Leseprobe: http://schokolade.stories-and-friends.com
Schokolade ist ständige Versuchung und ihre glücksbringende Eigenschaft erwiesen. In 30 Geschichten ist Schokolade mal Trostpflaster, mal Liebesbote, beflügelt Fantasie und Schöpfungskraft. Der schokoladige Genuss ist Auslöser von süßen und zartbitteren Erinnerungen oder gar von Wahnzuständen und in seltenen Fällen gibt es Nebenwirkungen, die sich nicht auf der Waage messen lassen.
4. Gewogen schienst du mir zu sein,
Du lächeltest der kleinsten Gabe;
Und wenn ich deine Gunst nur habe,
So ist kein Täfelchen zu fein.
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
AN ULRIKE VON LEVETzOW, 1823
5. inhalt
Karen Grol: Vorwort 10
1
Schokolade iSt Magie
Marianne Glaßer: Liebeskummerkekse 16
Gudrun Büchler: Fantasie mit Schneegestöber 20
Peter Suska-Zerbes: Ahyldeoxyhyproid 28
Lisa Mandelartz: Konzentrierte Sonne 34
Karen Grol: Schwarzarbeit 40
1
Schokolade iSt gefährlich
Olga Felicis: Fis 50
Bärbel Morsch: Schokoladensahnetorte 56
6. Holger Bodag: Und führe mich in Versuchung 62
Martina Tischlinger: Die Selbsthilfegruppe 66
Arno Endler: Das Gesetz zur Beschränkung des
Schokoladenkonsums in der EU 71
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Schokolade Macht glücklich
Gaby Cadera: Sammeln mit Genuss 80
Elvira Lauscher: Alles wird anders 85
Christiane Kleine: Unerwarteter Fund 92
Andrea Linger: Glück – Glücklicher – Schokolade 100
Chris Lind: zartbitter schmeckt der Sieg 105
1
Schokolade iSt kreativität
Elke Schleich: Elfe und Pegasus 114
Julia Werner: Der süße Geschmack himmlischer Güte 122
Kai Riedemann: Apokalypse Kakao 128
Michael Zeidler: 888 g 132
Reinhart Hummel: Letzte Ölung 140
1
Schokolade iSt noStalgie
Ulrike Rylance: Kleine Kostprobe 150
7. Armena Kühne: Wie das Leben so spielt 156
Julia Hemetsberger: Das Mädchen mit dem
Schokoladenkuchen 163
Karin Berthold: Bittersüße Andenken 170
Anja Labussek: Speise der Götter 177
1
Schokolade iSt reue
Diana Wieser: Der hundertprozentige Tag 186
rentsnik: Blüten 191
Ulrike Kellner: Mein wunderbarer Alfred 196
Markus Niebios: Die letzte Oblate 202
Angelika Brox: Maikäfer 207
1
Die Autoren 214
Die Illustratoren 219
8. Vorwort
Karen Grol
N ur ein einziges Stück. Ich öffne den Schrank
einen Spalt, gerade breit genug, um die Hand
hindurchzuschieben und die Tafel zu greifen, als würde
ich etwas Verbotenes tun. Dabei bin ich allein, keiner
wird mich abhalten. Keiner wird rufen »Iss nicht so viel
Schokolade«, so dass mir Röte ins Gesicht schießt und
kritische Blicke den Genuss verderben. Es knackt leise
und ich freue mich diebisch, denn ich konnte fast einen
ganzen Riegel ergattern. Kann ich etwas dafür, dass die
Tafel nicht an der Stelle gebrochen ist, wo sie sollte ?
Ich kehre an den Schreibtisch zurück. Bereits wäh-
rend ich mich setze, wage ich den ersten Biss, spüre, wie
sich der süße Schmelz auf meiner zunge verteilt und
wohlige Wärme durch den Körper schickt. Wie von
selbst beginnen meine Finger auf der Computertastatur
zu tanzen. Sie schreiben den ersten Satz dort, wo bis-
her gähnende Leere jede vernünftige Idee vertrieb. Aller
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9. Anfang ist schwer. Das gilt auch oder vielleicht gerade
für Vorworte von Schokoladenbüchern.
