozeß der
Persönlichkeitsentwicklung zeige. Dabei gehe es nicht um eine Quintessenz,
sondern um eine Ganzheit.51 Letztlich soll man sich nach der Lektüre vertrauter
mit der Persönlichkeit fühlen und eine historische Konsistenz des Charakters
erkennen.52
Zur Frage der Authentizität des Berichteten schreibt Pascal, daß man sich das
aufgeschriebene Erinnerte als ein „Kompositum“ von Erfundenem und
Wiedergefundenem vorstellen müsse.53 Der Autobiograph berichte eben keine
Tatsachen, sondern Erfahrungen, welche eine Wechselwirkung zwischen
Mensch und Tatsachen oder Ereignissen seien.54 Autobiographie ist für Pascal
nicht Rekonstruktion, sondern Interpretation von Vergangenheit.


„Als historische Dokumente müssen sie mit größter Skepsis studiert und geprüft werden.“55



Pascal zitiert Stendhal, der über seine Autobiographie sagte:


„Ich nehme durchaus nicht für mich in Anspruch, Geschichte zu schreiben, sondern ich schreibe
ganz einfach meine Erinnerungen nieder, um herauszubekommen, was für ein Mensch ich
gewesen bin.“56



50
   a.a.O. S. 22f.
51
   a.a.O. S. 25
52
   a.a.O. S. 25f.
53
   a.a.O. S. 26
54
   a.a.O. S. 29
55
   a.a.O. S. 208f.
56
   a.a.O. S. 31



                                                                                            18
19


Pascal betont, indem er auch Augustinus zitiert, daß eine Autobiographie immer
nur eine Auswahl sein kann.


1.2. Günter de Bruyn
Auch Günter de Bruyn57 betont, daß eine Autobiographie immer nur eine
Auswahl       darstelle.      Daraus      resultiert     notwendig         die    Frage      nach     der
Authentizität des Geschilderten.


„Aus den Lebenstatsachen absichtsvoll eine Auswahl zu treffen, weil man Teile nicht wahrhaben
will, für unwichtig hält oder dem Zweck nicht gemäß erachtet, kann also auch Verschweigen oder
Irreführen bedeuten, so daß man daraus den Schluß ziehen könnte, daß bei jeder Auswahl Vorsicht
geboten ist! Damit aber zieht man den Wahrheitsgehalt jeder Autobiographie in Zweifel.“58



Wie Pascal verlangt auch de Bruyn von der Autobiographie, daß sie eine
Ganzheit des Lebens darstellen soll. Sie soll die ganze Wahrheit erzählen,
womit sie über eine reine Faktensammlung in Form eines Lebenslaufes oder die
Schilderung der Bibliographie eines Gelehrten hinaus das wesentliche über die
Person als ganzes mitteilt.59 Motive des Autobiographen können die
Selbstauseinandersetzung, die Selbsterforschung und die Selbsterklärung sein.
Denkbar ist nach de Bruyn auch, daß das Bedürfnis, Geschichte festzuhalten,
um aufzuklären, einen Autobiographen motiviere.60
Lange Zeit galt die Autobiographie nicht als vollwertige Literatur im
klassischen Sinne. Auch de Bruyn konstatiert, daß nicht jede Autobiographie
Literatur sei, da das Wesen der Literatur das Fiktive sei. Zwar erzählen
Autobiographien eine Geschichte, ihnen fehle aber das Fiktive.61 Dennoch räumt
de Bruyn ein, daß die Gattungsgrenzen suspekt seien und nur theoretisch
ziehbar seien.
Da die Autobiographie eine Auswahl von Erinnerungen ist, stellt sich auch für
de Bruyn die Frage nach dem Wahrheitsgehalt. Dabei betont er, daß die
goethische Formulierung von „Dichtung und Wahrheit“ häufig mißverstanden
werde. Dichtung bedeute nicht Erfinden, sondern Verdichten, Konzentrieren
57
   Bruyn, Günter de: „Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie“, Frankfurt 1995
58
   a.a.O. S. 12
59
   a.a.O. S. 8 f.
60
   a.a.O. S. 18 ff.
61
   a.a.O. S. 20



                                                                                                      19
20


und auf den Punkt bringen. Auf der Grundlage dieser Überlegung definiert de
Bruyn Dichtung in der Autobiographie als


„die Fähigkeit, das Vergangene gegenwärtig zu machen, Wesentliches in Sein und Werden zu
zeigen, Teilwahrheiten zusammenzufassen zu dem Versuch der ganzen Wahrheit über das
schreibende und beschriebene Ich.“62



Dieser Versuch ist für de Bruyn zeitbezogen und voreingenommen und somit
immer subjektiv. Wahrheit in der Autobiographie ist für de Bruyn immer nur
eine subjektive Wahrheit.63 Und das Besondere an der Autobiographie bestehe
nicht darin,


„daß hier derjenige ein Leben beschreibt, der am meisten über es weiß, sondern darin, daß hier
jemand sich so beschreibt, wie er sich selbst sieht und beurteilt. Interessanter als die mitgeteilten
Fakten über eine Person ist die Art, wie sie von dieser Person mitgeteilt werden.“64



Und da jede Autobiographie Sprache sei, habe sie ihre eigene Wirklichkeit in
der Strukturierung der Schilderungen, in der Formulierung der Sätze.
Wie Pascal auch sieht de Bruyn eine rückblickende Perspektive als Kriterium
einer Autobiographie. Und die Idee der Muster, nach denen das Leben
geschildert wird, spielt auch bei de Bruyn eine Rolle.


„Die Entwicklung des Ich wird auf ein Ziel hin beschrieben; das Leben läuft sozusagen ab nach
einem Programm.“65




62
   a.a.O. S. 32
63
   a.a.O. S. 61
64
   a.a.O. S. 62
65
   a.a.O. S. 35



                                                                                                20
21


1.3. Joachim Kronsbein
Joachim Kronsbein66 betont gleichfalls, daß die Gattungsgrenzen nicht sosehr
inhaltlicher, sondern struktureller Art seien. Zusammengefaßt ist für ihn eine
Autobiographie


„...als ein Text zu bezeichnen, der sich als Gegenstand der Darstellung und als daraus zu
folgender Beobachtung der Deutung durch die gewählten autobiographisierenden narrativen Mitteln
eines oder mehrerer, nicht notwendigerweise zusammenhängender Lebensabschnitte darstellt. Es
ist die Darstellung eines Autors, der sich im Text oder durch den Titel oder die Aufmachung des
Buches eindeutig sowohl als der Verfasser dieses Textes als auch als der mit diesem identische
Erzähler des im Text als Identitätsträger angebotenen erzählten Person zu erkennen gibt.“67


Die Darlegung des Autors einer Autobiographie mit dem Beschriebenen
übereinzustimmen, wird nach Le Jeune „autobiographischer Pakt“ genannt.


1.4. Der autobiographische Pakt
Philippe Lejeune glaubt, daß das entscheidende Kriterium einer Autobiographie
der autobiographische Pakt sei, bei dem der Verfasser explizit deutlich mache,
daß die geschilderte Persönlichkeit mit seiner übereinstimme.
Dabei beschreibt er diesen Pakt wie einen Vertragsabschluß:


„L‘ autobiographie n’est pas un jeu de devinette, c’est même exactement le contraire. Manque ici
l’essentiel, ce que j’ai proposé d’appeler le pacte autobiographique.“68


Nach Hannah D. Taieb führt dieser Pakt, der auch implizit geschlossen werden
kann, dazu, daß der Leser ein Werk, das sich als fiktiv erklärt, dazu neigt,
Ähnlichkeiten mit dem Autor zu suchen. Wenn der autobiographische Pakt
geschlossen und ersichtlich ist, daß der Autor mit der beschriebenen Person
übereinstimmt, so sei die entgegengesetzte Tendenz zu beobachten, daß
nämlich der Leser nach Unterschieden und Ungereimtheiten suche.69



66
   Kronsbein, Joachim: „Autobiographisches Erzählen. Die narrativen Strukturen der Autobiographie“,
München 1984
67
   a.a.O. S. 184
68
   Lejeune, Philippe: „Le pacte autobiographique“, Paris 1975, S. 25 f.
69
   Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998), S. 211



                                                                                                      21
22


1.5. Die Autobiographie in der arabischen Welt
Entgegen der Aussage Roy Pascals betont Martina Häusler, daß die
Autobiographie in der arabischen Welt eine lange Tradition habe.70 Schon im 11.
Jahrhundert schreibt Ghazali seine bekannte Autobiographie „Der Erretter aus
dem Irrtum.“
Die klassische Autobiographie in der arabischen Welt ist nach Franz Rosenthal
eher moralisierend und lehrhaft, also eher ein Bildungsroman, der den Leser
erbauen soll.71
Doch die modernen Texte in der heutigen arabischen und islamischen Welt
unterscheiden sich nach Häusler kaum noch von westlichen Autobiographien.
Zudem ist in der arabischen Welt in den letzten Jahrzehnten ein regelrechter
„Boom“ an Veröffentlichungen von Autobiographien zu beobachten.


Wenn man nach den Besonderheiten der arabischen Autobiographie fragt, so
muß man vor allem die kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
berücksichtigen, innerhalb dessen der Autor aufwächst und sozialisiert wird, so
daß Metapher und Motive nur vor dem Hintergrund dieser spezifischen
Lebenswelt begreifbar werden.
So ist es unausweichlich, daß eine Frau, die in einem arabischen Land
aufwächst, sich mit der Frauenfrage auseinandersetzen muß und sich und ihr
Leben in einer Welt der männlichen (Literatur-) Welt neu definieren muß.
Latifa al Sajjat ist eine ägyptische Frau, die als Schriftstellerin und politisch
Aktive in Männerdomänen eindringt. In ihrem Buch Durchsuchungen spielt
auch diese Frage eine Rolle. Doch jetzt soll auch die Frage geklärt werden, ob es
sich bei diesem Werk um eine Autobiographie handelt.


