Vortrag auf dem Bibliothekstag 2014, Bremen. Der Vortrag thematisiert, (a) den Bezug von Armut und Öffentlichen Bibliotheken, stellt (b) Möglichkeiten der Intervention durch Öffentliche Bibliothek und (c) Barrieren für diese Interventionen vor. Zudem ruft er dazu auf, das Verständnis von Armut im Bibliothekswesen zu diskutuieren.
Impulsreferat "Möglichkeiten der politischen Jugendbildung im Web 2.0 aus chr...
Armut und Bibliotheken
1. Mitglied der FHO Fachhochschule Ostschweiz Seite 1
Armut und Bibliotheken
Dr. Karsten Schuldt
2. Seite 2
Was ist Armut?
gesellschaftlich: Ein struktureller Zustand der materiellen Unterversorgung
Personen mit < 60% des Durchschnitteinkommens (Median,
„Armutsgefährdung“)
Verändert sich mit Einkommensspreizung, Einkommensmessung,
Einkommenshöhe
Immer im Rahmen der jeweiligen Gesellschaft gültig
Andere mögliche Messgrundlagen
Grundbedürfnisse (Wohnen, Nahrung, Gesundheit, Bildung)
Gesellschaftliche Chancen und Beteiligungen
3. Was ist Armut?
gesellschaftliche Problemstellungen
Keine gleichen Lebenschancen, keine gleiche Beteiligung an der
Gesellschaft
Unnötige Ungleichheiten und Barrieren nicht meritokratisch
Reduzierung gesellschaftlicher Teilhabe damit weniger gerechte,
weniger dynamische, weniger offene und weniger sichere Gesellschaft
Seite 3
4. Was ist Armut?
Deutschland
(2011)
Schweiz (2011) Österreich (2010)
Betroffene Personen 12.350.000 1.090.000 1.004.000
Prozent
Bevölkerung
15,1% 14,3% 12,1%
Einkommen / Monat 848 Euro 2.450 CHF (2.006 Euro) 1.031 Euro
Seite 4
Quellen: Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Lebenslagen in Deutschland. Der Vierte
Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Bonn: BMAS, 2013. | Eidgenössisches
Departement des Innern EDI, Bundesamt für Statistik BFS: Armut in der Schweiz. Ergebnisse
von 2007-2011. (BFS aktuell.) Neuchâtel: BFS, 2013. | Kargl, Martina: EU-SILC 2012:
Zentrale Ergebnisse im Überblick. Wien: Die Armutskonferenz, 2014
5. Was ist Armut?
individuell: Geringes Einkommen über längeren Zeitraum
Geringere Lebenschancen (Bildung, Aufstiegsmöglichkeiten, Möglichkeiten
der Lebensgestaltung, Möglichkeiten der langfristigen Planung)
Langfristige Folgen kumulieren
Komplexitäten
Unterschied von «Verfestigter Armut» und «Zonen der Gefährdung»
Realität der «sozialen Vererbung»
Fragen der Ausstiegsmöglichkeiten
Fragen der Resilienz
Seite 5
6. Was will jemand in Armut?
keine Ausgrenzung, keine Sonderbehandlung
Akzeptanz der Person und Lebenssituation (z.B. sinnvolle Hilfen, nicht
unnötiges Antreiben)
Hilfe bei alltäglicher Lebensgestaltung
Unterstützung beim Ausstieg aus der Armut
Seite 6
7. Etwas tun?
Wie jemand in Armut geholfen werden kann / soll, hängt immer davon ab, wie
man sich Armut erklärt
«natürlicher Zustand» keine Hilfe möglich
«Faulheit, zu wenig Antrieb» Antrieb («Fördern und Fordern»)
«zu wenig Wissen über Ausstiegsmöglichkeiten» Wissensvermittlung
«persönliches Unglück» Hilfe bei Unglück
«strukturelles gesellschaftliches Problem» politische Lösungen
«unlösbar» ständige unterstützende Infrastruktur notwendig
Seite 7
8. Was kann die Bibliothek tun?
Was die Bibliothek tun kann, ergibt sich daraus, wie sie Armut wahrnimmt
Hauptfrage: Was wollen und was benötigen Personen in Armut?
Zur Lebensgestaltung?
Zum Ausstieg aus Armut?
Zur Unterstützung ihrer Kinder?
