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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Max Art versank in einem
massiven ledernen Sessel und
schlief halbwegs ein.

Die Bar brachte Gestalten hervor,
die eine ungewöhnlich entspannte
Stimmung genossen, an der sie
mitwirkten. Vor allem jene der
Weisheit geweihten Studis
kultivierten hier ihre arglose
Ahnung von einer besseren
Lebenswelt. Vereinzelt posierten
die einsamen Wölfe einer
historischen Jugendbewegung, die
sich vor Jahren dem freien Subjekt
verpflichtete. Sie oszillierten
herum, getragen von der
magischen Beschallung eines
nostalgischen DJs.

Ermüdet von der Rauchluft und
eingezogen von der schmuddeligen
Wärme des betagten Leders genoss

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Max das Schweben im
enthemmten Delirium eines
ehemaligen Bordells. Vor seinem
Gesicht zappelten taktbewusst die
jungweiblichen Beine in ihren
winterlichen Hüllen. Sie scheuten
Max, weil sie seine Nähe nicht
kannten. Also blieb um ihn ein
Hauch Distanz herum, ganz
erfrischend angesichts der
kritischen Dichte des Ladens.

Max wurde wach, schaute in die
Tiefe des eng bemannten Gangs,
wo hinter dem schwingenden
Gedränge der exzentrische
Türsteher waltete, und verspürte
eine lüsterne Brise fremder
Aufmerksamkeit. Die flüchtige
Erscheinung verschwand in der
Menge, und bevor Max flatterig
wurde, tauchte sie wieder auf: Es
war eine junge Frau, die im

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Gegensatz zu anderen hier
erstaunlich anwesend wirkte. Sie
erwiderte Max’s wachsamen Blick
mit einem holden Lächeln.

Bald hockte sie frech zwischen
ihm und einem knutschenden
Pärchen.

„Wie alt bist du?“ – fragte sie,
kindisch ohne zu zögern, solange
ihr Blick seine Stirn durchbohrte,
was sich beinahe physisch wie das
Gebläse eines kalten Föns
anfühlte. Alles verfremdete sich
wie nach einer Portion guten
Absinth: „Neun und dreißig“,
antwortete Max leise, was ihn
plötzlich selbst wunderte, denn bei
fremden Frauen war er sonst
immer nervös. Neununddreißig
Jahre alt war er wirklich, doch zum
ersten Mal seit mindestens acht

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Jahren sprach er ehrlich über sein
Passalter, denn er stand auf jene
Frauen, die ältere Männer nicht
attraktiv fanden. Dieser Umstand
bereitete Max mittlerweile Sorgen,
denn mit den Chancen bei
knackigen Mädels schwand
langsam seine eigene Vitalität.
Sein Körpergefühl löste sich wie in
einem Anatomie-Atlas in
einzelnen Organen auf, die sich
mit nörgeligen
Befindlichkeitsstörungen
meldeten.

Das Mädchen sah richtig jung aus,
so um die 19 herum, trotzdem
wirkte sie auf Max sonderbar
vertraut, als wäre sie seine eigene
Großmutter.
„Echt bizarr!“ - sagte er immer
noch leicht abwesend, und starrte
sie an.

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

„Keine Bange, du kennst mich
nicht“ - sie erwiderte seinen
fragenden Blick lächelnd: „Und
ich kenne dich anders als du dich
zu kennen glaubst.“

Sie schwieg plötzlich, als ob sie
innerlich eine Nachricht
empfangen hätte.
Sie wirkte für eine Weile
abwesend und setzte ihre Anmache
schließlich fort:
„Für mich bist du die wahre
Immanenz einer Gabe, die sich
über Jahrtausende nur wenige
Male in einem männlichen Wesen
verkörpert…“
Max stierte sie wortlos an, ohne
das Gehörte einordnen zu können.
Daraufhin definierte sie mit ihrer
sympathischen, aber allzu klar –
für diese Tageszeit in einer
verrauchten Kneipe – wirkenden

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Stimme: „Du gehörst zu
Menschen, die sich in allen Welten
der Wirkung orientieren.“

Max wunderte sich nicht über
dieses esoterisch anmutenden
Gelaber einer vermeintlichen
Fantasy-Tussi, sondern darüber,
dass er dieser überaus
merkwürdigen Verkörperung einer
fremdartigen Weiblichkeit von
Anfang an tatsächlich glaubte. Er
dachte noch kurz darüber nach,
wie oft er sich ständig und überall
verwirrte, und sich auch sonst
meistens desorientiert fühlte. Nach
einer Weile gemeinsamen
Schweigens kapierte er plötzlich,
dass sie etwas ganz anderes meinte
und dass sie ihn auf gar keinen Fall
verarschen wollte.



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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

„Wie heißt du eigentlich?“ – fragte
das Mädchen frech.
„Ich? Äh… Graf Óran“ – komisch,
dass ihm ausgerechnet der
Fantasiename seiner Kindheit
einfiel, nur blieb seine Miene
ernst.
„Schöner Name, klingt irgendwie
animalisch: Orán… Ghután,“ – sie
lächelte knabenhaft, – „bestimmt
so’n Künstlername?“
„Ja, kann man so deuten…
ansonsten heiße ich Max Art,
klingt aber auch irgendwie
künstlerisch, sagt man. Wie heißt
du denn?“
„Ich bin Tangakanta. Bedeutet so
etwas wie Die Walterin des
Fremden Willens. Kein
Künstlername, kein Witz, aber du
kannst mich Tanga nennen, genau
wie diese komische Wäsche vor
deiner glücklichen Nase…“

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Max fixierte das zappelnde
Dreieck unmittelbar vor seinem
Gesicht, das einen seidenen Strahl
in die Tiefe der wohlgeformten
Jeanshülle abgab.

„Yeah! Yeah!“ – schrie es im
Hintergrund, wo eine tanzende
Gruppe tobte.