Schokolade macht glücklich. Nun, das ist ein alter Hut.
Den Beweis tritt die Wissenschaft an, indem sie Bestand-
teile listet wie Arzneirezepturen und die Wirkungsweise
von Hormonen erläutert, als ginge es darum, mir einen
Löffel Lebertran schmackhaft zu reden. Hochglanzma-
gazine verführen mit Abbildungen, bei deren Betrach-
tung mir das Wasser im Munde zusammenläuft. Dabei
genügt bereits ein kleines Stück der süßen Köstlichkeit
und ich gerate unweigerlich in einen Glücksrausch.
Brauche ich detaillierte Erklärungen für ein Phänomen,
das jeder kennt ?
Sind also Geschichten über Schokolade einfach nur
Geschichten über das Glück ? Ich öffne den Schrank,
breche mir erneut eine Ecke von der Tafel ab. Ein großes
Stück, aber mein Gewissen bleibt still. Ich schließe die
Augen. Nichts soll mich ablenken, wenn Geschmacks-
knospen auf Glück treffen. Nein ! Glück allein ist zu
wenig. Ich stürze zurück an den Computer, meine Fin-
ger hämmern auf die Tasten. Schokolade ist pure Magie,
schreibe ich. Sie hilft genau dort, wo sie benötigt wird.
Sie tröstet in Liebesdingen, sie beruhigt und gibt Kraft
dann, wenn guter Rat teuer ist. Sie sorgt für Erkennt-
nisse, wenn Lösungen gefragt sind, und weist Auswege
in scheinbar ausweglosen Situationen.
Vielleicht sollte ich den Text nicht schnöde in den
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10. Computer tippen, sondern verschnörkelte Buchstaben
mit Schokoladentinte auf ein Blatt Papier malen ? Ich
schüttle den Kopf über meinen verrückten Einfall und
nehme mir vor, einen Kuchen zu zaubern, später, wenn
dieses Vorwort sein Ende gefunden hat, jetzt, wo der An-
fang in Bewegung geraten ist. Schokolade ist Kreativität,
ergänze ich und denke an Vitrinen voll edler Pralinen,
an riesige schokoladige Kunstwerke in Konditoreien
und Museen, an Schokoladengedichte und in meiner
Fantasie bade ich bereits in einer cremigen Canache.
Dann bin ich plötzlich wieder Kind und erinnere
mich an den Pudding meiner Mutter, an Schwarzwälder
Kirschtorte zum Geburtstag und die Schokobonbons,
die ich mit meiner ersten großen Liebe vernascht habe.
Schokolade ist Nostalgie, ergänze ich in Gedanken und
setze mich mit der Tafel aus dem Schrank gemütlich in
einen Sessel. Fast spüre ich zärtliche Küsse auf meinen
Lippen.
Damals, als die Liebe vorbei war, glaubte ich, nicht
mehr leben zu können. Welchem Wahn war ich nur ver-
fallen ? zum Glück habe ich meinen Irrtum rechtzeitig
erkannt. Schokolade ist gefährlich, fällt mir ein und ich
lächle, wenn ich an die Schokoladenmengen denke, die
ich zum Trost konsumiert habe. Als ich mich schließlich
zum Entzug entschloss, wäre ich zum Äußersten fähig
gewesen. Man stelle sich einmal vor, jemand würde tat-
sächlich auf die wahnwitzige Idee verfallen, Schokolade
zu verbieten !
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11. Natürlich gibt es sie, die seltenen Fälle, in denen
selbst die süßeste Köstlichkeit bitter wird, in denen man
bedauert, sie gegessen zu haben. Vielleicht, weil sie je-
mand anderem gehört ? Vielleicht, weil die Folgen nicht
wiedergutzumachen sind ? Schokolade ist auch Reue.
Sorgfältig verpacke in den kümmerlichen Rest der Tafel.
Ich will das Glück nicht herausfordern.
Trotzdem … ich bin mir sicher, dass ich spätestens
morgen neue gute Gründe finden werde, mich ganz
dem Genuss hinzugeben.
Versprochen: 100% Schokolade ist Genuss ohne Reue.