8. Sind die „Durchsuchungen“ eine Autobiographie?
Wie bereits gezeigt werden konnte, gibt es zahlreiche Vorstellungen, was eine
Autobiographie ausmacht. Doch es gibt auch Kriterien, die von vielen als
typisch für eine Autobiographie betrachtet werden.
Dies sind zusammengefaßt:
70
   Häusler, Martina: „Fiktive ägyptische Autobiographien der zwanziger und dreißiger Jahre“, Frankfurt 1990,
S. 17
71
   Rosenthal, Franz: „Die arabische Autobiograohie“, in: Studia Arabica I, Rom 1937, S. 11



                                                                                                        22
23


      eine rückblickende Perspektive
      eine ganzheitliche Darstellung
      subjektive Wahrheit
      Schilderung der Persönlichkeitsentwicklung als Prozeß
      der autobiographischer Pakt


2.1. rückblickende Perspektive
Die Autorin schildert diese Erinnerungen als ältere Frau und nicht als das kleine
Mädchen, das sie damals war. Dies hält sie auch im Verlauf des gesamten
Buches ein, so daß die Perspektive der erinnernden reifen Frau erkennbar ist.
Dies wird auch durch Einschübe in den Text deutlich, wo sie etwa Brecht72 oder
den Kritiker Coleridge73 zitiert.
Zudem kommentiert sie permanent ihre Erinnerungen, was im Text durch
Kursivschrift abgehoben ist. Dies hält sie das ganze Buch über ein, so daß der
Leser auch weiß, ob er gerade einen Romanentwurf liest oder nicht.
Unklar ist jedoch, wo die Perspektive zeitlich festgemacht werden kann. Es ist
davon auszugehen, daß die Textteile zu verschieden Zeitpunkten erstellt
worden sind und daß Latifa al Sajjat sie später zusammengefaßt und mit den
entsprechenden Kommentaren versehen hat.
Es ist natürlich berechtigt zu fragen, ob so eine einheitliche Perspektive
eingenommen ist. Unabhängig von der zeitlichen Distanz zwischen den
Textteilen ist auch der Stilunterschied zu berücksichtigen. Autobiographische
Skizzen, Tagebucheinträge und Romanentwürfe sind unterschiedliche Textarten
mit ihren Eigenarten in Stil, Inhalt und Form.
Dennoch gelingt es al Sajjat die Texte so auszuwählen und anzuordnen, daß
ersichtlich wird, daß hier die alte Frau zurückblickt auf ihr Leben und ihr Werk.


2.2. ganzheitliche Darstellung
Wenn man das Buch Durchsuchungen liest, so erkennt man sehr schnell, daß
die Autorin versucht, ihre Lebenserinnerungen in einem Zusammenhang zu
bringen, ihnen also eine gemeinsame Sinnstruktur zu geben, so daß wir das

72
    Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 17
73
    a.a.O. S. 10



                                                                               23
24


Leben der Autorin nicht als partikularistische Anordnung unvereinbarer und
zufällig erstandener Erlebnisse auffassen, sondern ihr Leben in seiner Ganzheit
begreifen.
Dazu verwendet sie die schon beschriebenen Motive und Metapher, die gleich
einem roten Faden die Lebensereignisse oder besser gesagt die Erinnerungen
daran miteinander verknüpfen und ihnen dadurch Sinn verleihen.
Die Autorin gibt keine Anreihung von Tatsachen wider, sondern Schilderungen
von Erinnerungen, von Emotionen und Träumen. Sie gewährt uns Einblick in ihr
Inneres, an ihre Empfindungen zu ihrem Vater und zu anderen Menschen. Sie
läßt uns teilhaben an ihren Ängsten und Konflikten, verknüpft dadurch
Ereignisse, die zeitlich auseinander liegen, aber für die Person miteinander
verbunden sind.
Und dadurch erfahren wir das Leben dieser Person als Ganzes.


2.3. subjektive Wahrheit
Eine Autobiographie kann nicht eine objektive Darstellung wie etwa eine
wissenschaftliche Studie sein. Sie kann und sie soll es auch nicht, denn wie
gezeigt geht es hier nur um die Sicht des Autors auf sein Leben, somit um seine
Erinnerungen und seine Gefühle, also um seine subjektive Wahrheit.
Dadurch, daß Latifa al Sajjat die erste Person wählt, um die Protagonistin sich
beschreiben zu lassen, ist direkt eine Aussage über die erwünschte
Subjektivität gemacht. Da, wo die Autorin die dritte Person wählt, um sich zu
beschreiben, möchte sie eine Distanz zwischen sich als Autorin und als
erinnerte und beschriebene Person schaffen, um erstens objektiver zu
erscheinen und zweitens um eine Verfremdung gegenüber ihr damaliges Ich
auszudrücken,         einem     Befremden         gegenüber        bestimmten        Aspekten        der
Persönlichkeit oder den erinnerten Ereignissen. Günter de Bruyn betont:


„Auch wer sich vornimmt, sein eigenes Leben wie das eines anderen beschreiben zu wollen, ist der
Subjektivität ausgeliefert (...), und wer von sich in der dritten Person redet, (...) gewinnt nur den
Schein von Objektivität.“74



74
  Bruyn, Günter de: „Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie“, Frankfurt 1995,
S. 33



                                                                                                     24
25


Das Instrument der dritten Person ist vor allem deshalb sehr wirksam, weil
Latifa al Sajjat sonst die erste Person verwendet, wenn sie über sich schreibt.
Die Autorin setzt die dritte Person vor allem dann ein, wenn sie sich als
machtlose, den Ereignisse ausgelieferte Person schildern muß, wie etwa die
Schilderung ihrer Erlebnisse auf den beiden Demonstrationen.
Durch die Einbindung fiktiver Texte aus Romanfragmenten verdeutlicht die
Autorin, daß es ihr um die Beschreibung ihrer Gefühlsrealität und nicht einer
objektiven Schilderung nachprüfbarer Tatsachen geht. Denn Objektivität
bedeutet die Zugänglichkeit dritter auf die Ergebnisse; ein schwieriges
Unterfangen bei Erinnerungen und Emotionen.


2.4. Schilderung der Persönlichkeitsentwicklung als Prozeß
Jede Beschreibung einer Entwicklung ist nur als Prozeß vorstellbar. Da eine
Autobiographie das eigne Leben als Thema hat, muß der Autor die
Veränderungen in der Zeit schildern.
Dies tut Latifa al Sajjat, indem sie ihre Kindheit, ihre Schulzeit und das
Erwachen des politischen Engagements schildert. Sie zeigt auch, daß die
Entwicklung nicht kontinuierlich ist und daß sie sich nicht in abgeschlossenen
Stadien vollzieht, sondern vielmehr sprunghaft und auch regressiv ist. Der
Autorin gelingt es, Abhängigkeiten ihres Erwachsenenlebens mit Ereignisse
aus ihrer Kindheit zu verbinden, Veränderungen festzustellen, Rückfälle
einzuräumen. Sie schildert uns eine dynamische, nicht eine statische
Persönlichkeit. Und es gelingt ihr auch, Brüche in der Persönlichkeit als
Dichotomien    (z.B.   „altes   Haus“   versus   „Haus    in   der   Wüste“)      zu
versinnbildlichen.
Sie zeigt uns Schwächen und Stärken, beschreibt, wie sie versucht ihre
Weiblichkeit zu entdecken uvm.
Die Autorin schildert die Entwicklung ihrer Persönlichkeiten als dynamische
Prozesse.




                                                                               25
26


2.5. Der autobiographische Pakt
Latifa al Sajjat geht den Pakt, daß es sich bei ihrem Werk Durchsuchungen um
eine Autobiographie handelt, explizit ein, indem sie den Untertitel „persönliche
Notizen“ nennt und indem sie im ersten Absatz schreibt:


„Dazwischen setze ich mich hin, um zu schreiben, schiebe den Tod weg von mir und schreibe so
etwas wie eine Autobiographie ohne Abschluß. Mein Bruder stirbt im Mai 1973. Mit seinem Tod hält
meine Autobiographie inne.“75



Zudem spricht die Autorin in Durchsuchungen auch von anderen Werken, wie
etwa ihrem Roman „Das offene Tor“ und bindet ihn sogar mit ein, um sich zu
erklären. Des weiteren stimmen die genannten Daten und markanten Ereignisse
(Geburtsort, Datum, Gefängnisaufenthalte, Dissertation, Ehen etc.), sie sind
durch Dokumente und Aussagen dritter nachweisbar, so daß gesagt werden
kann, daß der autobiographische Pakt explizit geschlossen wird.


