Angewandte Philosophie an der Universität Duisburg-Essen.
Hypertext - Geschichte, Systeme, Strukturmerkmale und Werkzeuge
1. Rolf
Schulmeister
Hypertext
Geschichte, Systeme, Strukturmerkmale und Werkzeuge
Hypertext
ist
die
Grundlage
des
World
Wide
Web.
Die
Geschichte
des
Hypertexts
ist
somit
zugleich
ein
Beitrag
zur
Geschichte
der
Entstehung
des
World
Wide
Web.
Der
ArDkel
informiert
über
die
Ursprünge
der
Idee
von
vernetzten
InformaDonen
und
Daten
von
Vannevar
Bush
(Memex)
und
führt
anhand
der
ersten
historischen
Vorstufen,
erdacht
von
Douglas
Engelbart
und
Ted
Nelson,
in
die
Grundlagen
von
Hypertext-‐
Programmen
ein.
Erst
anhand
dieser
berühmten
Beispiele
kann
erkannt
werden,
wie
das
World
Wide
Web
entstehen
konnte,
wie
wir
es
heute
kennen.
Abschließend
werden
noch
die
strukturellen
Merkmale
des
Hypertexts
diskuDert
und
die
besonderen
Merkmale
wie
die
Nichtlinearität,
die
beliebigen
Verbindungen
usw.
herausgearbeitet.
Inwieweit
sich
Texte,
die
dermassen
aufgebaut
sind,
für
Lernen
und
Lehren
eignen,
ist
nach
wie
vor
eine
interessante
Frage.
Quelle:
Historische
Aufnahmen
BTX-‐Systeme
TU
Graz
]
#hypertext
#einfuehrung
#geschichte
Version
vom
1.
Februar
2011
Für
dieses
Kapitel
wird
noch
ein
Pate
gesucht,
Jetzt Pate werden! mehr
InformaDonen
unter:
hFp://l3t.eu/patenschaI
2. 2
—
Lehrbuch
für
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien
(L3T)
1. Vorkommen
Zum Glück müssen wir heute nicht mehr über Ideen,
Visionen oder Pläne reden, wenn wir erläutern
wollen, was Hypertext ist. Wir sind eigentlich ständig
damit beschäftigt, einen Hypertext zu nutzen, wenn
wir im World Wide Web im Internet etwas lesen, Abbildung
2:
Screenshot
des
Wikipedia-‐Artikels
suchen oder schreiben. „Hypertext“.
Quelle:
(Stand
09/2010)
Die meisten Websites basieren auf Hypertext. Der http://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext
bekannteste Hypertext ist vermutlich Wikipedia. Der
Idee nach und historisch gesehen bestehen Hyper-
texte aus elektronischen Texten, die in sich markierte Heute
werden
Hypertexte
mit
Hilfe
der
Auszeich-‐
Textstellen (Sprungadressen) enthalten, mit deren
Hilfe man von einem Begriff oder Absatz zu einem
! nungssprache
HTML
(HyperText
Markup
Language)
aucereitet.
Mit
HTML
können
Texte
aber
nicht
nur
anderen Begriff oder Absatz in demselben Text oder sDlisDsch
aucereitet
werden
(Zeichensätze,
SDle,
Größen),
sondern
sie
können
auch
Sprungmarken
in einer anderen Textdatei „springen“ kann. Die Ver-
(„Anker“)
und
Sprungadressen
aufnehmen,
die
man
bindung zwischen den Textstellen oder Dateien, der als
Links
oder
Hyperlinks
bezeichnet,
und
die
zu
an-‐
„Sprung“, wird mit dem englischen Begriff „Link“ deren
Texten
(als
Knoten
bezeichnet)
führen.
(Verknüpfung) bezeichnet. Die technische Reali-
sierung war vor der Verfügbarkeit der Fenstersysteme Solche Sprungadressen können zu anderen Stellen
und der Maus recht unterschiedlich. im selben Text, zu anderen Seiten derselben Website,
zu Dateien oder gar zu anderen Websites führen.
2. Ein
Beispiel
Links sind nicht auf Begriffe und Textstellen be-
Im Wikipedia-Artikel zum Begriff Hypertext findet schränkt, sondern können heute auch von Bildern
sich zu Beginn ein Inhaltsverzeichnis, das sieben Ein- und Filmen ausgehen oder zu Bildern und Filmen
träge mit Links zu sieben Knoten anbietet, die durch führen. Zuständig für die Weiterentwicklung von
blaue Farbe als anklickbar herausgehoben werden: HTML ist heute das World Wide Web Consortium
(W3C).
Abbildung
1:
Screenshot
des
Wikipedia-‐Artikels
„Hypertext“.
Quelle:
(Stand
09/2010)
http://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext
Abbildung
3:
HTML-‐Code
des
Kastens
„Inhaltsver-‐
Klickt man mit der Maus auf die Zeile „3 Ge-
zeichnis“
aus
Abbildung
1.
Quelle:
(Stand
09/2010)
schichte und Entwicklung“, so landet man bei fol-
http://de.wikipedia.org/wiki/Hypertext
gendem Text im selben Wikipedia-Artikel:
3. Hypertext.
Geschichte,
Systeme,
Strukturmerkmale
und
Werkzeuge
—
3
menting Human Intellect: A Conceptual
3. Geschichte
Framework“, mit dem er das Ziel verfolgte, die
Memex Reichweite des menschlichen Denkens zu erweitern.
Die Hypertext-Idee geht auf Vannevar Bush zurück. 1968 implementierte er am „Augmented Human In-
Vannevar Bush, Berater von Präsident Roosevelt, be- tellect Research Center“ das System NLS Augment
schrieb 1945 als Memex eine Maschine zum Blättern (oN Line System) und erfand die Computer-Maus als
und Anfertigen von Notizen in riesigen Textmengen, Eingabegerät (Engelbart, 1988; Conklin, 1987, 22;
die per Microfiche Annotationen und Kommentare Kuhlen 1991, 67ff; Gloor, 1990, 176ff; Nielsen, 1990,
speichern sollte (das Konzept geht bis in die 1930er 34ff; Nielsen, 1995; 36ff).
Jahre zurück; Nielsen, 1995, S. 33).
Zum
VerDefen:
!
Hinweis:
Alle
im
Kapitel
erwähnte
Links
und
weitere
sind
bei
Mister
Wong
in
der
L3T
Gruppe
mit
dem ! ▸ Die
Stanford
University
veröffentlicht
eine
Reihe
historischer
Dokumente,
u.a.
auch
35
kleine
Filme
Hashtag
#l3t
und
#hypertext
abgelegt.
zu
Doug
Engelbarts
Arbeit
am
Bildschirm
(hFp://sloan.stanford.edu/mousesite/1968De-‐
mo.html).