30 exquisite Geschichten erzählen von Liebe und Kum-
mer, von Glück und Irrtum, von verrückten Ideen,
sehnsüchtigen Erinnerungen, von Versuchungen, Rache
und Gewissensbissen, von Erfolgen und Niederlagen.
Ob Vollmilch oder zartbitter … die heimliche Heldin
Chocolat variiert den Kakaoanteil, schlüpft von einer
Rolle in die andere und zeigt sich dabei nicht nur von
ihrer Schokoladenseite.
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12. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.
B I B E L , M AT T H ÄU S 4 , 4
13. Liebeskummerkekse
Marianne Glaßer
I mmer wenn ich im Supermarkt nach einer Packung
Schokoladenkekse greife, denke ich an einen kalten
Januarsonntag. Er liegt zwanzig Jahre zurück, aber ich
erinnere mich sehr genau daran. Draußen scheint hell
die Sonne und der Schnee glitzert, aber ich sitze bei zu-
gezogenen Vorhängen in meinem zimmer, zusammen-
gekauert im Sessel, vor mir auf dem Tisch eine Packung
mit Schokoladenkeksen, die ich langsam einen nach
dem anderen esse.
Am Morgen bin ich früh aus dem Haus gegangen und
habe mich über den Sonnenschein gefreut. Bei diesem
Wetter wirst du sicher spazieren gehen, und ich werde
zufällig genau den Weg wählen, den du sonntagvor-
mittags meistens nimmst. Es ist ein Kribbeln wie beim
Roulettespiel, ob und wo ich dir begegnen werde. Heute
habe ich Glück: Schon nach wenigen Metern leuchtet
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14. dein hellblauer Anorak zwischen den kahlen Sträuchern
auf und ich beschleunige meine Schritte.
Hallo.
Hallo. Na, gehst du auch gerade ins Dorf ?
Und schon bin ich neben dir und in ein Gespräch
verwickelt, das vielleicht nur aus banalen Sätzen besteht,
aber durch den Sonnenschein, das Glitzern des Schnees
und das hellblaue Leuchten deines Anoraks fast ins
Überirdische erhöht scheint.
Woran ich mich wieder genau erinnere, ist der letzte
Moment. Du stehst an der Wegkreuzung, die dich nach
Hause führt und uns trennen wird, und siehst mich an.
Man muss dem anderen auch die Freiheit lassen, sich
für ein Nein zu entscheiden.
Du sagst es ohne Ich oder Du, aber ich weiß genau,
was du meinst. Deine blauen Augen blicken auf ein-
mal sehr kühl und ich bringe nur noch Floskeln zum
Abschied heraus, bevor ich langsam nach Hause gehe,
mit hängendem Kopf wie eine Blume nach dem ersten
Frost.
Meine nächste Erinnerung: Ich sitze zuhause am Küchen-
tisch, starre auf das geblümte Tischtuch und male mir
aus, wie ich dich in ein paar Jahren auf dem Weg ins Dorf
sehen werde. Immer noch mit deinen blauen Augen, viel-
leicht auch noch mit dem blauen Anorak, aber mit einer
anderen Frau neben dir. Ob mich meine Mutter etwas
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15. gefragt hat, weiß ich nicht mehr, und auch nicht, ob ich
etwas gesagt habe. Irgendwann legt sie eine gelbe Packung
mit Schokoladenkeksen vor mir auf den Tisch.
Wer Kummer hat, muss essen. Liebeskummerkekse.
Wie ein krankes Tier verkrieche ich mich in mein zim-
mer. Ich mache die Vorhänge zu, lege Vivaldis düstere
Cellosonaten auf und kauere mich im Sessel zusammen.
