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Albert Griesmayr
Caros Wunsch




                   1
Caro hat einen Wunsch. Sie möchte eine Zeichnung
malen, auf der sie alles sieht, was in ihrem Leben
wichtig ist. Fragend blickt sie durch ihr Zimmerfens-
ter auf den Sternenhimmel. Da begegnet sie dem Pro-
fessor Jonathan, der sie auf eine Entdeckungsreise in
die Welt mitnimmt. Eine Reise beginnt, die das Leben
beider grundlegend verändert...


Albert Griesmayr studierte Internationale Betriebs-
wirtschaft an der WU-Wien und der Oregon State
University. Bereits während der Schulzeit und des
Studiums kam er auf die Idee, Antworten auf die
wichtigen Fragen des Lebens zu suchen und diese in
einer phantastischen Reise zu verpacken. So entstand
Caros Wunsch. Wenn Albert gerade nicht schreibt, so
ist er in der Werbebranche tätig.

Besonderer Dank gebührt: Klemens Schillinger, Ca-
roline Zimm, Karina Griesmayr, Clara Huber und
Stefan Jakoubi




2
Albert Griesmayr
Caros Wunsch




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Impressum:

    © 2008 Albert Griesmayr
    Illustration & Umschlaggestaltung: Klemens Schillinger

    Deutsche Erstausgabe
    November 2008

    Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
    in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
    Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    ISBN-13: 9783837080827
    www.caroswunsch.at


4
Gewidmet all jenen, die diese Welt ein Stückchen
schöner machen und im Besonderen Alberts Oma,
die ihn daran erinnert hat, dass die einfachen und
schönen Dinge die wichtigsten im Leben sind.




                                                5
6
Inhalt


Prolog                              9
Caros Welt I                       11
Die Welt von oben                  17
Jardin de niños del arbol          30
Ein skandinavischer Abend          39
Caros Glück                        43
Madame Ribery                      51
Ein himmlischer Professor          65
Seesterne                          76
Die Weggabelung                    96
Der Architekt und seine Freunde   100
5 Uhr Tee                         107
Tokio                             110
Jonathans Entscheidung            122
Wasserkristalle und Bio Äpfel     127
Hokuspokus                        134
Der Fallschirmsprung              143
Der Club der toten Schüler        153
Das kosmische Dinner              162
Unwetter am See                   171
Caros Welt II                     177
Epilog                            180



                                    7
8
Prolog

Hallo, mein Name ist Jonathan.
Eigentlich bin ich ein ganz gewöhnlicher Wissen-
schaftler, mit einer Brille und auch schon einigen
grauen Haaren. Die grauen Haare lassen mich zwar
schon ein wenig älter aussehen, aber innerlich fühle
ich mich eigentlich noch recht jung. Also ich würde
sagen: 50 wäre ein faires Alter für mich.
  Ich muss zugeben, ich habe mich aber auch schon
ein wenig älter gefühlt. Es war die Zeit, bevor ich
Caro kennen gelernt habe.
  Ich war damals mit einer ziemlich großen wissen-
schaftlichen Theorie beschäftigt gewesen und ich
sage euch, diese war wirklich kompliziert. Sie war
so kompliziert, dass ich manchmal das Gefühl hatte,
als wäre ich von großen Braunbären umgeben, weil
mein Schädel so brummte. Stundenlang saß ich über
meinen Theorien und verließ die Bibliothek nur sel-
ten, um mir einen Spaziergang an der frischen Luft zu
gönnen. Und selbst auf meinen Spaziergängen, war
ich in Gedanken meistens noch ganz woanders.
  Ein wenig Entspannung verlieh mir eigentlich nur
mein täglicher 5 Uhr Tee, am liebsten Schwarztee mit
einem Löffel Honig. Den trank ich gerne in schönen
Caféhäusern oder auch einmal in einem ruhigen Gar-


                                                   9
ten. Wichtig war mir, dass es nicht zu laut war und
zusätzlich Zeitungen gab. Denn dann konnte ich in
Ruhe lesen oder auch einfach über meine Theorien
nachdenken. So verging die Zeit und es sammelten
sich einige Jahre an.

Eigentlich tue ich die meisten Sachen von damals
noch immer gerne. Aber seit ich Caro kennen gelernt
habe, ist alles ein wenig anders geworden. Manche
Dinge vielleicht sogar sehr anders…
  Im Laufe der Zeit werdet ihr mich sicherlich noch
besser kennen lernen, aber wer jetzt viel wichtiger ist,
das ist Caro. Wenn ich mich auf zwei Dinge festlegen
müsste, die Caro so besonders machten, dann wären
das ihr feinfühliges Wesen und die kleinen Geheim-
nisse, mit denen sie einen immer wieder überraschte.
  Caro kennen zu lernen hat mich verändert und ich
glaube, dass auch ich, ihr Leben ein wenig verändert
habe.
  Diese Geschichte liegt mir wirklich am Herzen und
ich hoffe, dass sie euch gefällt. Also macht es euch
bequem, denn jetzt geht es richtig los.




10
Caros Welt I

Als ich Caro zum ersten Mal traf, lag sie auf dem
Bauch am Teppich ihres Zimmers und blickte grü-
belnd auf einen großen Zettel, auf den sie mit Bunt-
stift gemalt hatte. Das Ganze sah so aus:




Oben auf dem Blatt stand dick unterstrichen Caros
Welt. Grübelnd saß sie vor ihrer Zeichnung: Das war
sie nun, ihre Welt …
  Sie blickte auf den Stapel mit Büchern neben sich,
Schulbüchern aus Geographie, Biologie, Religion
und vielen anderen Fächern. Dann gab es da auch
einen Stapel sonstiger Bücher, die sie sich einmal
selbst gekauft oder die sie geschenkt bekommen hat-
te. Oberhalb des Blattes lagen jede Menge Fotos von
Freunden, Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse.
Und dann gab es da noch ihr kleines goldenes Büch-
lein.
  All diese Gegenstände wollte sie verwenden, um
endlich ihre Welt zu malen. Ein ganzes Jahr lang hat-


                                                  11
te sie es schon versucht, unzählige Papiere hatte sie
zu bemalen begonnen, nur um sie dann enttäuscht
wieder in den Papierkorb zu werfen. Vor den Feri-
en hatte sie sich ganz fest vorgenommen, die letzte
Ferienwoche im August für ihre Zeichnung zu nüt-
zen, denn während ihres letzten Schuljahres würde
sie bestimmt wenig Zeit haben und den ganzen Juli
und halben August war sie bereits mit ihren besten
Freunden Hannah und Georg auf einer Rucksacktour
in Dänemark gewesen.
  So war es nun endlich an der Zeit, ihr Werk zu voll-
bringen. Und jetzt, wo sie so vor ihrer Zeichnung saß,
fühlte sie sich vollkommen blockiert.
  Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihr ganzes Leben
mit allem was ihr wichtig war, auf ein Blatt Papier
bringen könnte und es beschlich sie das leise Gefühl,
es wieder nicht hinzubekommen.
  Fragend blickte sie durchs große Fenster neben ih-
rem Bett auf den Sternenhimmel.

So lernte ich Caro kennen: Mit großen Augen blickte
sie mich an und fragte:
  „Wie kann ich das schaffen? Wie kann ich alles was
mir wichtig ist, was mir wirklich viel bedeutet, wie
ich leben und was ich machen will, auf einem Blatt
Papier darstellen? Es wäre so toll, wenn ich das schaf-
fen würde. Dann könnte ich immer, wenn ich mich
ein wenig verloren fühlte, einfach auf meine Zeich-
nung blicken und wüsste wieder, was mir wichtig
wäre. Kannst du mir helfen?“
  Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Ein


12
ganzes Leben zu verstehen und auf ein Blatt Papier zu
bringen, das erschien mir schon sehr anspruchsvoll zu
sein. Und außerdem hatte ich so etwas ja selbst noch
nie gemacht. Während ich in ihre fragenden Augen
blickte, wurde mir bewusst, dass ich jetzt nicht lange
überlegen konnte. So sagte ich kurzum „Ja“.
  Dann zögerte ich jedoch, um danach fortzufahren:
  „Ja, …ich will es versuchen, aber versprechen, dass
es funktioniert, kann ich nicht.“
  „Macht nichts“, antwortete Caro. „Hauptsache, du
hilfst mir.“
  Als würde sie nach den richtigen Worten suchen,
drückte und knetete sie ihre Lippen aneinander, um
dann fortzufahren:
  „Weißt du, das Problem ist, dass ich das Gefühl
habe, so viele Antworten auf Fragen schon zu ken-
nen, die ich nie gestellt habe. Die Fragen jedoch, die
mir wirklich wichtig sind, deren Antworten kenne ich
nicht. Zum Beispiel weiß ich ganz genau, was eine
Quadratwurzel ist, aber ich habe keine Ahnung, was
den Menschen allgemein im Leben wichtig ist und ob
das bei allen Menschen mehr oder weniger gleich ist
oder nicht. Oder ich lerne in der Schule etwas, zum
Beispiel alle möglichen Dinge aus Physik, ohne je
zu erfahren, warum diese überhaupt so wichtig sind.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich überhaupt
nicht weiß, wie die Welt funktioniert und wie die Din-
ge zusammenhängen. Das frustriert mich.“
  Für einen Moment senkte Caro ihren Blick, dann
fuhr sie auch schon fort: „Aber warte einen Augen-
blick, ich hol’ noch schnell ein paar Notizen aus


                                                   13
meinem Rucksack, die für meine Zeichnung noch
helfen könnten.“
  Caro sprang auf und wirbelte mit ihrem dunklen
Lockenkopf durch das Zimmer, um noch mehr ihrer
Notizen heranzuschaffen. Das waren ja eine ganze
Menge Fragen gewesen, dachte ich mir. Ich über-
legte, wie ich Caro am besten helfen könnte. Vor
allem musste ich entscheiden, womit wir am besten
beginnen sollten. Da fiel mir ein erster Plan ein und
ich war zufrieden.
  Während Caro noch in ihrem Rucksack kramte,
hatte ich Zeit sie genauer zu betrachten. Sie hatte
schulterlange braune Locken, grüne aufmerksame
Augen und um ihren Hals baumelte eine dünne Kette,
an der ein kleines viereckiges Holzamulett befestigt
war. Sie machte einen lebendigen, zufriedenen Ein-
druck und dennoch schien sie ihren Kopf voller Fra-
gen zu haben.
  Caro bemerkte nun, dass ich noch immer wie an-
gewurzelt im Zimmer stand und deutete mir, mich
auf den großen Teppich in der Mitte zu setzen. Ich
nahm Platz und sah mich im Zimmer um. Mein Blick
fiel gleich auf ein wunderschönes Fernrohr, welches
durch das Fenster auf die Sterne gerichtet war. Wie
gut man die Sterne wohl dadurch sehen könnte, über-
legte ich für einen Moment, dann beschloss ich auch
schon, meinen Blick durch Caros Zimmer weiter-
schweifen zu lassen. Neben dem Fernrohr, unterhalb
des Fensters, stand ein kleinerer Holzschreibtisch, auf
dem noch einige Schulsachen aus dem letzten Jahr
lagen. Gleich anschließend war Caros Bett, an dessen


14
Fußende ein großes Aquarium stand. Darin tummel-
ten sich einige Fische, in schillernden, bunten Farben.
Schräg hinter mir befand sich die Eingangstüre und
anschließend große Kästen voll mit Büchern, CD’s
und Kleidern. Vor dem Schrank lag ein halbfertiges
Puzzle. Es sah nach dem Bild einer Tänzerin in einem
großen Theater aus, aber ganz konnte man es noch
nicht erkennen. Dann gab es noch eine Korkwand,
auf die vielerlei Eintrittskarten und Notizzettel ge-
pinnt waren. Und als ich gerade das Aquarium näher
inspizieren wollte, lenkte Caro wieder meine Auf-
merksamkeit auf sich und legte los:
  „Also, ich habe jetzt noch einige Blätter geholt, auf
denen ich mir im letzten Jahr Notizen gemacht habe,
die wir hoffentlich verwenden können. Dann hab` ich
da noch einige meiner Bücher und zusätzlich Fotos
von meinen Freunden und …“
  Caro begann zu erzählen und ich besann mich mei-
ner ersten Idee, um ihr zu helfen, doch dafür musste
ich sie erst einmal stoppen.
  „Warte mal“, ich spürte ihren ein wenig verunsi-
cherten Blick und fuhr fort: „Ich denke, wir können
die Reise entweder von Innen oder von Außen be-
ginnen, aber irgendwo in der Mitte, das funktioniert
nicht. Also wofür entscheidest du dich?“
  Caro blickte mich fragend an. Ich erklärte ihr:
  „Von Außen bedeutet, dass wir die Welt, wie von
einem Hubschrauber aus, ansehen und uns überle-
gen, wie die Dinge auf der Welt zusammenhängen.
Von Innen hingegen bedeutet, dass wir bei uns selbst
beginnen und uns überlegen was für uns wichtig ist.


                                                    15
Das, was in den Schulbüchern steht, beschreibt zum
Beispiel eher die Welt von Außen, deine Wünsche
hingegen, die Fotos deiner Freunde und wie gern du
sie hast, gehören zur Welt von Innen.“
  Caro überlegte kurz, dann sagte sie: „Von Außen,
von der Welt, das gefällt mir für den Anfang gut.“
„Einverstanden“, entgegnete ich, „dann geht die Rei-
se morgen früh los.“

Caro war beinahe schon eingeschlafen, als ich mich
von ihr verabschiedete und durch das Fenster ins Freie
stieg. Nach einer Weile drehte ich mich nocheinmal
nach ihr um, sie lag bereits in ihrem Bett und ich be-
merkte, dass sie ihr Amulett in den Händen hielt, um
es ganz fest an sich zu drücken.
  Ich dachte an Caros Wunsch ihre Welt zu malen.
Bestimmt würde es nicht einfach werden. Vorallem
war mir klar, dass ich ihr nicht alleine dabei helfen
können würde, aber ich hatte schon eine Idee für mor-
gen und langsam aber sicher begann mir die bevorste-
hende Reise zu gefallen.




16
Die Welt von oben

Alles lag noch im sanften Licht des Morgens, als
ich über eine ausgedehnte Wiese in Richtung Caros
Haus marschierte. Hinter mir lag ein großer See, auf
dem bereits einige Fischerboote tuckerten und die
spärlichen Häuser an den Ufern verrieten mir, dass
ich in einer eher ländlichen Gegend sein musste, ir-
gendwo in Südskandinavien, soviel war sicher. Das
Haus, welches ich gestern Abend im Dunkeln noch
fast gar nicht sehen konnte, rückte nun immer näher
und es gefiel mir sehr gut. Es war ein schlichtes zwei-
stöckiges Landhaus mit einer schönen Holzveranda
davor, auf der zwei Schaukelstühle der aufgehenden
Sonne entgegen zu lachen schienen. Ich war mir si-
cher, dass man von der Veranda über den See auf
die dahinter liegenden Hügel im Morgendunst sehen
konnte und ich spürte, dass der Ort etwas Besonderes
an sich hatte. Ich stieg die drei Stufen auf die Veranda
empor und stand nun an der Eingangstüre.
   Ich hielt kurz inne und hörte das Summen einer
Melodie aus dem Inneren des Hauses. Für einen Mo-
ment überlegte ich, wer sonst noch aller im Haus sein
könnte, dann läutete ich auch schon an. Als sich das
Summen der Haustür näherte, merkte ich, dass es
Caro war. Fröhlich öffnete sie mir die Türe und be-
grüßte mich:
  „Hallo, ich bin schon abmarschbereit.“
  „Du hast doch hoffentlich keine Angst vor dem
Fliegen?“, fragte ich.
  Caro blinzelte mich erwartungsvoll an und so ver-


                                                     17
ließen wir wenig später die Veranda und machten uns
auf in die Lüfte, in Richtung eines kleinen Planeten,
der nicht weit von der Erde entfernt lag.