Tangakanta sprach gutes
Hochdeutsch. Sie zelebrierte so
deutlich die einzelnen Silben, wie
es einige Schwule so gerne aus
einer ganz besonderen Lust an
Verkörperung ihrer Präsenz durch
Sprache tun. Seltener
versprachlichen so auch Frauen
ihre Körperlichkeit, wenn sie von
purer Lust angetrieben wird.
„Aus einem indianischen Reservat
kommt sie wohl kaum“, dachte
Max: „Gehört sie doch zu einer

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Fantasy-Gemeinde oder zu der
neuen Manga-Szene?
Unwahrscheinlich, aber möglich…
Verrückt wirkt sie auf keinen Fall,
denn sie hat Humor.“ Gesunder
Humor war sein letztes Kriterium,
um die halbwegs Integren unter
seinen mittlerweile zunehmend
paranoiden Zeitgenossen zu
unterscheiden. Nicht wunderlich in
einer Zeit, in die Leitmedien eine
Wirklichkeit suggerierten, die
„keiner mehr glaubwürdig
durchblicke“, damit es auch keiner
unter den lebenden
Aufmerksamkeitsträgern ernsthaft
versuchte. Wer es doch wagte,
riskierte seine Glaubwürdigkeit.
Ganz geschickt, wenn man
annahm, dass irgendeine konfuse
Oligarchie ihr Nutzen daraus
erhoffte.


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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Plötzlich schrie ihn Tangakanta an,
wobei ihre kindische Miene nicht
mal ernst wurde: „Lieber Graf
Oran Ghutan Max Art! Du denkst
zuviel. Aber ich respektiere dein
Problem. Denn wenn dein
wirklicher Name, den du nie
gehört hast, soviel bedeutet wie
Der Glückliche mit der Heerschar,
wo du deine reizende Truppe, die
ich hier edelmütig vertreten muss,
nicht mal kennst, leuchtet mir ein
altes Sprichwort ein: „Die
Wahrheit macht frei, aber arm.“

„Wow! Das nennt man
Informationsdichte!“ – Max atmete
aus. Das musste man erstmal
verdauen. Tja, keine Chance
irgendwie, nicht wirklich. Zuviel
Input, zuwenig Background. Was
für ein Heer? Was für ein Name?
Was für Zusammenhänge? Nicht

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

mal das angeblich alte Sprichwort
war Max vertraut. „Weißt du
was…“ – sein Kopf platzte von
diesem Mysterienspiel, das er trotz
der wirklich geilen Partnerin bald
abbrechen sollte: Sein Wille
spielte bereits mit den Muskeln,
doch diesmal las die vermeintlich
Verrückte seine Gedanken und
reagierte glaubwürdig. Und
irgendwie glaubwürdig klang sie
immer:
„Stopp Max, bleib sitzen… Ich bin
nicht was du denkst, kein Monster.
Keine Sekte, keine Rollenspiele!
Nicht mal eine Ureinwohnerin
Amerikas… Alle Spekulationen
umsonst, lieber Max. Entspann
dich, verlass dich auf deine
Gewissheit. Ich bin nicht mehr
verrückt als jede Tussi dieser
unrettbaren Welt.“


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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Max schwieg, denn die
Enttäuschung des Tages kam
plötzlich auf, und sein Kleingeist
schüttelte ihn wieder zwischen
Ohnmacht und Rachelust:
„Der Chef hat mich
rausgeschmissen, einfach so, ohne
Grund…“
Tanga schwieg für eine Weile
weiter, sagte dann zögerlich, aber
deutlich:
„Die Gerechtigkeit ist in unseren
Händen, Max. Für sie kämpft man.
Nur die Rache geschieht von
selbst. Sie ist der einzige Reflex
dieser Welt, der immer eintritt, die
einzige objektive Wahrheit, wenn
du so willst…“
„Keine Ahnung, Tanga, ob ich’s so
will… Aber ich will wissen wieso
schmeißt man jemanden raus,
dessen Arbeit man bei jeder
Gelegenheit gelobt hat?“

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I


Es folgte keine Antwort. Dafür
flüsterte sie etwas, was gar keinen
Sinn ergab. Ja, ihre Stimme war
bedrohlich, nur das Schicksal, das
sie vertonte, erwartete einen
anderen Mann, keinen völlig
fremden und keinen Freund. Das
alles wurde Max plötzlich klar und
er wusste nicht warum. Trotz eines
groovigen Déjà-vus, das Max
willentlich verdrängte, ergaben
Tangas Worte wenig
Zusammenhang:
„Die Bhagyalakshmi hat ihren
Flickenteppich bereits
eingerollt…“

Tangas großen Augen wurden
nachdenklich, was das süße
Gesicht müde, ja angeschlagen,
wirken ließ, als ob sie gerade einen
Menschen erdrosseln musste.

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Irgendwie hatte diese
Verwandlung mit dem Gesagten
zu tun. Plötzlich spürte es sich so,
als werde in wenigen Tagen etwas
Unheimliches passieren, was in
seiner unergründlichen Kausalität
mit Gerechtigkeit zu tun hatte.
Tanga nahm Maxs Hand…

Nach einem leidenschaftlichen
Kuss eilten die beiden den eisigen
Windböen entgegen.
Der zyklopische Mond nagte mit
seinem Lichtschatten an einem
finsteren Himmelsfetzen.

