Wir begleiten Max auf eine Reise in eine andere Welt – vor der Tür seiner Stammkneipe.
Noch nicht wirklich da, entsteht hier jede Woche ein Stück Literaturgeschichte – ein ganz andere Roman.
Doch nimm Dich in Acht, denn sein Genius lauert bereits. Seine Leidenschaft schöpft aus Sehnsucht. Ab jetzt verkörpert er Leben und verwirklicht Welten. Von einer Ahnung angetrieben, wird seine Wahrheitslust Grenzen sprengen:
"Jetzt, nach dem die Sehnsucht nachgelassen hatte, und sein Wesen nur restlos dieser alten Welt gehörte, erblickte er einen Himmelskörper, der in seiner Pracht alles bisher gesehene verdeckte.
Es war eine gewaltige Lichtquelle, eine Sonne, die dunkel wirkte, weil sie zu hell war – als ob sie die Menschen auf eine physikalisch unfassbare Art vor ihrem eigenen Licht schützte. Aber mehr als Licht strahlte sie eine Kraft von unendlicher Bedeutung aus, die Liebe, Gewissheit und Glück verkörperte."
1. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Max Art versank in einem
massiven ledernen Sessel und
schlief halbwegs ein.
Die Bar brachte Gestalten hervor,
die eine ungewöhnlich entspannte
Stimmung genossen, an der sie
mitwirkten. Vor allem jene der
Weisheit geweihten Studis
kultivierten hier ihre arglose
Ahnung von einer besseren
Lebenswelt. Vereinzelt posierten
die einsamen Wölfe einer
historischen Jugendbewegung, die
sich vor Jahren dem freien Subjekt
verpflichtete. Sie oszillierten
herum, getragen von der
magischen Beschallung eines
nostalgischen DJs.
Ermüdet von der Rauchluft und
eingezogen von der schmuddeligen
Wärme des betagten Leders genoss
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2. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Max das Schweben im
enthemmten Delirium eines
ehemaligen Bordells. Vor seinem
Gesicht zappelten taktbewusst die
jungweiblichen Beine in ihren
winterlichen Hüllen. Sie scheuten
Max, weil sie seine Nähe nicht
kannten. Also blieb um ihn ein
Hauch Distanz herum, ganz
erfrischend angesichts der
kritischen Dichte des Ladens.
Max wurde wach, schaute in die
Tiefe des eng bemannten Gangs,
wo hinter dem schwingenden
Gedränge der exzentrische
Türsteher waltete, und verspürte
eine lüsterne Brise fremder
Aufmerksamkeit. Die flüchtige
Erscheinung verschwand in der
Menge, und bevor Max flatterig
wurde, tauchte sie wieder auf: Es
war eine junge Frau, die im
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3. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Gegensatz zu anderen hier
erstaunlich anwesend wirkte. Sie
erwiderte Max’s wachsamen Blick
mit einem holden Lächeln.
Bald hockte sie frech zwischen
ihm und einem knutschenden
Pärchen.
„Wie alt bist du?“ – fragte sie,
kindisch ohne zu zögern, solange
ihr Blick seine Stirn durchbohrte,
was sich beinahe physisch wie das
Gebläse eines kalten Föns
anfühlte. Alles verfremdete sich
wie nach einer Portion guten
Absinth: „Neun und dreißig“,
antwortete Max leise, was ihn
plötzlich selbst wunderte, denn bei
fremden Frauen war er sonst
immer nervös. Neununddreißig
Jahre alt war er wirklich, doch zum
ersten Mal seit mindestens acht
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4. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Jahren sprach er ehrlich über sein
Passalter, denn er stand auf jene
Frauen, die ältere Männer nicht
attraktiv fanden. Dieser Umstand
bereitete Max mittlerweile Sorgen,
denn mit den Chancen bei
knackigen Mädels schwand
langsam seine eigene Vitalität.
Sein Körpergefühl löste sich wie in
einem Anatomie-Atlas in
einzelnen Organen auf, die sich
mit nörgeligen
Befindlichkeitsstörungen
meldeten.