Schon von weitem sah ich Dr. Bionicus mit ange-
strengter Miene vorne übergebeugt auf seinem Pla-
neten stehen, um ja keinen Blick auf die Erde zu
verpassen. Hinter ihm waren fünf Flip Charts in den
Boden gesteckt, auf denen die verschiedensten Mo-
delle gezeichnet waren. Und von weitem sah ich auch
schon Yin und Yang, die beiden Agaporniden, kleine
Papageien, in ihrem Käfig, welcher mindestens ein
Fünftel des kleinen Planeten einnahm. Das Ganze sah
in etwa so aus:




„Hallo, Dr. Bionicus“, begrüßte ich ihn, als wir auf
dem Planeten ankamen.
 „Hallo Jonathan, schön, dass du mal wieder vorbei-
kommst“, erwiderte Dr. Bionicus und rückte schnell


18
seine Brille zurecht.
  „Wen hast du mir denn da mitgebracht?“, fragte er
etwas überrascht.
  „Das ist Caro“, erwiderte ich „sie hat mich gefun-
den, weil sie ihr Leben auf ein Blatt Papier zeichnen
möchte. Und dabei möchte ich ihr natürlich helfen.
Am besten ist, Caro erzählt dir selber mehr.“
  Caro stand noch etwas ehrfürchtig auf dem kleinen
Planeten und blickte sich staunend um. Doch dann
fasste sie sich und sagte:
  „Ich möchte eine Zeichnung meines Lebens malen,
sie soll Caros Welt heißen. Sie soll alles enthalten,
was für mich eine Bedeutung hat und was mir wich-
tig ist. Und außerdem soll sie mir zeigen, wie ich die
Dinge angehen soll! Aber irgendwie habe ich gerade
gar keine Ahnung. Ich weiß auch nicht wirklich, was
es in der Welt alles gibt und wie alles funktioniert.“
  Dr. Bionicus rückte wieder seine Brille zurecht,
dann sagte er: „Lass mich das einmal wiederholen.
Du möchtest auf einem Blatt Papier dein Leben dar-
stellen. Das hört sich nach einer ziemlichen Heraus-
forderung an. Aber mir gefällt die Idee.“
  Dr. Bionicus ging grübelnd auf dem kleinen Pla-
neten auf und ab und es schien, als müsste er das erst
einmal verarbeiten. Nach einer Weile drehte er sich
zu mir und fragte: „Was ich noch nicht ganz verstehe,
ist, wie ich Caro dabei helfen kann?“
  Caro und ich erklärten ihm, dass wir für die Reise
von Außen zu ihm gekommen waren und mehr über
seine Flip Charts erfahren wollten. Da erhellte sich
seine Miene und er begann zu erzählen:


                                                   19
„Bevor wir mit der Reise von Außen beginnen kön-
nen, möchte ich dich mit dem Grundsatz Jonathans,
Dr. Quantums und mir bekannt machen. Du kennst
den Grundsatz doch noch nicht oder?“
  Caro blickte den Professor und mich fragend an.
Kein Wunder, hatte ich ihr ja vom Grundsatz auch
noch nicht erzählt und so kam Dr. Bionicus zu einem
kleinen Auftritt.
  „Vorhang auf, Popcorn und Cola gefällig?“, rief der
Professor mit etwas dünner Stimme aus und proji-
zierte mit goldener Schrift seinen Grundsatz auf den
Erdball unter uns. Caro beugte sich gespannt nach
vorne, so dass ihre braunen Locken schon beinahe
senkrecht zur Erde standen und der Professor las:
  „Sähet viele Samen, aber überlasst das Gießen den
Schülern.“
  Caro strich sich ihre Locken aus dem Gesicht und
blickte Dr. Bionicus fragend an.
  „Damit ist gemeint, dass es unsere Aufgabe als Wis-
senschaftler und Lehrer ist, die Menschen und Schü-
ler auf möglichst viele verschiedene Dinge aufmerk-
sam zu machen und ihr Interesse zu wecken, aber
sie in der Folge selbst wählen zu lassen, was für sie
besonders interessant ist. Ich gebe dir ein Beispiel:
Ich bin mir sicher, du hast in der Schule schon einen
Professor erlebt, der stundenlang, ohne dich vorher
zu fragen, über bestimmte Dinge gesprochen hat, die
dich überhaupt nicht interessiert haben. Und in der
Folge hast du dich dann auch nicht mehr mit ihnen
beschäftigt. Stimmts? Dabei soll Lehren eben wie
eine Austellung sein, in der man zunächst an den vie-


20
len Gemälden nur vorüberschreitet, bevor man eines
davon genauer betrachtet. Denn sobald das Interesse
da ist, wird der Samen von selber gegossen.“
  Als der Professor die letzten Worte gesprochen hat-
te, verschwand die Schrift auf dem Erdball und Caro
drehte sich wieder zu ihm. Dr. Bionicus war mitt-
lerweile zu seinen Flip Charts weitergegangen und
sagte:
  „Ich meine es ernst mit meinem Grundsatz und des-
halb sollen diese Flip Charts wie meine Ausstellung
für dich sein. Betrachte sie einfach und dann sag mir,
worüber du mehr wissen möchtest.“
  Caro ging ein paar Schritte zu den Flip Charts hi-
nüber und betrachtete sie aufmerksam. Auf dem er-
sten waren ein paar undefinierbare Skizzen zu sehen,
auf dem zweiten gleitete ein Vogel mit ausgebreiteten
Flügeln über das Meer, auf dem dritten und dem
vierten gab es jeweils eine Liste, die Überschrift auf
der einen war Naturgesetze und auf der anderen Men-
schengesetze und auf dem fünften Chart schließlich,
war eine Abbildung der Kontinente zu sehen.
   Nachdem Caro jede Chart genau betrachtet hatte,
sagte sie zu Dr. Bionicus: „Ich glaube, ich brauche für
alles noch eine genauere Erklärung, denn so richtig
schlau bin ich nicht geworden. Aber es sieht alles sehr
interessant aus.“
  Dr. Bionicus lächelte, dann rückte er sich seine Bril-
le zurecht und sagte: „Ja so ist das mit der Welt von
Außen. Die meisten Dinge erkennt man eben erst,
wenn man ihre Bedeutung kennt. Auch wenn man
vieles von Außen gut erkennen kann, so bleibt im In-


                                                     21
neren noch immer viel verborgen.
  Also nun zu meinen Bildern. Auf dem ersten, fin-
den sich meine Gedanken und Notizen, in ihnen kann
man von Außen noch nicht viel erkennen, aber das
zweite Bild ist für mich das perfekte Symbol für die
Welt von Außen.“
  Während Caro und ich das Bild des Vogels, der über
das Meer gleitete, genauer betrachteten, fuhr der Pro-
fessor fort:
  „Wer möglichst hoch über der Welt schwebt, der hat
den besten Aussichtspunkt für die Welt von Außen
gefunden. Er sieht die ganze Bühne. Der Albatros,
den ich gezeichnet habe, hat aber noch eine besonde-
re Gabe. Sobald er ins Meer eintaucht, sieht er auch
die Welt von Innen. Denn wie ich schon gesagt habe,
ist es nicht genug, die Welt nur von Außen zu sehen.
Um sie verstehen zu können, muss man sie von bei-
den Seiten betrachten.“
  Nach einer kleinen Pause fügte Dr. Bionicus hinzu:
  „Ich hoffe, der Gedanke und das Bild des Albatros
helfen dir auf dem Weg zu deiner Zeichnung, Caro.“
  Caro nickte und dennoch schien sie ein wenig in
Gedanken versunken zu sein. Auch ich grübelte und
so standen Caro und ich nachdenklich auf dem besten
Logenplatz der schönsten Bühne Namens Welt.
  Dr. Bionicus war mittlerweile zu den nächsten Bil-
dern weitergegangen und riss uns aus unseren Gedan-
ken:
  „Drei spannende Charts hätte ich noch für dich. Bist
du bereit?“
  Caro war schnell wieder Feuer und Flamme und so


22
begann Dr. Bionicus zu erzählen:
   „Mit meinen letzen drei Charts habe ich versucht
darzustellen, welche Gleichmäßigkeiten es auf der
Welt gibt. Denn wer die Welt von Außen betrachtet,
der sieht das Ganze und stellt fest, dass es bestimmte
Regeln und Gleichmäßigkeiten gibt.
   So siehst du auf meinem dritten Chart eine Liste der
Naturgesetze. Dazu gehören zum Beispiel die Gravi-
tation, die Thermodynamik oder die Lichtgeschwin-
digkeit. Die Naturgesetze kann niemand auf der Erde
ändern, ein Poet würde sagen, dass sie einfach sind.
So verhindert zum Beispiel die Schwerkraft, dass du
wie ein mit Gas gefüllter Luftballon plötzlich ins All
fliegst.
    Viel spannender noch sind aber die Menschenge-
setze. Das sind die Gesetze, welche die Menschen
selber schaffen, wie zum Beispiel die juristischen
Gesetze oder die Festlegung auf ein bestimmtes Wirt-
schaftssystem. Die Menschengesetze sind nicht über-
all gleich auf der Erde, zusätzlich können sie sich im
Laufe der Zeit verändern und dennoch sind sie häufig
so beständig wie die Naturgesetze. Das ist doch eine
spannende Unterscheidung, oder?“
   „Daran habe ich noch nie gedacht, das gefällt mir“,
antwortete Caro und schüttelte sich ein paar Locken,
die in ihr Blickfeld gefallen waren, aus dem Gesicht.
Gespannt drehte sie sich bereits zum nächsten Chart,
auf dem eine Abbildung der Kontinente zu sehen war.
   „Das ist mein letztes Bild. Auch wenn es nur eine
Abbildung ist, so wirst du gleich bemerken, dass man
zumindest gleich vier verschiedene Dinge darauf se-


                                                    23
hen kann, nämlich auf welchen Teilen der Welt, wel-
che Religionen vorherrschen, wo es Krieg gibt und
wie wohlhabend und glücklich die Menschen sind.
  Eigentlich komme ich ja ohne große Technik auf
meinem Planeten aus, aber dieses Bild war mir sehr
wichtig, sodass ich eine kleine Ausnahme gemacht
habe. Innerhalb des Bildes liegt nämlich ein kleiner
Speicher, der mit Daten gefüttert ist. So kann ich auf
einer kleinen Anzeige auf der Rückseite des Bildes,
meine gewünschten Dimensionen einstellen und
dann leuchten die Länder in den entsprechenden Far-
ben auf.“
  Ich war überrascht, dass Dr. Bionicus ein solches
Bild auf seinem Planeten hatte, vorallem weil ich
wusste, dass er nur mehr sehr selten auf die Erde kam
und sich mit Technik eigentlich nicht gut auskannte.
  So blickte ich ein wenig verwundert auf den Profes-
sor, der bereits angestrengt durch seine Brillengläser
auf die kleine Anzeige blickte und Caro fragte:
  „Welche Dimensionen interessieren dich beson-
ders? Wohlstand, Kriege, Religionen oder Glück?“
  „Glück und Wohlstand“, erwiderte Caro.
  Dr. Bionicus drückte ein paar Tasten, dann sagte
er: „Gib Acht, was passiert, wenn ich nun Glück und
Wohlstand einstelle, … ,wie du siehst, leuchten jetzt
die besonders wohlhabenden Regionen der Erde grün
auf und die glücklichsten Regionen haben rote Quer-
striche.“
  Caro und ich beugten uns zum Chart und bemerk-
ten, dass die wohlhabendsten Regionen nicht unbe-
dingt auch die glücklichsten waren und die Ärmsten


24
nicht die Unglücklichsten.
  Das brachte Caro ins Grübeln und sie begann sachte
auf ihrer Unterlippe herum zu knabbern. Nach eini-
gen Augenblicken fragte sie:
  „Wie wird man eigentlich glücklich?“
  Es entging mir nicht, dass Dr. Bionicus kurz den
Blick senkte und sich für einen Moment an seine Bril-
le griff. Dann sagte er:
  „Auf diese Frage gibt es sehr viele individuelle Ant-
worten. Ich kann dir gerne ein anderes Mal mehr da-
rüber erzählen. Aber jetzt geht es sich nicht mehr aus.
Ich habe nämlich schon vorhin bemerkt, dass wir die
Zeit ganz übersehen haben und meine Vögel Yin und
Yang dringend etwas zu trinken brauchen.“
  Caro wirkte ein wenig verdutzt über den plötzlichen
Schwenk des Professors, aber es schien, als würde sie
jetzt nicht nachbohren wollen, denn sie stand schwei-
gend da.
  Da schlug Dr. Bionicus vor: „Besucht doch in der
Zwischenzeit Sofia, ich bin mir sicher, sie hat wich-
tige Antworten auf diese Frage.“
  Als ich den Namen Sofia hörte, wurde mir ein we-
nig mulmig. Doch gleichzeitig merkte ich, wie mich
Caro und Dr. Bionicus erwartungsvoll anblickten.
  „…Es ist wichtig für Caro“, hörte ich den Professor
sagen. Also gab ich klein bei.
  „Kein Problem, wir besuchen Sofia. Danke, dass du
uns geholfen hast, wir zwei werden uns jetzt schnell
auf den Weg zur Erde machen, um Mittag zu essen.“
  Caro nickte zustimmend, dankte Dr. Bionicus und
wir machten uns auf den Weg.


                                                    25
„Es war mir ein Fest“, sagte Dr. Bionicus noch
schnell und als wir schon fast an der Krümmung, un-
ter der wir ihn nicht mehr sehen könnten, angelangt
waren, blickte ich mich noch einmal vorsichtig nach
ihm um. Er stand bei Yin und Yang und blickte gedan-
kenverloren durch die Käfigstäbe. Ich hatte Recht ge-
habt, dass Caro mit ihrer letzten Frage einen wunden
Punkt in ihm getroffen hatte. Und Caro war es auch
nicht entgangen.
  Denn als wir uns der Erde langsam näherten be-
merkte Caro: „Vorhin hat Dr. Bionicus plötzlich so
abwesend gewirkt. Als wir wegflogen, hat er ganz
traurig seine Vögel angesehen. Warum lässt er sie
nicht einfach frei fliegen, genauso wie seinen Alba-
tros?“
  „Ich glaube er hat Angst, dass sie vielleicht nicht
mehr zu ihm zurückfinden würden“, entgegnete ich,
aber innerlich wusste ich, dass das nicht die ganze
Wahrheit war.

Wir sahen nun bereits unter uns den See, der in der
Sonne glitzerte und näherten uns rasch Caros Haus.
Ich spürte die Wärme der Sonne auf meiner Haut und
mir gefiel dieser Ort immer besser. Eine friedvolle
Stimmung lag in der Luft, als wir kurz darauf die paar
Treppen auf die Veranda empor stiegen und das Haus
betraten.
  In meine Nase stieg eine Mischung aus frisch lasier-
tem Holz und Leder, als ich den Eingangsbereich bet-
rat, welcher gleich in ein großes geräumiges Wohn-
zimmer überging. Mein Blick fiel schnell auf die


26
Couchbank vor dem großen Fernseher, ich vermutete,
dass sie neu sein musste. Durch die großen Fenster
flutete das Sonnenlicht in den Raum und ich kam zu
dem schnellen Urteil, dass hier alles sehr wohnlich
und gemütlich war.
  Caro führte mich in die Küche und wir beschlossen
Spaghetti zu kochen, um für den Nachmittag gerüstet
zu sein. Den schwierigeren Part der Sauce übernahm
Caro, während ich darauf aufpasste, dass die Nudeln
nicht zu lange kochten. So stand ich vor dem Topf und
überlegte, wann ich das letzte Mal gekocht hatte. Mir
fiel auf, dass es schon lange her gewesen sein musste.
Ich versuchte mich zu erinnern, da schweiften meine
Gedanken auch schon zu Sofia.
  Und als ob Caro meine Gedanken lesen konnte,
sagte sie plötzlich:
  „Jonathan, darf ich dich fragen, warum das mit So-
fia ein wenig schwierig ist?“
  Ich hielt kurz inne, weil ich nicht so recht wusste,
was ich sagen sollte. Warum es mit Sofia schwierig
war? Eigentlich war es ja gar nicht schwierig, ich
hatte sie nur schon länger nicht gesehen, dachte ich.
Und natürlich fiel mir auch ein, dass sie einmal meine
Freundin gewesen war.
  Ich entschied mich, Caro folgendes zu sagen:
  „Sofia und ich haben einmal eine besondere Bezie-
hung gehabt, wenn du verstehst was ich meine.“
  „Klar verstehe ich“, entgegnete sie.
  „Wenn es dir lieber ist sie nicht zu besuchen, dann
gehen wir nicht.“
  Das kam für mich in dieser Situation aber nicht in


                                                   27
Frage, also sagte ich:
  „Wir besuchen Sofia. Es ist ja keine große Ge-
schichte. Und ich bin mir sicher, sie wird dir bei dei-
ner Zeichnung weiterhelfen können.“
   So setzten wir uns an den Küchentisch, um uns für
das nächste Abenteuer zu stärken. Während ich Caro
beobachtete, wie sie geschickt die Nudeln aufrollte
und in ihren Mund schob, fiel mir noch etwas An-
deres ein, was ich mich schon heute Morgen gefragt
hatte: Wo waren eigentlich Caros Eltern?
  Ich wollte Caro jetzt nicht danach fragen, es war ja
noch genügend Zeit und sie sah gerade so zufrieden
aus. Während wir nach dem Essen alles verstauten,
summte Caro die ganze Zeit eine Melodie, wie schon
heute Morgen. Jetzt hatte ich Zeit mich auf die Melo-
die zu konzentrieren und tatsächlich, ich erkannte sie.
Es war der Refrain eines U2 Liedes, Beautiful Day.
Ich freute und wunderte mich zugleich, dass ich das
Lied erkannt hatte, denn eigentlich hatte ich mit die-
ser modernen Musik ja weniger zu tun. Ich versuchte
mich zu erinnern, wo ich das Lied gehört hatte, da fiel
es mir ein.
  Ich musste lächeln. Es war bereits sehr viele Jahre
her, ich war damals nach einem Kongress mit einem
japanischen Geschäftsmann in einer Moskauer Flug-
hafencafeteria gesessen. Auf Grund eines Schnee-
sturms hatten alle Flüge große Verspätung und so
saßen wir mehrere Stunden in diesem Café fest und
warteten. Nicht zu übersehen war eine riesige Lein-
wand gewesen, auf der dieses Lied in einer Endlos-
schleife gespielt wurde.