Sie liefen eine Weile, ohne ein
Wort zu sagen. Die mysteriöse
Tangakanta hielt seine Hand und
zog Max hinter sich her als wäre er
irgendein Spielzeugesel auf
Rädern. Ihre Dominanz war nun
vollkommen. Wohin eilt ein

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Willenloser hinter einer verrückten
Schönheit her, die sich wie seine
Großmutter benimmt und dessen
Vater er sein könnte? Die fremde
Weiblichkeit zog ihn körperlich
schon immer an, aber er war nie
wirklich devot… Hier erreichte ihn
eine zärtliche Stimme: „Halte
durch, mein Gebieter! Denn ich
führe Dich nach Hause…“

Um der monotonen
Geräuschkulisse aus Wind und
Regen entgegenzuwirken, sprach
der klapprige Spielesel – mit seiner
Rolle hat sich Max nun
vollkommen abgefunden – über
das Alltägliche:
„Kennst Du ihn etwa?“
„Nein, Max, nicht wirklich. Aber
dein Chef ist ein gewöhnlicher
Anarast, der sich selbst aus Angst
sabotiert.“

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

„Ana.. was?“
„Anarast, eine tragische Gestalt
einer witzigen Anstalt, eine halbe
Wesenheit in fremden Diensten…
Nicht wie du, Max, denn deine
Angst ist eine andere.“
„Welche denn?“
„Weißt du nicht mehr? Du fliegst
mit einer beträchtlichen
Geschwindigkeit tief über eine
seelenlose Landschaft, die
unendlich bedrückt. Dein einziger
Alptraum, den du seit Jahren nicht
mehr hast, weil du so wenig
schläfst... Diese Furcht vor der
Leere ist viel schlimmer, als jene
die Anarasten so antreibt…“
 „Was treibt sie denn an?“
„ Tja… Die Furcht vor der eigenen
Minderwertigkeit.“
Sie schien seine Bewunderung
ignoriert zu haben und betonte:


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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

„Die Entzweiten erkennt man
immer. Sie finden ihre Uniform
elegant. Und sie brauchen Erfolg.“
„Ich doch auch!“
„Nein, Max, scheiß auf Erfolg!
Was ein Mensch braucht ist
Anerkennung!“
Max dachte wieder nach. Sie
gingen Schulter an Schulter
Richtung Rhein, wo in der Ferne
der elegante Bürophallus der
Bundespostzentrale protzte.

„Mein lieber Scholli… Woher
weißt du das alles, Tanga?“
„Na ja… Ich weiß es nicht. Kein
Mensch kann so etwas wissen.
Aber ich lese Gestalten. Allein der
Anblick, wie jemand unter
knutschenden Teenies mit einer
warmen Flasche Starkbier
zwischen den Beinen pennt…“
„Was sagt uns der Anblick denn?“

Copyright 2009 Leon Tsvasman.   17
Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

„Das ist die Musterpose von
Leuten, die von Horror Vacui
gezeichnet sind. Diese ganz
spezielle manische Furcht, diesen
Abscheu von der Leere, kennen
die praktizierenden Anarasten
nicht, also bist du auch schon
deshalb keiner von ihnen.
Außerdem bist du 39, dunkel, aber
kontrastbewusst gekleidet, trägst
gemütliche Schuhe aus hellem
Wildleder, einen stilvollen
Silberring mit einem Kunstrubin
auf dem rechten Mittelfinger
und… deine Rauchmuster deuten
auf jene kindliche Atemschwäche,
die seltsame Alpträume
hervorruft…“
„Geil! Und dem Schwachsinn
muss ich glauben?“
„Oh Mann! Tust du doch eh…
Aber keine Einführung in die
Frauenlogik jetzt, einverstanden?“

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

„Was?“
„Ja, eine ganz gewöhnliche
Frauenlogik, Max. Doch bei mir ist
sie vollkommen. Ich muss meine
Eindrücke weder analysieren noch
rechtfertigen, denn „wer heilt hat
Recht“. Die infosomatische Logik,
Max, bei uns beherrschen sie sogar
Kleinkinder beider Geschlechter.“
Wo „bei uns“ wollte Max gar nicht
wissen, denn die Situation wurde
ihm unheimlich. Sie liefen nun
eine menschenleere Gasse entlang
Richtung Rheinpromenade.
„Seid ihr alle Genies oder was…“
„Wir sind Menschen. Aber wir
unterhalten keine Systeme, die uns
versklaven… Keine Macht den
Geltungen!“ Die letzte Phrase
schrie sie mit weit geöffneten
Armen in eine nasse Windböe
hinein…


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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Tangakanta überholte Max und
stand plötzlich auf dem Weg, so
dass er bremsen musste. Die
imaginären Spielzeugräder
verschwanden, seine Füße bildeten
sich zurück und wuchsen in den
Asphalt hinein. Auf diesen
Moment wartete er seit ihrem
ersten Kuss in der Bar. Doch es
kam nicht wieder zu einem Kuss.
Irgendwie sah Tanga nicht mehr so
mundgerecht aus. Er wusste aus
Erfahrung, dass wenn die erotische
Spannung aus welchem Anlass
auch immer oder allein durch die
weibliche Spielart schwindet, seine
alten, jenseitigen, Sehnsüchte
wieder kommen. Sie animieren
Frauen zu seelenkundlichen
Gesprächen.

„Schau mich an, Max Art. Ich
muss dich was fragen.“

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

„Schieß los…“
„Als du an dem Tag.. diesen
ungeheuer blauen Himmel auf dem
Weg zu einem Flussstrand deiner
Geburtsstadt sahst, woran dachtest
du?“
Max glaubte seinen Ohren nicht.
Er wusste ganz genau was sie
anspricht. Sein ganzes Leben trug
er diese Erinnerung mit sich
herum. Sie war unheimlich
bedeutsam und absolut sinnlos, bis
sie schließlich zum Sinnbild seiner
Kindheit wurde.
„Ich dachte… Ich wusste, dass ich
mich an diesen Moment später oft
erinnern werde. Doch hinter
diesem Erlebnis stand überhaupt
kein Ereignis …“
„Es gab da ein Ereignis.“
Er zitterte leicht und wartete auf
die Fortsetzung…
„Du bist entführt worden, Max…“

Copyright 2009 Leon Tsvasman.   21
Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I


An dieser Stelle packte sie flugs
seine linke Hand und versank ihre
ungemein kräftigen Finger an
mehreren Stellen und in einer
schnell wechselnden Kombination
aus unterschiedlichen
Druckmustern dutzende Male in
der Sekunde in die Substanz seiner
geschockten Extremität.
Als sie seine Hand los ließ, verlor
er für einen Augenblick den
Verstand, als flösse er, über seine
nun sonderbar geerdeten Füße, in
den Boden.
Dann sah die Welt anders aus,
wobei sie immer noch auf der
gleichen Straße standen. Die
gleichen Jugendstilvillas der
Südstadt, die er so prächtig fand.
Er schaute hoch und verlor beinahe
das Gleichgewicht, spontan
überwältigt von der gigantischen

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Kraft einer Farbe, die kein
Künstler der Welt jemals fassen
konnte.