Erst reiße ich die gelbe Packung auf und verstreue die
Fetzen auf dem Teppich, dann ziehe ich das Plastik ab
und blicke auf die mit Schokolade überzogenen But-
terkekse, die in den drei Fächern aufgereiht liegen. Lie-
beskummerkekse, denke ich ohne viel Hoffnung. Die
werden mir auch nicht helfen. Trotzdem nehme ich
einen heraus und beiße ein Stück davon ab. Süß und
zart schmilzt die Schokolade auf meiner zunge, dann
zerfällt der Keks. Während ich dem nachspüre, habe ich
dich für einen Moment vergessen. Als der Keks geges-
sen ist, fällt mir wieder ein, was du gesagt hast, und ich
greife schnell nach dem zweiten. Eigentlich ist die Scho-
kolade kalt, aber während sie auf meiner zunge zergeht,
fühlt sie sich warm an. Warm und tröstlich wie eine
Hand, die sich mir aufs Haar legt. Meine Mutter hatte
wohl doch recht. Ich nehme mir den dritten Keks und
merke, wie sich langsam ein kleines Wohlgefühl in mir
ausbreitet. Und weil mir heute alles egal ist, esse ich die
Packung leer. Danach bin ich zwar noch traurig, aber
nicht mehr verzweifelt, dafür satt und müde.
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16. In den nächsten Wochen habe ich dir deine Freiheit
gelassen und bin nicht mehr sonntagvormittags aus dem
Haus gegangen, um dir zufällig zu begegnen. Stattdes-
sen habe ich mich in meinem zimmer vergraben, durch
den ganzen Vivaldi gehört und viele Packungen Scho-
koladenkekse gegessen. Inzwischen schmilzt draußen
der Schnee, das Eis taut und die Sträucher und Bäume
beginnen auszuschlagen. Im April gehe ich gerade mit
einer Einkaufstüte die Straße hinauf, als plötzlich dein
hellblauer Anorak neben mir aufleuchtet.
Hallo.
Hallo. Na, gehst du auch gerade nach Hause ?
Deine blauen Augen blicken wieder sehr freundlich
und ich möchte gern noch ein paar banale oder weniger
banale Sätze mit dir wechseln.
Immer wenn ich eine Packung Schokoladenkekse in den
Wohnzimmerschrank lege, denke ich lächelnd an den
kalten Januarsonntag und an die zwanzig Jahre seither.
Du isst diese Kekse auch sehr gern. Immer wieder holst
du dir einen aus dem Schrank und ich muss zusehen,
dass ich noch einen bekomme. Wenn ich mir dann den
letzten geschnappt habe, kauere ich mich im Sessel ne-
ben dir zusammen, lasse die Schokolade langsam auf
meiner zunge zergehen und denke, dass es sich immer
noch warm und tröstlich anfühlt, auch wenn ich keinen
Liebeskummer mehr habe.
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17. Konzentrierte Sonne
Lisa Mandelartz
O hne die Stammkunden würde die Arbeit in dem
Kiosk keinen Spaß machen. Touristen kommen
auch viele, die sagen meistens nichts außer bitte und dan-
ke, wenn überhaupt. Mit den Stammkunden aber kann
ich ein paar Worte wechseln, über Krankheiten, Ärger in
der Familie und Gott und die Welt. Langweilig wird das
nie, weil die Leute so unterschiedlich sind. Halb St. Pauli
kauft hier ein, in meiner kleinen Bude an der Reeper-
bahn, egal, ob reich oder arm. Jeder braucht schließlich
mal eine zeitung, Schokokekse oder Lakritzbonbons.
Ich mache den Job schon ziemlich lange und weiß
oft schon vor der Schicht, wie der Tag verlaufen wird. So
sind am Monatsanfang die Umsätze natürlich am höchs-
ten, da sind die Portemonnaies noch voll. Die Kinder ge-
ben ihr Taschengeld für Weingummischlangen und Erd-
beerlollis aus, die Säufer für Hochprozentiges, und Hilde
von nebenan ist nur eine von vielen, die sich immer eine
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18. Dose Tabak zum Selberstopfen holt. Damit versucht sie
dann bis zum nächsten Ersten auszukommen. Muss ja.
An Regentagen gehen die Salzstangen besser, bei Son-
nenschein Popcorn, warum auch immer. Und bei jedem
Wetter besorgt sich der alte St.-Pauli-Fan mit dem roten
Bommel auf der Mütze nach den Heimspielen seines
Vereins eine Flasche Apfelkorn. Entweder um einen Sieg
zu feiern, oder um sich die Niederlage schönzutrinken.
Schnaps passt ja eigentlich immer.