28
Und während Caro das Lied vor sich hin summte,
dachte ich mir, dass so kein 16 oder 17 jähriges Mäd-
chen aussah, das keine Eltern mehr hatte. Vielleicht
waren sie ja einfach nur auf Urlaub! Ich ärgerte mich
darüber, immer gleich so düstere Gedanken zu haben
und sagte:
  „Dann kann’s jetzt los gehen, es ist höchste Zeit.“
  „Wohin geht es diesmal?“, fragte Caro und verzog
ihren Mund zu einem breiten erwartungsfreudigen
Lächeln.
  „Nach Südamerika“, entgegnete ich und wenig spä-
ter nahmen wir unsere Fahrt durch die Lüfte auf und
ließen das sonnige Südskandinavien hinter uns.




                                                  29
Jardin de niños del arbol

Caro und ich waren bereits im Landeanflug auf Ar-
gentinien und wir merkten schnell, dass es hier richtig
kühl war. Starker Wind jagte die Wolkenfetzen über
das hügelige Land, es roch nach Regen. Die Bäume
und Sträucher waren vom Wind ganz gebogen. Nach
dem vielen Sonnenschein am Vormittag waren Caro
und ich nicht darauf gefasst gewesen. Eigentlich
dumm, denn in der Eile hatten wir ganz darauf ver-
gessen, dass in Argentinien derzeit natürlich Winter
war.
  Nun standen wir ein wenig fröstelnd vor der großen
Metallpforte des Jardin de niños del arbol; was über-
setzt so viel wie Kindergarten der Bäume bedeutete.
Ich blickte durch die Pforte in den Garten und mir
wurde bewusst, dass ich wirklich eine halbe Ewigkeit
nicht mehr hier gewesen war. Ich konnte mein Herz
leicht klopfen hören und atmete die kühle aber erfri-
schende Luft tief ein.
  „Mr. Jonathan, welch Überraschung!“, rief Señora
Abraldes und öffnete die Tore des Kindergartens. „Ich
bringe euch zu Sofia!“ Caro und ich folgten Señora
Abraldes durch den Garten zum Sonnenhaus, wie So-
fia seinerzeit das Hauptgebäude des Jardin de niños
del arbol genannt hatte. Das Sonnenhaus war ein aus
Holz gebautes und mit Efeu überzogenes längliches
Oval mit großen Glasfenstern.
  „Die Kinder sollten sich hier nie eingesperrt füh-
len“, hatte Sofia einst gesagt, als wir die Pläne für den
Kindergarten entworfen haben.


30
Wir betraten das Sonnenhaus und blickten auf drei
Dutzend Kinder, die kreuz und quer im Raum verteilt
waren. Manche malten Bilder oder kritzelten einfach
auf ihren Blättern herum, andere bastelten mit Kas-
tanien oder Tannenzweigen und der Rest spielte mit
Bällen oder lief aufgeregt um die Tische im Sonnen-
haus herum. Das Stimmengewirr der Kinder erfüll-
te den Raum. Ganz so wie in einem völlig normalen
Kindergarten, aber dennoch fühlte es sich hier ein
wenig anders an: Ein wenig freier und friedvoller.
  Mein Blick fiel auf Sofia, die gerade über die Schul-
tern eines kleinen Jungen blickte, welcher versuchte,
eine Berglandschaft zu malen. Ihre dunklen glatten
Haare verdeckten ihr Gesicht ein wenig, doch ich er-
kannte sofort, was ich schon immer in ihr gesehen
hatte. Wie wenig sich das Wesen von Menschen doch
änderte, dachte ich. Sie war zwar älter geworden,
doch es waren keine tiefen Spuren der vergangenen
30 Jahre zu sehen und ein nahezu jugendlicher Aus-
druck lag auf ihrem Gesicht.
  „Sofia“, rief Señora Abraldes, „du hast Besuch.“
  Als Sofia zu uns aufsah, wurde mir klar, wie un-
vorbereitet ich auf diesen Moment eigentlich gewe-
sen war. Ich merkte noch, dass Sofia leicht zuckte, als
sie aufstand, um dann gefasst auf mich zuzusteuern
und mit klarer Stimme zu sagen: „Schön, dass du da
bist.“
  Ich wusste nicht so recht was ich sagen sollte, da
blickte sie auch schon auf Caro und scherzte: „Hast
du Zuwachs bekommen?“
  Darauf hin gab ich ein wenig verlegen zurück: „Ja,


                                                    31
so könnte man es auch nennen, …, nein, das Wichti-
ge ist“, ich räusperte mich und fand meine gewohnte
Stimme wieder: „Caro hat ihren Kopf voller Fragen
und ich helfe ihr dabei, Antworten zu finden. Wir wa-
ren schon bei Dr. Bionicus und auf der Suche nach
dem Glück hat er uns geraten, zu dir zu kommen, da
du die Expertin des Glücks bist. Und nun sind wir
hier.“
  „Ah, das scheint ja nun einmal ein vernünftiges Pro-
jekt zu sein“, entgegnete Sofia und blinzelte Caro zu.
  „Na, dann kommt.“ Wir nahmen an einem kleinen
runden Holztisch inmitten des Sonnenhauses Platz.
Sofia fragte Caro, was genau am Glück sie nun am
meisten interessiere und Caro antwortete:
  „Ich möchte wissen, wie man glücklich wird.“
  Da lächelte Sofia und entgegnete: „Da hast du dir ja
bereits die spannendste Frage von allen ausgesucht.
Ich will versuchen, dir eine Antwort darauf zu geben.
Aber zuerst frage ich dich: Zähle mir ein paar Men-
schen auf, die du kennst, von denen du annimmst,
dass sie glücklich sind.“
  Caro knabberte auf ihrer Unterlippe und blickte
durch die großen Glasfenster ins Freie. Nach einigem
Grübeln antwortete sie:
  „Ich glaube, meine beste Freundin Hannah ist sehr
glücklich. Aber sonst fallen mir eigentlich keine Men-
schen ein, die so richtig glücklich wirken. Außer den
Kindern da, sie wirken sehr glücklich.“
  Sofia antwortete: „Warum, glaubst du, sind deine
beste Freundin Hannah und diese Kinder hier glück-
lich?“


32
Caro dachte angestrengt nach, dann sagte sie:
  „Hannah singt gerne und sie mag Georg. Und sie
verbringt viel Zeit mit Georg und mit dem Singen. Sie
hat Spaß an diesen Sachen. Und die Kinder hier, die
haben auch Spaß. Sie sind lebendig.“
  Sofia blickte auf die Kinder und lächelte. So ei-
nigten sich die beiden darauf, dass Glück etwas mit
Spaß haben und Lebendig sein zu tun hatte. Dann
fügte Sofia hinzu:
  „Glück ist aber sehr individuell. Nicht jedem ma-
chen die gleichen Dinge Freude. Obwohl Menschen
letztlich fast immer die gleichen Dinge brauchen, wie
zum Beispiel Geliebt und Verstanden zu werden, so
sind sie im Inneren dennoch ganz verschieden.
  Ich vergleiche die Psyche der Menschen gerne mit
Korallenriffen im Meer. Alle Korallen benötigen die
gleichen Bedingungen zum Überleben und dennoch
sind sie ganz verschieden aufgebaut. Manche sind
verwinkelt und haben richtige Stockwerke, andere
wiederum sind einfacher und man kann sie gut erfor-
schen. Das hängt nicht nur mit dem Alter der Riffe
zusammen, sondern natürlich auch damit, was ihnen
im Laufe der Zeit widerfährt. So kann es sein, dass
sich Riffe durch ein ungünstiges Klima in ihrer Ge-
stalt verändern oder Teile sogar ganz zerstört werden.
Wenn man die Korallenriffe dann genauer ansehen
möchte, gibt es Tage und Zeiten, da ist das Meerwas-
ser richtig trüb und man kann das Innere der Riffe
kaum erkennen. Und manchmal ist das Wasser rich-
tig klar und dann strahlen die Riffe in den schönsten
Farben.“


                                                   33
Mittlerweile hatte es draußen zu regnen begonnen
und die Tropfen prasselten gegen die Scheiben. Se-
ñora Abraldes brachte uns warmen Tee und ich fühlte
mich zum ersten Mal seit langem so richtig wohl.
  Caro nippte an ihrem Tee, dann sagte sie:
  „Dr. Bionicus hat Jonathan und mir auf einer Kar-
te gezeigt, dass die Menschen in manchen Regionen
glücklicher sind als in anderen. Die müssen doch si-
cher einen bestimmten Weg zum Glück entwickelt
haben, oder?“
  „Das kann schon sein. Wahrscheinlich liegt das an
der Kultur in bestimmten Regionen, daran, welche
Religion es dort gibt, welchen Stellenwert Familie
oder der Beruf hat oder auch einfach, wie wichtig
Feste und Fröhlich sein in einer Kultur sind. Aber
trotzdem ist Glück sehr individuell, davon bin ich
überzeugt.“
  Ich beobachtete Caro, wie sie ihren Kopf auf ihre
Hand stützte und nachdenklich ins Freie sah. Viel-
leicht dachte sie darüber nach, ob es nicht doch einen
bestimmten Weg zum Glück gab. Einige der Kinder
waren bereits neugierig auf uns geworden und stan-
den um unseren Tisch herum. Sie interessierten sich
jedoch weniger für unsere Gespräche, als für Caro.
Besonders ihre Locken hatten es den Kindern angetan
und ein mutiges Mädchen ertastete bereits mit ihren
Fingern die Struktur der Locken. Mich hingegen be-
obachteten die Kinder eher aus der Ferne, mit mehr
Ehrfurcht, was in diesem Moment recht nützlich war.
  Caro jedoch schien ihre besondere Lockenbehand-
lung in keinster Weise zu stören, sie drehte ihren Kopf


34
wieder zu Sofia und sagte: „Kannst du mir nicht noch
ein paar Ratschläge über das Glück geben?“
  Sofia nickte. Dann stand sie auf, stellte sich auf ihre
Zehenspitzen und ließ ihren Blick über den Kinder-
garten schweifen. Plötzlich hielt sie inne und forderte
uns auf, in ihre Richtung zu sehen. Wir drehten un-
sere Köpfe und sahen zwei ungefähr fünf Jahre alte
Burschen, die auf einem Bein herum hüpften und an
die Decke starrten. Da fiel von oben auch schon ein
Ball herab und einer der beiden ergatterte ihn. Dann
warf er den Ball wieder so weit er konnte Richtung
Decke und das Spiel ging von Neuem los. Die bei-
den Burschen lachten dabei, sie schubsten einander,
sprangen aufgeregt auf und ab und es war kein Ende
des Spiels ab zu sehen. Sofia sagte:
  „Merke dir einfach das Bild dieser beiden und ver-
giss es nicht. Sie sind glücklich, weil sie Spaß haben
bei dem was sie tun, weil geteiltes Glück das Glück
noch größer macht und weil sie vollkommen in ihr
Spiel eingetaucht sind. Sie sind wie in ihrer eigenen
Welt, dadurch haben sie alles was sie brauchen und
kommen auch nicht auf die Idee, sich mit anderen zu
vergleichen und vielleicht darüber nachzudenken, ob
sie etwas nicht haben, das jemand anderer hat. Das ist
schon das ganze Geheimnis.“
  Wir sahen den beiden Burschen noch eine Weile zu,
dann sagte Sofia:
  „Wenn es eine bestimmte Art gibt, das Glück zu fin-
den, dann ist sie, dass du in dir selber suchen musst.
Nur du kannst heraus finden, was dir Freude macht,
denn so wie kein Korallenriff einem anderen gleicht,


                                                      35
so ist auch jeder Mensch verschieden. Du musst die
Antwort in dir selber suchen.“
  Caro lächelte und nippte an ihrem Tee.
  „Die Reise nach Innen“, murmelte sie leise vor sich
hin und blicke mich mit funkelnden Augen an. Caro
hatte verstanden, was die Reise nach Innen war und
ich wusste, dass wir bald damit beginnen würden.
  Während wir langsam den Tee austranken, wurden
die Kinder um uns immer mutiger. Mittlerweile hat-
ten sie sich sogar schon an mich heran getraut und
begannen an meinen Ärmeln zu zupfen.
  „Ihr müsst aufpassen“, lächelte Sofia, „wenn ihr
noch länger hierbleibt, lassen sie euch nicht mehr ge-
hen. So ist das nun einmal.“
  Caro lachte und sagte: „Eine Frage habe ich noch,
Sofia. Gibt es etwas, das dich besonders glücklich
macht? Oder kannst du dein Glück in wenigen Sätzen
zusammenfassen?“
  Sofia lächelte und sagte:
  „Ja, das kann ich. Ich habe sogar einen Glückssatz.
Eigentlich ist er nur für mich bestimmt, denn er ist
etwas abstrakt, aber ich hoffe, du verstehst ihn den-
noch. Ich werde ihn aber nicht näher erklären, einver-
standen!?“
  Caro nickte und blickte gespannt auf Sofia, die ih-
ren Blick mit einem Lächeln auf den Lippen durch
den Kindergarten schweifen ließ und dabei sagte:
  „Das ist es. Das ist alles, was da ist. Also worauf
warten wir?“
  Die Art und Weise wie Sofia diesen Satz sagte be-
rührte mich. Ich saß da und fühlte mich plötzlich ein


36
wenig seltsam, richtig ungewohnt, aber ich konnte
das Gefühl nicht einordnen, welches sich irgendwo
tief in mir bemerkbar gemacht hatte.
  Um uns herum waren mittlerweile immer mehr
Kinder, die uns interessiert anblickten. Ich überlegte
kurz, ob sie verstanden worüber wir redeten. Ich beo-
bachtete ihre Gesichter genauer und dachte mir, dass
es ihnen wahrscheinlich vollkommen egal war, wo-
rüber wir redeten, aber dennoch war ich mir sicher,
dass sie alles ganz genau verstanden. Auf ihre Art und
Weise, eben wie Kinder verstehen.
  Señora Abraldes näherte sich dem Tisch und machte
Sofia darauf aufmerksam, dass in Kürze einige Eltern
kommen würden, um ihre Kinder abzuholen.
  So öffnete Sofia noch eine kleine Lade, welche
ganz versteckt unter der Holzplatte des Tisches ange-
bracht war und holte eine Ansichtskarte hervor. Auf
der Karte war ein wunderschöner üppiger, tief in der
Erde verwurzelter grüner Baum zu sehen. Am unte-
ren Ende des Bildes stand in geschwungener Schrift:
Jardin de niños del arbol.
   „Ich hoffe, das Bild gefällt dir. Ich finde, der Baum
mit seinen Wurzeln passt auch sehr gut zum Men-
schen. Nur wenn er kräftig und gesund verwurzelt ist,
können sich seine Äste und Blätter in den Himmel
strecken. Das Bild ist für dich, ein Geschenk.“
  Caro bedankte sich herzlich, während wir durch den
Eingang auch schon die ersten Eltern in das Sonnen-
haus kommen sahen. Sogleich wirbelten einige Kin-
der aufgeregt durch den Raum und Señora Abraldes
und Sofia hatten alle Hände voll zu tun.