9. Fazit
Latifa al Sajjat gelingt es mit diesem Buch, den Leser in ihr Innerstes zu
geleiten. Sie verknüpft hierbei das private und das öffentliche Leben zu einer
Einheit, die uns ihr Leben als etwas tragisches erscheinen läßt. Sie ist als
Mädchen durch ihre Erfahrung der Ungerechtigkeit zu einer politisch bewußten
Person geworden. Ihre Liebe zu Ägypten und ihr Engagement verdeutlichen
dem Leser den Geist jener Zeit, als der Nationalismus aus der Unterjochung des
britischen Protektorats Formen annahm. Man kann Durchsuchungen als
Zeitdokument lesen, auch wenn die von Pascal angemahnte Vorsicht nicht
außer Acht gelassen werden kann.
Man kann das Buch als eine verhängnisvolle Verbindung zwischen dem Kampf
der al Sajjat für ihr privates Glück und ihrem Kampf für die Nation lesen. Die
Autorin ist, wie der Traum der großen arabischen Nation, zerbrochen an der
Realität. Sie hat politisch versagt, doch ihr Schicksal ergreift den Leser, weil es
menschlich ist und weil es trotz aller Niederlagen beweist, wie ein Mensch
wachsen kann.
75
     Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 7




                                                                                           26
27


Literaturverzeichnis


Brettschneider, Werner: „Kindheitsmuster“, Berlin 1982
Bruyn, Günter de: „Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der
Autobiographie“, Frankfurt 1995
Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29
(1998)
Frieden, Sandra: „ ,Falls es strafbar ist, die Grenzen zu verwischen‘:
Autobiographie, Biographie und Christa Wolf.“, in: Grimm, R. / Hermand, J.:
„Vom Anderen und vom Selbst“, Königstein 1982
Häusler, Martina: „Fiktive ägyptische Autobiographien der zwanziger und
dreißiger Jahre“, Frankfurt 1990
Kronsbein, Joachim: „Autobiographisches Erzählen. Die narrativen Strukturen
der Autobiographie“, München 1984
Lejeune, Philippe: „Le pacte autobiographique“, Paris 1975
Pascal, Roy: „Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt“, Stuttgart 1965
Rosenthal, Franz: „Die arabische Autobiograohie“, in: Studia Arabica I, Rom
1937
Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996