Das Mädchen sah richtig jung aus,
so um die 19 herum, trotzdem
wirkte sie auf Max sonderbar
vertraut, als wäre sie seine eigene
Großmutter.
„Echt bizarr!“ - sagte er immer
noch leicht abwesend, und starrte
sie an.
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5. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
„Keine Bange, du kennst mich
nicht“ - sie erwiderte seinen
fragenden Blick lächelnd: „Und
ich kenne dich anders als du dich
zu kennen glaubst.“
Sie schwieg plötzlich, als ob sie
innerlich eine Nachricht
empfangen hätte.
Sie wirkte für eine Weile
abwesend und setzte ihre Anmache
schließlich fort:
„Für mich bist du die wahre
Immanenz einer Gabe, die sich
über Jahrtausende nur wenige
Male in einem männlichen Wesen
verkörpert…“
Max stierte sie wortlos an, ohne
das Gehörte einordnen zu können.
Daraufhin definierte sie mit ihrer
sympathischen, aber allzu klar –
für diese Tageszeit in einer
verrauchten Kneipe – wirkenden
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6. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Stimme: „Du gehörst zu
Menschen, die sich in allen Welten
der Wirkung orientieren.“
Max wunderte sich nicht über
dieses esoterisch anmutenden
Gelaber einer vermeintlichen
Fantasy-Tussi, sondern darüber,
dass er dieser überaus
merkwürdigen Verkörperung einer
fremdartigen Weiblichkeit von
Anfang an tatsächlich glaubte. Er
dachte noch kurz darüber nach,
wie oft er sich ständig und überall
verwirrte, und sich auch sonst
meistens desorientiert fühlte. Nach
einer Weile gemeinsamen
Schweigens kapierte er plötzlich,
dass sie etwas ganz anderes meinte
und dass sie ihn auf gar keinen Fall
verarschen wollte.
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7. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
„Wie heißt du eigentlich?“ – fragte
das Mädchen frech.
„Ich? Äh… Graf Óran“ – komisch,
dass ihm ausgerechnet der
Fantasiename seiner Kindheit
einfiel, nur blieb seine Miene
ernst.
„Schöner Name, klingt irgendwie
animalisch: Orán… Ghután,“ – sie
lächelte knabenhaft, – „bestimmt
so’n Künstlername?“
„Ja, kann man so deuten…
ansonsten heiße ich Max Art,
klingt aber auch irgendwie
künstlerisch, sagt man. Wie heißt
du denn?“
„Ich bin Tangakanta. Bedeutet so
etwas wie Die Walterin des
Fremden Willens. Kein
Künstlername, kein Witz, aber du
kannst mich Tanga nennen, genau
wie diese komische Wäsche vor
deiner glücklichen Nase…“
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8. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Max fixierte das zappelnde
Dreieck unmittelbar vor seinem
Gesicht, das einen seidenen Strahl
in die Tiefe der wohlgeformten
Jeanshülle abgab.
„Yeah! Yeah!“ – schrie es im
Hintergrund, wo eine tanzende
Gruppe tobte.
Tangakanta sprach gutes
Hochdeutsch. Sie zelebrierte so
deutlich die einzelnen Silben, wie
es einige Schwule so gerne aus
einer ganz besonderen Lust an
Verkörperung ihrer Präsenz durch
Sprache tun. Seltener
versprachlichen so auch Frauen
ihre Körperlichkeit, wenn sie von
purer Lust angetrieben wird.
„Aus einem indianischen Reservat
kommt sie wohl kaum“, dachte
Max: „Gehört sie doch zu einer
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9. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Fantasy-Gemeinde oder zu der
neuen Manga-Szene?
Unwahrscheinlich, aber möglich…
Verrückt wirkt sie auf keinen Fall,
denn sie hat Humor.“ Gesunder
Humor war sein letztes Kriterium,
um die halbwegs Integren unter
seinen mittlerweile zunehmend
paranoiden Zeitgenossen zu
unterscheiden. Nicht wunderlich in
einer Zeit, in die Leitmedien eine
Wirklichkeit suggerierten, die
„keiner mehr glaubwürdig
durchblicke“, damit es auch keiner
unter den lebenden
Aufmerksamkeitsträgern ernsthaft
versuchte. Wer es doch wagte,
riskierte seine Glaubwürdigkeit.