                                                     37
„Bist du zufrieden?“, fragte ich Caro.
  „Sehr zufrieden“, erwiderte sie, mit der Ansichts-
karte in ihren Händen.
  In all dem Trubel verabschiedeten wir uns von Sofia
und als ich mich gerade wegdrehen wollte, fragte sie
noch:
  „Und Jonathan, wie geht es dir mit deinen Theori-
en?“
  „Gut, gut“, sagte ich hastig und drehte mich Rich-
tung Ausgang. Ich bemerkte noch wie sie Caro etwas
ins Ohr flüsterte, dann waren wir auch schon wieder
im Freien.
  Mittlerweile hatte es zu regnen aufgehört, aber der
Wind pfiff noch immer über das Land. Das Sonnen-
haus wurde bereits immer kleiner unter uns, da wollte
ich von Caro noch wissen:
  „Was hat dir Sofia ins Ohr geflüstert?“
  Caro lächelte und sagte: „Vergiss nicht, worauf es
ankommt, ich liebe, was ich tue und die Kinder geben
es mir tausendfach zurück.“




38
Ein skandinavischer Abend

Ich hatte das Gefühl, dass ich nachdenklicher als
Caro war, als wir nebeneinander auf der Veranda in
den Schaukelstühlen saßen und die letzten Lichtstrah-
len des Tages beobachteten. Die Vögel zwitscherten
dem Tag Gute Nacht zu und der See lag bereits in der
Dämmerung. Ich dachte an Sofia, an die Worte, die
sie mir beim Abschied gesagt hatte und an den ganzen
verrückten Tag. Noch vor 24 Stunden war ich auf ei-
ner irischen Universität gewesen, hatte nach einem
Gespräch mit einem Wissenschaftler vor der Biblio-
thek gesessen, an meinen Theorien getüftelt und in
die Sterne geblickt, um eine Antwort zu finden. Und
jetzt saß ich auf der Veranda eines skandinavischen
Hauses mit einem Lockenkopf von 16 Jahren, hatte
vielleicht den verrücktesten Tag meines Lebens hin-
ter mir und dennoch: Etwas in mir war aufgebrochen,
aber ich konnte dieses Was noch nicht einordnen.
  So saßen Caro und ich auf der Veranda und wippten
in unseren Schaukelstühlen, während sich die Nacht
langsam über der Landschaft ausbreitete.
  „Das war ein irrer Tag“, sagte Caro, „Danke“, und
nach einer Weile fügte sie hinzu: „Geht es dir gut?“
  „Ja“, sagte ich und lächelte ein wenig.
  „Ich hab noch so viele Fragen“, sagte Caro und
blickte mich mit einer Mischung aus Freude und
Angst an.
  „Du kannst ruhig fragen“, entgegnete ich, „wir sind
noch lange nicht am Ende unserer Reise angelangt.“
  Caro holte eine mit Früchten gefüllte blaue Tonscha-


                                                   39
le aus der Küche. Schwungvoll setzte sie sich wieder
neben mich, nahm ein paar Trauben aus der Schale,
hielt sie in die Höhe, betrachtete sie und sagte:
  „Woraus besteht das Glück eigentlich so wirklich,
ich meine so richtig, biologisch? Wenn ich eine dieser
Trauben esse, dann werde ich doch auch glücklicher.“
Genussvoll schob sich Caro eine Traube in den Mund
und grinste mich an. Ich lachte und suchte nach einem
guten Vergleich, um mehr über das Glück zu erklären,
da fiel mein Blick auf die letzten von der Abendsonne
beleuchteten Hügel am Horizont. Ich sagte:
  „Stell dir vor, du besteigst einen Berg, und nach
stundenlangem anstrengendem Aufstieg gelangst du
an den Gipfel. Du streckst deine Arme aus und ge-
nießt die Aussicht. Jetzt empfindest du Glück. Bio-
logisch gesehen sind das Hormone, die dein Körper
dabei ausschüttet. Aber Glück ist nicht gleich Glück,
es gibt das kurzfristige Glück, das du schnell einfan-
gen kannst und das langfristige, das schwieriger zu
erreichen ist.
  Wenn du zum Beispiel eine Traube isst, dann ist das
kurzfristiges Glück, wenn du hingegen ein Ziel er-
reichst, für das du sehr lange arbeiten musstest, dann
wird dein Glück langfristiger sein.“
  Nachdenklich wippte Caro auf ihrem Schaukel-
stuhl, dann fragte sie: „Glaubst du, dass es das ewige
Glück überhaupt gibt?“
  „Ich weiß es nicht“, erwiderte ich, „auf jeden Fall ist
es sehr schwierig zu erreichen.“ Nachdenklich saßen
wir auf der Veranda und hielten Ausschau nach den
ersten Sternen, die am Himmel zu funkeln begannen.


40
Caro legte ihren Kopf leicht zur Seite und sagte: „So-
fia hat erzählt, dass Vergleiche nicht gut für das Glück
sind. Aber würden wir Menschen, ohne uns mit an-
deren zu vergleichen, nicht viel weniger erreichen?“
  Ich sagte: „Du hast schon Recht. Aber dennoch
sind Vergleiche ganz gefährlich. Stell dir zum Bei-
spiel einen Indianer vor, der abgeschieden mit sei-
nem Stamm auf einer kleinen Insel lebt. Eines Tages
taucht ein großes Schiff auf und legt auf der Nach-
barinsel an. Menschen steigen aus und beginnen dort
Häuser, Bars und Discos zu bauen. Plötzlich sieht der
Indianer jeden Tag, wenn er auf das Meer blickt, die
Menschen auf der Insel feiern und tanzen, er hört sie
lachen und lärmen. Er kann erkennen, dass sie dort
exotische Gerichte essen und mit schnellen Motor-
booten über das Meer jagen.
  Was glaubst du, wie sich dieser Indianer jetzt fühlt?
Das Schlimmste an Vergleichen ist für mich jedoch,
dass sie für manche Menschen nie aufhören. Es gibt
sechs Milliarden Menschen auf der Welt. Glaubst du
nicht auch, dass wenn du es versuchst, du immer noch
einen Menschen finden wirst, der scheinbar mehr hat,
dem es scheinbar besser geht oder der glücklicher ist
als du? Für das Glück können Vergleiche wie Gift
sein. Man muss nicht alles haben, um glücklich zu
sein.“
  Nachdenklich wippte Caro auf ihrem Schaukelstuhl
hin und her und schob sich noch eine Traube in den
Mund. Vom See wehte eine sanfte Brise zu uns herauf
und die Sterne funkelten immer heller.
  Meine Gedanken schweiften weiter und mir fiel auf,


                                                     41
dass ich schon lange nicht mehr so viel gesprochen
hatte wie gerade eben. Da glänzte in meinem Augen-
winkel Caros Amulett und ich fragte:
  „Woher hast du eigentlich dieses schöne Amulett?“
  „Von meinen Eltern, sie haben es mir geschenkt als
ich noch kleiner war. Sie haben gesagt, dass ich es
immer fest drücken soll, sobald ich mich alleine fühle
oder vor einer Herausforderung stehe und dann wür-
den meine Sorgen verfliegen.“
  Ein Wolkenband zog langsam vor den Mond und es
wurde dunkler. Ich bemerkte, dass Caro noch etwas
auf ihrem Herzen hatte und nach einer Formulierung
rang. Dann sagte sie: „Ich habe heute so viele tolle
Dinge gelernt, aber irgendwie weiß ich nicht, wie ich
das mit mir verknüpfen soll. Ich meine, bei Dr. Bio-
nicus war mir klar, dass es die Reise nach Außen war,
aber bei Sofia, hat da schon die Reisen nach Innen
begonnen?“
  „Es war ein Vorfühlen auf die Reise nach Innen“,
erwiderte ich. „Morgen früh geht es dann richtig los.“
  Caro lächelte und wir vereinbarten, dass ich morgen
in der Früh wieder zu ihr kommen sollte. Ich stieg die
paar Stufen von der Veranda hinunter und überquerte
die Wiese in Richtung des Sees. Dann drehte ich mich
noch einmal um, das schwache Licht des Sternenhim-
mels schien auf Caros Haus und ich hoffte, dass Caro
nach all den Erlebnissen gleich eingeschlafen war.
Ich setzte meinen Weg fort und verschwand im Dun-
keln der Nacht.




42
Caros Glück

Das Morgenlicht flutete durch die Fenster in Caros
Zimmer, als wir am nächsten Morgen auf dem großen
Teppich in der Mitte des Raumes saßen. Caro wirkte
augeschlafen und sah mich erwartungsvoll an. Ich
fragte: „Bist du bereit für die Reise nach Innen?“
Caro nickte.
  Schon beim Herkommen hatte ich mir überlegt, wel-
che Fragen ich Caro stellen könnte, damit die Reise
möglichst weit gehen würde. Da war mir eingefallen,
dass mir vor langer Zeit ein Professor von einer Tech-
nik erzählt hatte, bei der man mit Hilfe verschiedener
Fragen mehr über sich erfahren könnte. Obwohl ich
mich nicht mehr haargenau an jede der Fragen erin-
nern konnte, gelang es mir doch sie zu rekonstruieren.
Schließlich kannte ich mich mit Techniken gut aus,
zumindest in der Theorie.
  Also sagte ich zu Caro: „Wir brauchen zuerst ein-
mal einen Block und einen Bleistift.“
  Sekunden später saß Caro mit den Utensilien be-
waffnet wieder neben mir auf dem Teppich.
  „Ich werde dir jetzt sieben Fragen stellen, eine nach
der anderen natürlich und du schreibst einfach drauf-
los. Denk nicht daran, was die Dinge heißen, die du
schreibst, schreib einfach, was tief aus dir kommt.
Natürlich musst du mir nachher nicht erzählen, was
du geschrieben hast, schließlich ist es nur für dich.“
  Caro nickte mir zustimmend zu und zückte ihren
Stift. Ich sagte: „Die erste Frage lautet:



                                                    43
„Was sind die Dinge, die dich inspirieren und dir
     Energie geben? Was sind die Dinge, die du wirk-
     lich liebst?“

Caro schrieb, sie schrieb bestimmt drei Minuten lang,
ohne auch nur aufzublicken. Während Caro nach-
dachte, ließ ich meinen Blick ein wenig schweifen.
Caro hatte die Karte des Jardin de niños del arbol be-
reits auf ihrer Wand gleich neben dem großen Schrank
befestigt. Ich musste an Sofia denken und wie sie
mich beim Abschied angesehen hatte. Ich konzen-
trierte mich wieder auf Caro. Ich stellte ihr die näch-
ste Frage und so ging es dann weiter bis zur siebten:

     „Was macht dich traurig? Welche Hindernisse
     liegen auf deinem Weg?“
     „Stell dir vor, du wärst ein Adler und könntest
     von oben auf deine Lebensreise sehen. Wo bist du
     gerade?“
     „Wenn du dein Leben von außen betrachtest, was
     fragt es dich, zu tun?“
     „Wenn du deine Lebensreise vorspulst und dann
     zurückschaust, wofür möchtest du in Erinnerung
     behalten werden?“
     „Stell dir vor, du könntest dich mit den besten
     Teilen deiner Selbst verbinden und eine Frage
     stellen. Welche Frage wäre das?“
     „Und was ist deine Antwort?“

 Caro schrieb, schrieb und schrieb, bestimmt vier
Seiten voll. Nachdem sie geendet hatte, fragte ich sie:


44
„Und wie war die Reise zu dir selbst?“
  „Spannend“, sagte sie, „ein wenig aufgewühlt fühle
ich mich und ich glaube, ich weiß jetzt viel mehr über
mich selbst.“
  Ich wollte nicht weiterfragen, denn Caros Antwor-
ten waren nur für sie bestimmt und schließlich kannte
ich sie auch noch nicht so gut. Dennoch vermutete
ich, dass wir im Laufe unserer Reise noch über einige
Antworten stolpern würden.
  Momentan waren ohnehin die vielen Fotos, die
rund um Caro auf dem Teppich lagen, viel wichtiger.
Vielleicht war ja dort jemand zu sehen, der eine wich-
tige Rolle für Caros Zeichnung spielen könnte. Caro
beugte sich über die Fotos und murmelte:
  „Hier sind Hannah und Georg, sie sind meine be-
sten Freunde, dann habe ich hier ein Foto meiner
Schulklasse und eines meiner Theaterklasse und dann
natürlich auch eines von meinen Eltern und meinem
kleinen Bruder.“
  Gespannt blickte ich auf das letzte Foto. Tatsäch-
lich, hier war Caros Familie vergnügt am Strand und
sogar Caro war darauf zu sehen. Ich fragte vorsichtig:
  „Wo ist denn eigentlich deine Familie?“
  Caro grinste ein wenig und sagte: „Ich dachte schon
du würdest nie danach fragen. Die junge Caro ganz
allein in einem großen Haus, ... , nein natürlich nicht,
meine Eltern sind nur gerade zu Besuch bei Verwand-
ten in England. Und meinen kleinen Bruder haben sie
mitgenommen. Ich durfte da bleiben, um mich auf die
erste Schulwoche vorzubereiten. Und wie du siehst,
tu ich das.“


                                                     45
Caro lächelte und mir fiel ein kleiner Stein vom
Herzen, weil sich das Rätsel um ihre Familie vorerst
gelöst hatte. Aber ich wollte vorsichtig sein, denn das
Leben war stets voller Überraschungen.
  „Wer ist dir sonst noch wichtig?“, fragte ich.
  Für einen Moment fasste sie sich an ihr Amulett,
presste die Unterlippen zusammen und ich hatte das
Gefühl, als würde sie meiner Frage am liebsten aus-
weichen wollen. Dann sagte sie zögernd: „Na ja, Cle-
mens gibt es da auch noch.“
  Ich wollte nicht nachbohren, da fuhr sie fort:
  „Er war mein Freund, aber jetzt ist er, …, keine
Ahnung, wir waren früher auch sehr eng befreundet,
aber jetzt hab ich das Gefühl, als wäre von unserer
Freundschaft nicht mehr sehr viel übrig geblieben.
Aber ich will gerade nicht darüber reden.“
  Caro knabberte am Ende ihres Bleistifts und blickte
zum Fenster, wie sie es schon getan hatte, seit sie
Clemens zum ersten Mal erwähnte. Ich wollte Caro
schnell auf andere Gedanken bringen, also fragte ich:
„Gibt es auch Dinge und Gegenstände, die für dich
und deine Zeichnung wichtig sein könnten?“
  Caro wandte ihren Blick vom Fenster ab und ließ
ihn durch das Zimmer gleiten. Dann stand sie auf und
holte aus dem Kleiderschrank ihre Lieblingsweste
und ihre Tanzschuhe, von der Kommode brachte sie
ihr Schmuckkästchen und schließlich stolperte sie in
ihren Flip Flops, die sie unter dem Bett gefunden hat-
te, wieder zu mir auf den Teppich. Außer Atem sagte
sie:
  „So, jetzt habe ich einige der Dinge, die mir wichtig


46
sind hergebracht. Was hältst du davon, wenn ich nun
eine erste Zeichnung wage, mit den Dingen und Men-
schen darauf, die mir besonders wichtig sind?“
  Ich war einverstanden und nickte, während Caro
bereits ein neues Blatt nahm und mit Buntschift zu
malen begann. Nach einer Weile begutachtete Caro
ihre fertige Zeichnung und sagte:




  „Ich glaube auf dem Blatt sind nun die wichtigsten
Dinge und Menschen. Aber ich frage mich, wie ich
alle Antworten aus den sieben Fragen in meine Zeich-
nung einbauen kann? Die Dinge, die mich aufhalten
und meine Lebensreise sind doch auch irgendwie
wichtig.“
  Ich entgegnete: „Was alles auf deine Zeichnung
kommt, dann kannst nur du wissen. Aber ich glaube,
dass die Dinge, die dich aufhalten, auch wichtig sind.
Schließlich gehören sie ja zu dir und du musst deinen
Weg und deine Art finden, ihnen gegenüberzutreten.
Das bedeutet jedoch nicht, dass sie auf deine Zeich-


                                                   47
nung müssen, aber für dich persönlich spielen sie si-
cher eine Rolle.“
  Caro nickte. Dann stand sie plötzlich auf, ging zu
ihrem Aquarium und drehte mir den Rücken zu. Ich
konnte erkennen, dass sie in Gedanken versunken
war. Sie biss auf ihrem Bleistift herum und sah den
Fischen zu, wie sie langsam und still ihre Kreise im
Wasser zogen. Es sah so aus, als würde Caro mit et-
was kämpfen, mit einer Frage tief in ihrem Innern.
  Und mit einem Ruck drehte sie sich um, sah mich
an und sagte: „Weißt du Jonathan, manchmal hab ich
das Gefühl, dass ich eigentlich nicht wirklich weiß,
wer ich bin. Manchmal hab ich das Gefühl, dass ich
gar keinen richtigen Charakter habe.“
  Mit einem zweiten Ruck drehte sie sich wieder zum
Aquarium zurück. Ich war überrascht über den plötz-
lichen Ausbruch und suchte nach den richtigen Wor-
ten. Dann sagte ich: „Ich kenne dich erst zwei Tage
lang und dennoch weiß ich schon von so vielen Din-
gen, die dich besonders machen. Denkst du, dass es
viele Menschen gibt, die ihr Leben auf nur ein Blatt
Papier malen möchten? Ich glaube nicht. Aber Cha-
rakter entsteht über die Zeit, es nützt nichts, sich vor-
zunehmen, wer man sein und was man tun wolle, man
muss es tun. Stell dir einen Gärtner vor, der seine Blu-
men gießt. Die Blumen, die er immer wieder gießt,
blühen auf, die anderen gehen verloren. Da nützt es
nicht, dass er sich nur vornimmt sie zu gießen.“
  Caro beobachtete ihre Fische und sah mich nicht an.
Sie grübelte. Dann ging sie zu ihrem Fernrohr, blieb
dort ein paar Sekunden stehen, drehte sich wieder um


48
und sagte: „Lassen wir das einmal. Ich glaube, ich
weiß, was ich gerade will. Ich will noch mehr darüber
erfahren, wer ich bin und was ich will. Und ich habe
eine Idee.“
  Sie ging zum Teppich, hob geschwind ihr goldenes
Büchlein auf und begann darin herumzublättern.
  „Ich will mein eigenes Glück einmal aufschreiben,
beschreiben, was Glück für mich ist. Hannah hat mir
in der Schule einmal einen Spruch auf eines meiner
Schulhefte geschrieben, den ich dann in mein gol-
denes Büchlein übertragen habe.“

  Nie verlerne so zu lachen wie du jetzt lachst froh
  und frei, denn ein Leben ohne Lachen ist wie ein
  Frühling ohne Mai.