Zum
VerDefen:
Der
berühmt
gewordene
Aufsatz
„As ▸ Die
SoIware
PreservaDon
Site
unterhält
Quellen
! We
May
Think“
aus
dem
Magazin
„The
AtlanDc
Monthly“
vom
Juli
1945
(Volume
176,
No.
1;
101-‐108)
zu
NLS
Augment
(vgl.
hFp://www.soIwarepreser-‐
vaDon.org/projects/nlsproject/).
wird
vom
Magazin
im
Netz
angeboten
(hFp://www.-‐
theatlanDc.
com/doc/194507/bush).
Augment kam bei der Luftfahrt-Firma McDonnel
Douglas zu größerer Anwendung (Ziegfeld & Haw-
Mit Memex hatte Bush eine Analogie zwischen kins et al., 1988). Es erwies sich dort als zunehmend
dem „assoziativen“ Arbeiten des menschlichen Ge- wichtig, umfangreiche technische Dokumentationen
hirns und dem assoziativen Vernetzen von Texten im mit ihren internen Relationen und Verweisen elektro-
Auge. Heute finden sich viele Dokumente zu Bush nisch speichern zu können, zum Beispiel umfasste ein
im Internet mit den Originalzeichnungen des Memex Handbuch für Düsenflugzeuge 1988 circa 300.000
und Fotos des von Bush 1931 entwickelten „Diffe- Blatt, wog 3.150 Pfund und nahm einen Raum von
rential Analyzer“, einer analog arbeitenden Maschine 68 Kubikfuß ein. Ventura (1988) berichtet, dass das
für die Lösung von Differentialgleichungen. amerikanische Verteidigungsministerium allein fünf
Millionen Blatt pro Jahr auswechseln musste (S. 111).
Der Zugang zu Informationen, zum Beispiel zu
Sammlungen von Photoagenturen, zu Dokumenta-
tionen von Zeitungsverlagen, zu Gesetzesblättern,
wurde derart schwierig, dass vermehrt Datenbanken
eingeführt wurden, um die Informationen effektiver
verwalten und leichter auffinden zu können.
Xanadu
Fast gleichzeitig mit Engelbart entwickelte Ted
Nelson (1967) das Hypertext-System Xanadu (die
Xanadu Operating Company ist eine Filiale der Au-
todesk, Inc.). Ihm wird die Erfindung des Begriffs
Abbildung
4:
Der
Memex-‐Tisch
von
Vannevar
Bush.
„Hypertext“ zugeschrieben (Nielsen, 1995, 37ff), er
Quelle:
http://web.mit.edu/mindell/www/analyzer.htm
selbst nimmt dies für sich auf seiner Homepage auch
in Anspruch (vgl. http://ted.hyperland.com/). Das
NLS
Augment
im Internet eingerichtete Archiv enthält ein Do-
kument, in dem der Begriff Hypertext vermutlich
Die Vision von Bush fand Nachfolger (Bush, 1986; zum ersten Mal auftrat, 1965 in einer Ankündigung
Conklin, 1987, 20; Kuhlen, 1991, 66ff; Nielsen 1990, am Vassar College (vgl. http://xanadu.com/).
31ff; Nielsen, 1995, 33ff). 1962 veröffentlichte Das Projekt Xanadu, das zum Ziel hatte, sämtliche
Douglas Engelbart am Stanford Research Institute Literatur der Welt zu vernetzen, wurde nie ganz reali-
den Bericht über das SRI Project No. 3578 „Aug- siert. Nelson schwebte bereits eine Client-Server-
4. 4
—
Lehrbuch
für
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien
(L3T)
Konzeption mit nicht-lokalen Verknüpfungen wie Hervorhebungen im Text als Verknüpfungen. Her-
heute im World Wide Web vor (Nelson, 1974; vorhebungen erscheinen in Fettdruck auf dem Bild-
Ambron & Hooper, 1988; Conklin, 1987, 23; Kuhlen, schirm. Die puritanische Philosophie der Entwickler
1991, 68ff; Nielsen, 1990, 35ff). drückt sich in der sparsamen Verwendung von Ver-
knüpfungen aus, die auf Überschriften beschränkt
Zum
VerDefen:
Es
exisDert
neben
der
Homepage
des wurden: „We strongly believe that the use of the ar-
! Projekts
(hFp://xanadu.com/)
noch
eine
australische
Variante
(hFp://xanadu.com.au/).
ticle titles as navigation landmarks is an important
factor to limit the disorientation of the user in the
database. It is only with caution that we introduced
what we call 'opaque links' or 'blind links' (a link
Die Distribution von Xanadu wurde für 1990 von where the highlighted word is not the title of the re-
der „Xanadu Operating Company“ angekündigt ferred article), to satisfy what should remain as
(Kuhlen, 1991, 71; Woodhead, 1991, 190ff). Berk special cases“ (Plaisant, 1991, 20). HyperTIES kennt
(1991) beschreibt das Client-Server-Modell von nur unidirektionale Verknüpfungen, „because bidirec-
Xanadu näher. tional links can be very confusing“ (S. 21).
KMS
KMS Knowledge Systems’ KMS (1983) für SUN- Abbildung
5:
Ausschnitt
aus
HyperTIES
und Apollo-Rechner (Akscyn & McCracken et al.,
1988) ist eine Weiterentwicklung von dem frühen Hy-
pertext-System ZOG (1972 und 1975; Robertson &
McCracken et al. 1981) einer Entwicklung der Car-
negie-Mellon University (Woodhead, 1991, 188ff).