                                                                              27

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Latifa

  • 1. 1 Orientalisches Seminar der Rheinischen Friedrich – Wilhelms Universität Bonn Veranstaltung: Die arabische Autobiographie (Seminar), SS 1999 Leiter: Prof. S. Wild Verfasser: Ibrahim Mazari Latifa al Sajjats Autobiographie „Hamlat taftis - Awraq sahsiyya“(Durchsuchungen) Ibrahim Mazari Larstr. 81 53844 Troisdorf fon 02241 391319 e mail mazari@arcormail.de Soziologie, Psychologie, Islamwissenschaften 1
  • 2. 2 Inhalt Einleitung (S. 3) TEIL I 1. Zur Person Latifa al Sajjat (S. 3) 2. Zum Buch „Durchsuchungen“ (S. 5) 3. Hauptmotive (S. 8) 4. Flucht (S. 8) 5. „Altes Haus“ versus „Haus in der Wüste“ (S. 12) 6. Niederlagen (S. 13) TEIL II 1. Die Autobiographie als literarisches Genre (S. 16) 2. Roy Pascal (S. 16) 3. Günter de Bruyn (S. 19) 4. Joachim Kronsbein (S. 21) 5. Der autobiographische Pakt (S. 21) 6. Die Autobiographie in der arabischen Welt (S. 22) 7. Sind die „Durchsuchungen“ eine Autobiographie? (S. 22) 8. rückblickende Perspektive (S. 23) 9. ganzheitliche Darstellung (S. 23) 10. subjektive Wahrheit (S. 24) 11. Schilderung der Persönlichkeitsentwicklung als Prozeß (S. 25) 12. Der autobiographische Pakt (S. 26) 13. Fazit (S. 26) Literaturverzeichnis (S. 27) 2
  • 3. 3 Einleitung Die vorgelegte Arbeit möchte die Autobiographie „Durchsuchungen“ von Latifa al Sajjat zu ihrem Gegenstand machen. Dies ist eine zweifache Aufgabe: einmal gilt es das Buch in seinem Aufbau und seinen Inhalten darzustellen die Autorin vorzustellen, indem ihr Leben nachgezeichnet wird. Das andere Mal ist die Frage zu beantworten, was eine Autobiographie sei, welche Kriterien ihr eigen sind und inwieweit sie auf das hier untersuchte Buch zutreffen. Es sollen verschiedene Theoretiker zu Wort kommen, so daß eine gewisse Vielfalt zu diesem Themenkomplex gegeben ist. Wie für jedes Buch so gilt auch hier, daß Lesen Interpretation bedeutet und daß meine Deutungen die Früchte meiner Anstrengung und Auseinandersetzung mit diesem Text sind. TEIL I 14. Zur Person der Latifa al Sajjat Latifa al Sajjat wurde am 8. August in Damietta (Dumyat) in Ägypten geboren. Sie war Schriftstellerin, Dozentin, politische Aktivistin und Frauenrechtlerin. Neben ihrer Autobiographie, die sie vier Jahre vor ihrem Tod veröffentlichen läßt, hinterläßt sie einige Romane und viele Kurzgeschichten, die erst in letzter Zeit im nicht – arabischen Ausland zur Kenntnis genommen werden. Ihre Autobiographie „Durchsuchungen“ ist ihr erstes Werk, das ins Englische übersetzt worden ist. Latifa al Sajjat ist das dritte von vier Kindern. Sie hat zwei ältere Brüder (Muhammad, Abdelfattah) und eine jüngere Schwester (Safiya). Sie wachsen in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf, der Vater war ein Angestellter der Stadtverwaltung. Doch aus den Ausführungen in ihrem Buch wird ersichtlich, daß die Familie in früheren Zeiten sehr wohlhabend war, als der Großvater noch Seehandel treiben konnte. Aus jener Zeit stammt auch das Haus, in dem Latifa ihre ersten sechs Lebensjahre verbrachte. 3
  • 4. 4 Als Latifa sechs Jahre alt ist, zieht die Familie nach Mansura, weil der Vater dorthin versetzt wurde. Es folgen noch weitere Umzüge, darunter auch nach Asjut und Kairo. Als Latifa 12 Jahre alt ist, stirbt der Vater. Die Familie zieht nach Kairo, wo sie nacheinander mehrere Wohnungen beziehen. 1946 macht sie ihren Studienabschluß an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Kairo. Kurz danach, genauer gesagt 1949, wird sie infolge politischer Aktivitäten, die sie schon zu ihren Studienzeiten begann, von der Geheimpolizei verhaftet und in das Hadra – Frauengefängnis in Alexandria gebracht. Zu jener Zeit war sie auch schon verheiratet mit einem Mitstreiter und Kommilitonen. Ihr Ehemann wird zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von 7 Jahren verurteilt. Einige Jahre nachdem sie nach relativ kurzer Zeit auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wurde, heiratete sie ihren zweiten Ehemann. Diese Ehe geht von 1952 bis 1965 und hielt folglich 13 Jahre. Latifa al Sajjat schreibt 1957 ihre Dissertation. Kurz darauf erscheint ihr Roman „Das offene Tor“ (1960), das als ihr Hauptwerk gilt. In diesem Buch verarbeitet sie unter anderem ihre Erfahrungen während des Gefängnisaufenthaltes in Alexandria. Sie bleibt weiter politisch aktiv, schreibt Romane und Kurzgeschichten, die nicht alle veröffentlicht werden, und sie ist Dozentin für Literatur an der Universität. Infolge ihrer Aktivitäten gegen das Camp – David – Friedensabkommen und aufgrund ihrer oppositionellen Haltung gegenüber dem Sadat – Regime wird Latifa al Sajjat am 8. September 1981 verhaftet und ins Frauengefängnis von Kanatir gebracht. Danach zieht sich Latifa al Sajjat immer mehr aus dem politischen Leben zurück. Dennoch wird sie nicht völlig inaktiv, wie ihr Einsatz für den palästenensischen Intellektuellen Edward Said beweist. 1992 schreibt sie ihre Autobiographie „Durchsuchungen“, die in Ägypten sehr erfolgreich wird, obwohl sie das Buch ursprünglich nicht veröffentlichen wollte. 4
  • 5. 5 In ihren letzten Lebensjahren zieht sie sich auch privat immer mehr zurück, bis sie nur noch in abgedunkelten Räumen leben kann. Latifa al Sajjat stirbt 1996 in Kairo. 2. Zum Buch „Durchsuchungen“ Das Buch „Durchsuchungen“1 erschien 1992 in arabischer Sprache. Der Untertitel im Original lautet „auraq šahsiya“, was mit persönlichen Notizen oder Aufzeichnungen übersetzt werden kann. Dies weist darauf hin, daß die Autorin hier eine Autobiographie vorlegt. Die Frage, inwieweit es sich hierbei um eine Autobiographie handelt, wird noch zu beantworten sein, in diesem Abschnitt sollen der Aufbau und der Inhalt des Textes erörtert und interpretiert werden. Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil umfaßt 6 Abschnitte2, die mit Jahreszahlen tituliert sind. Der zweite Teil des Buches läßt sich in weitere zwei Abschnitte3 gliedern. Die Texte sind nicht chronologisch angeordnet. Die Autorin verwendet Teile aus Romanfragmenten und aus ihrem Tagebuch, so daß auf den ersten Blick keine einheitliche Struktur erkennbar ist. Der erste Teil des Buches beginnt 1973. Dies ist jedoch nicht der Zeitraum, über den sie berichtet, sondern der Zeitpunkt, wo sie ihre Aufzeichnungen erstellt. Der erste Abschnitt des ersten Teils beginnt mit der Nachricht, daß der Bruder im Sterben liege. Hier berichtet sie auch, daß ihre Autobiographie mit dem Tod ihres Bruders einen Monat später, nämlich im Mai 1973, innehalte. Der erste Teil des Buches endet mit der Schilderung des Todes ihres Bruders Muhammad, so daß hier eine Sinnstruktur den Text verbindet, indem der Zeitpunkt des Schreibbeginns, also die Perspektive des Schreibers, von der er in die Vergangenheit zurückblickt, zusammengebracht wird mit der Schilderung jener Ereignisse am Ende des Buches. Der zweite Teil umfaßt nur Texte, die während bzw. nach dem Gefängnisaufenthalt in Kanatir entstanden sind. Die Jahreszahlen im ersten Teil des Buches haben verschiedene Bedeutungen. Einmal benennen sie den Zeitraum, über den Latifa al Sajjat schreibt, ein 1 Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996 2 „März 1973“; „1967“; „1963“; „1950“; „1962“; „1973“ 3 „1981“; „Eine Durchsuchung“ 5
  • 6. 6 anderes Mal ist es der Zeitpunkt, an dem der Text erstellt wurde. Vor allem bei den Romanfragmenten trifft zweiteres zu. So ist es manchmal schwierig nachzuvollziehen, wie der Text einzuordnen ist. Es geht hier nicht nur um die Chronologie der Ereignisse, sondern auch um die Frage, welche Teile fiktiv sind. Dies ist um so virulenter, als dadurch die Authentizität des gesamten Textes bezweifelt werden kann.4 Der erste Abschnitt des ersten Teiles umfaßt neben dem kurzen Prolog über die Nachricht vom Sterbeprozeß ihres Bruders Muhammad die Schilderung ihrer Geburtsstadt und ihrer Kindheit. Sie beschreibt das alte Haus und seine Geschichte; wie es aufgebaut wurde. Dabei erfährt der Leser auch einiges über die Familienstruktur und über die Herkunft der Autorin. Sie schildert den wirtschaftlichen Verfall der Familie5, der sich gleichfalls am Haus manifestiere. Sie berichtet von den Erzählungen ihrer Großmutter über die alten Zeiten und über Latifas Vater, wie dieser als kleiner Junge war und wie er zum Mann herangewachsen sei. Es ist erstaunlich, wieviel Raum Latifa al Sajjat diesen Schilderungen gibt, die ihren Vater plastisch beschreiben. Hier zeigt sich die Bedeutung, die der Vater für die Autorin hatte, denn eine ähnliche Beschreibung über die Mutter fehlt völlig. Es wird berichtet von den weiblichen Verführungen, denen der Vater an der hauseigenen Zisterne zu widerstehen hatte und von seinem Eintritt in die Männerwelt als Knabe. Dabei ist die Autorin stolz, daß der Vater den Verführungen nicht nachgab, so als ob er dadurch der Unterdrückung ihrer eigenen Weiblichkeit Nachdruck verleihe. Der Vater wird später kaum erwähnt, so daß der Leser nur das lebendige Bild vom Knaben hat. Die Autorin beschreibt auch eine Diskrepanz zwischen den Erzählungen der Großmutter über das Leben im alten Haus und den erinnerten Erfahrungen der Autorin. Hier mag der langsame wirtschaftliche und somit auch gesellschaftliche Verfall zum Ausdruck kommen, aber auch die negativen Gefühle, die die Autorin mit dem alten Haus verbindet. Das alte Haus ist eben nicht nur Hort der ungetrübten Kindheit, sondern auch Stätte der Angst, was 4 s. S. 20 (in dieser Arbeit) 5 Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 14 6