Seite 8
9. Vorschläge
John Pateman (mit John Vincent, Ken Williment)
Need based library service
Gesellschaftliche Verantwortung der Bibliotheken für soziale Gerechtigkeit
Community analysis
Bibliotheksservice so gestalten, dass sie für die Schwächsten der
Community sinnvoll sind
Kein «zum Lesen verführen» etc., sondern fragen, was an Literatur,
Informationen etc. für Lebensgestaltung und Ausstieg aus der Armut
notwendig ist Zur Verfügung stellen
Zur Ausrichtung der Bibliotheksstrategie aktiv und beständig die
Community einbinden (Fehler zulassen, nicht für andere entscheiden,
nicht nach Exzellenz streben, sondern nach Sinnhaftigkeit etc.)
Auf die Community bezogen
Basiert auf Open to All? (GB) und The Working Together Project (Canada)
Seite 9
10. Vorschläge
Leslie Edmonds Holt & Glen E. Holt
Public library services for the poor: doing all we can
Fragen, was für Personen in Armut notwendig ist
Informationen besorgen, welche diese Personen benötigen aktiv
verbreiten
Z.B. Informationen über Ämter, Unterstüzungseinrichtungen
Bibliothek zum Teil des Unterstützungsnetzwerks machen, Netzwerke
herstellen
Sehr auf die Individuen bezogen
Basiert auf Arbeit in Chicago
Seite 10
11. Vorschläge
Serge Paugam & Camila Giorgetti
Untersuchung: Des pauvres à la bibliothèque
Fokus: Wohnungslose in Paris (SDF, sans domicile fixe)
Die Bibliothek wird genutzt, um das Leben zu gestalten
Eigenständig und gezielt
Grösse der Bibliothek hilft, Anonymität zu bewahren
Anforderung: In Ruhe gelassen werden
Zumeist unauffällig, zumeist den sozialen Regeln angepasst
Informationen müssen zugänglich sein, Infrastruktur so aufgebaut, dass
sie einfach genutzt werden kann (z.B. Drucker, Computer), ohne direkt auf
Personen in Armut bezogen zu sein
Vorausschauend planen, Freiräume geben, Anspruch aufgeben, allen
zu helfen
Basiert auf Centre Pompidou (Paris)
Seite 11
12. Stolpersteine
ein «falsches» Verständnis von Armut wählen
Lebensrealität der Personen in Armut nicht wahrnehmen
Elitenbewusstsein
Siehe Denis Merklen: Pourquoi brûle-t-on des bibliothèques ?
Pädagogisierung der Armut
Bildung als Ausstieg ansehen, wenn dies nicht gesellschaftlich gegeben ist
das Falsche unterstützen
z.B. Bewerbungsschreiben, wenn es keine Stellen gibt
Seite 12
13. Was tun?
Grundsätzlich: Bibliotheken müssen sich über Armut klarwerden, wenn sie
etwas unternehmen wollen.
Reflektierte Diskussion zum Thema notwendig, keine schnellen
Programme.
Nicht auf bibliothekarisches Wissen allein vertrauen, aber auch nicht die
Kontrolle vollständig abgeben.
Wissen von Betroffen, Sozialwissenschaft, Sozialer Arbeit einbinden
Habitus Bibliothek (Ort, Institution) und bibliothekarisches Wissen
integrieren
Strategisches, langfristiges Planen, Einbinden in die alltägliche Arbeit
Die Community kennen
Offene Frage: Sollen die Bibliotheken dazu beitragen, über Armut
aufzuklären?
Seite 13
14. Literatur
Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Lebenslagen in Deutschland. Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht
der Bundesregierung. Bonn: BMAS, 2013
Eidgenössisches Departement des Innern EDI, Bundesamt für Statistik BFS: Armut in der Schweiz. Ergebnisse von
2007-2011. (BFS aktuell.) Neuchâtel: BFS, 2013
Holt, Leslie Edmonds; Holt, Glen E.: Public library services for the poor: doing all we can. Chicago: American Library
Association, 2010
Kargl, Martina: EU-SILC 2012: Zentrale Ergebnisse im Überblick. Wien: Die Armutskonferenz, 2014
Merklen, Denis: Pourquoi brûle-t-on des bibliothèques ?. (Papiers.) Villeurbanne : Presses de l'ENSSIB, 2013
Paugam, Serge; Giorgetti, Camila; Roullin, Benoît: Des pauvres à la bibliothèque: enquête au Centre Pompidou. (Le
lien social.) Paris: Presses Universitaires de France, 2013
Pateman, John; Williment, Ken: Developing community-led public libraries: evidence from the UK and Canada.
Farnham: Ashgate, 2013
Pateman, John; Vincent, John: Public libraries and social justice. Farnham: Ashgate, 2010
Pateman, John: Developing a needs-based library service. (NIACE lifelines in adult learning; 13.) Leicester : National
Institute of Adult Education, 2003
Seite 14
15. Mitglied der FHO Fachhochschule Ostschweiz Seite 15
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit.
Es sind viele Fragen offen.