Über ZOG ist vermutlich die erste Dissertation zum
Thema Hypertext geschrieben worden (Mantei. 1982)
Nielsen, 1995, 44ff). Von 1980 bis 1984 wurde mit
ZOG ein computerunterstütztes Managementsystem
für den mit Atomkraft angetriebenen Flugzeugträger
USS Carl Vinson entwickelt (Akscyn & McCracken et
al., 1988, 821). KMS wurde 1981 begonnen, weil eine
kommerzielle Version nachgefragt wurde. KMS ist
bereits ein verteiltes Multi-User-Hypertext-System
(Yoder & Akscyn et al., 1989). Es basiert auf Der untere Bildschirmrand bietet einige Befehle
Rahmen, die Text, Grafik und Bilder in beliebiger für die Navigation (Vor, Zurück, Zum Beginn, Index,
Kombination enthalten können, und deren Größe Beenden). Repräsentativ für das System ist das
auf maximal 1132 x 805 Pixel festgelegt ist. In KMS sowohl als Buch als auch als elektronischer Text auf
sind die Modi der Autor/innen und der Leser/innen Diskette veröffentlichte „Hypertext Hands-On!“, das
noch ungetrennt. Leser/innen können jederzeit Text 180 Aufsätze zum Thema umfasst (Shneiderman &
editieren, neue Rahmen und Verknüpfungen anlegen, Kearsley, 1989) und den Leserinnen und Lesern einen
die durch kleine grafische Symbole vor dem Text si- direkten Vergleich von Buch und Hypertext ermög-
gnalisiert werden. KMS benutzt eine Maus mit drei licht (Nielsen, 1995, 45ff). Unter grafischen Fenster-
Knöpfen, die neun verschiedene Funktionen gene- systemen entfaltet HyperTIES mehr grafische Fähig-
rieren können. keiten, so zum Beispiel im dort zitierten Beispiel der
Encyclopedia of Jewish Heritage (S. 157), das 3.000
HyperTIES
Artikel und 10.000 Bilder auf einer Bildplatte um-
Mit der Entwicklung von Ben Shneidermans Hy- fassen soll, sowie in der auf einer SUN erstellten An-
perTIES wurde bereits 1983 an HyperTIES der Uni- wendung zum Hubble Space Telescope (s. Shnei-
versity of Maryland begonnen. HyperTIES wurde ab derman, 1989, 120). Jedoch sind die Bilder nur als
1987 von Cognetics Corporation weiterentwickelt Hintergrund unterlegt und nicht mit integrierten Ver-
und vertrieben (Shneiderman et al., 1991). Hy- knüpfungen in die Hypertext-Umgebung eingelassen
perTIES erscheint unter DOS als Textsystem mit al- (Plaisant, 1991). In der SUN-Version hat man sich
phanumerischem Interface im typischen DOS-Zei- mit „tiled windows“ begnügt, weil man überlappende
chensatz. Die Artikel fungieren als Knoten und die Fenster für Neulinge als zu schwierig betrachtete. Hy-
5. Hypertext.
Geschichte,
Systeme,
Strukturmerkmale
und
Werkzeuge
—
5
perTIES folgt nach Aussage von Shneiderman der Intermedia
Metapher des Buchs oder der Enzyklopädie (S. 156), Intermedia (1985) von Andries van Dam und dem
von der sich der Name TIES („The Electronic Ency- Institute for Research in Intermedia Information and
clopedia System“) herleitet (Morariu & Shneiderman, Scholarship (IRIS) der Brown University ist bereits
1986). Einen Überblick über HyperTIES gibt Plaisant ein System, das im Alltag einer Universität und in
(1991). mehreren Fächern (Biologie, Englische Literatur) für
die kooperative Entwicklung von Unterrichtsmate-
Zum
VerDefen:
Das
Human
Computer
Lab
der
Uni-‐ rialien und zum Lernen am Bildschirm eingesetzt
! versity
of
Maryland,
der
Ursprung
von
HyperTIES,
bietet
historische
InformaDonen
zu
seinem
Produkt
wird. Yankelovich et al. (1985) schildern die Ent-
wicklung, die elektronische Dokumentensysteme an
an
(hFp://www.cs.umd.edu/hcil/hyperDes/).
der Brown University genommen haben. Nach dem
rein textorientierten System FRESS (1968; vgl.
Nielsen, 1995, 40) und dem Electronic Document
Obwohl das Autorentool bereits einige Aspekte System, das bereits Bilder und grafische Repräsenta-
der automatischen Konstruktion von Hypertext er- tionen der Knoten-Struktur darstellen sowie Animati-
leichterte, musste Shneiderman die Buchseiten noch onssequenzen spielen konnte, und BALSA (Brown
manuell setzen. Auch die Links im Text wurden Algorithm Simulator and Animator) wurde erst mit
einzeln gesetzt und mussten nach Editiervorgängen, Intermedia ein echter Durchbruch erzielt. Yan-
die den Text verkürzten oder verlängerten, manuell kelovich et al. (1988) beschreiben das System an-
versetzt werden. In modernen Hypertext-Systemen schaulich anhand von 12 Bildschirmabbildungen
haften die Links am Text und müssen beim Editieren einer Sitzung. Intermedia besteht aus fünf inte-
nicht mehr manuell gesetzt werden. grierten Editoren: InterText (ähnlich MacWrite), In-
terPix (zum Zeigen von Bitmaps), InterDraw (ähnlich
NoteCards
MacDraw), InterSpect (Darstellen und Rotieren drei-
Xerox PARC’s NoteCards (1985) ist ein unter In- dimensionaler Objekte) und InterVal (Editor für
terLisp geschriebenes Mehrfenster-Hypertext-System, chronologische Zeitleisten). Zusätzlich können direkt
das auf den mit hochauflösenden Bildschirmen aus- aus Intermedia heraus „Houghton-Mifflin’s American
gestatteten D-Maschinen von Xerox entwickelt Heritage Dictionary“ oder „Roget’s Thesaurus“ auf-
wurde. Die kommerzielle Version von NoteCards gerufen werden. Intermedia operiert mit variablen
wurde unter anderem auf Sun-Rechnern implemen- Fenstern als Basiseinheit. Alle Links sind bidirek-
tiert. Sie ist bereits weiter verbreitet als die vorge- tionale Verknüpfungen von zwei Ankern. Intermedia
nannten Systeme, Xerox jedoch hat NoteCards nie arbeitet mit globalen und lokalen Maps als Ausgangs-
vermarktet. NoteCards folgt, wie der Name sagt, der punkt für Browser, das WebView-Fenster stellt die
Kartenmetapher. Jeder einzelne Knoten ist eine Da- Dokumente und die Links durch mit Linien ver-
tenkarte, im Gegensatz zur ersten Version von Hy- bundene Mini-Icons dar (Conklin, 1987, 28ff; Kuhlen
perCard jedoch mit variablen Fenstern. Links be- 1991, 198ff; Gloor, 1990, 20ff, 59ff; Nielsen, 1995,
ziehen sich auf Karten, sind aber an beliebigen 51ff).
Stellen eingebettet, zusätzlich gibt es Browser, die wie
Standardkarten funktionieren, und Dateiboxen, spe-
zielle Karten, auf denen mehrere Karten zusammen- Abbildung
6:
Die
Anwendung
„Perseus“
realisiert
unter
gefasst werden können, die wie Menüs oder Listen Intermedia
oder Maps funktionieren (Halasz, 1988) Die
Browser-Karte stellt das Netz als grafischen Über-
blick dar (Conklin, 1987, 27ff; Gloor, 1990, 22ff;
Catlin & Smith, 1988; Woodhead, 1991, 189ff;
Nielsen, 1995, 47ff). Halasz (1988) hatte noch sieben
Wünsche an NoteCards: Suchen und Anfragen, zu-
sammengesetzte Strukturen, virtuelle Strukturen für
sich ändernde Informationen, Kalkulationen über
Hypermedia-Netze, Versionskontrolle, Unterstützung
kollaborativer Arbeit, Erweiterbarkeit und Anpass-
barkeit.