  • 7. 7 die Geschichte mit der Schlange, die den Aufgang zum Dach des Hauses verwehrt, deutlich macht.6 Hannah Davis Taieb konstatiert in ihrem Aufsatz7, daß das alte Haus ein Bild für ihre Unfreiheit sei, so wie sie es in ihrer zweiten Ehe erlebt habe. „... the old house, the paternal house, associated with a regressive and illusory return to childhood under the tutelage of her conformist second husband.“8 Mit Werner Brettschneider gesprochen kann man sagen, daß uns die Autorin mit der Schilderung ihrer Kindheit die Hauptthemen und -konflikte ihres ganzen Lebens bildhaft vorwegnimmt. So spricht Brettschneider in diesem Zusammenhang von „Kindheitsmuster“9, die uns erlaubten, in der Kindheit all jenes unverfälschte Sein des Menschen zu erblicken, das uns die Frage nach dem Leben als ganzes beantworte. Dieses alte Haus ist eine Lebensmetapher, es steht für Schicksal, Erbe, Geborgenheit und Zuflucht in den Armen der Mutter.10 Die Hauptmotive dieses Buches werden uns noch beschäftigen. Das alte Haus ist eins davon. Neben dem Gebrauch solcher Motive, „Lebensmetaphern“, kennzeichnet diesen Text die Verknüpfung von Erinnerungsinhalten. Dies ist der rote Faden, der sich für den Leser auftut, wenn er das Buch liest. Wie ich bereits betont habe, hält sich der Text nicht an die chronologische Abfolge der Ereignisse. Aber die einzelnen Textabschnitte sind miteinander verknüpft durch Assoziationen. So verbindet Latifa al Sajjat die Beschreibung des emotionslosen Blickes der Großmutter mit dem Blick ihres toten Vaters und weiter mit dem Blick jener Statue, die sie im Naturhistorischen Museum in London betrachtet.11 Oder wie sie verschiedene Ereignisse wie ihren Gefängnisaufenthalt in Alexandria, den Tod ihres Vaters, die Ehe mit ihrem ersten Mann und die Ehe 6 a.a.O. S. 22 7 Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998) 8 a.a.O. S. 207 9 Brettschneider, Werner: „Kindheitsmuster“, Berlin 1982, S. 11 10 Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 27f u. S. 49 11 a.a.O. S.18 7
  • 8. 8 mit ihrem zweiten Mann zusammenbringt, indem sie die permanente Umzüge von einem zum anderen Ort mit den jeweiligen Ereignissen assoziiert.12 2.1. Hauptmotive Neben der Verknüpfung durch Assoziation gibt es noch die Motive, die dem Text als ganzes eine einheitliche Struktur geben. Vorausgesetzt es handelt sich hier um eine Autobiographie – was noch zu prüfen ist – so ist zu erwarten, daß die Autorin ihre Persönlichkeit im Werden durch Motive und Metapher veranschaulicht. 2.1.1. Flucht Das Hauptmotiv dieses Buches ist die Flucht. Es ist eine Flucht, die aus zweierlei resultiert: einmal aus der Angst vor Isolation, das andere Mal aus Angst vor der Ohnmacht. Die Flucht aus Angst vor Isolation ist das Verhalten des kleinen Mädchens, das sich in den Armen der Mutter flüchtet oder jenes Verhalten, das die Autorin als junge Frau zeigt, als sie vor die Studenten tritt und flammende Reden hält oder als sie in die Menschenmenge bei einer Demonstration geht und sich mit ihr eins fühlt. Hannah Davis Taieb stellt in ihrem Aufsatz fest, daß die Flucht eher mystisch und transzendental als politisch zu begreifen sei.13 So schildert Latifa al Sajjat in ihrem Buch mehrmals den Wunsch, mit den „Ganzen“, dem „Absoluten“ zu verschmelzen. So schreibt sie über ihren Roman „Das offene Tor“, wobei sie deutlich das Gesagte auf sich bezieht: „Der Mensch in diesem Roman findet sich erst wirklich und versteht sich selbst erst vollständig, nachdem er in etwas Größerem als seiner engen Individualität aufgegangen ist. Das offene Tor, das Zugang zur Harmonie mit sich selbst gewährt, ist das Tor zur Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einer Gesamtheit – im Handeln, im Reden, im Leben.“14 Hier zeigt sich, daß das zentrale Thema ihres Hauptwerkes „Das offene Tor“ gleichfalls ein zentrales Thema für ihr Leben ist. 12 a.a.O. S. 24 – 25 13 Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998), S. 207f. 14 Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 120 8
  • 9. 9 Dieses Sujet findet sich immer wieder, wie etwa in der Beschreibung ihrer Bewunderung für den Dichter al Hamschari, der in Mansura im gleichen Haus wie die Familie al Sajjat lebte und von dem die Autorin schreibt, er sei „die Schönheit an sich, die absolute Vollkommenheit. Mit ihnen wurde ich eins, befreit von den Fesseln der Körperlichkeit und der Relativität von Zeit und Raum...“15 Dieser Dichter steht für die Literatur, die für Latifa al Sajjat ihr ganzes Leben ein Zufluchtsort sein sollte. Und über die große Liebe schreibt sie: „Die große Liebe war für mich immer gleichbedeutend mit dem Wunsch nach Vereinigung mit etwas Absolutem, dem brennenden Wunsch, mich im anderen aufzulösen. (...) Mein Streben nach Dauerhaftigkeit in menschlichen, also durch Veränderung gekennzeichneten Beziehungen war eine jener ungeheuren Anstrengungen, in einer Welt der Relativität das Absolute zu verwirklichen.“16 Hier ist ein geradezu infantiles Verständnis von Liebe, wenn man diese Aussagen psychologisch interpretiert. Doch die Autorin meint eher das mystische Aufgehen in etwas Ganzes, genau wie es die Sufis anstreben. Sie erwähnt den Sufismus auch im Zusammenhang mit Tod und Liebe.17 Dies ist kein Widerspruch, spricht sie doch oft von Tod, wenn sie das Absolute beschreibt: „Heute ist mir klar, daß ich mein ganzes Leben lang nach etwas Absolutem gesucht habe, daß aber das Absolute mit dem Tod eins ist ...“18 Dieses metaphysische Streben findet auch Eingang in ihrem politischen Denken. So sieht sich al Sajjat nicht primär als Aktivistin für die Liberalisierung ihres eigenen Lebens, vielmehr tritt sie mit dem Anspruch auf, für die Nation und die Gesellschaft als ganzes zu sprechen und zu kämpfen.19 Sie nimmt somit eine globale Perspektive ein, die ein weniger individualistisches, sondern eher ein kollektivistisches Bild vom Menschen zeichnet. Deshalb ist es auch schwierig, Latifa al Sajjat als Feministin zu bezeichnen, da sie selber vehement dagegen ist, sich partikularistischen Interessen zu beugen. Zudem zeigt sie sich 15 a.a.O. S. 46 16 a.a.O. S. 47 17 a.a.O. S. 93 18 a.a.O. S. 47 19 Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998), S. 208f. 9
  • 10. 10 nicht als weibliches Wesen, da sie das Feminine in sich verleugnet und sich als Menschen bezeichnet, auch wenn sie im Buch schildert, wie sie sich langsam ihrer Weiblichkeit bewußt wurde. Und sie verschweigt nicht ihre Schwierigkeiten mit ihrem Körper und ihren Minderwertigkeitsgefühlen. Dennoch besteht sie darauf, nicht primär als Frau gesehen zu werden. „Als Mensch, und nicht als Frau wirkte sie in der Öffentlichkeit, und das war gut so.“20 Neben der Flucht aus Angst vor Isolation, die sie in die Menge trieb, wo sie das Absolute erhoffte, gibt es noch die Flucht vor ihrer Ohnmacht. So schreibt sie etwa, daß sie als Schülerin in Damietta immer davonlief, wenn sie Aussätzige, deren Körper von der Syphilis zerfressen wurde, sah.21 Ähnlich verhält sich Latifa als sie als kleines Kind die Geschichte von den beiden Mörderinnen Rajja und Sakina hört. Sie ist hilflos und sucht Zuflucht bei ihrer Mutter.22 Ein zentrales Ereignis im Leben der Autorin war die Demonstration vor ihrem Haus in Mansura, bei der sie als Kind mit ansehen mußte, wie Dutzende Demonstranten niedergeschossen worden sind. Sie beschreibt sehr intensiv ihre Ohnmacht bei dieser Szene: „Ich schreie meine Machtlosigkeit hinaus, meine Unfähigkeit, etwas zu tun...“23 Ganz anders erlebt sie die Demonstartion Jahrzehnte später auf einer Nilbrücke in Kairo, wo sie als Studenten politisch aktiv ist. Hier ist der Duktus ein ganz anderer. Sie beschreibt sich in geradezu pathetischen Worten, wenn sie sagt: „Mit dabei war auch die junge Frau, die in der Menge als Tropfen im Meer, Zuflucht fand; sie ist ganz Freude, tätige Kraft (...).Hände, viele Hände, auch ihre, recken sich und tragen die Leichen, hoch wie die Flaggen auf den Händen der Liebenden. Der Baum der Liebe lebt und stirbt niemals, auch nicht das Wir – ich und die anderen.“24 20 Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 126 21 a.a.O. S. 43 22 a.a.O. S. 48 23 a.a.O. S. 50 24 a.a.O. S. 53 10
  • 11. 11 Doch in der ersten Demonstration ist sie ohnmächtig. Sie flieht aus der Kindheit und beschließt, reif zu sein, nun da sie erkannt hat, daß weder ihr Vater noch die Arme der Mutter Zuflucht bieten können. Hannah Davis Taieb sieht in dieser Szene der Demonstration das Schlüsselereignis im Leben der Latifa al Sajjat, das sie zu ihrem politischen Engagement gebracht habe. Solche Ereignisse der Ungerechtigkeit und der Unterdrückung seien häufig der Anlaß für Menschen aus dem Bürgertum, sich politisch zu engagieren. Da auch Latifa al Sajjat dem Bürgertum entstammt, spielt das Motiv der Flucht eine weitere Rolle: die widerstrebende Tendenz sowohl nach innen als auch nach außen hin Zuflucht zu suchen resultiert nach Hannah Davis Taieb aus der Not des Kleinbürgertums und der Zwangslage der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft.25 Die Autorin verknüpft fast jedes wichtige Ereignis in ihrem Leben unter dem Gesichtspunkt der Flucht. Genauso verhält es sich mit den Ehen, vor allem mit der zweiten Ehe, die für sie sehr unglücklich war. Sie hat ihren zweiten Mann geheiratet, obwohl ihr erster Mann noch im Gefängnis saß. Sie schreibt über diesen Umstand auch keine Zeile. Sie sieht in ihrer zweiten Ehe einen Autonomieverlust26 und einen Rückfall in eine alte Abhängigkeit des kleinen Kindes zum Vater. „Sie glaubte, nun sei auch das letzte Band zwischen ihr und dem alten Haus zerrissen und endlich von ihr abgefallen. Und auch am Tag, da sie sich verliebte und ihre zweite Ehe einging, begriff sie nicht, daß sie in die Arme des Vaters und in das alte Haus zurückgekehrt war.“27 Ihr Bemühen, sich von zu Hause loszulösen und erwachsen zu werden, scheiterte in diesem Punkt. Sie heiratete einen Mann, der ihr weder politisch noch menschlich nahe war. Es verwundert deshalb, daß sie die Scheidung als einen feministischen Akt sieht, der den Frauen in ihrer Gesellschaft beweise, daß das alte „Muster“ der Männer durchbrochen werden konnte.28 25 Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998), S. 208 26 Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 25 27 a.a.O. S. 29f. 28 a.a.O. S. 60 11