 „Willkommen zu Hause!“ –
Tangas Stimme klang triumphal,
aber müde und zutiefst gelassen.
Für eine Weile tönte sie nach, bis
sie in einer Geräuschkulisse
verschwand, die als Wasserfall
klang, verwoben mit von überall
her hallendem Gelächter
spielender Kinder. Es war eine Art
Musik, die Max nie zuvor gehört
hatte.

- Was war das?
- Infosomatische Magie.
- Wo sind wir?
- Im Wirkungsbereich der Dunklen
Sonne.
- Warum?


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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

- Du gehörst hierhin. Das ist dein
Zuhause.
- Eine andere Welt?
- Eine Lebenswelt wie jede andere,
aber wirklicher als jene unselige
Geltungsschleife, die du für deine
Wirklichkeit hältst. Ich meine,
metaphysisch gesehen, sind wir
sogar im gleichen Kontinuum. Nur
deine Präsenz war manipuliert,
also bliebst du in einer
Geltungsschleife hängen.

Max dachte kurz nach. Er wusste
jüngst, dass Tanga Tatsachen
sprach, ohne Erklärungen zu
liefern und war innerlich bereit,
sich mit Wahrheit zu
konfrontieren.
- Was ist hier anders?
- Hier herrscht in Allem, Chance
vor Geltung.
- Warum bin ich hier?

Copyright 2009 Leon Tsvasman.   24
Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

- Als eine Lebenswelt ist die
Geltungschleife für Menschen
ungeeignet.
- Und deine Rolle?
- Die Entführten müssen nach
Hause.

Max ahnte bereits, dass etwas
Unumkehrbares passiert war, aber
sein Kopf platzte von Fragen, die
er für wichtig hielt, obwohl sie
keine Rolle mehr spielten.
- Was ist diese Welt, die ich für
meine Wirklichkeit hielt?
- Keine Ahnung, Max. Aber wenn
dein Herz einzig und allein dafür
schlägt, Chimären zu unterhalten
statt Kindern eine Chance zu
geben, Menschen zu sein, kennst
du noch keine lebenswürdige
Lebenswelt.
- Was für Chimären?


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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

- Wie soll ich’s dir beschreiben,
mein lieber Doc. Also, sagen
wir… Könnten sich Hämorriden
aller Ärsche vernetzen, so würde
ihre gemeinsame Wirklichkeit –
der Vernetzte Arsch – schwül,
dunkel und stickig sein. Dort
wären sie schön und bedeutsam,
und Menschen verkämen zu einer
Kraftquelle, die ihnen billige
Energie, frisches Blut und ein
warmes Zuhause sichert.
- Was willst du damit ausdrucken?
- In einer Welt der Chimären
werden Menschen zu Platzhaltern.
Du, Max Art, bist auch nur ein
Schatten, der sich danach sehnt,
eine günstige Position
einzunehmen.
- Ja, das bin ich. Was ist ein
Mensch denn sonst?
- Wie das alte Sprichwort schon
sagt:

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

„Ein Mensch ist eine ganze Welt,
Solange keiner Seelen zählt...“

- Weißt du, Tanga… Ich denke oft
an diese postmortale Lebensform,
die Menschen als lebende
Blutkonserven versteht.
- Vampire und der Kram? Na ja…
Geile Metapher. Anarasten lieben
sie! Aber nach allem was du erlebt
hast, solltest du ganz schon
wissend sein, Max. Nur in deiner
Welt denkt man selten zu Ende…
Dann sprach sie besonders
gelassen, ein wenig traurig, ein
wenig zeremoniell, als wollte sie
etwas Feierliches ankündigen, was
gleich eintreten wird:
- Also bevor du wieder nach oben
schaust und nun endgültig da bist,
denk bitte kurz über diesen alten
Vers nach:


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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

„Verbrennst du deines Lebens
Kraft,
Wird nicht das Feuer – deine
Macht,
Nur Wüstennacht – dein einzig’
Segen
Und Du – ein Stein auf fremden
Wegen.“
„Gewaltig, nicht wahr?
Willkommen zu Hause, mein
Gebieter!“

Max stand noch eine Weile mit
gesenktem Kopf da und sah sein
ganzes Leben wie in einen
Stummfilm durchlaufen. „Wach
schon auf!“

Der Gebieter hob sein nun
vollkommen leeres Haupt, öffnete
majestätisch seine Augen und
schaute in diesen wunderbaren
Himmel.

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Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I

Jetzt, nachdem die Sehnsucht
nachgelassen hatte, und sein
Wesen nur restlos dieser alten
Welt gehörte, erblickte er einen
Himmelskörper, der in seiner
Pracht alles bisher gesehene
verdeckte.

Es war eine gewaltige Lichtquelle,
eine Sonne, die dunkel wirkte, weil
sie zu hell war – als ob sie die
Menschen auf eine physikalisch
unfassbare Art vor ihrem eigenen
Licht schützte. Aber mehr als
Licht strahlte sie eine Kraft von
unendlicher Bedeutung aus, die
Liebe, Gewissheit und Glück
verkörperte.