Ganz geschickt, wenn man
annahm, dass irgendeine konfuse
Oligarchie ihr Nutzen daraus
erhoffte.
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10. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Plötzlich schrie ihn Tangakanta an,
wobei ihre kindische Miene nicht
mal ernst wurde: „Lieber Graf
Oran Ghutan Max Art! Du denkst
zuviel. Aber ich respektiere dein
Problem. Denn wenn dein
wirklicher Name, den du nie
gehört hast, soviel bedeutet wie
Der Glückliche mit der Heerschar,
wo du deine reizende Truppe, die
ich hier edelmütig vertreten muss,
nicht mal kennst, leuchtet mir ein
altes Sprichwort ein: „Die
Wahrheit macht frei, aber arm.“
„Wow! Das nennt man
Informationsdichte!“ – Max atmete
aus. Das musste man erstmal
verdauen. Tja, keine Chance
irgendwie, nicht wirklich. Zuviel
Input, zuwenig Background. Was
für ein Heer? Was für ein Name?
Was für Zusammenhänge? Nicht
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11. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
mal das angeblich alte Sprichwort
war Max vertraut. „Weißt du
was…“ – sein Kopf platzte von
diesem Mysterienspiel, das er trotz
der wirklich geilen Partnerin bald
abbrechen sollte: Sein Wille
spielte bereits mit den Muskeln,
doch diesmal las die vermeintlich
Verrückte seine Gedanken und
reagierte glaubwürdig. Und
irgendwie glaubwürdig klang sie
immer:
„Stopp Max, bleib sitzen… Ich bin
nicht was du denkst, kein Monster.
Keine Sekte, keine Rollenspiele!
Nicht mal eine Ureinwohnerin
Amerikas… Alle Spekulationen
umsonst, lieber Max. Entspann
dich, verlass dich auf deine
Gewissheit. Ich bin nicht mehr
verrückt als jede Tussi dieser
unrettbaren Welt.“
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12. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Max schwieg, denn die
Enttäuschung des Tages kam
plötzlich auf, und sein Kleingeist
schüttelte ihn wieder zwischen
Ohnmacht und Rachelust:
„Der Chef hat mich
rausgeschmissen, einfach so, ohne
Grund…“
Tanga schwieg für eine Weile
weiter, sagte dann zögerlich, aber
deutlich:
„Die Gerechtigkeit ist in unseren
Händen, Max. Für sie kämpft man.
Nur die Rache geschieht von
selbst. Sie ist der einzige Reflex
dieser Welt, der immer eintritt, die
einzige objektive Wahrheit, wenn
du so willst…“
„Keine Ahnung, Tanga, ob ich’s so
will… Aber ich will wissen wieso
schmeißt man jemanden raus,
dessen Arbeit man bei jeder
Gelegenheit gelobt hat?“
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Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Es folgte keine Antwort. Dafür
flüsterte sie etwas, was gar keinen
Sinn ergab. Ja, ihre Stimme war
bedrohlich, nur das Schicksal, das
sie vertonte, erwartete einen
anderen Mann, keinen völlig
fremden und keinen Freund. Das
alles wurde Max plötzlich klar und
er wusste nicht warum. Trotz eines
groovigen Déjà-vus, das Max
willentlich verdrängte, ergaben
Tangas Worte wenig
Zusammenhang:
„Die Bhagyalakshmi hat ihren
Flickenteppich bereits
eingerollt…“
Tangas großen Augen wurden
nachdenklich, was das süße
Gesicht müde, ja angeschlagen,
wirken ließ, als ob sie gerade einen
Menschen erdrosseln musste.
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14. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Irgendwie hatte diese
Verwandlung mit dem Gesagten
zu tun. Plötzlich spürte es sich so,
als werde in wenigen Tagen etwas
Unheimliches passieren, was in
seiner unergründlichen Kausalität
mit Gerechtigkeit zu tun hatte.
Tanga nahm Maxs Hand…
Nach einem leidenschaftlichen
Kuss eilten die beiden den eisigen
Windböen entgegen.