„Und weil mir der Spruch damals so gut gefallen hat,
hat sie mir noch ein kurzes Gedicht über das Glück
dazugeschrieben.“

  Glück ist, wenn man etwas tut was man liebt,
  Glück ist, wenn man tut was man liebt mit den
  Menschen die man liebt, Glück ist, wenn es von
  Herzen kommt.

Und wieder begann Caro in ihrem Zimmer ihre Run-
den zu drehen. Ein wenig tat sie es den Fischen in
ihrem Aquarium gleich. Ich musste schmunzeln. Da
hörte ich Caro auch schon: „Wie fange ich an mein
Glück zu beschreiben, was hat Sofia gesagt? Mit et-
was, dass mir Spaß macht. Glück ist, Glück ist für


                                                  49
mich …“, murmelte Caro vor sich hin, „Glück ist,
wenn es von Herzen kommt. Ich hab’s, ich schreibe
jetzt mein eigenes Glück ist - Gedicht.“
  Triumphierend nahm Caro einen neuen Zettel. Dann
schrieb sie bestimmt 50 Glück ist – Sätze aus denen
sie folgendes Gedicht formte:

     Glück ist, wenn ich mit Hannah und Georg lustige
     Dinge unternehme.
     Glück ist, wenn ich mit meinen Eltern und meinem
     Bruder einen tollen Ausflug mache.
     Glück ist, wenn ich mit dem Ruderboot auf dem
     See fahre,
     Glück ist, wenn mir ein Spruch viel bedeutet und
     ich ihn in mein Büchlein schreibe.
     Glück ist, wenn ich andere zum Lachen bringe.
     Glück ist, wenn ich tanze bis zum Umfallen.
     Glück ist, wenn ich mich lebendig fühle.

Zufrieden blicke Caro auf das Blatt Papier: „Das
kommt sofort in mein goldenes Büchlein. Und jetzt
essen wir was!“, lachte sie.
   Als ich gerade den letzten Bissen der Lasagne in
meinen Mund schob, sagte Caro: „Glaubst du eigent-
lich, dass ich aus dem was mich glücklich macht,
auch meinen Traumberuf entwerfen kann?“
  „Ich hab schon daran gedacht“, entgegnete ich, „und
weiß auch schon, wer uns dabei helfen wird. Wir
werden Madame Ribery besuchen, sie ist Karriere-
forscherin und zwar eine wirklich gute.“



50
Madame Ribery

Als Caro und ich in Rabat, der Hauptstadt Marokkos,
ankamen, war es bereits später Nachmittag. Es war
noch immer angenehm mild und eine sanfte Brise
wehte vom Meer zu Madame Riberys Haus. Wir saßen
im Vorgarten bei einem kleinen Holztischchen umge-
ben von Palmen und warteten auf sie. Noch vor we-
nigen Minuten hatte sie uns überschwänglich begrüßt
und war dann im Inneren des Hauses verschwunden,
um ihren Gatten Matthieu lautstark anzuweisen uns
ein Abendessen zuzubereiten.
  Ich musste lächeln. Madame Ribery war einer jener
Menschen, die eine unglaublich offene und gewin-
nende Art hatten und zur gleichen Zeit genau wussten,
was sie erreichen wollten. Sie hatte Matthieu beim
Studieren in Marseille kennen gelernt, schnell be-
schlossen zu heiraten und eine Familie zu gründen,
um nach einigen Jahren mit ihren beiden Kindern
nach Rabat, ihrer Heimatstadt, zurückzukehren. Dort
hatte ich sie dann auch kennen gelernt.
  Mein Interesse für Karriereforschungen hatte mich
damals zu ihr geführt und ich merkte rasch, dass Ma-
dame Ribery eine besondere Gabe hatte, wichtige
Dinge einfach und anschaulich darzustellen. Sie hatte
eine harte Schale und einen weichen Kern und ihr war
wichtig, dass sie und ihre Arbeit von Nutzen waren.
Sie beschäftigte sich mit Karrieren und Berufsbildern
und ihrer Veränderung im Laufe der Zeit. Ich war mir
sicher, dass sie Caro helfen konnte und gleichzeitig
freute ich mich, wieder in Rabat zu sein.


                                                  51
„Da bin ich schon wieder“, lächelte sie, „alles un-
ter Dach und Fach. Ich bin bereit für dich und deine
Wünsche, Caro.“
  Caro nahm ihr goldenes Büchlein heraus und zeigte
ihr persönliches Glück ist Gedicht. Sie sagte: „Jona-
than hat gemeint, wir schaffen es, daraus zu kreie-
ren, was ich später in meinem Leben einmal machen
möchte.“
  „Später?“, sagte Madame Ribery etwas vorwurfs-
voll und stemmte demonstrativ die Hände in die Hüf-
ten. „Später ist gar nicht gut, das Leben findet im Hier
und Jetzt statt, aber da ich weiß, wie du es meinst,
will ich nicht streng sein. Und schließlich hast du ja
auch noch viel Zeit. Auf die Frage, was du später ein-
mal machen möchtest, sage ich dir, dass du genau das
machen solltest, was du in deinem Gedicht beschrie-
ben hast.“
  Caro sah Madame Ribery zweifelnd an. „Genau das
und zuerst das und ja nichts anderes“, fuhr Madame
Ribery fort.
  „Du magst mich jetzt vielleicht für ein wenig ver-
rückt halten, aber ich sage dir eins: Wenn man älter
wird, gibt es meistens zwei Möglichkeiten, entweder
man wird ernster oder man wird verrückter. Und ich
bevorzuge eher die zweite Variante.“ Madame Ribery
klatschte in die Hände und lachte vergnügt.
  „Deshalb habe ich auch beschlossen meine For-
schungen etwas greifbarer zu machen, sagen wir
handfester. Ich bin kurz davor meine erste Ausstellung
zu eröffnen. Matthieu und ich haben an der Rückseite
des Hauses ein Atelier eingerichtet, seht selbst.“


52
Wir gingen durch den Garten zur Rückseite des
Hauses. Als Madame Ribery die Türe zum Atelier
öffnete, traute ich meinen Augen nicht. Vor mir lag
eine riesige Halle mit einem Glasdach, der Boden be-
stand aus diesen typischen marokkanischen bunten
Kacheln und im ganzen Raum verteilt befanden sich
große und kleine Statuen und Figuren. Da gab es von
Solarzellen betriebene Fischerboote, überdimensio-
nale Golfschläger, Gitarren, von deren Saiten Men-
schen aßen und unzählige weitere sonderbare phan-
tasievolle Figuren. Und alle waren aus Ton gefertigt.
  Ich war überwältigt. Bei meinem letzten Besuch hat
es dieses Atelier noch nicht gegeben. Damals war ich
mit Madame Ribery noch über dicken Dokumenten
gesessen, um mehr über ihre Forschungen erfahren
zu können. Obwohl ich schon damals begeistert über
ihre einfache Sprache und ihre vielen Abbildungen
gewesen war, dieses Atelier überraschte mich nun
wirklich. Wer hatte all diese Skulpturen getöpfert,
fragte ich mich. Bevor ich weiterdenken konnte, füllte
Madame Riberies Stimme den Raum auch schon aus:
  „Im Großen und Ganzen gibt es in meinem Atelier
zwei Bereiche, der eine ist der akademische und der
andere der praktische. Ich würde vorschlagen, wir
beginnen mit dem akademischen. Ich habe hier die
wichtigsten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet
der Karrieren dargestellt. Hier seht ihr zum Beispiel
die Veränderung des Managers über den Zeitraum der
letzten 50 Jahre.“
  Wir blickten auf zehn große Statuen, von denen
keine einer anderen glich. Auf der ersten Statue war


                                                   53
ein Schild befestigt, auf dem stand: Jahr 1960. Auf
der nächsten ein Schild mit Jahr 1965 und so ging es
in Fünferschritten bis ins Jahr 2010. Jede Statue war
aus Ton gefertigt. Dennoch konnte man klare Unter-
schiede im Gesichtsausdruck, der Körperhaltung, der
Kleidung und auch der Gegenstände erkennen, wel-
che die Manager in ihren Händen hielten.
  „Hier seht ihr zum Beispiel, dass der Manager aus
dem Jahr 2005 einen Laptop trägt. Der Laptop ist sein
Symbol. Im Jahr 1985 hingegen musste ein Manager
einen Taschenrechner herumtragen, um als Manager
gesehen zu werden. So ist das mit Symbolen“, kicher-
te Madame Ribery.
  „Am besten an den Managern gefällt mir jedoch,
dass wir beim Töpfern sogar das mathematische Mit-
tel der Rückenkrümmungen abgebildet haben. Das
heißt, die Manager hier sind bis zum Jahr 2010 im-
mer weiter nach vorne gebeugt. Die Krümmung ist
stets ein wenig stärker geworden und das entspricht
exakt den wissenschaftlichen Daten“, ergänzte Ma-
dame Ribery.
  „Dann gibt es hier noch Darstellungen von Karriere-
pfadeffekten und neuerer Trends aus der Forschung.
Aber im Moment ist das gar nicht so wichtig. Für uns
ist der praktische Teil viel wichtiger, er liegt mir auch
mehr am Herzen. Kommt mit.“
  Madame Ribery führte uns vor eine große Wand aus
weichem Ton, auf der tausende verschiedene kleine
Abdrücke zu sehen waren. Die Wand war in drei ver-
schiedene Bereiche unterteilt. Wir marschierten an
der Wand entlang, bis wir ganz links vor dem ersten


54
Bereich standen. Madame Ribery erklärte:
  „Für den ersten Bereich habe ich eine Universitäts-
klasse eingeladen. Ich habe sie gebeten, gemeinsam
alle Berufe zu sammeln und aufzuschreiben, die sie
sich vorstellen konnten. Sie sammelten Beispiele
wie Feuerwehrmann, Polizist, Immobilienmakler,
Manager, Kellner, Gärtner, Musiker und so weiter.
Anschließend bat ich sie sich auf eine Abbildung für
jeden Beruf zu einigen. Für einen Gärtner entstand
zum Beispiel die Abbildung einer Frau in Gummistie-
feln und einer Gießkanne in der Hand. Die Universi-
tätsklasse sammelte ungefähr hundert Berufe, deren
Abbildungen dann getöpfert wurden. Anschließend
wurden die Figuren in den weichen Ton der Wand
gedrückt, welcher vorher zusätzlich noch ein wenig
erwärmt worden war, damit die Figuren in der Fol-
ge auch hielten. Unter jede Figur kam dann noch ein
kleines Schild, auf dem der Beruf stand, damit es auch
keine Verwechslungen gab. Ist so weit alles klar?“
  Caro und ich standen vor der Wand und blickten auf
all die verschiedenen Figuren. Manche der Berufe
konnte man leicht erkennen, wie zum Beispiel den
Gondoliere, der mit seinem Ruder auf einer riesigen
Gondel stand und sofort an Venedig erinnerte. Andere
Berufe hingegen waren schwierig zu erkennen, doch
dabei half dann das Schild darunter. Nachdem Caro
und ich die vielen Figuren angesehen hatten, waren
wir bereit für den zweiten Bereich.
  Madame Ribery führte uns zehn Meter nach rechts
und wir blickten nun auf eine ganze Reihe neuer Fi-
guren. Noch auffallender als die Figuren waren je-


                                                   55
doch die Beschreibungen auf den Tafeln darunter. Da
gab es den Facility Manager, den Feng Shui Berater,
den Privatkundenbetreuer, den Risikoprodukttester,
den Inhouse-Consultant und viele ausgefallene Be-
schreibungen mehr. Zusätzlich fanden sich jedoch
auch alle Berufe aus dem ersten Bereich wieder, wie
zum Beispiel Polizist oder Kellner. Insgesamt gab es
ungefähr vier mal so viele Figuren wie noch im ersten
Bereich. Caro und ich waren neugierig auf eine Er-
klärung und so erzählte Madame Ribery:
  „Für den zweiten Bereich habe ich Firmenchefs aus
verschiedensten Arbeitsfeldern eingeladen. Sie be-
kamen die Aufgabe, jene Berufe zu töpfern, die sie
selbst anbieten, um anschließend die Figuren in die
Wand zu drücken. Wie ihr sehen könnt, entstanden
wesentlich mehr Figuren als im ersten Bereich. Mitt-
lerweile ist er schon randvoll, es sind ungefähr 500
und ich habe beschlossen, keine Firmenchefs mehr
einzuladen.
  Bevor ich euch jetzt sage, was diese Wand aussagen
soll, erkläre ich noch den dritten Bereich. Für diesen
habe ich wieder Universitätsklassen eingeladen. Aber
diesmal habe ich sie gebeten, all ihre Traumberufe
zu sammeln und aufzuschreiben, unabhängig da-
von, ob es diese bereits gibt oder nicht. Nachdem die
Studenten eine lange Liste erstellt hatten, sollten sie
nachsehen, ob ihre Traumberufe bereits in den ersten
beiden Bereichen vorkamen. Manche kamen vor und
deshalb haben wir sie nicht mehr getöpfert. Doch es
gab auch einige, die nicht vorkamen und diese finden
sich nun im dritten Bereich. Der Bereich der Wün-


56
sche, sozusagen.“
  In der Zwischenzeit waren Caro und ich in den drit-
ten Bereich weitergegangen. Ich blickte auf eine gan-
ze Reihe neuer Figuren und Berufe. Da gab es den
Pflanzenheiler, den Verkäufer von solarbetriebenen
Kleinflugzeugen, den Redenschreiber oder den Erfin-
der von gesundem Alkohol. Ich war überrascht, dass
es so viele zusätzliche neue Figuren gab.
  Madame Ribery beobachtete uns, wie wir beein-
druckt vor dieser riesigen Wand standen. Daraufhin
sagte sie: „Ich liebe diese Wand und bin stolz auf sie,
weil sie so viele Ergebnisse meiner Forschungen ab-
bildet. Die Wand sagt sehr vieles aus, aber am wich-
tigsten ist folgendes: Auf der einen Seite ist die Kre-
ativität der Menschen grenzenlos, wenn man sie nur
lässt. Das sieht man an den vielen fantastischen und
kreativen Berufen im zweiten und dritten Bereich.
Vor 20 Jahren hat es noch nicht so viele Berufe ge-
geben und es macht mich froh zu sehen, dass immer
mehr junge Menschen die Möglichkeit bekommen,
ihre Zukunft noch individueller zu gestalten. Auf
der anderen Seite zeigt diese Wand, dass viele jun-
ge Menschen noch immer unter dem Druck stehen,
sich in eine vorgefertigte Welt einpassen zu müssen.
Nimmt man ihnen ihre Träume, so geben sich viele
schnell mit etwas einfachem zufrieden. So kann es
sein, dass jemand der immer davon geträumt hat ei-
nen Spezialfrisiersalon für ausgefallene Hochsteck-
frisuren zu eröffnen, bereits in jungen Jahren, aus
welchen Gründen auch immer, seine Träume begräbt
und ein normaler Friseur wird. Nicht dass ihr denkt,