Ich kann aber nicht nur am Wetter erkennen, wie
der Umsatz sein wird, sondern auch an den Einkäufen
der Kunden, wie es ihnen geht oder was sie vorhaben.
zum Beispiel bei Wilko. Er ist Anfang sechzig und trägt
im Winter Moonboots wie die Prostituierten, weil er
immer kalte Füße hat. Früher war er Schiffskoch, und
er ist noch nicht so lange wieder an Land, und seitdem
ist er ständig auf der Suche nach einer Frau. Hat er mir
alles erklärt. Gleich als er zum ersten Mal bei mir an den
Kiosk kam, fragte er mich, ob ich ihn nicht heiraten
und zu ihm ziehen wolle, dann könne ich ihm nachts
die Füße wärmen. »Nee«, habe ich gesagt, »ich arbeite ja
immer bis spät abends, da hättest du nicht viel von mir.«
Das hat er eingesehen, aber seitdem erzählt er mir regel-
mäßig, wie er so vorankommt bei seiner Frauensuche.
Am liebsten wäre ihm eine Witwe, denn er meint,
es reiche ja, wenn einer von beiden ein Anfänger in Be-
ziehungssachen ist. Sein bevorzugtes Jagdrevier ist der
Tanztee im alten Café Sempel jeden Freitagnachmittag,
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19. und bevor er dort hingeht, kauft er immer eine Tafel
Schokolade bei mir, Vollmilch oder Nuss. Denn die
gibt Energie, da ist massig Sonne drin gespeichert, kon-
zentrierte Sonne, weil die Kakaobohnen wachsen, wo
es schön warm ist. Und die Energie braucht er, um die
alten Ladys gehörig über die Tanzfläche zu wirbeln. Sagt
Wilko. Was ich, ehrlich gesagt, gerne mal sehen würde.
Wenn Wilko danach noch mal kommt und eine
Schachtel Cognacbohnen verlangt, weiß ich, dass er kei-
ne der Damen zu einem Rendezvous überreden konn-
te. Und dass er deshalb etwas Trost braucht. Manchmal
aber kauft er eine Schachtel Pralinen, dann hat er eine
Verabredung, zu der er, ganz Kavalier der alten Schule,
natürlich nicht mit leeren Händen geht. Je nachdem,
wie apart er die betreffende Dame findet, fällt auch die
Größe der Pralinenschachtel aus. Na ja, und wenn er
am nächsten Tag wieder auftaucht und eine extra große
Packung Cognacbohnen will, ist klar, dass er schon wie-
der keinen Erfolg bei der Damenwelt hatte.
Als Wilko eines Tages unsere teuerste Schachtel Pra-
linen auswählte, wirkte er so nervös wie ein Teenager
bei seinem ersten Date. Er trug sogar einen Anzug, und
seine Haare hatte er sich mit so viel Frisiercreme zurück-
gekämmt, dass sie wie ein glänzender Helm am Kopf
klebten. Diesmal schien es ihm wirklich ernst zu sein.
»Ich drück dir die Daumen«, sagte ich zum Abschied.
Wilko nickte nur stumm. Er konnte gar nicht sprechen,
so angespannt war er.
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20. Am Abend kam er wieder und wollte Cognacboh-
nen, nicht eine Packung, nicht zwei, nein, drei. Er sah
völlig fertig aus und schüttelte nur den Kopf, als ich
fragte, ob es nicht so gut gelaufen sei.
»Woran hat es denn gelegen ?«, fragte ich. Wilko ver-
zog das Gesicht.
»Ich erinnere sie an ihren Exmann, hat sie gesagt.«
»Ist das gut oder schlecht ?«, fragte ich weiter.
»Weiß ich nicht. Aber da war noch was. Sie hat mir
die ganze zeit von ihrer Katze erzählt, einem acht Kilo
schweren Perserkater. Was der am liebsten frisst, was er
für Krankheiten hat, und dass er nachts immer in ihrem
Bett schlafen darf. Sie ist ein Prachtweib, wie ich selten
eins gesehen hab, und ich hab viele gesehen, aber ich
will nicht das Bett mit ihrem übergewichtigen, haarigen
Kater teilen. Das kann ich einfach nicht.«
»Oh ha«, entgegnete ich, »das kann ich gut verste-
hen.« Und er tat mir ziemlich leid. Aber was soll man
da machen.