Der zyklopische Mond nagte mit
seinem Lichtschatten an einem
finsteren Himmelsfetzen.
Sie liefen eine Weile, ohne ein
Wort zu sagen. Die mysteriöse
Tangakanta hielt seine Hand und
zog Max hinter sich her als wäre er
irgendein Spielzeugesel auf
Rädern. Ihre Dominanz war nun
vollkommen. Wohin eilt ein
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15. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Willenloser hinter einer verrückten
Schönheit her, die sich wie seine
Großmutter benimmt und dessen
Vater er sein könnte? Die fremde
Weiblichkeit zog ihn körperlich
schon immer an, aber er war nie
wirklich devot… Hier erreichte ihn
eine zärtliche Stimme: „Halte
durch, mein Gebieter! Denn ich
führe Dich nach Hause…“
Um der monotonen
Geräuschkulisse aus Wind und
Regen entgegenzuwirken, sprach
der klapprige Spielesel – mit seiner
Rolle hat sich Max nun
vollkommen abgefunden – über
das Alltägliche:
„Kennst Du ihn etwa?“
„Nein, Max, nicht wirklich. Aber
dein Chef ist ein gewöhnlicher
Anarast, der sich selbst aus Angst
sabotiert.“
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16. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
„Ana.. was?“
„Anarast, eine tragische Gestalt
einer witzigen Anstalt, eine halbe
Wesenheit in fremden Diensten…
Nicht wie du, Max, denn deine
Angst ist eine andere.“
„Welche denn?“
„Weißt du nicht mehr? Du fliegst
mit einer beträchtlichen
Geschwindigkeit tief über eine
seelenlose Landschaft, die
unendlich bedrückt. Dein einziger
Alptraum, den du seit Jahren nicht
mehr hast, weil du so wenig
schläfst... Diese Furcht vor der
Leere ist viel schlimmer, als jene
die Anarasten so antreibt…“
„Was treibt sie denn an?“
„ Tja… Die Furcht vor der eigenen
Minderwertigkeit.“
Sie schien seine Bewunderung
ignoriert zu haben und betonte:
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17. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
„Die Entzweiten erkennt man
immer. Sie finden ihre Uniform
elegant. Und sie brauchen Erfolg.“
„Ich doch auch!“
„Nein, Max, scheiß auf Erfolg!
Was ein Mensch braucht ist
Anerkennung!“
Max dachte wieder nach. Sie
gingen Schulter an Schulter
Richtung Rhein, wo in der Ferne
der elegante Bürophallus der
Bundespostzentrale protzte.
„Mein lieber Scholli… Woher
weißt du das alles, Tanga?“
„Na ja… Ich weiß es nicht. Kein
Mensch kann so etwas wissen.
Aber ich lese Gestalten. Allein der
Anblick, wie jemand unter
knutschenden Teenies mit einer
warmen Flasche Starkbier
zwischen den Beinen pennt…“
„Was sagt uns der Anblick denn?“
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18. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
„Das ist die Musterpose von
Leuten, die von Horror Vacui
gezeichnet sind. Diese ganz
spezielle manische Furcht, diesen
Abscheu von der Leere, kennen
die praktizierenden Anarasten
nicht, also bist du auch schon
deshalb keiner von ihnen.
Außerdem bist du 39, dunkel, aber
kontrastbewusst gekleidet, trägst
gemütliche Schuhe aus hellem
Wildleder, einen stilvollen
Silberring mit einem Kunstrubin
auf dem rechten Mittelfinger
und… deine Rauchmuster deuten
auf jene kindliche Atemschwäche,
die seltsame Alpträume
hervorruft…“
„Geil! Und dem Schwachsinn
muss ich glauben?“
„Oh Mann! Tust du doch eh…
Aber keine Einführung in die
Frauenlogik jetzt, einverstanden?“
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19. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
„Was?“
„Ja, eine ganz gewöhnliche
Frauenlogik, Max. Doch bei mir ist
sie vollkommen. Ich muss meine
Eindrücke weder analysieren noch
rechtfertigen, denn „wer heilt hat
Recht“. Die infosomatische Logik,
Max, bei uns beherrschen sie sogar
Kleinkinder beider Geschlechter.“
Wo „bei uns“ wollte Max gar nicht
wissen, denn die Situation wurde
ihm unheimlich. Sie liefen nun
eine menschenleere Gasse entlang
Richtung Rheinpromenade.