6. 6
—
Lehrbuch
für
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien
(L3T)
Intermedia Version 3.0 wurde anfangs kommer- immer wieder betont, obwohl Landow (1992a) sicher
ziell vertrieben. Aber diese Version lief nur unter Recht hat, wenn er HyperCard und Guide nur als
A/UX auf dem Macintosh (Woodhead, 1991, 181ff). „first approximations of hypertext“ bezeichnet, da
Da dieses System nicht sehr häufig eingesetzt wurde, die eigentlichen Merkmale von Hypertext wie die
fand Intermedia leider keine große Verbreitung Links in Form von durchsichtigen Schaltflächen (Be-
(Nielsen, 1995, 51). Erfolgreiche kommerzielle dienknöpfen) über den Text gelegt werden mussten.
Systeme sind aus diesen historischen Prototypen also 1989 realisierte David Jonassen in HyperCard eine
nicht geworden. Hypertext-Umgebung über das Thema Hypertext.
Zum
VerDefen:
Die
Geschichte
von
Intermedia
! zeichnet
die
„Electronic
Library“
(hFp://elab.eserve-‐
r.org/hfl0032.html).
4. Erfolgreich
verbreitete
Systeme
Guide
Erst Guide (1986) von OWL (Office Workstations
Limited) ist das erste kommerziell erfolgreiche Hy-
pertextsystem. Peter Brown hatte es bereits 1982 in
England an der University of Kent begonnen.
Nielsen meinte (1990, 42; 1995, 54ff), dass Guide den
Abbildung
7:
Hypertext
realisiert
unter
HyperCard.
Übergang von einem exotischen Forschungsprojekt
Quelle:
Beispiel
aus
Jonassen,
1989.
zu einer „Realen-Welt“-Anwendung markiere. Guide
wurde von OWL zunächst für den Macintosh, später
auch für PCs entwickelt. Es orientiert sich am 5. Das
World
Wide
Web
und
die
Browser
strengsten von allen Systemen am Dokument. Guide
stellt Textseiten zur Verfügung, auf denen Textstellen Viele Informationen und vor allem aktuelle Informa-
als Verknüpfungen mit unterschiedlicher Bedeutung tionen bezieht man heute aus dem Internet selbst,
markiert werden können. Über den Textstellen und dies mit Hilfe einer Software, die Hypertexte
nimmt der Cursor unterschiedliche Gestalt an und bzw. Texte, die mit HTML codiert wurden, lesen
teilt den Benutzer/innen so die Existenz von Ver- kann. Diese Software wird als Webbrowser oder
knüpfungen mit. Guide kennt drei Arten von Ver- kurz Browser bezeichnet. Bekannte Browser sind:
knüpfungen: Springen zu einer anderen Stelle im Mosaic oder Netscape Navigator, Internet Explorer,
selben oder in einem anderen Dokument, Öffnen Mozilla und Firefox, Safari, Opera und jüngst Google
eines Notizfensters oder -dialogs über dem aktuellen Chrome.
Text sowie Ersetzen von Text durch kürzeren oder
längeren Text (Auffalten, Einfalten). In Version 2
Browser
sind
SoIwareprogramme,
die
heute
in
der
wurde eine Skriptsprache für den Zugriff auf Bild-
plattenspieler eingebaut. ! Lage
sind,
den
HTML-‐Code
und
weitere
in
den
Text
in-‐
korporierte
Designelemente
(css,
cascading
styles-‐
HyperCard
heets),
Programme
(QuickTime,
Flash)
und
Skript-‐
sprachen
(zum
Beispiel
php)
zu
entziffern
und
in
1987 erschien Bill Atkinsons HyperCard. Schon lesbare
und
grafisch
gestaltete
Seiten
zu
übersetzen.
vorher gab es gespannte Erwartungen. Conklin
(1987) gab in seinem historischen Überblick über Hy- Timothy John Berners-Lee, der Ende der
pertext-Systeme sogar das Gerücht weiter: „As this 1980er Jahre im Kernforschungszentrum CERN in
article goes to press, there is news that Apple will der Schweiz arbeitete, schlug 1989 dem CERN ein
soon have its own hypertext system, called Hyper- Projekt vor, das Computer verschiedener Netzwerke
Cards“ (S. 32). Man darf wohl mit Recht behaupten, miteinander verbinden und kommunizieren lassen
dass keine andere Software, schon gar keine andere sollte. Das Konzept für das Metanetzwerk nutzte die
Programmierumgebung, einen derart bedeutsamen Kommunikationsschnittstellen des Internet, zum Bei-
Einfluss auf den Einsatz von Computern gehabt hat spiel HTTP als Protokoll und URL als eindeutige
wie HyperCard. In der Literatur speziell zu Hypertext Adresse, und fußte auf der Idee von Hypertext, um
wird die historische Bedeutung von HyperCard Links zwischen mehreren Rechnern und Seiten her-
7. Hypertext.
Geschichte,
Systeme,
Strukturmerkmale
und
Werkzeuge
—
7
stellen zu können. Berners-Lee entwickelte dafür die schaften des Systems zu betonen. Möglicherweise ist
Auszeichnungssprache HTML und schuf dafür den der Standpunkt Nielsens (1995b) vernünftig, der alle
ersten Browser, den er „WorldWideWeb“ nannte und diese Systeme wegen ihres Konstruktionsprinzips als
der später dem gesamten Webserver-Netz innerhalb Hypertext bezeichnet, weil es keinen Sinn mache,
des Internets den Namen geben sollte. Damit begann einen speziellen Begriff für Nur-Text-Systeme übrig
ab etwa 1993 der Ursprung des World Wide Web zu behalten (S. 5).