                                                    57
ich hätte etwas gegen Friseure, das ist ein schöner Be-
ruf, aber ich hoffe, ihr versteht was ich meine.“
  Ich dachte über das Beispiel mit dem Friseur nach,
da riss mich Caro auch schon wieder aus meinen
Gedanken: „Aber ist das nicht traurig, dass es für so
viele Menschen keine Berufe gibt? Ich bin mir sicher,
wenn ich versuche mit meinem Glücksgedicht mei-
nen Glücksberuf zu finden und ihn dann töpfere, so
wird er nur eine Form mehr im dritten Bereich. Und
womöglich werde ich dann nie einen Beruf finden.
Da ist es doch gleich besser, man erspart sich das alles
und sieht sich in den ersten beiden Bereichen um.“
  Madame Ribery, die wie ein Fels in der Brandung
vor ihrer Wand stand, hatte aufmerksam zugehört:
  „Du hast sicherlich in vielem Recht. Ich liebe di-
ese Wand so sehr, weil sie so viele Fragen und Ant-
worten aufwirft, so dass man wochenlang darüber
reden könnte und noch immer auf neue Aspekte sto-
ßen würde. Zu deiner Frage: Unter dem Strich haben
Menschen viele gute Gründe so zu sein wie die Welt
sie sehen will, denn schließlich ist das ja häufig auch
nicht ganz schlecht und erspart ihnen so einiges an
Ärger und Zeit. Und dennoch vergessen viele Men-
schen bei all diesem Streben, dass es nicht nur diese
hundert Standardberufe gibt und sie fragen sich nicht,
was und wer sie eigentlich wirklich sein wollen.
  Diese Wand zeigt so vieles, aber mir zeigt sie voral-
lem, wie viel von der unglaublich fantastischen Krea-
tivität der Menschen in unserem System noch auf der
Strecke bleibt.“
  Madame Ribery schnappte kurz nach Luft. Caro


58
knabberte auf ihrer Unterlippe und mittlerweile
wusste ich schon, dass sie dann stark nachdachte.
Auch ich musste nachdenken. So standen wir drei
vor der großen Wand mit den vielen Figuren und es
schien, als würde uns die Wand mit ihren vielen Fra-
gen und Antworten erdrücken. Nach einigem Grübeln
sagte Caro:
  „Das heißt du meinst, jeder solle zuerst einmal ver-
suchen, seine Träume zu verwirklichen?“
  „Ja, der Meinung bin ich“, entgegnete Madame Ri-
bery bestimmt. Doch Caro hatte einen Einwand: „Und
was ist mit den Menschen, die es sich nicht leisten
können, darauf zu warten, dass ihre Träume in Erfül-
lung gehen. Die Geld benötigen, um sich etwas zu
essen zu kaufen? Diese Menschen müssen doch den
erstbesten Beruf nehmen, den sie bekommen können.
  Und in der Schule mit dem Lernen ist das ähnlich.
Die Lehrer und sicher auch meine Mitschüler werden
nicht einverstanden sein, wenn ich immer das lerne,
was ich für richtig halte. So funktioniert das doch
nicht.“
  Caro war nun auf dem besten Weg sich mit Madame
Ribery anzulegen, doch so bestimmt Madame Ribery
bei ihren Ausführungen auch manchmal war, so auf-
merksam war sie auch, wenn sie einmal einen interes-
sierten Gesprächspartner gefunden hatte. So sagte sie:
„Du hast natürlich Recht. Es ist nicht immer einfach
seine Träume zu verwirklichen. Man ist nicht alleine
auf der Welt und muss häufig Kompromisse schlie-
ßen. Es ist eben schwer möglich und oft auch nicht
sinnvoll, totale Freiheit zu ermöglichen. Nicht jeder


                                                   59
Schüler kann in der Schule immer das lernen, was er
möchte. Aber trotzdem denke ich, dass es prinzipiell
sehr wichtig ist zu versuchen, das umzusetzen, was
man schaffen möchte. Wenn man dann merkt, dass
etwas nicht so geht wie man es sich gewünscht hat,
kann man noch immer einen Kompromiss schließen
oder auch ganz umdenken. Unter dem Strich wird
man aber auf jeden Fall besser dran sein, als wenn
man von Haus aus gesagt hat, dass sein Glück sowie-
so nicht möglich sei und deshalb nur auf die Möglich-
keiten gesehen hat, die es schon gab. Deshalb rate ich
dir: Gib deine Träume nicht auf.“
  Caro war zu einer der Tonfiguren weitergegangen
und fragte: „Darf ich versuchen, aus meinem Glücks-
gedicht meinen Traumberuf zu töpfern?“
  „Dafür ist dieses Atelier da. Lass deiner Kreati-
vität freien Lauf“, entgegnete Madame Ribery und
klatschte in die Hände. Caro wollte noch in Ruhe töp-
fern, so beschlossen Madame Ribery und ich bereits
zum Abendessen vorzugehen und verließen das Ate-
lier.
  Draußen war es schon fast ganz dunkel geworden,
aber es war noch immer angenehm mild. Wir gingen
zurück in den Vorgarten, wo Matthieu mittlerweile
mit den Kindern auf uns wartete. Schon von weitem
roch ich frischen Pfefferminztee, sah das Holzkohle-
feuer und wusste, wir würden eine Tajine essen, ein
traditionelles marokkanisches Gericht, welches in ei-
ner Tonschüssel über dem Feuer gegart wird.
  Als hätte Caro das Essen gerochen, kam sie auch
schon wenig später mit ihrem getöpferten Glücksbe-


60
ruf gelaufen. Da ich ihr Gedicht kannte, ahnte ich,
was sie getöpfert hatte: Hannah, Georg und sich
selbst, lachend beim Tanzen. Und mir war klar, dass
Caro noch viel mehr in dieser Figur sah, als ich oder
jeder andere sehen konnte.
  Während wir uns alle im Dunkeln der marokka-
nischen Nacht bei Kerzenschein über die Tajine her-
machten, uns über alte Zeiten austauschten und Caro
und ich Matthieu und auch die Kinder näher kennen
lernten, wurde mir wieder bewusst, was Madame Ri-
bery für eine tolle Frau war. Und ich hatte das Gefühl,
mich heute Abend sehr lebendig zu fühlen. Ich blickte
auf Caro und dachte mir, dass es ihr genauso ging.

Die dünne Sichel des Mondes lag über Rabat, als
wir uns voneinander verabschiedeten. Caro und ich
machten uns auf die Heimreise durch die Lüfte. Als
sich gerade die Lichter der Stadt unter uns im Dunk-
len verloren, zog mich Caro am Ärmel.
  „So sehr ich mich schon auf Zuhause und mein Bett
freue, so mag ich jetzt noch kurz weg bleiben, irgend-
wo anders, …“
  Ich blickte auf die Mondsichel über uns und deutete
hinauf: „Wie wär’s mit einem kurzen Abstecher?“
  Caro lächelte und so setzten wir uns auf den Mond,
gerade so, dass wir nicht im Licht waren, aber der
Schein noch ausreichte, um es ein wenig hell zu ha-
ben. Wir blickten auf die Lichter der Erde und saßen
lange schweigend da.
  Dann sagte ich zu ihr: „Du bist jetzt so richtig drin-
nen in deiner Welt, hab ich recht?“


                                                     61
„Ja, das bin ich“, sagte sie und seufzte. „Das war
wirklich ein aufregender Tag.“
  Ich war lange nicht hier gewesen und als ich so da
saß und den Erdball unter meinen Füßen sah, konnte
ich eigentlich nicht verstehen, weshalb ich in der letz-
ten Zeit so wenig Blick für all diese Dinge gehabt hat-
te. All meine Gedanken und mein Leben kamen mir
plötzlich viel kleiner und weniger bedrohlich vor. Wie
auf einem Satellitenbild der Erde bei Nacht, strahlten
die Lichter der großen bewohnten Städte und hüllten
den Erdball in ein samtiges Licht.
  In die Stille sagte Caro: „Ich fühle mich gerade
ganz seltsam, es ist schwer zu beschreiben. Das al-
les ist wie ein Traum, wie ein unglaublicher Traum
und ich habe Angst, plötzlich aufzuwachen. Alles ist
so neu und hört sich doch so einfach an. Ich glaube,
wenn ich weiter träume, dann bleibt es auch einfach.
Aber wenn ich aufwache, dann fürchte ich, dass es
ganz schwierig werden wird.“
  Wir saßen eine Weile nebeneinander, dann fuhr
Caro mit ihrer Glücksfigur in der Hand fort: „Ich mei-
ne, zum Beispiel meine getöpferte Figur, jetzt einmal
ganz ehrlich, Jonathan, wie soll ich das jemals um-
setzen?“
  Nach einer kleinen Pause sagte ich: „Wer weiß
schon, wie viel Unterschied zwischen Traum und
Realität wirklich ist? Sieh den Stern da drüben. Du
siehst ihn an. Und dann willst du ihn angreifen und
ehe du dich versiehst, hast du durch ihn durchgegrif-
fen. Ich glaube nicht, dass das die wichtige Frage ist.
  Das was jetzt gerade ist, ist. Du hast heute deine Fi-


62
gur getöpfert und in dem Moment, in dem du sie ge-
schaffen hast, war es für dich möglich, dass du deinen
Traum auch umsetzen kannst. Wenn es heute möglich
ist, so auch morgen, warum sollte es je aufhören? Ich
glaube, es ist wichtig zu wissen was man will, auch
wenn man oft nicht weiß, wie die Dinge letztendlich
entstehen werden.“
  Die Erde lag ruhig unter uns, ich atmete die frische
Luft und suchte nach Worten. „Sieh auf die Erde und
stell sie dir als großes Spielfeld vor. Siehst du die vie-
len Spieler und die vielen Ereignisse, die rund um die
Uhr geschehen? Ich finde, wenn man hier oben sitzt,
bekommt man ein Gefühl dafür, wie groß und uner-
gründlich dieses Spiel doch eigentlich ist. Wer kann
schon sagen, wie viele Spieler auf nur einen einzigen
Spielzug Einfluss haben. Alles entscheiden zu können
ist einfach nicht möglich. Aber du kannst dein Bestes
tun. Und wenn ich hier so sitze, frage ich mich was
real oder nicht real schon für eine große Rolle dabei
spielen.“
  Caro dachte lange über meine Worte nach. Dann
meinte sie: „Aber selbst wenn ich vieles entscheiden
kann, so ist das Spiel doch so groß, dass ich nie alles
überblicken werde können. Was ich meine ist, dass
nicht jeder Tag einfach ist, manchmal gelingen Dinge
nicht, es regnet oder Menschen verletzen einen.
  Ich hab dir doch von meinen besten Freunden Han-
nah und Georg erzählt. Hannah ist wirklich fröhlich,
aber Georg kann manchmal wirklich böse werden.
Ich kenne den Grund dafür nicht und es macht mich
manchmal richtig traurig.“


                                                       63
„Ich verspreche dir auch nicht, dass alles leicht ist
oder dass es für alles eine Antwort gibt. Aber in einem
bin ich sicher: Erinnerst du dich an das, was ich heute
Vormittag über den Gärtner gesagt habe, der die Wahl
hat, seine Blumen zu gießen oder nicht?
  Es geht darum, was du tust oder eben nicht tust.
Und um deine Einstellung zu den Dingen. Siehst du
das Wolkenband dort unten? Bestimmt sagen dort die
Menschen, dass es regnet und ungemütlich ist. Aber
ich bin mir sicher, es gibt jemanden der sagt, dass die
Sonne scheint. Und dieser Jemand macht es richtig.“
  Caro stützte ihren Kopf auf ihre Hände, sie wirkte
ein wenig verzweifelt. Deshalb sagte ich:
  „Ich glaube, wir haben für heute genug erlebt und
geredet. Lass uns einfach noch ein wenig auf dem
Mond sitzen und der Erde zusehen, dann fliegen wir
heim und legen uns hin. Denn morgen besuchen wir
einen Freund. Ich glaube, dann wirst du noch besser
verstehen.“
  Caro sah auf die vielen Lichter der Erde und ihre
Augen fielen ihr schon zu. Ich stützte sie, denn um ein
Haar wäre sie vom Mond einfach herunter gepurzelt.




64
Ein himmlischer Professor

Am nächsten Morgen machten wir uns gleich auf in
Richtung eines kleinen Planeten, ähnlich dem von Dr.
Bionicus. Auch diesmal wollten wir einen Professor
besuchen, einen Doktor, aber einen der sich mit Ge-
hirnen und Quantenphysik gut auskannte.

Dr. Quantum winkte uns schon von weitem zu. Ich er-
kannte sein Micky Maus T-Shirt und musste lächeln.
Seine Haare standen noch ein bisschen mehr zu Berge
als normalerweise und er grinste bis über beide Oh-
ren.
  Ich freute mich, Dr. Quantum zu sehen. Obwohl ich
in meinem Leben viele Wissenschaftler getroffen hat-
te, war er wirklich einer derer, die einen immer wie-
der verblüfften. Ich war mir sicher, er würde es auch
diesmal tun.




                                                  65
„Seid gegrüßt ihr zwei, in meiner kleinen galak-
tischen Welt, was führt euch zu mir?“, lächelte Dr.
Quantum und spielte mit seiner Brille. Caro und ich
erzählten ihm von unserer bisherigen Reise, von Ca-
ros Wunsch und baten ihn, uns mehr über das Denken
zu erzählen. Dr. Quantum schnippte mit dem Finger
und legte auch schon freudig los:
  „Himmlisch, ja dann werde ich euch einmal einfüh-
ren in die Geheimnisse des menschlichen Gehirns.
Aber bevor ich beginne, hat dir Jonathan schon von
unserem Grundsatz erzählt?“
  Caro musste grinsen, offensichtlich erinnerte sie
sich an Dr. Bionicus und sagte: „Ja, ich weiß schon
bestens Bescheid.“
  „Großartig“, fuhr der Doktor fort: „Ich sage im-
mer, in unserem Gehirn ist es wie mit einem großen
Spielzeugeisenbahnsystem, in dem du der Bahnhofs-
direktor bist. Du bestimmst, wo und wohin die Gleise
verlegt werden, wie oft Züge fahren, wie die Land-
schaft aussieht und welche Städte Hauptverkehrskno-
tenpunkte werden. Dort wo häufig Züge fahren, dort
entwickelt sich sehr viel und dort wo keine fahren,
wachsen mit der Zeit langsam Gräser über die Gleise
und irgendwann verschwinden diese ganz.“
  Caro drehte sich zu mir und fragte: „Ist das wie mit
den Blumen, die ich gieße oder eben nicht?“
  „Ja genau, das ist wie mit den Blumen“, antwortete
ich und blickte Caro etwas überrascht an. Sie hatte
die Geschichte mit den Blumen schnell verstanden
und ich bekam die Vorahnung, ihr bald nicht mehr
viel beibringen zu können.