Es ging dann so weiter wie zuvor, mit Tanztee und
Schokolade und hin und wieder einer Schachtel Pra-
linen, aber nie wieder die große Packung, immer nur
die ganz kleinen. Und sein Cognacbohnenkonsum stieg
stetig an.
Als Wilko eines Tages einen Flachmann mit Rum
und eine Packung Taschentücher verlangte, begann
ich, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Ich habe schon
genug gute Leute im Suff enden sehen. Meistens halte
20
21. ich mich ja raus, doch diesmal konnte ich mich nicht
zurückhalten.
»Mensch, Wilko«, sagte ich, »Alkohol ist doch keine
Lösung. Nimm doch lieber einen Schokoriegel.«
»Wie bitte ?«, fragte Wilko verblüfft. »Ach so, ver-
stehe. Aber mach dir mal keine Sorgen um mich. Es ist
alles in Ordnung. Pascha ist gestorben.«
»Pascha … ?«
»Na, die Katze. Weißt du nicht mehr ? Der Kater, von
dem ich dir erzählt hab, der immer bei der Hannelore im
Bett schlafen darf. Also durfte. Ist einfach umgekippt.
Wir machen ihm ein schönes Begräbnis in den Wall-
anlagen. Und dazu gehört doch ein anständiger Schluck
auf den Verstorbenen. Ich muss weiter, Hannelore war-
tet da drüben. Komm doch mit !«
»Oh, nein danke, zu freundlich, wirklich, aber ich
kann hier nicht weg.« In dem Moment fiel mir die klei-
ne Reisetasche auf, die Wilko in der Hand hielt. Am
Griff war eine schwarze Schleife befestigt.
»Ist er da drin ?«, fragte ich. »Der Kater ?«
»Ja«, entgegnete Wilko mit verschwörerischem Grin-
sen, »passt gerade so rein. Das Viech ist ja ziemlich groß
gewesen. Aber jetzt muss ich wirklich los. Tschüss !«
Wilko überquerte über die Straße, und auf der an-
deren Seite hakte sich eine Frau bei ihm ein. Sie war
ziemlich mollig gebaut und sah so aus, als ob sie immer
warme Füße hätte.
An den nächsten Tagen kam Wilko nicht. Der Pauli-
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22. Fan mit der Bommelmütze leistete sich mit glücklichem
Lallen seine Flasche Apfelkorn und trank auf einen
knappen, hart umkämpften und sehr wichtigen Sieg sei-
nes Lieblingsvereins, der pickelige Junge von gegenüber
rappelte alle Überraschungseier durch, kaufte sechzehn
und erwischte doch nicht das spezielle heiß ersehnte
Plastikmonster, und die in die Jahre gekommenen zwil-
linge, die immer noch gemeinsam in der Wohnung ih-
rer längst verstorbenen Eltern lebten, stritten wie üblich
darüber, welche Fernsehzeitung sie nehmen sollten. Alle
waren sie da, wie immer, nur Wilko nicht.
Als er dann schließlich nach fast zwei Wochen wieder
einmal an einem Freitag bei mir am Kiosk aufkreuzte,
wollte er ein Rätselheft, eine zeitung und Himbeer-
bonbons. »Was ist denn mit dir los?«, fragte ich. »Keine
Schokolade heute ?«
Wilko lächelte. Er sah gleichzeitig verlegen und
glücklich aus. »Ich geh nicht zum Tanztee. Wir wollen
in die Wallanlagen, Pascha besuchen, spazieren gehen
und ein bisschen gemütlich auf einer Bank sitzen und
so.« Da bemerkte ich erst, dass ein paar Schritte entfernt
Hannelore stand, mit rosigen Wangen und einem ähn-
lichen Gesichtsausdruck wie Wilko. »Und Schokolade
brauch ich jetzt nicht mehr«, setzte Wilko noch hinzu,
bevor er sich umdrehte, um zu ihr zu gehen, »Ich hab
jetzt meine eigene Sonne.«
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