(WWW). Hypertext ist zuerst Text, ein Textobjekt, und nichts
1993 entwickelte Marc Andreessen den Browser anderes. Hypertext entsteht aus Text, indem dem
Mosaic am National Center for Supercomputing Ap- Text eine Struktur aus Ankern und Verknüpfungen
plications. 1994 gründete Andreessen die Firma übergelegt wird. Nun kann man diskutieren, ob be-
Netscape die den rasch erfolgreichen Browser reits das Verhältnis der Textmodule ein nicht-lineares
Netscape Navigator entwickelte. ist oder ob Nicht-Linearität erst durch die Verknüp-
Seither wurden mehrere Browser entwickelt, und fungen konstituiert wird. Auf jeden Fall trifft die Ein-
seitdem haben es alle anderen Applikationen leicht, schätzung von Nielsen (1995) zu , dass Hypertext ein
weil sie sich dieser Grundlagen des Internets und des echtes Computer-Phänomen ist, weil er nur auf
WWW bedienen können und den Browser als einem Computer realisiert werden kann, während die
Zugang zu ihren Leistungen nutzen können. Auf meisten anderen Computer-Anwendungen ebenso
derartigem Fundament bauen die Wikis auf, aber gut manuell erledigt werden können (S. 16). Landow
auch die Weblogs und sogar die Lernplattformen. (1992b) erwähnt literarische Werke, die auf Papier
ähnliche Strukturen verwirklicht haben. Ein Hy-
6. Strukturmerkmale
von
Hypertext
pertext-System besteht aus Blöcken von Textob-
Zum Hypertext-Konzept gibt es ausreichend Lite- jekten; diese Textblöcke stellen Knoten in einem
ratur (Kuhlen, 1991; Nielsen, 1995; Schulmeister, Gewebe oder Netz dar; durch rechnergesteuerte, pro-
1995), und zu allen damit im Zusammenhang ste- grammierte Verknüpfungen, den Links, wird die Na-
henden Begriffen finden sich in Wikipedia Stich- vigation von Knoten zu Knoten gemanagt, das soge-
worte, die einen Artikel wie diesen eigentlich über- nannte „Browsing“. Landow weist auf analoge Vor-
flüssig machen könnten. Die Funktion dieses Textes s t e l l u n g e n d e r französischen Strukturalisten
besteht daher mehr oder minder in der Zusammen- Roland Barthes, Michel Foucault und Jacques Derrida
stellung der historischen Fakten und der Diskussion hin, die sich sogar in ihrer Terminologie ähnlicher
der Strukturmerkmale. Begriffe (Knoten, Verknüpfung, Netz) bedienten, wie
Schoop und Glowalla (1992) unterscheiden struk- sie in der heutigen Hypertext-Technologie benutzt
turelle (nodes, links), operationale (browsing), me- werden (S. 1ff). Für die Konstitution des Netzes ist
diale (Hypermedia) und visuelle Aspekte (Ikonizität, die Größe der als Knoten gesetzten Textblöcke, die
Effekte). Nicht-linearer Hypertext wird auch als „Granularität“ oder „Korngröße“ der Informations-
nicht-linearer Text (Kuhlen, 1991) oder nicht-sequen- einheiten entscheidend. Am Beispiel einer KIOSK-
tieller Text (Nielsen, 1995, 1) bezeichnet. Das Lesen Anwendung, die lediglich dem Abspielen von Film-
eines Hypertexts ähnelt dem Wechsel zwischen Clips von einer Bildplatte dient, erläutert Nielsen,
Buchtext, Fußnoten und Glossar: „Therefore hy- dass für ihn eine KIOSK-Anwendung kein Hypertext
pertext is sometimes called the 'generalized ist, weil der Benutzer mit dem Video nicht intera-
footnote'“(S. 2). gieren kann, sobald es läuft. In dem Fall sei die Gra-
nularität zu groß und gebe den Benutzern nicht das
Gefühl, die Kontrolle über den Informationsraum zu
Hypertext-‐Systeme
bestehen
aus
Texten,
deren
ein-‐ besitzen (S. 14).
! zelne
Elemente
(Begriffe,
Aussagen,
Sätze)
mit
an-‐
deren
Texten
verknüpI
sind.
Für das Netz des Hypertexts hat Landow (1992b)
die Begriffe Intertextualität und Intratextualität ge-
prägt (38). Der Begriff Intertextualität (s.a. Lemke,
Die Bezeichnung Hypertext spiegelt die histo- 1992) hat nun wiederum Sager (1995) zur Schöpfung
rische Entstehung, es war zunächst tatsächlich an des Begriffs der Semiosphäre angeregt: „Die Semio-
reine Textsysteme gedacht. Heute können Texte aber sphäre ist ein weltumspannendes Konglomerat be-
auch mit Daten in einer Datenbank, mit Bildern, stehend aus Texten, Zeichensystemen und Symbol-
Filmen, Ton und Musik verbunden werden. Deshalb komplexen, die, auch wenn sie weitgehend in sich ab-
sprechen viele Autoren inzwischen von Hypermedia geschlossen sind, in ihrer Gesamtheit doch um-
statt von Hypertext, um die Multimedia-Eigen- fassend systemhaft miteinander vernetzt und damit
8. 8
—
Lehrbuch
für
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien
(L3T)
kohärent, nichtlinear und sowohl denk- wie hand- informationeller Einheiten hilft das 'chunk'-Konzept
lungsorientierend sind“ (S. 217). Sager berichtet über auch nicht entscheidend weiter“ (S. 87). Kuhlen ver-
multimediale Hypertexte auf kunstgeschichtlichem weist auf Horn, der das Chunk-Konzept am konse-
Gebiet, die über das Netz mit Videokameras in weit quentesten umgesetzt habe und vier Prinzipien für
entfernten Museen verbunden sind. Die Hypertext- die Unterteilung von Info-Blöcken unterscheide:
Benutzer/innen können von ihrem Platz aus die Ka- „chunking principle, relevance principle, consistency
meras fernsteuern (geplant im Europäischen Muse- principle“ und „labeling principle“. „Aus dieser
umsnetz). Sager erwähnt auch das Projekt „Piazza knappen Diskussion kognitiver Einheiten und deren
Virtuale“ auf der Documenta 9, in dem per Live- kohäsiven Geschlossenheit läßt sich die Einsicht ab-
Schaltung Fernsehzuschauer/innen Annotationen in leiten, daß weder Umfang noch Inhalt einer informa-
einen Hypertext einbringen können. Auf diese Weise tionellen Einheit zwingend festgelegt werden kann“
entstehen weltumspannende Räume, die über die An- (S. 88). Eine zu große Einteilung der Texteinheiten
wendung hinausweisen und je nach Interesse der Be- kann das Hypertext-Prinzip Granularität konterka-
nutzer andere Inhalte inkorporieren können (S. 224). rieren, d.h. der Benutzerin oder dem Benutzer wird
Je nach Art der Knoten und Verknüpfungen kann der dann gar nicht mehr deutlich, dass sie einen Hy-
Zugriff auf Informationen in einem Hypertext frei pertext vor sich hat. Lowyck und Elen (1992)
oder beschränkt sein (Lowyck & Elen, 1992, 139). In schildern diese Form drastisch so: „When larger
einer offenen Umgebung treffen die Benutzer/innen pieces of information are given the hypermedia envi-
alle Entscheidungen über den Zugang und die Navi- ronment is used as an integrated pageturner and
gation, in einer geschlossenen Umgebung werden audio- or videoplayer. When hypermedia would be
diese Entscheidungen vorab vom Designer getroffen. used instructionally a highly branched version of pro-
In jedem Fall können sich zwischen den Vorstel- grammed instruction is offered. This kind of in-
lungen der Benutzer/innen und denen des Designers struction does not stem from a cognitive but from a
Spannungen ergeben. Aus der Konzeption der Text- behavioristic background“ (S. 142). Die Aufsplit-
blöcke, ihrer Intertextualität, können semiotische terung in zu kleine Informationseinheiten kann ihrer-
Muster resultieren (Lemke, 1992), die als Kunst- seits zu einer Atomisierung der Information führen,
formen genutzt werden könnten. Die Diskussion was sich möglicherweise auf die kognitive Rezeption
über semiotische oder narrative Strukturen von Hy- durch die Benutzer/innen auswirkt: Sie können keine
pertexten ist aber erst ganz am Anfang. Thiel (1995) Zusammenhänge mehr entdecken, sie können nicht
unterscheidet eine monologische Organisationsform „verstehen“.