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Dunkle Sonne Kapitel1 Book I

  • 1. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Max Art versank in einem massiven ledernen Sessel und schlief halbwegs ein. Die Bar brachte Gestalten hervor, die eine ungewöhnlich entspannte Stimmung genossen, an der sie mitwirkten. Vor allem jene der Weisheit geweihten Studis kultivierten hier ihre arglose Ahnung von einer besseren Lebenswelt. Vereinzelt posierten die einsamen Wölfe einer historischen Jugendbewegung, die sich vor Jahren dem freien Subjekt verpflichtete. Sie oszillierten herum, getragen von der magischen Beschallung eines nostalgischen DJs. Ermüdet von der Rauchluft und eingezogen von der schmuddeligen Wärme des betagten Leders genoss Copyright 2009 Leon Tsvasman. 1
  • 2. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Max das Schweben im enthemmten Delirium eines ehemaligen Bordells. Vor seinem Gesicht zappelten taktbewusst die jungweiblichen Beine in ihren winterlichen Hüllen. Sie scheuten Max, weil sie seine Nähe nicht kannten. Also blieb um ihn ein Hauch Distanz herum, ganz erfrischend angesichts der kritischen Dichte des Ladens. Max wurde wach, schaute in die Tiefe des eng bemannten Gangs, wo hinter dem schwingenden Gedränge der exzentrische Türsteher waltete, und verspürte eine lüsterne Brise fremder Aufmerksamkeit. Die flüchtige Erscheinung verschwand in der Menge, und bevor Max flatterig wurde, tauchte sie wieder auf: Es war eine junge Frau, die im Copyright 2009 Leon Tsvasman. 2
  • 3. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Gegensatz zu anderen hier erstaunlich anwesend wirkte. Sie erwiderte Max’s wachsamen Blick mit einem holden Lächeln. Bald hockte sie frech zwischen ihm und einem knutschenden Pärchen. „Wie alt bist du?“ – fragte sie, kindisch ohne zu zögern, solange ihr Blick seine Stirn durchbohrte, was sich beinahe physisch wie das Gebläse eines kalten Föns anfühlte. Alles verfremdete sich wie nach einer Portion guten Absinth: „Neun und dreißig“, antwortete Max leise, was ihn plötzlich selbst wunderte, denn bei fremden Frauen war er sonst immer nervös. Neununddreißig Jahre alt war er wirklich, doch zum ersten Mal seit mindestens acht Copyright 2009 Leon Tsvasman. 3
  • 4. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Jahren sprach er ehrlich über sein Passalter, denn er stand auf jene Frauen, die ältere Männer nicht attraktiv fanden. Dieser Umstand bereitete Max mittlerweile Sorgen, denn mit den Chancen bei knackigen Mädels schwand langsam seine eigene Vitalität. Sein Körpergefühl löste sich wie in einem Anatomie-Atlas in einzelnen Organen auf, die sich mit nörgeligen Befindlichkeitsstörungen meldeten. Das Mädchen sah richtig jung aus, so um die 19 herum, trotzdem wirkte sie auf Max sonderbar vertraut, als wäre sie seine eigene Großmutter. „Echt bizarr!“ - sagte er immer noch leicht abwesend, und starrte sie an. Copyright 2009 Leon Tsvasman. 4
  • 5. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I „Keine Bange, du kennst mich nicht“ - sie erwiderte seinen fragenden Blick lächelnd: „Und ich kenne dich anders als du dich zu kennen glaubst.“ Sie schwieg plötzlich, als ob sie innerlich eine Nachricht empfangen hätte. Sie wirkte für eine Weile abwesend und setzte ihre Anmache schließlich fort: „Für mich bist du die wahre Immanenz einer Gabe, die sich über Jahrtausende nur wenige Male in einem männlichen Wesen verkörpert…“ Max stierte sie wortlos an, ohne das Gehörte einordnen zu können. Daraufhin definierte sie mit ihrer sympathischen, aber allzu klar – für diese Tageszeit in einer verrauchten Kneipe – wirkenden Copyright 2009 Leon Tsvasman. 5
  • 6. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Stimme: „Du gehörst zu Menschen, die sich in allen Welten der Wirkung orientieren.“ Max wunderte sich nicht über dieses esoterisch anmutenden Gelaber einer vermeintlichen Fantasy-Tussi, sondern darüber, dass er dieser überaus merkwürdigen Verkörperung einer fremdartigen Weiblichkeit von Anfang an tatsächlich glaubte. Er dachte noch kurz darüber nach, wie oft er sich ständig und überall verwirrte, und sich auch sonst meistens desorientiert fühlte. Nach einer Weile gemeinsamen Schweigens kapierte er plötzlich, dass sie etwas ganz anderes meinte und dass sie ihn auf gar keinen Fall verarschen wollte. Copyright 2009 Leon Tsvasman. 6
  • 7. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I „Wie heißt du eigentlich?“ – fragte das Mädchen frech. „Ich? Äh… Graf Óran“ – komisch, dass ihm ausgerechnet der Fantasiename seiner Kindheit einfiel, nur blieb seine Miene ernst. „Schöner Name, klingt irgendwie animalisch: Orán… Ghután,“ – sie lächelte knabenhaft, – „bestimmt so’n Künstlername?“ „Ja, kann man so deuten… ansonsten heiße ich Max Art, klingt aber auch irgendwie künstlerisch, sagt man. Wie heißt du denn?“ „Ich bin Tangakanta. Bedeutet so etwas wie Die Walterin des Fremden Willens. Kein Künstlername, kein Witz, aber du kannst mich Tanga nennen, genau wie diese komische Wäsche vor deiner glücklichen Nase…“ Copyright 2009 Leon Tsvasman. 7