„Seid ihr alle Genies oder was…“
„Wir sind Menschen. Aber wir
unterhalten keine Systeme, die uns
versklaven… Keine Macht den
Geltungen!“ Die letzte Phrase
schrie sie mit weit geöffneten
Armen in eine nasse Windböe
hinein…
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20. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Tangakanta überholte Max und
stand plötzlich auf dem Weg, so
dass er bremsen musste. Die
imaginären Spielzeugräder
verschwanden, seine Füße bildeten
sich zurück und wuchsen in den
Asphalt hinein. Auf diesen
Moment wartete er seit ihrem
ersten Kuss in der Bar. Doch es
kam nicht wieder zu einem Kuss.
Irgendwie sah Tanga nicht mehr so
mundgerecht aus. Er wusste aus
Erfahrung, dass wenn die erotische
Spannung aus welchem Anlass
auch immer oder allein durch die
weibliche Spielart schwindet, seine
alten, jenseitigen, Sehnsüchte
wieder kommen. Sie animieren
Frauen zu seelenkundlichen
Gesprächen.
„Schau mich an, Max Art. Ich
muss dich was fragen.“
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21. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
„Schieß los…“
„Als du an dem Tag.. diesen
ungeheuer blauen Himmel auf dem
Weg zu einem Flussstrand deiner
Geburtsstadt sahst, woran dachtest
du?“
Max glaubte seinen Ohren nicht.
Er wusste ganz genau was sie
anspricht. Sein ganzes Leben trug
er diese Erinnerung mit sich
herum. Sie war unheimlich
bedeutsam und absolut sinnlos, bis
sie schließlich zum Sinnbild seiner
Kindheit wurde.
„Ich dachte… Ich wusste, dass ich
mich an diesen Moment später oft
erinnern werde. Doch hinter
diesem Erlebnis stand überhaupt
kein Ereignis …“
„Es gab da ein Ereignis.“
Er zitterte leicht und wartete auf
die Fortsetzung…
„Du bist entführt worden, Max…“
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22. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
An dieser Stelle packte sie flugs
seine linke Hand und versank ihre
ungemein kräftigen Finger an
mehreren Stellen und in einer
schnell wechselnden Kombination
aus unterschiedlichen
Druckmustern dutzende Male in
der Sekunde in die Substanz seiner
geschockten Extremität.
Als sie seine Hand los ließ, verlor
er für einen Augenblick den
Verstand, als flösse er, über seine
nun sonderbar geerdeten Füße, in
den Boden.
Dann sah die Welt anders aus,
wobei sie immer noch auf der
gleichen Straße standen. Die
gleichen Jugendstilvillas der
Südstadt, die er so prächtig fand.
Er schaute hoch und verlor beinahe
das Gleichgewicht, spontan
überwältigt von der gigantischen
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23. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Kraft einer Farbe, die kein
Künstler der Welt jemals fassen
konnte.
„Willkommen zu Hause!“ –
Tangas Stimme klang triumphal,
aber müde und zutiefst gelassen.
Für eine Weile tönte sie nach, bis
sie in einer Geräuschkulisse
verschwand, die als Wasserfall
klang, verwoben mit von überall
her hallendem Gelächter
spielender Kinder. Es war eine Art
Musik, die Max nie zuvor gehört
hatte.
- Was war das?
- Infosomatische Magie.
- Wo sind wir?
- Im Wirkungsbereich der Dunklen
Sonne.
- Warum?
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24. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
- Du gehörst hierhin. Das ist dein
Zuhause.
- Eine andere Welt?
- Eine Lebenswelt wie jede andere,
aber wirklicher als jene unselige
Geltungsschleife, die du für deine
Wirklichkeit hältst. Ich meine,
metaphysisch gesehen, sind wir
sogar im gleichen Kontinuum. Nur
deine Präsenz war manipuliert,
also bliebst du in einer
Geltungsschleife hängen.