  • 12. 12 Dies ist nur vor dem Hintergrund der patriarchalischen Strukturen des damaligen (und größten Teil auch heutigen) Ägyptens und der islamischen Staaten zu sehen. 2.1.2. „Altes Haus“ versus „Haus in der Wüste“ Die Erwähnung des alten Hauses gibt Aufschluß über ein weiteres Motiv, das metaphorisch die Erfahrung von Flucht und Autonomie zusammenfaßt, nämlich die Dichotomie zwischen dem „alten Haus“ und dem „Haus in der Wüste“. Das alte, elterliche Haus ist assoziiert mit einem regressiven Rückgriff auf die Kindheit, unter der Vormundschaft ihres zweiten Ehemannes, der konformistisch ist.29 Das zweite Haus jedoch versinnbildlicht ihren politischen Kampf, ihr Aufgehen in der Menge, ihre erste Ehe mit einem politischen Mitkämpfer, einem Kommunisten, und ihrem Streben nach Autonomie. „Das alte Haus war mein Schicksal und mein Erbe, das Haus in Sidi Bischr mein Werk und meine Wahl.“30 Das alte Haus ist das Sinnbild für Vergänglichkeit und für Tod, nicht nur in seinem Verfall und Verschwinden, sondern auch für die Autorin. Sie beschreibt auch eine Szene, in der Latifa Hagelkörner auf einem Teller sammelt, obwohl ihre Mutter es ihr verbietet.31 Nun, da sie erwachsen ist, sieht sie die Vergänglichkeit aller Dinge in diesem Bild der Hagelkörner. Die Autorin beschreibt die Abhängigkeit zu diesem alten Haus und erklärt dabei, daß es ihr auch als junge kämpferische Frau nicht vollends gelungen ist, die angestrebte Autonomie zu erringen. Die zweite Ehe beweise diesen Rückfall. 29 Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998), S. 207 30 Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 26 31 a.a.O. S. 28 12
  • 13. 13 2.1.3. Niederlagen Wenn man das Buch liest, so hat man den Eindruck, daß das gesamte Leben der Latifa al Sajjat ein ewiger Kampf um Autonomie, für sich und für ihr Land, darstellt. Wir erfahren auch sehr viel über ihre Qualen, die sie auf der Flucht vor der Geheimpolizei und in den Gefängnissen erleiden mußte. Vor allem die Aufenthalte in den Gefängnissen als junge und Jahrzehnte später als reife Frau prägen das Leben der Autorin naturgemäß. So schildert der gesamte zweite Teil des Buches die Erfahrungen während des Gefängnisaufenthaltes in Kanatir. Ihre erste Gefängniserfahrung hat sie unter anderem im Theaterstück „Einkauf und Verkauf“ verarbeitet. Das Leben ist für die Autorin nicht nur immerwährender Kampf, es ist auch bestimmt von ständigen Niederlagen. So ist die zweite Ehe eine Niederlage gegen ihr Bestreben nach Autonomie vom Vater und dem alten Haus. Ihre Ohnmacht angesichts der Ungerechtigkeit bei der Demonstration vor dem Haus ist gleichfalls eine Niederlage, denn sie muß sich eingestehen, daß sie unfähig sei. Genauso verhält es sich mit ihrer zweiten Demonstration, auch wenn sie sich uns als eine aktive Person schildert, so ist sie nicht in der Lage, ihre politischen Ziele zu realisieren. Die Niederlagen der arabischen Welt gegen Israel treffen Latifa al Sajjat sehr, es sind auch ihre persönlichen Niederlagen. „Die Niederlage von 1967 brach über mich herein und wurde zur Trennungslinie zwischen zwei Epochen, zwei Leben.“32 Auf diese Niederlage reagiert sie mit Aktionismus auf dem Hohen Literaturrat, dann aber mit Flucht in die verdunkelte Wohnung; wieder also das Motiv der Flucht nach außen, zur Menge hin, dann wieder die Flucht nach innen, zum alten Haus. 32 a.a.O. S. 63 13
  • 14. 14 „Ich zog mich in meine verdunkelte Wohnung im oberen Stock zurück, suchte wie ein verwundetes Tier in meinem Bau Zuflucht und wickelte mich in die Decke auf dem Bett wie in ein Leichentuch; wie Salz brannten mir in den Augen die Tränen, die nicht hervorbrechen wollten.(...) Ich floh die Wahrheit, die mir unerträglich war.“33 Die Autorin schreibt über weitere Niederlagen und Verluste, wie etwa über den Yum – Kippur – Krieg und über ihre Depressionen34, sie erzählt vom Verlust ihr nahestehender Menschen. Ihr Schwager und ihr Bruder sterben.35 Sie schildert ihre jugendliches politisches Engagement, räumt aber ein, daß sie nach der Niederlage im Sechs – Tage – Krieg und dem Camp – David – Abkommen desillusioniert wurde.36 Dennoch kommt sie letztlich zum Schluß, daß die politische Arbeit ihre „Ernte des Lebens“ gewesen sei.37 Sie schildert die Begräbnis Taha Hussains, um dann auf ihren Bruder zu kommen und den Sterbeprozeß zu schildern. Es wird ersichtlich, daß der Bruder ihr sehr viel bedeutete und daß sie eine innige Beziehung zu ihm hatte.38 Selbst während ihres Gefängnisaufenthaltes in Kanatir, in dem sie dem Verhör und der Folter ausgeliefert ist, berichtet sie von Solidarität mit Mitgefangenen, die einer ganz anderen politischen Überzeugung sind. Diese Erfahrungen machen sehr viele inhaftierte Intellektuelle. Es gibt zahlreiche vergleichbare Schilderungen von arabischen Schriftstellern, wie sie sich im Gefängnis mit anderen Gefangenen solidarisieren, was in Freiheit undenkbar gewesen wäre. Latifa al Sajjat schildert im letzten Teil ihres Buches eine Durchsuchung, bei der sich die Autorin mit den „Islamistinnen“ solidarisiert, indem sie ihnen nacheinander ihre Umhänge auf die Toilette bringt, damit sie sich vor dem eingetroffenen Kommissar verhüllen können. Und sie tut dies, obwohl sie ihr einziges Kleid vermißt und obwohl bereits ein erbitterter Kampf zwischen unverhüllten Islamistinnen und Wärterinnen tobt. Hannah Davis Taieb sieht in der Solidarität zwischen Latifa al Sajjat und den Islamistinnen eine typische Flucht aus ihrer Isolation.39 33 a.a.O. S. 66 34 a.a.O. S. 81 35 a.a.O. S. 82 36 a.a.O. S. 111 37 a.a.O. S. 119 38 a.a.O. S. 90 39 Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998), S. 209f. 14
  • 15. 15 Obwohl sie in Haft ist, schreibt sie, daß sie sich behaupte gegen die Folterknechte: „Ich weiß, daß man es immer auf die Fähigkeit des Menschen zu denken abgesehen hat und daß Gefängnis, Vertreibung, Drohung, Verfolgung und Folter nichts anderes sind als Instrumente, um dem Menschen sein Menschsein, seine Fähigkeit zu kritischem Denken zu rauben.“40 Sie behält ihr Denken und sieht sich deshalb als Siegerin. Mit der Szene der Durchsuchung endet das Buch. 40 Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 114 ff. 15
  • 16. 16 TEIL II 7. Die Autobiographie als literarisches Genre In diesem Abschnitt möchte ich mich der Frage widmen, was unter einer Autobiographie zu verstehen ist. Wenn es darum geht zu prüfen, ob ein bestimmtes Werk eine Autobiographie ist, so ist eine Verständigung über die Kriterien, die darüber befinden, unumgänglich. So stellt Sandra Frieden41 die Gattungsgrenzen in Frage und bestreitet gar die Möglichkeit, verifizierbare Kriterien zu benennen, nach denen ein Werk eingeordnet werden kann. Sie bezweifelt die Konstanz eines literarischen Ichs, indem sie ausführt: „Emil Benvenistes linguistische Analysen postulieren das ,Ich‘ eines schriftlichen Diskurses als , Leerformel‘, die vom Diskurs, in dem sie erscheint, selbst konstituiert wird (...).“42 1.1. Roy Pascal Anders geht Roy Pascal43 vor, indem er versucht, das Wesen der Autobiographie in Abgrenzung zu anderen literarischen Genres zu definieren. Zunächst stellt er fest, daß die Autobiographie nur eine von mehreren Formen der Mitteilung von persönlichen Erfahrungen sei.44 Weiterhin konstatiert er, daß die Autobiographie als Genre eine genuin europäische Erscheinung darstelle. Dem widerspricht jedoch Martina Häusler,45 die darauf hinweist, daß im arabischen Kulturkreis diese Form der Literatur eine sehr lange Tradition besitzt. 41 Frieden, Sandra: „ ,Falls es strafbar ist, die Grenzen zu verwischen‘: Autobiographie, Biographie und Christa Wolf.“, in: Grimm, R. / Hermand, J.: „Vom Anderen und vom Selbst“, Königstein 1982 42 a.a.O. S. 153 43 Pascal, Roy: „Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt“, Stuttgart 1965 44 a.a.O. S. 12 45 Häusler, Martina: „Fiktive ägyptische Autobiographien der zwanziger und dreißiger Jahre“, Frankfurt 1990 16
  • 17. 17 Für Roy Pascal ist der Wesen der Autobiographie „von der Suche nach der geistigen Identität der Person geprägt, wie sie sich ausdrückt in dem, was Misch ,ihre konkret erfahrene Wirklichkeit‘ nennt. Die vielfältigen Einzelerfahrungen eines Lebens werden durch Reflexion im Bewußtsein miteinander verknüpft.“46 In Abgrenzung zum Tagebuch besitzt nach Pascal der Autobiograph einen einheitlichen Blickwinkel, eine Perspektive, von der er rückwärtsgewandt die gemachten Erfahrungen erinnert und wichtet. Beim Tagebuch dagegen gebe es nur kleine, chronologisch aufeinanderfolgende Rückblicke, die sich auch nur auf einen kurzen Zeitraum beschränkten.47 Und im Gegensatz zu den Memoiren tritt bei der Autobiographie die eigene Person in den Mittelpunkt der Betrachtung. Memoiren schildern zumeist eine Rolle, die man erfolgreich ausfüllte, und konzentrieren sich dabei zumeist auf andere Personen.48 Bei Autobiographien von Politikern und Staatsmännern gibt es da natürlich Überschneidungen. Nach Pascal ist es dann eine Autobiographie, wenn die politische Aufgabe elementar für das Verständnis des Autors ist und wenn sie Bestandteil einer umfassenden geistigen Haltung ist, wie etwa bei Ghandi. Die Autobiographie verlangt einen Autor, der sein Leben als ein Muster zu beschreiben vermag. Roy Pascal sagt dazu: „Autobiographie [ist] Formung der Vergangenheit... Sie legt einem Leben ein Muster (,pattern‘) unter, konstruiert aus ihm eine kohärente Geschichte. Sie gliedert ein Leben in bestimmte Stationen, verbindet sie miteinander und stellt (...) eine bestimmte Konsequenz in der Beziehung zwischen Ich und Umwelt fest.“49 Er konstatiert weiterhin, daß die besten Autobiographien jene seien, die von Menschen geschrieben sind, die etwas Großes geleistet hätten. Ihnen sei automatisch ein Standpunkt gegeben, von dem sie ihr Leben erinnern und einordnen. Und dadurch, daß der Standpunkt in dem Moment der Niederschrift 46 Pascal, Roy: „Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt“, Stuttgart 1965, S. 12 47 a.a.O. S. 13 48 a.a.O. S. 16 49 a.a.O. S. 21 17