für Hypertexte von einer dialogischen Form (S. 45), Die verschiedenen Hypertext-Systeme fördern die
die eine Art Konversationsmodus für den interak- eine oder die andere Seite dieses Problems, sofern sie
tiven Dialog des Benutzers mit dem Hypertext eta- auf dem Datenbank-Konzept oder dem Karten-
blieren könne, konzipiert durch Sprechakte oder Dia- prinzip beruhen (kleine Einheiten) oder die Organi-
logskripte. sation in Dokumenten präferieren (größere Ein-
heiten). Nicht immer ist die Basiseinheit der Knoten,
Suchen
und
lesen
Sie
eine
Hypertext-‐Erzählung
im
In-‐ es kann auch Knoten kleinerer Größe innerhalb von
? ternet
und
diskuDeren
Sie,
ob
Hypertext
für
poeDsche
GaFungen
geeignet
ist.
Zum
Beispiel
hier:
Rahmen oder Fenstern geben, zum Beispiel ein Wort,
ein Satz, ein Absatz, ein Bild. Diese Differenzierung
▸ hFp://www.netzliteratur.net/netzliteratur_theo-‐ verweist auf eines der Grundprobleme von Hy-
rie.php
▸ hFp://www.eastgate.com/
pertext, das in der Hypertext-Terminologie als
Problem der Granularität bezeichnet wird. Dass die
Das
Buchprojekt
„Null“
welches
auch
gedruckt
wurde:
▸ hFp://www.literaturkriDk.de/public/rezensi-‐
Granularität nicht leicht zu entscheiden ist (nach dem
on.php?rez_id=3806 Motto „je kleiner desto besser“) zeigt eine Untersu-
chung von Kreitzberg und Shneiderman (1988). Sie
vergleichen in einem Lernexperiment zwei Hy-
Bei der Segmentierung von Texten in Textblöcke pertext-Versionen, von denen die eine viele kleine,
stellt sich die Frage, ob es eine „natürliche“ Ein- die andere wenige große Knoten aufweist. Zwar
teilung der Textblöcke in Informationseinheiten gibt. kommen die Autoren in ihrer Untersuchung zu der
Dabei ist die Idee aufgetaucht, ob es gelingen könnte, Folgerung, dass die Version mit den kleineren
Form und Größe der Textblöcke als kognitive Ein- Knoten bessere Resultate zeitigt (gemessen durch
heiten, sog. „Chunks of Knowledge“ zu definieren richtige Antworten auf Fragen zum Text in Multiple-
(Kuhlen, 1991, 80ff): „Zur intensionalen Definition Choice-Tests), doch Nielsen (1995) macht plausibel,
9. Hypertext.
Geschichte,
Systeme,
Strukturmerkmale
und
Werkzeuge
—
9
dass dieses Ergebnis wahrscheinlich von einer spezi- Kuhlen (1991) unterscheidet die Navigationsmittel in
ellen Eigenschaft von HyperTIES abhängig ist, die konventionelle Metainformationen und hypertextspe-
nicht für andere Hypertext-Systeme gilt, denn Hy- zifische Orientierungs- und Navigationsmittel:
perties ist eines der Hypertextsysteme, die zum ▸ konventionelle Metainformationen sind nicht-li-
Anfang eines Artikels verlinken und nicht zu der neare Orientierungs- und Navigationsmittel, In-
Stelle innerhalb des Artikels, an der sich die Infor- haltsverzeichnisse, Register und Glossare (134ff);
mation befindet, auf die der Ausgangsknoten ver- ▸ hypertextspezifische Orientierungs- und Navigati-
weisen soll. Aufgrund dieser Eigenschaft ist Hy- onsmittel sind grafische Übersichten („Browser“),
perties besonders leicht handhabbar, wenn der Text vernetzte Ansichten („web views“), autorendefi-
aus kleinen Knoten mit genau einem Thema besteht, nierte Übersichtsmittel, Pfade („paths/trails“), ge-
so dass klar ist, worauf der Link verweist (S. 137ff.). führte Unterweisungen („guided tours“), „Back-
Einer Zersplitterung kann durch intensive Kon- track“-Funktionen, Dialoghistorien, retrospektive
textualisierung der Chunks entgegengewirkt werden. grafische (individuelle) Übersichten, leserdefinierte
Dieser Weg wird bei Kuhlen (1991) an Beispielen aus Fixpunkte („book marks“), autorendefinierte Weg-
Intermedia diskutiert (S. 200). Die Kontextuali- weiser („thumb tabs“), Markierung gelesener Be-
sierung, die der Zersplitterung vorbeugen soll, muss reiche („breadcrumbs“) (S. 144ff).
nicht nur wie in den Intermedia-Beispielen aus
reichen Kontexten innerhalb des Systems bestehen, Zu den die Navigation unterstützenden Methoden
sondern kann auch durch den gesamten pädagogi- zählen neben den von Kuhlen recht vollständig auf-
schen Kontext sichergestellt werden wie in den kon- geführten Mitteln noch kognitive Karten (Bieber &
struktivistischen Experimenten zum kooperativen Wan, 1994); Edwards & Hardman, 1993, 91) und spe-
Lernen in sozialen Situationen (Brown & Palincsar, zielle Mittel zur Verwaltung fest verdrahteter oder be-
1989; Campione et al., 1992). nutzereigener Pfade (s.a. Gay & Mazur, 1991; s.
Canter et al. (1985) unterscheiden fünf Navigati- Gloor, 1990) Bieber und Wan (1994) schlagen
onsmethoden: Scannen, Browsen, Suchen, Explo- mehrere Formen des Backtracking vor, insbesondere
rieren, Wandern. McAleese (1993) unterscheidet die differenzieren sie die Rückverfolgung danach, ob die
Navigationsmethoden analog dem aus der Lernfor- Navigation durch einen Fensterwechsel oder durch
schung bekannten Konzept des entdeckenden Anklicken eines Textankers durchgeführt wurde (zur
Lernens oder problemorientierten Lernens. Kuhlen Funktion des Backtracking Nielsen, 1995, 249ff;
(1991) unterscheidet, eher in Anlehnung an die struk- Kuhlen, 1991, 156ff).
turellen Eigenschaften von Hypertexten, folgende
Formen des Browsing (128ff): Rand
Spiro
hat
eine
neue
Homepage
mit
seinen
Auf-‐
▸ gerichtetes Browsing mit „Mitnahmeeffekt“,
▸ gerichtetes Browsing mit „Serendipity“-Effekt,
? sätzen
zur
sog.