Max dachte kurz nach. Er wusste
jüngst, dass Tanga Tatsachen
sprach, ohne Erklärungen zu
liefern und war innerlich bereit,
sich mit Wahrheit zu
konfrontieren.
- Was ist hier anders?
- Hier herrscht in Allem, Chance
vor Geltung.
- Warum bin ich hier?
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25. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
- Als eine Lebenswelt ist die
Geltungschleife für Menschen
ungeeignet.
- Und deine Rolle?
- Die Entführten müssen nach
Hause.
Max ahnte bereits, dass etwas
Unumkehrbares passiert war, aber
sein Kopf platzte von Fragen, die
er für wichtig hielt, obwohl sie
keine Rolle mehr spielten.
- Was ist diese Welt, die ich für
meine Wirklichkeit hielt?
- Keine Ahnung, Max. Aber wenn
dein Herz einzig und allein dafür
schlägt, Chimären zu unterhalten
statt Kindern eine Chance zu
geben, Menschen zu sein, kennst
du noch keine lebenswürdige
Lebenswelt.
- Was für Chimären?
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26. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
- Wie soll ich’s dir beschreiben,
mein lieber Doc. Also, sagen
wir… Könnten sich Hämorriden
aller Ärsche vernetzen, so würde
ihre gemeinsame Wirklichkeit –
der Vernetzte Arsch – schwül,
dunkel und stickig sein. Dort
wären sie schön und bedeutsam,
und Menschen verkämen zu einer
Kraftquelle, die ihnen billige
Energie, frisches Blut und ein
warmes Zuhause sichert.
- Was willst du damit ausdrucken?
- In einer Welt der Chimären
werden Menschen zu Platzhaltern.
Du, Max Art, bist auch nur ein
Schatten, der sich danach sehnt,
eine günstige Position
einzunehmen.
- Ja, das bin ich. Was ist ein
Mensch denn sonst?
- Wie das alte Sprichwort schon
sagt:
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27. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
„Ein Mensch ist eine ganze Welt,
Solange keiner Seelen zählt...“
- Weißt du, Tanga… Ich denke oft
an diese postmortale Lebensform,
die Menschen als lebende
Blutkonserven versteht.
- Vampire und der Kram? Na ja…
Geile Metapher. Anarasten lieben
sie! Aber nach allem was du erlebt
hast, solltest du ganz schon
wissend sein, Max. Nur in deiner
Welt denkt man selten zu Ende…
Dann sprach sie besonders
gelassen, ein wenig traurig, ein
wenig zeremoniell, als wollte sie
etwas Feierliches ankündigen, was
gleich eintreten wird:
- Also bevor du wieder nach oben
schaust und nun endgültig da bist,
denk bitte kurz über diesen alten
Vers nach:
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28. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
„Verbrennst du deines Lebens
Kraft,
Wird nicht das Feuer – deine
Macht,
Nur Wüstennacht – dein einzig’
Segen
Und Du – ein Stein auf fremden
Wegen.“
„Gewaltig, nicht wahr?
Willkommen zu Hause, mein
Gebieter!“
Max stand noch eine Weile mit
gesenktem Kopf da und sah sein
ganzes Leben wie in einen
Stummfilm durchlaufen. „Wach
schon auf!“
Der Gebieter hob sein nun
vollkommen leeres Haupt, öffnete
majestätisch seine Augen und
schaute in diesen wunderbaren
Himmel.
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29. Leon Tsvasman 2009
Die Dunkle Sonne: Kapitel I
Jetzt, nachdem die Sehnsucht
nachgelassen hatte, und sein
Wesen nur restlos dieser alten
Welt gehörte, erblickte er einen
Himmelskörper, der in seiner
Pracht alles bisher gesehene
verdeckte.
Es war eine gewaltige Lichtquelle,
eine Sonne, die dunkel wirkte, weil
sie zu hell war – als ob sie die
Menschen auf eine physikalisch
unfassbare Art vor ihrem eigenen
Licht schützte. Aber mehr als
Licht strahlte sie eine Kraft von
unendlicher Bedeutung aus, die
Liebe, Gewissheit und Glück
verkörperte.
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