  • 18. 18 eingenommen sei, enthülle die Autobiographie vielmehr die jetzige Situation des Autors als daß sie die Vergangenheit entschleiere.50 Diese Vermutung bestätigen auch Untersuchungen zur Erinnerungsleistung des Menschen. So ist hinlänglich bekannt, daß das Erinnerte nicht unverändert gespeichert und jederzeit abgerufen werden kann, sondern daß die Erinnerung ein aktiver Filterungs- und Interpretationsprozeß ist. Das was ich erinnere wird maßgeblich von dem bestimmt, wie ich jetzt wahrnehme. Und selbst bei kurz zurückliegenden Ereignisse macht sich dieser individuelle Faktor bemerkbar, etwa wenn man Zeugenaussagen miteinander vergleicht. Roy Pascal verlangt von einer Autobiographie, daß sie den langen Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung zeige. Dabei gehe es nicht um eine Quintessenz, sondern um eine Ganzheit.51 Letztlich soll man sich nach der Lektüre vertrauter mit der Persönlichkeit fühlen und eine historische Konsistenz des Charakters erkennen.52 Zur Frage der Authentizität des Berichteten schreibt Pascal, daß man sich das aufgeschriebene Erinnerte als ein „Kompositum“ von Erfundenem und Wiedergefundenem vorstellen müsse.53 Der Autobiograph berichte eben keine Tatsachen, sondern Erfahrungen, welche eine Wechselwirkung zwischen Mensch und Tatsachen oder Ereignissen seien.54 Autobiographie ist für Pascal nicht Rekonstruktion, sondern Interpretation von Vergangenheit. „Als historische Dokumente müssen sie mit größter Skepsis studiert und geprüft werden.“55 Pascal zitiert Stendhal, der über seine Autobiographie sagte: „Ich nehme durchaus nicht für mich in Anspruch, Geschichte zu schreiben, sondern ich schreibe ganz einfach meine Erinnerungen nieder, um herauszubekommen, was für ein Mensch ich gewesen bin.“56 50 a.a.O. S. 22f. 51 a.a.O. S. 25 52 a.a.O. S. 25f. 53 a.a.O. S. 26 54 a.a.O. S. 29 55 a.a.O. S. 208f. 56 a.a.O. S. 31 18
  • 19. 19 Pascal betont, indem er auch Augustinus zitiert, daß eine Autobiographie immer nur eine Auswahl sein kann. 1.2. Günter de Bruyn Auch Günter de Bruyn57 betont, daß eine Autobiographie immer nur eine Auswahl darstelle. Daraus resultiert notwendig die Frage nach der Authentizität des Geschilderten. „Aus den Lebenstatsachen absichtsvoll eine Auswahl zu treffen, weil man Teile nicht wahrhaben will, für unwichtig hält oder dem Zweck nicht gemäß erachtet, kann also auch Verschweigen oder Irreführen bedeuten, so daß man daraus den Schluß ziehen könnte, daß bei jeder Auswahl Vorsicht geboten ist! Damit aber zieht man den Wahrheitsgehalt jeder Autobiographie in Zweifel.“58 Wie Pascal verlangt auch de Bruyn von der Autobiographie, daß sie eine Ganzheit des Lebens darstellen soll. Sie soll die ganze Wahrheit erzählen, womit sie über eine reine Faktensammlung in Form eines Lebenslaufes oder die Schilderung der Bibliographie eines Gelehrten hinaus das wesentliche über die Person als ganzes mitteilt.59 Motive des Autobiographen können die Selbstauseinandersetzung, die Selbsterforschung und die Selbsterklärung sein. Denkbar ist nach de Bruyn auch, daß das Bedürfnis, Geschichte festzuhalten, um aufzuklären, einen Autobiographen motiviere.60 Lange Zeit galt die Autobiographie nicht als vollwertige Literatur im klassischen Sinne. Auch de Bruyn konstatiert, daß nicht jede Autobiographie Literatur sei, da das Wesen der Literatur das Fiktive sei. Zwar erzählen Autobiographien eine Geschichte, ihnen fehle aber das Fiktive.61 Dennoch räumt de Bruyn ein, daß die Gattungsgrenzen suspekt seien und nur theoretisch ziehbar seien. Da die Autobiographie eine Auswahl von Erinnerungen ist, stellt sich auch für de Bruyn die Frage nach dem Wahrheitsgehalt. Dabei betont er, daß die goethische Formulierung von „Dichtung und Wahrheit“ häufig mißverstanden werde. Dichtung bedeute nicht Erfinden, sondern Verdichten, Konzentrieren 57 Bruyn, Günter de: „Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie“, Frankfurt 1995 58 a.a.O. S. 12 59 a.a.O. S. 8 f. 60 a.a.O. S. 18 ff. 61 a.a.O. S. 20 19
  • 20. 20 und auf den Punkt bringen. Auf der Grundlage dieser Überlegung definiert de Bruyn Dichtung in der Autobiographie als „die Fähigkeit, das Vergangene gegenwärtig zu machen, Wesentliches in Sein und Werden zu zeigen, Teilwahrheiten zusammenzufassen zu dem Versuch der ganzen Wahrheit über das schreibende und beschriebene Ich.“62 Dieser Versuch ist für de Bruyn zeitbezogen und voreingenommen und somit immer subjektiv. Wahrheit in der Autobiographie ist für de Bruyn immer nur eine subjektive Wahrheit.63 Und das Besondere an der Autobiographie bestehe nicht darin, „daß hier derjenige ein Leben beschreibt, der am meisten über es weiß, sondern darin, daß hier jemand sich so beschreibt, wie er sich selbst sieht und beurteilt. Interessanter als die mitgeteilten Fakten über eine Person ist die Art, wie sie von dieser Person mitgeteilt werden.“64 Und da jede Autobiographie Sprache sei, habe sie ihre eigene Wirklichkeit in der Strukturierung der Schilderungen, in der Formulierung der Sätze. Wie Pascal auch sieht de Bruyn eine rückblickende Perspektive als Kriterium einer Autobiographie. Und die Idee der Muster, nach denen das Leben geschildert wird, spielt auch bei de Bruyn eine Rolle. „Die Entwicklung des Ich wird auf ein Ziel hin beschrieben; das Leben läuft sozusagen ab nach einem Programm.“65 62 a.a.O. S. 32 63 a.a.O. S. 61 64 a.a.O. S. 62 65 a.a.O. S. 35 20
  • 21. 21 1.3. Joachim Kronsbein Joachim Kronsbein66 betont gleichfalls, daß die Gattungsgrenzen nicht sosehr inhaltlicher, sondern struktureller Art seien. Zusammengefaßt ist für ihn eine Autobiographie „...als ein Text zu bezeichnen, der sich als Gegenstand der Darstellung und als daraus zu folgender Beobachtung der Deutung durch die gewählten autobiographisierenden narrativen Mitteln eines oder mehrerer, nicht notwendigerweise zusammenhängender Lebensabschnitte darstellt. Es ist die Darstellung eines Autors, der sich im Text oder durch den Titel oder die Aufmachung des Buches eindeutig sowohl als der Verfasser dieses Textes als auch als der mit diesem identische Erzähler des im Text als Identitätsträger angebotenen erzählten Person zu erkennen gibt.“67 Die Darlegung des Autors einer Autobiographie mit dem Beschriebenen übereinzustimmen, wird nach Le Jeune „autobiographischer Pakt“ genannt. 1.4. Der autobiographische Pakt Philippe Lejeune glaubt, daß das entscheidende Kriterium einer Autobiographie der autobiographische Pakt sei, bei dem der Verfasser explizit deutlich mache, daß die geschilderte Persönlichkeit mit seiner übereinstimme. Dabei beschreibt er diesen Pakt wie einen Vertragsabschluß: „L‘ autobiographie n’est pas un jeu de devinette, c’est même exactement le contraire. Manque ici l’essentiel, ce que j’ai proposé d’appeler le pacte autobiographique.“68 Nach Hannah D. Taieb führt dieser Pakt, der auch implizit geschlossen werden kann, dazu, daß der Leser ein Werk, das sich als fiktiv erklärt, dazu neigt, Ähnlichkeiten mit dem Autor zu suchen. Wenn der autobiographische Pakt geschlossen und ersichtlich ist, daß der Autor mit der beschriebenen Person übereinstimmt, so sei die entgegengesetzte Tendenz zu beobachten, daß nämlich der Leser nach Unterschieden und Ungereimtheiten suche.69 66 Kronsbein, Joachim: „Autobiographisches Erzählen. Die narrativen Strukturen der Autobiographie“, München 1984 67 a.a.O. S. 184 68 Lejeune, Philippe: „Le pacte autobiographique“, Paris 1975, S. 25 f. 69 Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998), S. 211 21
  • 22. 22 1.5. Die Autobiographie in der arabischen Welt Entgegen der Aussage Roy Pascals betont Martina Häusler, daß die Autobiographie in der arabischen Welt eine lange Tradition habe.70 Schon im 11. Jahrhundert schreibt Ghazali seine bekannte Autobiographie „Der Erretter aus dem Irrtum.“ Die klassische Autobiographie in der arabischen Welt ist nach Franz Rosenthal eher moralisierend und lehrhaft, also eher ein Bildungsroman, der den Leser erbauen soll.71 Doch die modernen Texte in der heutigen arabischen und islamischen Welt unterscheiden sich nach Häusler kaum noch von westlichen Autobiographien. Zudem ist in der arabischen Welt in den letzten Jahrzehnten ein regelrechter „Boom“ an Veröffentlichungen von Autobiographien zu beobachten. Wenn man nach den Besonderheiten der arabischen Autobiographie fragt, so muß man vor allem die kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen berücksichtigen, innerhalb dessen der Autor aufwächst und sozialisiert wird, so daß Metapher und Motive nur vor dem Hintergrund dieser spezifischen Lebenswelt begreifbar werden. So ist es unausweichlich, daß eine Frau, die in einem arabischen Land aufwächst, sich mit der Frauenfrage auseinandersetzen muß und sich und ihr Leben in einer Welt der männlichen (Literatur-) Welt neu definieren muß. Latifa al Sajjat ist eine ägyptische Frau, die als Schriftstellerin und politisch Aktive in Männerdomänen eindringt. In ihrem Buch Durchsuchungen spielt auch diese Frage eine Rolle. Doch jetzt soll auch die Frage geklärt werden, ob es sich bei diesem Werk um eine Autobiographie handelt. 8. Sind die „Durchsuchungen“ eine Autobiographie? Wie bereits gezeigt werden konnte, gibt es zahlreiche Vorstellungen, was eine Autobiographie ausmacht. Doch es gibt auch Kriterien, die von vielen als typisch für eine Autobiographie betrachtet werden. Dies sind zusammengefaßt: 70 Häusler, Martina: „Fiktive ägyptische Autobiographien der zwanziger und dreißiger Jahre“, Frankfurt 1990, S. 17 71 Rosenthal, Franz: „Die arabische Autobiograohie“, in: Studia Arabica I, Rom 1937, S. 11 22