CogniDve
Flexibility
Theory
einge-‐
richtet
(hFp://postgutenberg.typepad.com/newgu-‐
▸ ungerichtetes Browsing und tenbergrevoluDon/).
Suchen
Sie
sich
dort
einen
Text
aus
(zum
Beispiel
Spiro
&
Jehng),
der
die
„Theorie
der
▸ assoziatives Browsing. kogniDven
Flexibilität“
erklärt
und
diskuDeren
Sie,
warum
Spiro
und
seine
Mitautoren
die
These
auf-‐
Die Klassifikation von Navigationsmethoden in Hy- stellen,
Hypertext
würde
sich
besonders
für
schlecht-‐
pertexten ist abhängig von der jeweiligen Interpreta- strukturierte
Wissensgebiete
eignen.
Begründen
Sie,
tionsraster der Autorinnen und Autoren. Das Au- warum
Spiro
meint,
das
Lernen
mit
Hypertexten
sollte
genmerk kann dabei auf der Hypertext-Struktur, den fortgeschriFenen
Lernern
vorbehalten
bleiben
und
angestrebten Lernmethoden oder auf Prozessen der eigne
sich
nicht
für
Anfänger.
Oder
widerlegen
Sie
Arbeit liegen, die mit dem Hypertext-Werkzeug er- diese
Ansicht.
ledigt werden sollen. Zwei Fragen ergeben sich Weiters
diskuDeren
Sie,
ob
es
sich
bei
der
CogniDve
daraus: Flexibility
Theory
um
eine
Theorie
handelt.
▸ Wie wirken sich die unterschiedlichen Navigati- 7. Werkzeuge
onskonzepte auf die Gestaltung von Hypertext
aus? Man sollte die Navigation in Hypertext-Umgebungen
▸ Wie wirken sich die unterschiedlichen Navigati- nicht nur unter dem Aspekt ihrer Orientierungs- und
onsmethoden auf die Lernenden aus? Interaktionsfunktion, sondern auch als aktive Form
des Lernens und Arbeitens betrachten. Diese Per-
spektive auf die Strukturelemente von Hypertext ist
aus der Sicht des Benutzers oder Lesers möglicher-
10. 10
—
Lehrbuch
für
Lernen
und
Lehren
mit
Technologien
(L3T)
weise die wichtigere: Für dies Designer/innen stehen Es gibt bis heute keine Konventionen für die Dar-
Nodes und Links im Vordergrund, für die Leser/in- stellung von Knoten und Verknüpfungen im Text.
nen aber benutzereigene Pfade, Notizen, Annota- Einige Programme drucken sensible Textstellen fett,
tionen. Diese Objekte der Struktur bieten ihnen eine so dass man „fett“ als Stil ansonsten im Text nicht
Chance für aktives Arbeiten und Produzieren mit Hy- mehr verwenden kann. Andere Programme wählen
pertext. Unterstreichungen. Einige Programme umrahmen
Als Mittel, die aktives Lernen und Arbeiten in Texte beim Anklicken, wieder andere invertieren aus-
Hypertext unterstützen, gelten Notizbücher, In- gewählten Text.
strumente zum Anlegen von eigenen Links und Es ist auffällig, dass Hypertext-Systeme sich mit
Pfaden und für die Konstruktion von eigenen kogni- Ikonen und Metaphern umgeben, die mehr oder
tiven Karten, integrierte Spreadsheets und der direkte minder konsistent kleine bildliche „Welten“ konstitu-
Zugriff auf Datenbanken (zu Annotationen für In- ieren. Für Hypertext-Umgebungen werden in der
termedia s. Catlin et al., 1989). Neuwirth et al. (1995) Regel dem jeweiligen Thema adäquate Metaphern ge-
haben die Möglichkeit für Annotationen in ihren wählt: Das Buch, das Lexikon, die chronologische
PREP-Editor eingebaut. Etwas Ähnliches wie Anno- Zeitleiste, die Biographie, der Ort, das Abenteuer, die
tationen sind Pop-Up-Felder oder Pop-Up-Fenster Maschine usw. Die Regeln der Benutzung durch den
mit nur-lesbaren Informationen, die nur solange ge- Lernenden, die Navigation, richten sich dann nach
öffnet bleiben, wie die Maustaste gedrückt gehalten der jeweiligen Metapher: „Blättern“ im Buch,
wird (Nielsen, 1995, 142ff). Annotationen, die Be- „Wandern“ durch eine Landschaft.
nutzer/innen selbst hinzufügen können, also Fenster An Vorschlägen zur Weiterentwicklung von Hy-
für Notizen, können den aktiven Verarbeitungs- pertext zu Hybrid-Systemen mangelt es nicht. Sie
prozess der Leser/innen unterstützen. Eine Alter- zielen auf die Mathematisierung der Navigation, die
native zu Annotationen sind Randnotizen oder Mar- Bildung semantischer Netze (Schnupp, 1992, 189),
ginalien, die dem eigentlichen Textkorpus nichts hin- die tutorielle Begleitung durch Expertensysteme, die
zufügen, wohl aber den Benutzerinnen und Be- Integration wissensbasierter Generierungstechniken
nutzern zur Verfügung stehen. Das MUCH-Pro- (S. 192) und den Zugriff auf relationale Daten-
gramm („Many Using and Creating Hypertext“) der banken. So schlagen Klar et al. (1992) computerlin-
Universität Liverpool (Rada et al., 1993) bietet den guistische Textanalysen in Hypertext-Systemen vor;
Lernenden sogar ein Instrument für die Anlage ei- Ruge und Schwarz (1990) suchen nach linguistisch-
gener Thesauri. Für die Verknüpfung der Einträge semantischen Methoden zur Relationierung von Be-
stehen den Studierenden Link-Typen wie „usedfor“, griffen; Irler (1992) befasst sich mit dem Einsatz von
„narrower-than“ und „related“ zur Verfügung. Bayesian Belief Nets zur Satzgenerierung bis hin zur
Die Strukturelemente eines Hypertexts nehmen automatischen „Generierung von Hypertextteilen auf
visuelle Qualitäten an, um sich vom Kontext der Basis einer formalen Darstellung“ (S. 115).
deutlich zu unterscheiden und die Aufmerksamkeit
des Lesers erringen zu können, indem sie die Das
World
Wide
Web
mit
seiner
Hypertext-‐Struktur
Struktur, zum Beispiel Verbindungen und Knoten,
dem Leser transparent machen. Dabei sind visuelle
? hat
in
wenigen
Jahren
eine
enorme
Entwicklung
hinter
sich
gebracht
und
großen
Erfolg
bei
Nutzern
er-‐
Elemente der Benutzeroberfläche mit operationaler zielt.