  • 8. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Max fixierte das zappelnde Dreieck unmittelbar vor seinem Gesicht, das einen seidenen Strahl in die Tiefe der wohlgeformten Jeanshülle abgab. „Yeah! Yeah!“ – schrie es im Hintergrund, wo eine tanzende Gruppe tobte. Tangakanta sprach gutes Hochdeutsch. Sie zelebrierte so deutlich die einzelnen Silben, wie es einige Schwule so gerne aus einer ganz besonderen Lust an Verkörperung ihrer Präsenz durch Sprache tun. Seltener versprachlichen so auch Frauen ihre Körperlichkeit, wenn sie von purer Lust angetrieben wird. „Aus einem indianischen Reservat kommt sie wohl kaum“, dachte Max: „Gehört sie doch zu einer Copyright 2009 Leon Tsvasman. 8
  • 9. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Fantasy-Gemeinde oder zu der neuen Manga-Szene? Unwahrscheinlich, aber möglich… Verrückt wirkt sie auf keinen Fall, denn sie hat Humor.“ Gesunder Humor war sein letztes Kriterium, um die halbwegs Integren unter seinen mittlerweile zunehmend paranoiden Zeitgenossen zu unterscheiden. Nicht wunderlich in einer Zeit, in die Leitmedien eine Wirklichkeit suggerierten, die „keiner mehr glaubwürdig durchblicke“, damit es auch keiner unter den lebenden Aufmerksamkeitsträgern ernsthaft versuchte. Wer es doch wagte, riskierte seine Glaubwürdigkeit. Ganz geschickt, wenn man annahm, dass irgendeine konfuse Oligarchie ihr Nutzen daraus erhoffte. Copyright 2009 Leon Tsvasman. 9
  • 10. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Plötzlich schrie ihn Tangakanta an, wobei ihre kindische Miene nicht mal ernst wurde: „Lieber Graf Oran Ghutan Max Art! Du denkst zuviel. Aber ich respektiere dein Problem. Denn wenn dein wirklicher Name, den du nie gehört hast, soviel bedeutet wie Der Glückliche mit der Heerschar, wo du deine reizende Truppe, die ich hier edelmütig vertreten muss, nicht mal kennst, leuchtet mir ein altes Sprichwort ein: „Die Wahrheit macht frei, aber arm.“ „Wow! Das nennt man Informationsdichte!“ – Max atmete aus. Das musste man erstmal verdauen. Tja, keine Chance irgendwie, nicht wirklich. Zuviel Input, zuwenig Background. Was für ein Heer? Was für ein Name? Was für Zusammenhänge? Nicht Copyright 2009 Leon Tsvasman. 10
  • 11. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I mal das angeblich alte Sprichwort war Max vertraut. „Weißt du was…“ – sein Kopf platzte von diesem Mysterienspiel, das er trotz der wirklich geilen Partnerin bald abbrechen sollte: Sein Wille spielte bereits mit den Muskeln, doch diesmal las die vermeintlich Verrückte seine Gedanken und reagierte glaubwürdig. Und irgendwie glaubwürdig klang sie immer: „Stopp Max, bleib sitzen… Ich bin nicht was du denkst, kein Monster. Keine Sekte, keine Rollenspiele! Nicht mal eine Ureinwohnerin Amerikas… Alle Spekulationen umsonst, lieber Max. Entspann dich, verlass dich auf deine Gewissheit. Ich bin nicht mehr verrückt als jede Tussi dieser unrettbaren Welt.“ Copyright 2009 Leon Tsvasman. 11
  • 12. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Max schwieg, denn die Enttäuschung des Tages kam plötzlich auf, und sein Kleingeist schüttelte ihn wieder zwischen Ohnmacht und Rachelust: „Der Chef hat mich rausgeschmissen, einfach so, ohne Grund…“ Tanga schwieg für eine Weile weiter, sagte dann zögerlich, aber deutlich: „Die Gerechtigkeit ist in unseren Händen, Max. Für sie kämpft man. Nur die Rache geschieht von selbst. Sie ist der einzige Reflex dieser Welt, der immer eintritt, die einzige objektive Wahrheit, wenn du so willst…“ „Keine Ahnung, Tanga, ob ich’s so will… Aber ich will wissen wieso schmeißt man jemanden raus, dessen Arbeit man bei jeder Gelegenheit gelobt hat?“ Copyright 2009 Leon Tsvasman. 12
  • 13. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Es folgte keine Antwort. Dafür flüsterte sie etwas, was gar keinen Sinn ergab. Ja, ihre Stimme war bedrohlich, nur das Schicksal, das sie vertonte, erwartete einen anderen Mann, keinen völlig fremden und keinen Freund. Das alles wurde Max plötzlich klar und er wusste nicht warum. Trotz eines groovigen Déjà-vus, das Max willentlich verdrängte, ergaben Tangas Worte wenig Zusammenhang: „Die Bhagyalakshmi hat ihren Flickenteppich bereits eingerollt…“ Tangas großen Augen wurden nachdenklich, was das süße Gesicht müde, ja angeschlagen, wirken ließ, als ob sie gerade einen Menschen erdrosseln musste. Copyright 2009 Leon Tsvasman. 13
  • 14. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Irgendwie hatte diese Verwandlung mit dem Gesagten zu tun. Plötzlich spürte es sich so, als werde in wenigen Tagen etwas Unheimliches passieren, was in seiner unergründlichen Kausalität mit Gerechtigkeit zu tun hatte. Tanga nahm Maxs Hand… Nach einem leidenschaftlichen Kuss eilten die beiden den eisigen Windböen entgegen. Der zyklopische Mond nagte mit seinem Lichtschatten an einem finsteren Himmelsfetzen. Sie liefen eine Weile, ohne ein Wort zu sagen. Die mysteriöse Tangakanta hielt seine Hand und zog Max hinter sich her als wäre er irgendein Spielzeugesel auf Rädern. Ihre Dominanz war nun vollkommen. Wohin eilt ein Copyright 2009 Leon Tsvasman. 14