66
Da fuhr Dr. Quantum auch schon mit Begeisterung
fort: „Nun streiten sich die Wissenschaftler ja immer
darüber, ob du wirklich der Architekt deines Bahn-
systems bist. Sie wollen erforschen, welche und wie
viele der Strecken schon von Geburt oder von Kind-
heit an da sind und wie viele Strecken überhaupt er-
richtet werden können. Das sind alles spannende Fra-
gen. Ich will sie aber nur kurz streifen.
  Am besten nehmen wir als Beispiel gleich Jona-
than. Er ist ja schon ein wenig älter. Also überlegen
wir uns, ob wir ihm das Fahrradfahren auch jetzt noch
beibringen könnten. Was denkst du?“
  Klar, dass Dr. Quantum gleich seinen Spaß mit mir
haben wollte. Spitzbübisch sah er mich an und mir
fiel auf, dass er der Micky Maus auf seinem T-Shirt
schon ziemlich ähnelte. Caro grinste, doch bevor sie
antworten konnte, fuhr Dr. Quantum auch schon fort:
  „Es ist schon okay, dass du nicht gleich Nein ge-
sagt hast, aber wenn du es gesagt hättest, dann hättest
du den jüngsten Forschungen auf diesem Gebiet ent-
sprochen. Wir wollen nicht zu hart zu Jonathan sein,
aber es ist auf jeden Fall so, dass je älter man wird,
es sich immer schwieriger gestaltet, neue Dinge zu
lernen. Mit viel Mühe würde Jonathan es wahrschein-
lich noch schaffen, aber generell ist es so, dass man in
jungen Jahren noch alles leicht und schnell erlernen
kann, während es später im Leben viel schwieriger
wird. Also solange du jung bist, kannst du noch nahe-
zu alles lernen.
  Genauso liegen die Menschen falsch, die immer
über Talente und Begabungen sprechen. Sie sehen


                                                     67
Menschen die etwas gut können, zum Beispiel Gei-
ge spielen und sogleich sagen sie: Die haben aber
Talent! Das kann man nicht lernen. Gott muss ihnen
schon ein Talent mitgegeben haben. So ein Blödsinn,
sage ich dir. Sie haben von klein auf geübt und daran
Gefallen gefunden. Also lass dir von niemandem ein-
reden, du hättest kein Talent für irgendwas.
  Eine spannende Frage ist natürlich, wie viel und
was wir nun tatsächlich alles lernen können. Wenn
man bedenkt, dass wir Menschen vielleicht zehn Pro-
zent all unserer geistigen Ressourcen nutzen, so er-
kennt man, dass die Grenzen unseres Gehirns so weit
entfernt sind, dass wir noch nicht einmal eine Ahnung
haben, wie weit sie wirklich weg sind. Also abgese-
hen davon, dass manche Menschen aus ihrem Gehirn
vielleicht sogar Superman machen könnten, glauben
manche Wissenschaftler sogar, dass es möglich sei,
durch die Kraft seines Gehirns, auch angeborene
Krankheiten noch abwenden oder verändern zu kön-
nen. Aber damit wird es auch schon sehr kompliziert.
Der Punkt ist: Deine Gedanken sind viel mächtiger
als du denkst. Und das Schöne ist, du kannst viele
faszinierende Dinge mit ihnen machen, solange du
darauf Acht gibst, dass sie frei sind. Soll ich dir sagen,
wie man das macht?“
  Caro nickte und es schien, als würde sie den For-
scher in seinem Micky-Maus T-Shirt überaus amü-
sant finden.
  „Ich habe mich auf der Universität fast nie gelang-
weilt, ich habe auf die Wörter des Professors geachtet
und daraus lustige Reime geformt, habe mir angese-


68
hen, welche Gesten er macht und mir überlegt, wel-
che Sportarten er mit diesen ausüben könnte. Oder
ich bin in meinen Gedanken mit Freunden durch New
York City spaziert oder auf Skiern über unverspur-
te Tiefschneehänge gesaust. Deshalb sage ich dir:
Deine Gedanken sind sehr mächtig. Du schaffst dir
dein Universum. So etwas wie Langeweile, das kann
es doch gar nicht geben. Hast du schon einmal ein
kleines Kind gesehen dem langweilig war? Ich sage
dir, die sichersten und gefährlichsten Gefängnisse
sind die, die wir uns selber schaffen. Niemand wird
dich in dieser Hinsicht so bestrafen können wie du
dich selbst bestrafen kannst oder belohnen …“, und
wieder kicherte Dr. Quantum.
  Jetzt nahm er aus einer Schale, in der ein paar Zwie-
bel, Äpfel und Steine waren, einen grünen Stein und
fragte Caro: „Was siehst du?“
  Caro überlegte und erwartete, dass jetzt irgendwas
kommen würde, aber da sie bloß einen Stein sah, sag-
te sie: „Einen Stein.“
  „Du siehst einen Stein und ich sehe ein Schwein“,
kicherte der Professor.
  „Und jetzt würden sicher viele denken, dass ich
verrückt sein müsse. Doch ich wette mit dir, es gibt
bestimmt mehr Verrückte, die einen Stein sehen, als
es Verrückte gibt, die ein Schwein sehen!! Hahaha.“
  Dr. Quantum fand das überaus lustig, aber er hatte
noch nicht genug:
  „Und welche Farbe hat das Schwein? Pink oder
grün? Pink. Nein: Grün!“
  Dr. Quantum lachte schallend und Caro und ich


                                                    69
blickten ihn etwas entgeistert an.
  Ein wenig ernster sagte er dann: „Ob pink oder grün,
ob orange oder rot, jede Farbe ist nur eine Sichtweise
von vielen. Ich weiß, bei Farben hört sich das schon
recht verrückt an. Aber ich habe auch ein einfacheres
Beispiel, vielleicht kennst du es ja schon.
  Dr. Quantum griff jetzt zu seinem Wasserglas und
trank es bis zur Hälfte leer. Dann sagte er: „Was denkst
du? Ist das Glas halb voll oder ist das Glas halb leer?“
Caros Gesicht hellte sich auf. Offensichtlich kannte
sie das Beispiel mit dem Wasserglas schon. Aber sie
war nicht ganz zufrieden. „Aber ob etwas pink oder
grün ist, ist schon etwas anders, als ob ein Glas halb
voll oder halb leer ist.“
  „Hihihi“, kicherte Dr. Quantum. „Natürlich ist das
nicht ganz das Gleiche. Aber für dein Gehirn ergibt es
keinen großen Unterschied. Stell dir den Stein geistig
vor. Dann male ihn rosa an und betrachte ihn. Jetzt ist
er rosarot. Auch wenn er für alle anderen grün ist, für
dich ist er noch immer rosarot.
  Und wenn du findest, dass das Glas halb leer ist,
so siehst du die Dinge wahrscheinlich nicht so far-
benfroh, als wenn du meinst, dass es halb voll sei.
Deshalb sage ich dir, es ist wichtig, wie du die Dinge
siehst. Denn deine Gedanken beeinflussen auch wie
du dich fühlst. Wenn du traurige Dinge denkst, dann
wirst du dich sehr wahrscheinlich schlecht fühlen und
umgekehrt genauso.“
  Caro grübelte ein wenig und knabberte auf ihrer
Unterlippe herum. Dann sagte sie:
  „Ich werde das jetzt auch öfter ausprobieren, was du


70
über die Schule gesagt hast. Also, dass dir nie lang-
weilig war, weil du an andere Dinge gedacht oder dir
verrückte Dinge vorgestellt hast. Das finde ich sehr
gut und es ist sicherlich lustiger.
  Aber ich finde, dass es nicht immer geht, Dinge
lustig oder zumindest nicht so traurig zu sehen und
manchmal will ich das auch gar nicht, weil es ein-
fach nicht ehrlich ist. Wenn es zum Beispiel meinen
Freunden schlecht geht, dann möchte ich nicht darü-
ber lachen können.“
  Caro scharrte mit dem Fuß auf dem Boden des klei-
nen Planeten herum, als würde sie ihren Worten noch
mehr Gewicht verleihen wollen. Caros Worte erin-
nerten mich daran, was sie gestern über Georg gesagt
hatte und wie kompliziert die Welt doch oft war und
ich wurde ein wenig nachdenklicher.
  Dr. Quantum hingegen freute sich, mit Caro disku-
tieren zu können und spielte angeregt mit der Brille
in seiner Hand. Er sagte: „Natürlich wollen wir nicht
darüber lachen, wenn es Freunden schlecht geht.
So weit kommt es aber gar nicht, so lange dir deine
Freunde viel bedeuten. Das eine hat mit dem anderen
nichts zu tun. Ganz im Gegenteil. Du sollst deinen
Freunden helfen. Wie? Indem du lernst, dich in dei-
ne Freunde hineinzuversetzen und die Welt mit ihren
Augen zu sehen. Dafür muss man nämlich fühlen und
zusätzlich auch denken können. Und anschließend
kannst du ihnen helfen, nicht so traurig zu sein, das
Glas eben halb voll anstatt halb leer zu sehen und
dann könnt ihr gemeinsam Lösungen für ein Problem
finden.


                                                  71
Und damit du deinen Freunden helfen kannst nicht
so traurig zu sein, musst du es vorher selbst lernen.
Und dabei kann dir das Beispiel mit dem halb vollen
Glas helfen. Und auch der rosa Stein, weil er dich
fröhlich macht und dir zeigt, dass du für das, was du
denkst, selbst verantwortlich bist.
  Und fröhlich zu sein und umdenken zu können kann
für manche Menschen das Wichtigste überhaupt sein,
wenn sie zum Beispiel sehr krank sind, Schmerzen
haben oder wenn sie gerade ein wichtiger Mensch
verlassen hat. In diesen Momenten kann für sie die
Welt untergehen. Dann kann es ihnen helfen, dass sie
daran denken, wie lang ihr Leben noch ist oder was
sie in ihrem Leben noch alles machen können. Und
dadurch geht die Welt dann häufig doch nicht ganz
unter. Es ist nicht leicht und dennoch gehören auch
diese Dinge zum Leben.
  Und noch etwas: Alles in deinem Gehirn braucht
Zeit. Niemand kann sofort alles lernen oder gleich al-
les vergessen. Erinnere dich an die Gleise. Erinnere
dich an das Gras, das über die Gleise wächst. So ist es
mit dem Vergessen. Und du vergisst häufig schneller,
wenn du dem Gras nicht dabei zusiehst, sondern dich
stattdessen um neue Gleise, bessere und schönere
Verbindungen, kümmerst.
  Das menschliche Gehirn ist permanent damit be-
schäftigt Probleme zu lösen. Deshalb ist es ganz nor-
mal, dass der Mensch die natürliche Neigung hat zu
grübeln und sich auf traurige Dinge zu konzentrieren.
Allein schon deshalb sage ich dir, wenn du bei klarem
Verstand bist und versuchst zu denken und Dinge


72
fröhlich zu sehen, bist du noch immer weit davon
entfernt über die Probleme deiner Freunde zu lachen.
  Das ist gut so und es soll dir auch nie passieren.
Ein wenig mehr Fröhlichkeit bringt dich noch nicht
in dein eigenes rosarotes Gefängnis, …, rosarotes Ge-
fängnis, das gefällt mir, wahrhaft himmlisch“, kicher-
te Dr. Quantum.
  Er blickte auf den Himmel und freute sich. Es sah
ganz danach aus, als hätte er gerade viel Spaß bei
einem geistigen Ausflug in ein rosarotes Gefängnis.
Caro und ich hatten vorerst genug gehört, deshalb be-
schlossen wir, den Professor mit seinem neuen Wort-
spiel alleine zu lassen.
  Wir bedankten uns sehr herzlich bei ihm und da
mich bereits die ganze Zeit die Äpfel in der Schale
angelächelt hatten, fragte ich, ob ich für den Rückweg
noch einen haben könnte. Dr. Quantum war einver-
standen. Ich ging schnell zur Vase, griff mir einen Ap-
fel, da hörte ich im Hintergrund den Professor sagen:
  „Caro, eine Geschichte muss ich aber unbedingt
noch erzählen.“
  Ich hatte es geahnt und er legte bereits los:
  „Es ist eine Geschichte zu den verschiedenen Sicht-
weisen. Da ich mich ja ein wenig als der Botschafter
des Lachens, der Verrücktheit und des Perspektiven-
wechsels in der manchmal ernsten Welt der Gehirn-
forschung und der Physik zähle, starte ich die erste
Stunde des Semesters einer Vorlesung an der Uni im-
mer folgendermaßen. Ich laufe lachend in den Raum,
trage ein Micky-Maus Kostüm und bin bewaffnet mit
Bonbons. Dann male ich einen speziellen Gegenstand


                                                    73
an die Tafel, der sich von Semester zu Semester än-
dert. Da gab es schon Kirchtürme, Unterhosen, Gir-
landen oder simple Kreise. Dann sage ich den Stu-
denten, dass sie mir so viele Geschichten oder Witze
wie möglich zu den Gegenständen in Verbindung
mit Micky Maus erzählen müssen. Zwei kleine Ge-
schichten zu Micky Maus habe ich nun für dich:

     Die kleine Micky war noch ein Baby, als sie über
     den Rand von Dagobert Ducks Geldspeicher
     spähte und auf die glänzenden Goldmünzen darin
     blickte. Da die Münzen so schön funkelten und sie
     unbedingt mit ihnen spielen wollte, krabbelte sie
     über den Rand und rutschte auf einer Girlande in
     den Geldspeicher. So wurde sie zur Micky Maus.

     oder: Micky Maus krabbelt in der Geschichten-
     werkstatt herum. Da findet sie einen kleinen Kirch-
     turm aus Karton. Sie setzt sich den Kirchturm auf
     ihre Nase und simsalabim: Pinocchio ist geboren.

  Die Studenten sind richtig kreativ und es macht je-
des Mal großen Spaß. Dann sage ich ihnen, dass ich
mir wünsche, dass sie es das ganze Semester lang
mit den Theorien, wie mit den Gegenständen machen
sollen. Das heißt, dass sie sich alles in persönlichen
Bildern vorstellen und nie damit aufhören sollen, im-
mer an neue humorvolle Sichtweisen zu denken. Ich
glaube, die Studenten lernen bei mir wirklich einiges,
denn für mich ist der Schlüssel zum Wissen eine Art
zu denken, aus hunderten Sichtweisen ausgewählt.


74
Mein Auftritt hat sich schon herumgesprochen.
Deshalb verpasst nie auch ein einziger Student die er-
ste Vorlesung und oft bilden sich regelrechte Trauben
vor den Eingangstüren. Da manche meiner Kollegen
davon Wind bekommen haben und seither glauben,
dass ich verrückt geworden sei, setze ich von Zeit zu
Zeit meine Brille auf, ziehe einen Pullover über mein
T-Shirt, blicke ernst und veröffentliche eine neue wis-
senschaftliche Theorie. Dann sind sie immer beruhigt
und nehmen mir meinen Lehrstuhl nicht weg. Wie lu-
stig diese Welt doch ist!“
  Jetzt lachte Dr. Quantum und ich hörte sein Lachen
noch lange durch das All schallen, als Caro und ich
bereits in die Erdatmosphäre in Richtung Skandina-
vien eingetaucht waren.
  Und dann hörte ich entfernt Dr. Quantum noch ru-
fen: „Aber offensichtlich ist dein Gehirn doch nicht
ganz alleine!“