Überlegen
Sie,
welche
pädagogisch-‐didakDschen
Funktion (Navigation) von funktionalen Bedienungs- Faktoren
möglicherweise
dafür
ausschlaggebend
ge-‐
wesen
sind.
aspekten zu unterscheiden. Kahn et al. (1995) er-
heben am Beispiel einer Analyse von Intermedia und
StorySpace derartige visuelle Signale zu den „drei Klar (1992), der Hypertext durch Experten-
fundamentalen Elementen der visuellen Rhetorik“ systeme ergänzen will, folgert, dass „die formalen
von Hypertexten: „These three fundamental elements Wissensdarstellungen in Expertensystemen und die
are: informalen Präsentationen in Hypertexten sich
▸ link presence (which must include link extent), sinnvoll ergänzen können“ (S. 44). Kibby und Mayes
▸ link destination (which must include multiple des- (1993) wollen ihr Programm StrathTutor durch Simu-
tinations), lation des menschlichen Gedächtnisses mit Attribut-
▸ link mapping (which must display link and node und Mustervergleichen anreichern und kommen zu
relationships)“ (S. 167). dem Schluss, dass dafür Parallelrechnersysteme ange-
messener wären. Ob es sinnvoll ist, derartige Wege
der Komplexitätserhöhung zu beschreiten, lässt sich
11. Hypertext.
Geschichte,
Systeme,
Strukturmerkmale
und
Werkzeuge
—
11
zu einem Zeitpunkt kaum entscheiden, in dem bisher ▸ Ambron, S. & Hooper, K. (1998). Interactive Multimedia: Vi-
nur wenige umfangreiche und inhaltlich sinnvolle Hy- sions of Multimedia for Developers, Educators and Infor-
pertext-Anwendungen überhaupt bekannt sind. mation Providers, Redmond: Microsoft Press.
▸ Berk, H. (1991). Xanadu. In: E. Berk & J. Devlin (Hrsg.), Hy-
8. Zur
weiteren
Entwicklung
von
Hypertext
pertext/Hypermedia Handbook, New York: McGraw-Hill,
Zur Zeit der Entstehung des World Wide Web im In- 524-528.
ternet schien das Netz ein Lesemedium zu sein, in ▸ Berners-Lee, T. & Fischetti, M. (1999). Weaving the Web: The
dem nur wenige Protagonisten Inhalte produzieren Original Design and Ultimate Destiny of the World Wide Web
würden. Es gab die Befürchtung, dass alle vor 1988 by Its Inventor. Harper Collins. deutsch: Der Web-Report: der
gedruckten Texte in Vergessenheit geraten würden. Schöpfer des World Wide Webs über das grenzenlose Potential
Inzwischen ist durch die Digitalisierung älterer des Internets. München, Econ (1999).
Schriften, vor allem dank der Initiative von Google, ▸ Bieber, M. & Wan, J. (1994). Backtracking in a Multiple-
ein großer Teil älterer Publikationen digitalisiert Window Hypertext Environment. In: Proceedings of the
worden. ECHT’94 European Conference on Hypermedia Technology,
„Die Wüste Internet“, lautete der deutsche Titel Edinburgh: 158-166.
des Buches von Clifford Stoll (1996; orig. „Silicon ▸ Brown, A.L. & Palingscsar, A.S. (1989). Guided, Cooperative
Snake Oil“ 1995). Noch 1997 konnte Hartmut Learning and Individual Knowledge Acquisition. In: L.B.
Winkler im Internet nur „ein Medium der Texte und Resnick (Hrsg.), Knowing, Learning, and Instruction. Essays in
Schrift“ entdecken und musste folglich den „Hype Honor of Robert Glaser, Hillsdale: Lawrence Erlbaum Ass,
um digitale Bilder und Multimedia“ als „Übergangs- 393-452.
phänomen“ verkennen. Inzwischen ist das Internet ▸ Bush, V. (1945). As We May Think. In: Atlantic Monthly July
ein effizienter Träger für Bilder und Animationen, für 1945, 101-108. URL:
Musik, Audio, Video und Film. Die Konvergenz der http://www.w3.org/History/1945/vbush/vbush-all.shtml
Medien ist keine bloße „historische Kompromiß- [2010-11-13]
bildung“ (ebd.) mehr. Im Digitalen entsteht eine neue ▸ Campagnoni, F.R. & Ehrlich, K. (1989). Information Retrieval
interaktive Gestalt aus der Synthese aller Medien. Using a Hypertext-based Help System. In: ACM Transactions
on Information Systems, 3, 7, 271-291.
Denken
Sie
sich
ein
Lernexperiment
mit
einem
wis-‐ ▸ Canter, D.; Rivers, R. & Storrs, G. (1985). Characterizing User
? senschaIlichem
Inhalt
oder
Gegenstand
aus,
der
in
Hypertext-‐Form
verfasst
ist.
Überlegen
Sie,
ob
und
Navigation Through Complex Data Structures. In: Behaviour
and Information Technology, 2, 4, 93-102.
wie
Sie
den
Lerneffekt
des
Experiments
nachweisen ▸ Catlin, T.J.O. & SMITH, K.E. (1998). Anchors for Shifting
könnten. Tides: Designing a ‘seaworthy’ Hypermedia System. In: Procee-
dings of the Online Information ’88 Conference London, 15-
Es gibt zwar enorm leistungsfähige Suchma- 25.
schinen, doch Ordnung und Transparenz werden ▸ Conklin, J. (1987). Hypertext: An Introduction and Survey. In:
durch die Masse der Angebote und den Wildwuchs IEEE Computer, Sept. 20, 17-41.
der Standards zugeschüttet, Ontologien, Metadaten ▸ Edwars, D.M. & Hardman, L. (1989). Lost in Hyperspace: Co-
und Taxonomien hinken weit hinter den seit Jahrhun- gnitive Mapping and Navigation in a Hypertext Environment.
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Das Internet versteht uns nicht, es ist nicht seman- Oxford: Intellect Books, 105-125.
tisch, d.h. es kann nicht die Bedeutung von Aussagen ▸ Engelbart, D. (1988). The Augmented Knowledge Workshop.
und Sätzen verstehen. Dennoch ist es unverzichtbar In: A. Goldberg (Hrsg.), A History of Personal Workstations,
geworden. Wir warten auf die nächste Entwicklungs- Reading MA: Addison-Wesley, 187-236.
stufe, die Tim Berners-Lee und eine Arbeitsgruppe ▸ Gay, G. & Mazur, F.E. (1991). Combining and Recombining
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12. 12
—
Lehrbuch
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