  • 15. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Willenloser hinter einer verrückten Schönheit her, die sich wie seine Großmutter benimmt und dessen Vater er sein könnte? Die fremde Weiblichkeit zog ihn körperlich schon immer an, aber er war nie wirklich devot… Hier erreichte ihn eine zärtliche Stimme: „Halte durch, mein Gebieter! Denn ich führe Dich nach Hause…“ Um der monotonen Geräuschkulisse aus Wind und Regen entgegenzuwirken, sprach der klapprige Spielesel – mit seiner Rolle hat sich Max nun vollkommen abgefunden – über das Alltägliche: „Kennst Du ihn etwa?“ „Nein, Max, nicht wirklich. Aber dein Chef ist ein gewöhnlicher Anarast, der sich selbst aus Angst sabotiert.“ Copyright 2009 Leon Tsvasman. 15
  • 16. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I „Ana.. was?“ „Anarast, eine tragische Gestalt einer witzigen Anstalt, eine halbe Wesenheit in fremden Diensten… Nicht wie du, Max, denn deine Angst ist eine andere.“ „Welche denn?“ „Weißt du nicht mehr? Du fliegst mit einer beträchtlichen Geschwindigkeit tief über eine seelenlose Landschaft, die unendlich bedrückt. Dein einziger Alptraum, den du seit Jahren nicht mehr hast, weil du so wenig schläfst... Diese Furcht vor der Leere ist viel schlimmer, als jene die Anarasten so antreibt…“ „Was treibt sie denn an?“ „ Tja… Die Furcht vor der eigenen Minderwertigkeit.“ Sie schien seine Bewunderung ignoriert zu haben und betonte: Copyright 2009 Leon Tsvasman. 16
  • 17. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I „Die Entzweiten erkennt man immer. Sie finden ihre Uniform elegant. Und sie brauchen Erfolg.“ „Ich doch auch!“ „Nein, Max, scheiß auf Erfolg! Was ein Mensch braucht ist Anerkennung!“ Max dachte wieder nach. Sie gingen Schulter an Schulter Richtung Rhein, wo in der Ferne der elegante Bürophallus der Bundespostzentrale protzte. „Mein lieber Scholli… Woher weißt du das alles, Tanga?“ „Na ja… Ich weiß es nicht. Kein Mensch kann so etwas wissen. Aber ich lese Gestalten. Allein der Anblick, wie jemand unter knutschenden Teenies mit einer warmen Flasche Starkbier zwischen den Beinen pennt…“ „Was sagt uns der Anblick denn?“ Copyright 2009 Leon Tsvasman. 17
  • 18. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I „Das ist die Musterpose von Leuten, die von Horror Vacui gezeichnet sind. Diese ganz spezielle manische Furcht, diesen Abscheu von der Leere, kennen die praktizierenden Anarasten nicht, also bist du auch schon deshalb keiner von ihnen. Außerdem bist du 39, dunkel, aber kontrastbewusst gekleidet, trägst gemütliche Schuhe aus hellem Wildleder, einen stilvollen Silberring mit einem Kunstrubin auf dem rechten Mittelfinger und… deine Rauchmuster deuten auf jene kindliche Atemschwäche, die seltsame Alpträume hervorruft…“ „Geil! Und dem Schwachsinn muss ich glauben?“ „Oh Mann! Tust du doch eh… Aber keine Einführung in die Frauenlogik jetzt, einverstanden?“ Copyright 2009 Leon Tsvasman. 18
  • 19. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I „Was?“ „Ja, eine ganz gewöhnliche Frauenlogik, Max. Doch bei mir ist sie vollkommen. Ich muss meine Eindrücke weder analysieren noch rechtfertigen, denn „wer heilt hat Recht“. Die infosomatische Logik, Max, bei uns beherrschen sie sogar Kleinkinder beider Geschlechter.“ Wo „bei uns“ wollte Max gar nicht wissen, denn die Situation wurde ihm unheimlich. Sie liefen nun eine menschenleere Gasse entlang Richtung Rheinpromenade. „Seid ihr alle Genies oder was…“ „Wir sind Menschen. Aber wir unterhalten keine Systeme, die uns versklaven… Keine Macht den Geltungen!“ Die letzte Phrase schrie sie mit weit geöffneten Armen in eine nasse Windböe hinein… Copyright 2009 Leon Tsvasman. 19
  • 20. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Tangakanta überholte Max und stand plötzlich auf dem Weg, so dass er bremsen musste. Die imaginären Spielzeugräder verschwanden, seine Füße bildeten sich zurück und wuchsen in den Asphalt hinein. Auf diesen Moment wartete er seit ihrem ersten Kuss in der Bar. Doch es kam nicht wieder zu einem Kuss. Irgendwie sah Tanga nicht mehr so mundgerecht aus. Er wusste aus Erfahrung, dass wenn die erotische Spannung aus welchem Anlass auch immer oder allein durch die weibliche Spielart schwindet, seine alten, jenseitigen, Sehnsüchte wieder kommen. Sie animieren Frauen zu seelenkundlichen Gesprächen. „Schau mich an, Max Art. Ich muss dich was fragen.“ Copyright 2009 Leon Tsvasman. 20
  • 21. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I „Schieß los…“ „Als du an dem Tag.. diesen ungeheuer blauen Himmel auf dem Weg zu einem Flussstrand deiner Geburtsstadt sahst, woran dachtest du?“ Max glaubte seinen Ohren nicht. Er wusste ganz genau was sie anspricht. Sein ganzes Leben trug er diese Erinnerung mit sich herum. Sie war unheimlich bedeutsam und absolut sinnlos, bis sie schließlich zum Sinnbild seiner Kindheit wurde. „Ich dachte… Ich wusste, dass ich mich an diesen Moment später oft erinnern werde. Doch hinter diesem Erlebnis stand überhaupt kein Ereignis …“ „Es gab da ein Ereignis.“ Er zitterte leicht und wartete auf die Fortsetzung… „Du bist entführt worden, Max…“ Copyright 2009 Leon Tsvasman. 21