  • 23. 23  eine rückblickende Perspektive  eine ganzheitliche Darstellung  subjektive Wahrheit  Schilderung der Persönlichkeitsentwicklung als Prozeß  der autobiographischer Pakt 2.1. rückblickende Perspektive Die Autorin schildert diese Erinnerungen als ältere Frau und nicht als das kleine Mädchen, das sie damals war. Dies hält sie auch im Verlauf des gesamten Buches ein, so daß die Perspektive der erinnernden reifen Frau erkennbar ist. Dies wird auch durch Einschübe in den Text deutlich, wo sie etwa Brecht72 oder den Kritiker Coleridge73 zitiert. Zudem kommentiert sie permanent ihre Erinnerungen, was im Text durch Kursivschrift abgehoben ist. Dies hält sie das ganze Buch über ein, so daß der Leser auch weiß, ob er gerade einen Romanentwurf liest oder nicht. Unklar ist jedoch, wo die Perspektive zeitlich festgemacht werden kann. Es ist davon auszugehen, daß die Textteile zu verschieden Zeitpunkten erstellt worden sind und daß Latifa al Sajjat sie später zusammengefaßt und mit den entsprechenden Kommentaren versehen hat. Es ist natürlich berechtigt zu fragen, ob so eine einheitliche Perspektive eingenommen ist. Unabhängig von der zeitlichen Distanz zwischen den Textteilen ist auch der Stilunterschied zu berücksichtigen. Autobiographische Skizzen, Tagebucheinträge und Romanentwürfe sind unterschiedliche Textarten mit ihren Eigenarten in Stil, Inhalt und Form. Dennoch gelingt es al Sajjat die Texte so auszuwählen und anzuordnen, daß ersichtlich wird, daß hier die alte Frau zurückblickt auf ihr Leben und ihr Werk. 2.2. ganzheitliche Darstellung Wenn man das Buch Durchsuchungen liest, so erkennt man sehr schnell, daß die Autorin versucht, ihre Lebenserinnerungen in einem Zusammenhang zu bringen, ihnen also eine gemeinsame Sinnstruktur zu geben, so daß wir das 72 Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 17 73 a.a.O. S. 10 23
  • 24. 24 Leben der Autorin nicht als partikularistische Anordnung unvereinbarer und zufällig erstandener Erlebnisse auffassen, sondern ihr Leben in seiner Ganzheit begreifen. Dazu verwendet sie die schon beschriebenen Motive und Metapher, die gleich einem roten Faden die Lebensereignisse oder besser gesagt die Erinnerungen daran miteinander verknüpfen und ihnen dadurch Sinn verleihen. Die Autorin gibt keine Anreihung von Tatsachen wider, sondern Schilderungen von Erinnerungen, von Emotionen und Träumen. Sie gewährt uns Einblick in ihr Inneres, an ihre Empfindungen zu ihrem Vater und zu anderen Menschen. Sie läßt uns teilhaben an ihren Ängsten und Konflikten, verknüpft dadurch Ereignisse, die zeitlich auseinander liegen, aber für die Person miteinander verbunden sind. Und dadurch erfahren wir das Leben dieser Person als Ganzes. 2.3. subjektive Wahrheit Eine Autobiographie kann nicht eine objektive Darstellung wie etwa eine wissenschaftliche Studie sein. Sie kann und sie soll es auch nicht, denn wie gezeigt geht es hier nur um die Sicht des Autors auf sein Leben, somit um seine Erinnerungen und seine Gefühle, also um seine subjektive Wahrheit. Dadurch, daß Latifa al Sajjat die erste Person wählt, um die Protagonistin sich beschreiben zu lassen, ist direkt eine Aussage über die erwünschte Subjektivität gemacht. Da, wo die Autorin die dritte Person wählt, um sich zu beschreiben, möchte sie eine Distanz zwischen sich als Autorin und als erinnerte und beschriebene Person schaffen, um erstens objektiver zu erscheinen und zweitens um eine Verfremdung gegenüber ihr damaliges Ich auszudrücken, einem Befremden gegenüber bestimmten Aspekten der Persönlichkeit oder den erinnerten Ereignissen. Günter de Bruyn betont: „Auch wer sich vornimmt, sein eigenes Leben wie das eines anderen beschreiben zu wollen, ist der Subjektivität ausgeliefert (...), und wer von sich in der dritten Person redet, (...) gewinnt nur den Schein von Objektivität.“74 74 Bruyn, Günter de: „Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie“, Frankfurt 1995, S. 33 24
  • 25. 25 Das Instrument der dritten Person ist vor allem deshalb sehr wirksam, weil Latifa al Sajjat sonst die erste Person verwendet, wenn sie über sich schreibt. Die Autorin setzt die dritte Person vor allem dann ein, wenn sie sich als machtlose, den Ereignisse ausgelieferte Person schildern muß, wie etwa die Schilderung ihrer Erlebnisse auf den beiden Demonstrationen. Durch die Einbindung fiktiver Texte aus Romanfragmenten verdeutlicht die Autorin, daß es ihr um die Beschreibung ihrer Gefühlsrealität und nicht einer objektiven Schilderung nachprüfbarer Tatsachen geht. Denn Objektivität bedeutet die Zugänglichkeit dritter auf die Ergebnisse; ein schwieriges Unterfangen bei Erinnerungen und Emotionen. 2.4. Schilderung der Persönlichkeitsentwicklung als Prozeß Jede Beschreibung einer Entwicklung ist nur als Prozeß vorstellbar. Da eine Autobiographie das eigne Leben als Thema hat, muß der Autor die Veränderungen in der Zeit schildern. Dies tut Latifa al Sajjat, indem sie ihre Kindheit, ihre Schulzeit und das Erwachen des politischen Engagements schildert. Sie zeigt auch, daß die Entwicklung nicht kontinuierlich ist und daß sie sich nicht in abgeschlossenen Stadien vollzieht, sondern vielmehr sprunghaft und auch regressiv ist. Der Autorin gelingt es, Abhängigkeiten ihres Erwachsenenlebens mit Ereignisse aus ihrer Kindheit zu verbinden, Veränderungen festzustellen, Rückfälle einzuräumen. Sie schildert uns eine dynamische, nicht eine statische Persönlichkeit. Und es gelingt ihr auch, Brüche in der Persönlichkeit als Dichotomien (z.B. „altes Haus“ versus „Haus in der Wüste“) zu versinnbildlichen. Sie zeigt uns Schwächen und Stärken, beschreibt, wie sie versucht ihre Weiblichkeit zu entdecken uvm. Die Autorin schildert die Entwicklung ihrer Persönlichkeiten als dynamische Prozesse. 25
  • 26. 26 2.5. Der autobiographische Pakt Latifa al Sajjat geht den Pakt, daß es sich bei ihrem Werk Durchsuchungen um eine Autobiographie handelt, explizit ein, indem sie den Untertitel „persönliche Notizen“ nennt und indem sie im ersten Absatz schreibt: „Dazwischen setze ich mich hin, um zu schreiben, schiebe den Tod weg von mir und schreibe so etwas wie eine Autobiographie ohne Abschluß. Mein Bruder stirbt im Mai 1973. Mit seinem Tod hält meine Autobiographie inne.“75 Zudem spricht die Autorin in Durchsuchungen auch von anderen Werken, wie etwa ihrem Roman „Das offene Tor“ und bindet ihn sogar mit ein, um sich zu erklären. Des weiteren stimmen die genannten Daten und markanten Ereignisse (Geburtsort, Datum, Gefängnisaufenthalte, Dissertation, Ehen etc.), sie sind durch Dokumente und Aussagen dritter nachweisbar, so daß gesagt werden kann, daß der autobiographische Pakt explizit geschlossen wird. 9. Fazit Latifa al Sajjat gelingt es mit diesem Buch, den Leser in ihr Innerstes zu geleiten. Sie verknüpft hierbei das private und das öffentliche Leben zu einer Einheit, die uns ihr Leben als etwas tragisches erscheinen läßt. Sie ist als Mädchen durch ihre Erfahrung der Ungerechtigkeit zu einer politisch bewußten Person geworden. Ihre Liebe zu Ägypten und ihr Engagement verdeutlichen dem Leser den Geist jener Zeit, als der Nationalismus aus der Unterjochung des britischen Protektorats Formen annahm. Man kann Durchsuchungen als Zeitdokument lesen, auch wenn die von Pascal angemahnte Vorsicht nicht außer Acht gelassen werden kann. Man kann das Buch als eine verhängnisvolle Verbindung zwischen dem Kampf der al Sajjat für ihr privates Glück und ihrem Kampf für die Nation lesen. Die Autorin ist, wie der Traum der großen arabischen Nation, zerbrochen an der Realität. Sie hat politisch versagt, doch ihr Schicksal ergreift den Leser, weil es menschlich ist und weil es trotz aller Niederlagen beweist, wie ein Mensch wachsen kann. 75 Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996, S. 7 26
  • 27. 27 Literaturverzeichnis Brettschneider, Werner: „Kindheitsmuster“, Berlin 1982 Bruyn, Günter de: „Das erzählte Ich. Über Wahrheit und Dichtung in der Autobiographie“, Frankfurt 1995 Davis Taieb, Hannah: „The Girl Who Found Refuge in the People“, in: JAL 29 (1998) Frieden, Sandra: „ ,Falls es strafbar ist, die Grenzen zu verwischen‘: Autobiographie, Biographie und Christa Wolf.“, in: Grimm, R. / Hermand, J.: „Vom Anderen und vom Selbst“, Königstein 1982 Häusler, Martina: „Fiktive ägyptische Autobiographien der zwanziger und dreißiger Jahre“, Frankfurt 1990 Kronsbein, Joachim: „Autobiographisches Erzählen. Die narrativen Strukturen der Autobiographie“, München 1984 Lejeune, Philippe: „Le pacte autobiographique“, Paris 1975 Pascal, Roy: „Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt“, Stuttgart 1965 Rosenthal, Franz: „Die arabische Autobiograohie“, in: Studia Arabica I, Rom 1937 Sajjat al-, Latifa: „Durchsuchungen“, Basel 1996 27