  • 22. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I An dieser Stelle packte sie flugs seine linke Hand und versank ihre ungemein kräftigen Finger an mehreren Stellen und in einer schnell wechselnden Kombination aus unterschiedlichen Druckmustern dutzende Male in der Sekunde in die Substanz seiner geschockten Extremität. Als sie seine Hand los ließ, verlor er für einen Augenblick den Verstand, als flösse er, über seine nun sonderbar geerdeten Füße, in den Boden. Dann sah die Welt anders aus, wobei sie immer noch auf der gleichen Straße standen. Die gleichen Jugendstilvillas der Südstadt, die er so prächtig fand. Er schaute hoch und verlor beinahe das Gleichgewicht, spontan überwältigt von der gigantischen Copyright 2009 Leon Tsvasman. 22
  • 23. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Kraft einer Farbe, die kein Künstler der Welt jemals fassen konnte. „Willkommen zu Hause!“ – Tangas Stimme klang triumphal, aber müde und zutiefst gelassen. Für eine Weile tönte sie nach, bis sie in einer Geräuschkulisse verschwand, die als Wasserfall klang, verwoben mit von überall her hallendem Gelächter spielender Kinder. Es war eine Art Musik, die Max nie zuvor gehört hatte. - Was war das? - Infosomatische Magie. - Wo sind wir? - Im Wirkungsbereich der Dunklen Sonne. - Warum? Copyright 2009 Leon Tsvasman. 23
  • 24. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I - Du gehörst hierhin. Das ist dein Zuhause. - Eine andere Welt? - Eine Lebenswelt wie jede andere, aber wirklicher als jene unselige Geltungsschleife, die du für deine Wirklichkeit hältst. Ich meine, metaphysisch gesehen, sind wir sogar im gleichen Kontinuum. Nur deine Präsenz war manipuliert, also bliebst du in einer Geltungsschleife hängen. Max dachte kurz nach. Er wusste jüngst, dass Tanga Tatsachen sprach, ohne Erklärungen zu liefern und war innerlich bereit, sich mit Wahrheit zu konfrontieren. - Was ist hier anders? - Hier herrscht in Allem, Chance vor Geltung. - Warum bin ich hier? Copyright 2009 Leon Tsvasman. 24
  • 25. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I - Als eine Lebenswelt ist die Geltungschleife für Menschen ungeeignet. - Und deine Rolle? - Die Entführten müssen nach Hause. Max ahnte bereits, dass etwas Unumkehrbares passiert war, aber sein Kopf platzte von Fragen, die er für wichtig hielt, obwohl sie keine Rolle mehr spielten. - Was ist diese Welt, die ich für meine Wirklichkeit hielt? - Keine Ahnung, Max. Aber wenn dein Herz einzig und allein dafür schlägt, Chimären zu unterhalten statt Kindern eine Chance zu geben, Menschen zu sein, kennst du noch keine lebenswürdige Lebenswelt. - Was für Chimären? Copyright 2009 Leon Tsvasman. 25
  • 26. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I - Wie soll ich’s dir beschreiben, mein lieber Doc. Also, sagen wir… Könnten sich Hämorriden aller Ärsche vernetzen, so würde ihre gemeinsame Wirklichkeit – der Vernetzte Arsch – schwül, dunkel und stickig sein. Dort wären sie schön und bedeutsam, und Menschen verkämen zu einer Kraftquelle, die ihnen billige Energie, frisches Blut und ein warmes Zuhause sichert. - Was willst du damit ausdrucken? - In einer Welt der Chimären werden Menschen zu Platzhaltern. Du, Max Art, bist auch nur ein Schatten, der sich danach sehnt, eine günstige Position einzunehmen. - Ja, das bin ich. Was ist ein Mensch denn sonst? - Wie das alte Sprichwort schon sagt: Copyright 2009 Leon Tsvasman. 26
  • 27. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I „Ein Mensch ist eine ganze Welt, Solange keiner Seelen zählt...“ - Weißt du, Tanga… Ich denke oft an diese postmortale Lebensform, die Menschen als lebende Blutkonserven versteht. - Vampire und der Kram? Na ja… Geile Metapher. Anarasten lieben sie! Aber nach allem was du erlebt hast, solltest du ganz schon wissend sein, Max. Nur in deiner Welt denkt man selten zu Ende… Dann sprach sie besonders gelassen, ein wenig traurig, ein wenig zeremoniell, als wollte sie etwas Feierliches ankündigen, was gleich eintreten wird: - Also bevor du wieder nach oben schaust und nun endgültig da bist, denk bitte kurz über diesen alten Vers nach: Copyright 2009 Leon Tsvasman. 27
  • 28. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I „Verbrennst du deines Lebens Kraft, Wird nicht das Feuer – deine Macht, Nur Wüstennacht – dein einzig’ Segen Und Du – ein Stein auf fremden Wegen.“ „Gewaltig, nicht wahr? Willkommen zu Hause, mein Gebieter!“ Max stand noch eine Weile mit gesenktem Kopf da und sah sein ganzes Leben wie in einen Stummfilm durchlaufen. „Wach schon auf!“ Der Gebieter hob sein nun vollkommen leeres Haupt, öffnete majestätisch seine Augen und schaute in diesen wunderbaren Himmel. Copyright 2009 Leon Tsvasman. 28
  • 29. Leon Tsvasman 2009 Die Dunkle Sonne: Kapitel I Jetzt, nachdem die Sehnsucht nachgelassen hatte, und sein Wesen nur restlos dieser alten Welt gehörte, erblickte er einen Himmelskörper, der in seiner Pracht alles bisher gesehene verdeckte. Es war eine gewaltige Lichtquelle, eine Sonne, die dunkel wirkte, weil sie zu hell war – als ob sie die Menschen auf eine physikalisch unfassbare Art vor ihrem eigenen Licht schützte. Aber mehr als Licht strahlte sie eine Kraft von unendlicher Bedeutung aus, die Liebe, Gewissheit und Glück verkörperte. Copyright 2009 Leon Tsvasman. 29