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  • 2. Caro hat einen Wunsch. Sie möchte eine Zeichnung malen, auf der sie alles sieht, was in ihrem Leben wichtig ist. Fragend blickt sie durch ihr Zimmerfens- ter auf den Sternenhimmel. Da begegnet sie dem Pro- fessor Jonathan, der sie auf eine Entdeckungsreise in die Welt mitnimmt. Eine Reise beginnt, die das Leben beider grundlegend verändert... Albert Griesmayr studierte Internationale Betriebs- wirtschaft an der WU-Wien und der Oregon State University. Bereits während der Schulzeit und des Studiums kam er auf die Idee, Antworten auf die wichtigen Fragen des Lebens zu suchen und diese in einer phantastischen Reise zu verpacken. So entstand Caros Wunsch. Wenn Albert gerade nicht schreibt, so ist er in der Werbebranche tätig. Besonderer Dank gebührt: Klemens Schillinger, Ca- roline Zimm, Karina Griesmayr, Clara Huber und Stefan Jakoubi 2
  • 4. Impressum: © 2008 Albert Griesmayr Illustration & Umschlaggestaltung: Klemens Schillinger Deutsche Erstausgabe November 2008 Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN-13: 9783837080827 www.caroswunsch.at 4
  • 5. Gewidmet all jenen, die diese Welt ein Stückchen schöner machen und im Besonderen Alberts Oma, die ihn daran erinnert hat, dass die einfachen und schönen Dinge die wichtigsten im Leben sind. 5
  • 6. 6
  • 7. Inhalt Prolog 9 Caros Welt I 11 Die Welt von oben 17 Jardin de niños del arbol 30 Ein skandinavischer Abend 39 Caros Glück 43 Madame Ribery 51 Ein himmlischer Professor 65 Seesterne 76 Die Weggabelung 96 Der Architekt und seine Freunde 100 5 Uhr Tee 107 Tokio 110 Jonathans Entscheidung 122 Wasserkristalle und Bio Äpfel 127 Hokuspokus 134 Der Fallschirmsprung 143 Der Club der toten Schüler 153 Das kosmische Dinner 162 Unwetter am See 171 Caros Welt II 177 Epilog 180 7
  • 8. 8
  • 9. Prolog Hallo, mein Name ist Jonathan. Eigentlich bin ich ein ganz gewöhnlicher Wissen- schaftler, mit einer Brille und auch schon einigen grauen Haaren. Die grauen Haare lassen mich zwar schon ein wenig älter aussehen, aber innerlich fühle ich mich eigentlich noch recht jung. Also ich würde sagen: 50 wäre ein faires Alter für mich. Ich muss zugeben, ich habe mich aber auch schon ein wenig älter gefühlt. Es war die Zeit, bevor ich Caro kennen gelernt habe. Ich war damals mit einer ziemlich großen wissen- schaftlichen Theorie beschäftigt gewesen und ich sage euch, diese war wirklich kompliziert. Sie war so kompliziert, dass ich manchmal das Gefühl hatte, als wäre ich von großen Braunbären umgeben, weil mein Schädel so brummte. Stundenlang saß ich über meinen Theorien und verließ die Bibliothek nur sel- ten, um mir einen Spaziergang an der frischen Luft zu gönnen. Und selbst auf meinen Spaziergängen, war ich in Gedanken meistens noch ganz woanders. Ein wenig Entspannung verlieh mir eigentlich nur mein täglicher 5 Uhr Tee, am liebsten Schwarztee mit einem Löffel Honig. Den trank ich gerne in schönen Caféhäusern oder auch einmal in einem ruhigen Gar- 9
  • 10. ten. Wichtig war mir, dass es nicht zu laut war und zusätzlich Zeitungen gab. Denn dann konnte ich in Ruhe lesen oder auch einfach über meine Theorien nachdenken. So verging die Zeit und es sammelten sich einige Jahre an. Eigentlich tue ich die meisten Sachen von damals noch immer gerne. Aber seit ich Caro kennen gelernt habe, ist alles ein wenig anders geworden. Manche Dinge vielleicht sogar sehr anders… Im Laufe der Zeit werdet ihr mich sicherlich noch besser kennen lernen, aber wer jetzt viel wichtiger ist, das ist Caro. Wenn ich mich auf zwei Dinge festlegen müsste, die Caro so besonders machten, dann wären das ihr feinfühliges Wesen und die kleinen Geheim- nisse, mit denen sie einen immer wieder überraschte. Caro kennen zu lernen hat mich verändert und ich glaube, dass auch ich, ihr Leben ein wenig verändert habe. Diese Geschichte liegt mir wirklich am Herzen und ich hoffe, dass sie euch gefällt. Also macht es euch bequem, denn jetzt geht es richtig los. 10
  • 11. Caros Welt I Als ich Caro zum ersten Mal traf, lag sie auf dem Bauch am Teppich ihres Zimmers und blickte grü- belnd auf einen großen Zettel, auf den sie mit Bunt- stift gemalt hatte. Das Ganze sah so aus: Oben auf dem Blatt stand dick unterstrichen Caros Welt. Grübelnd saß sie vor ihrer Zeichnung: Das war sie nun, ihre Welt … Sie blickte auf den Stapel mit Büchern neben sich, Schulbüchern aus Geographie, Biologie, Religion und vielen anderen Fächern. Dann gab es da auch einen Stapel sonstiger Bücher, die sie sich einmal selbst gekauft oder die sie geschenkt bekommen hat- te. Oberhalb des Blattes lagen jede Menge Fotos von Freunden, Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse. Und dann gab es da noch ihr kleines goldenes Büch- lein. All diese Gegenstände wollte sie verwenden, um endlich ihre Welt zu malen. Ein ganzes Jahr lang hat- 11
  • 12. te sie es schon versucht, unzählige Papiere hatte sie zu bemalen begonnen, nur um sie dann enttäuscht wieder in den Papierkorb zu werfen. Vor den Feri- en hatte sie sich ganz fest vorgenommen, die letzte Ferienwoche im August für ihre Zeichnung zu nüt- zen, denn während ihres letzten Schuljahres würde sie bestimmt wenig Zeit haben und den ganzen Juli und halben August war sie bereits mit ihren besten Freunden Hannah und Georg auf einer Rucksacktour in Dänemark gewesen. So war es nun endlich an der Zeit, ihr Werk zu voll- bringen. Und jetzt, wo sie so vor ihrer Zeichnung saß, fühlte sie sich vollkommen blockiert. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihr ganzes Leben mit allem was ihr wichtig war, auf ein Blatt Papier bringen könnte und es beschlich sie das leise Gefühl, es wieder nicht hinzubekommen. Fragend blickte sie durchs große Fenster neben ih- rem Bett auf den Sternenhimmel. So lernte ich Caro kennen: Mit großen Augen blickte sie mich an und fragte: „Wie kann ich das schaffen? Wie kann ich alles was mir wichtig ist, was mir wirklich viel bedeutet, wie ich leben und was ich machen will, auf einem Blatt Papier darstellen? Es wäre so toll, wenn ich das schaf- fen würde. Dann könnte ich immer, wenn ich mich ein wenig verloren fühlte, einfach auf meine Zeich- nung blicken und wüsste wieder, was mir wichtig wäre. Kannst du mir helfen?“ Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. Ein 12
  • 13. ganzes Leben zu verstehen und auf ein Blatt Papier zu bringen, das erschien mir schon sehr anspruchsvoll zu sein. Und außerdem hatte ich so etwas ja selbst noch nie gemacht. Während ich in ihre fragenden Augen blickte, wurde mir bewusst, dass ich jetzt nicht lange überlegen konnte. So sagte ich kurzum „Ja“. Dann zögerte ich jedoch, um danach fortzufahren: „Ja, …ich will es versuchen, aber versprechen, dass es funktioniert, kann ich nicht.“ „Macht nichts“, antwortete Caro. „Hauptsache, du hilfst mir.“ Als würde sie nach den richtigen Worten suchen, drückte und knetete sie ihre Lippen aneinander, um dann fortzufahren: „Weißt du, das Problem ist, dass ich das Gefühl habe, so viele Antworten auf Fragen schon zu ken- nen, die ich nie gestellt habe. Die Fragen jedoch, die mir wirklich wichtig sind, deren Antworten kenne ich nicht. Zum Beispiel weiß ich ganz genau, was eine Quadratwurzel ist, aber ich habe keine Ahnung, was den Menschen allgemein im Leben wichtig ist und ob das bei allen Menschen mehr oder weniger gleich ist oder nicht. Oder ich lerne in der Schule etwas, zum Beispiel alle möglichen Dinge aus Physik, ohne je zu erfahren, warum diese überhaupt so wichtig sind. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich überhaupt nicht weiß, wie die Welt funktioniert und wie die Din- ge zusammenhängen. Das frustriert mich.“ Für einen Moment senkte Caro ihren Blick, dann fuhr sie auch schon fort: „Aber warte einen Augen- blick, ich hol’ noch schnell ein paar Notizen aus 13
  • 14. meinem Rucksack, die für meine Zeichnung noch helfen könnten.“ Caro sprang auf und wirbelte mit ihrem dunklen Lockenkopf durch das Zimmer, um noch mehr ihrer Notizen heranzuschaffen. Das waren ja eine ganze Menge Fragen gewesen, dachte ich mir. Ich über- legte, wie ich Caro am besten helfen könnte. Vor allem musste ich entscheiden, womit wir am besten beginnen sollten. Da fiel mir ein erster Plan ein und ich war zufrieden. Während Caro noch in ihrem Rucksack kramte, hatte ich Zeit sie genauer zu betrachten. Sie hatte schulterlange braune Locken, grüne aufmerksame Augen und um ihren Hals baumelte eine dünne Kette, an der ein kleines viereckiges Holzamulett befestigt war. Sie machte einen lebendigen, zufriedenen Ein- druck und dennoch schien sie ihren Kopf voller Fra- gen zu haben. Caro bemerkte nun, dass ich noch immer wie an- gewurzelt im Zimmer stand und deutete mir, mich auf den großen Teppich in der Mitte zu setzen. Ich nahm Platz und sah mich im Zimmer um. Mein Blick fiel gleich auf ein wunderschönes Fernrohr, welches durch das Fenster auf die Sterne gerichtet war. Wie gut man die Sterne wohl dadurch sehen könnte, über- legte ich für einen Moment, dann beschloss ich auch schon, meinen Blick durch Caros Zimmer weiter- schweifen zu lassen. Neben dem Fernrohr, unterhalb des Fensters, stand ein kleinerer Holzschreibtisch, auf dem noch einige Schulsachen aus dem letzten Jahr lagen. Gleich anschließend war Caros Bett, an dessen 14
  • 15. Fußende ein großes Aquarium stand. Darin tummel- ten sich einige Fische, in schillernden, bunten Farben. Schräg hinter mir befand sich die Eingangstüre und anschließend große Kästen voll mit Büchern, CD’s und Kleidern. Vor dem Schrank lag ein halbfertiges Puzzle. Es sah nach dem Bild einer Tänzerin in einem großen Theater aus, aber ganz konnte man es noch nicht erkennen. Dann gab es noch eine Korkwand, auf die vielerlei Eintrittskarten und Notizzettel ge- pinnt waren. Und als ich gerade das Aquarium näher inspizieren wollte, lenkte Caro wieder meine Auf- merksamkeit auf sich und legte los: „Also, ich habe jetzt noch einige Blätter geholt, auf denen ich mir im letzten Jahr Notizen gemacht habe, die wir hoffentlich verwenden können. Dann hab` ich da noch einige meiner Bücher und zusätzlich Fotos von meinen Freunden und …“ Caro begann zu erzählen und ich besann mich mei- ner ersten Idee, um ihr zu helfen, doch dafür musste ich sie erst einmal stoppen. „Warte mal“, ich spürte ihren ein wenig verunsi- cherten Blick und fuhr fort: „Ich denke, wir können die Reise entweder von Innen oder von Außen be- ginnen, aber irgendwo in der Mitte, das funktioniert nicht. Also wofür entscheidest du dich?“ Caro blickte mich fragend an. Ich erklärte ihr: „Von Außen bedeutet, dass wir die Welt, wie von einem Hubschrauber aus, ansehen und uns überle- gen, wie die Dinge auf der Welt zusammenhängen. Von Innen hingegen bedeutet, dass wir bei uns selbst beginnen und uns überlegen was für uns wichtig ist. 15
  • 16. Das, was in den Schulbüchern steht, beschreibt zum Beispiel eher die Welt von Außen, deine Wünsche hingegen, die Fotos deiner Freunde und wie gern du sie hast, gehören zur Welt von Innen.“ Caro überlegte kurz, dann sagte sie: „Von Außen, von der Welt, das gefällt mir für den Anfang gut.“ „Einverstanden“, entgegnete ich, „dann geht die Rei- se morgen früh los.“ Caro war beinahe schon eingeschlafen, als ich mich von ihr verabschiedete und durch das Fenster ins Freie stieg. Nach einer Weile drehte ich mich nocheinmal nach ihr um, sie lag bereits in ihrem Bett und ich be- merkte, dass sie ihr Amulett in den Händen hielt, um es ganz fest an sich zu drücken. Ich dachte an Caros Wunsch ihre Welt zu malen. Bestimmt würde es nicht einfach werden. Vorallem war mir klar, dass ich ihr nicht alleine dabei helfen können würde, aber ich hatte schon eine Idee für mor- gen und langsam aber sicher begann mir die bevorste- hende Reise zu gefallen. 16
  • 17. Die Welt von oben Alles lag noch im sanften Licht des Morgens, als ich über eine ausgedehnte Wiese in Richtung Caros Haus marschierte. Hinter mir lag ein großer See, auf dem bereits einige Fischerboote tuckerten und die spärlichen Häuser an den Ufern verrieten mir, dass ich in einer eher ländlichen Gegend sein musste, ir- gendwo in Südskandinavien, soviel war sicher. Das Haus, welches ich gestern Abend im Dunkeln noch fast gar nicht sehen konnte, rückte nun immer näher und es gefiel mir sehr gut. Es war ein schlichtes zwei- stöckiges Landhaus mit einer schönen Holzveranda davor, auf der zwei Schaukelstühle der aufgehenden Sonne entgegen zu lachen schienen. Ich war mir si- cher, dass man von der Veranda über den See auf die dahinter liegenden Hügel im Morgendunst sehen konnte und ich spürte, dass der Ort etwas Besonderes an sich hatte. Ich stieg die drei Stufen auf die Veranda empor und stand nun an der Eingangstüre. Ich hielt kurz inne und hörte das Summen einer Melodie aus dem Inneren des Hauses. Für einen Mo- ment überlegte ich, wer sonst noch aller im Haus sein könnte, dann läutete ich auch schon an. Als sich das Summen der Haustür näherte, merkte ich, dass es Caro war. Fröhlich öffnete sie mir die Türe und be- grüßte mich: „Hallo, ich bin schon abmarschbereit.“ „Du hast doch hoffentlich keine Angst vor dem Fliegen?“, fragte ich. Caro blinzelte mich erwartungsvoll an und so ver- 17
  • 18. ließen wir wenig später die Veranda und machten uns auf in die Lüfte, in Richtung eines kleinen Planeten, der nicht weit von der Erde entfernt lag. Schon von weitem sah ich Dr. Bionicus mit ange- strengter Miene vorne übergebeugt auf seinem Pla- neten stehen, um ja keinen Blick auf die Erde zu verpassen. Hinter ihm waren fünf Flip Charts in den Boden gesteckt, auf denen die verschiedensten Mo- delle gezeichnet waren. Und von weitem sah ich auch schon Yin und Yang, die beiden Agaporniden, kleine Papageien, in ihrem Käfig, welcher mindestens ein Fünftel des kleinen Planeten einnahm. Das Ganze sah in etwa so aus: „Hallo, Dr. Bionicus“, begrüßte ich ihn, als wir auf dem Planeten ankamen. „Hallo Jonathan, schön, dass du mal wieder vorbei- kommst“, erwiderte Dr. Bionicus und rückte schnell 18
  • 19. seine Brille zurecht. „Wen hast du mir denn da mitgebracht?“, fragte er etwas überrascht. „Das ist Caro“, erwiderte ich „sie hat mich gefun- den, weil sie ihr Leben auf ein Blatt Papier zeichnen möchte. Und dabei möchte ich ihr natürlich helfen. Am besten ist, Caro erzählt dir selber mehr.“ Caro stand noch etwas ehrfürchtig auf dem kleinen Planeten und blickte sich staunend um. Doch dann fasste sie sich und sagte: „Ich möchte eine Zeichnung meines Lebens malen, sie soll Caros Welt heißen. Sie soll alles enthalten, was für mich eine Bedeutung hat und was mir wich- tig ist. Und außerdem soll sie mir zeigen, wie ich die Dinge angehen soll! Aber irgendwie habe ich gerade gar keine Ahnung. Ich weiß auch nicht wirklich, was es in der Welt alles gibt und wie alles funktioniert.“ Dr. Bionicus rückte wieder seine Brille zurecht, dann sagte er: „Lass mich das einmal wiederholen. Du möchtest auf einem Blatt Papier dein Leben dar- stellen. Das hört sich nach einer ziemlichen Heraus- forderung an. Aber mir gefällt die Idee.“ Dr. Bionicus ging grübelnd auf dem kleinen Pla- neten auf und ab und es schien, als müsste er das erst einmal verarbeiten. Nach einer Weile drehte er sich zu mir und fragte: „Was ich noch nicht ganz verstehe, ist, wie ich Caro dabei helfen kann?“ Caro und ich erklärten ihm, dass wir für die Reise von Außen zu ihm gekommen waren und mehr über seine Flip Charts erfahren wollten. Da erhellte sich seine Miene und er begann zu erzählen: 19
  • 20. „Bevor wir mit der Reise von Außen beginnen kön- nen, möchte ich dich mit dem Grundsatz Jonathans, Dr. Quantums und mir bekannt machen. Du kennst den Grundsatz doch noch nicht oder?“ Caro blickte den Professor und mich fragend an. Kein Wunder, hatte ich ihr ja vom Grundsatz auch noch nicht erzählt und so kam Dr. Bionicus zu einem kleinen Auftritt. „Vorhang auf, Popcorn und Cola gefällig?“, rief der Professor mit etwas dünner Stimme aus und proji- zierte mit goldener Schrift seinen Grundsatz auf den Erdball unter uns. Caro beugte sich gespannt nach vorne, so dass ihre braunen Locken schon beinahe senkrecht zur Erde standen und der Professor las: „Sähet viele Samen, aber überlasst das Gießen den Schülern.“ Caro strich sich ihre Locken aus dem Gesicht und blickte Dr. Bionicus fragend an. „Damit ist gemeint, dass es unsere Aufgabe als Wis- senschaftler und Lehrer ist, die Menschen und Schü- ler auf möglichst viele verschiedene Dinge aufmerk- sam zu machen und ihr Interesse zu wecken, aber sie in der Folge selbst wählen zu lassen, was für sie besonders interessant ist. Ich gebe dir ein Beispiel: Ich bin mir sicher, du hast in der Schule schon einen Professor erlebt, der stundenlang, ohne dich vorher zu fragen, über bestimmte Dinge gesprochen hat, die dich überhaupt nicht interessiert haben. Und in der Folge hast du dich dann auch nicht mehr mit ihnen beschäftigt. Stimmts? Dabei soll Lehren eben wie eine Austellung sein, in der man zunächst an den vie- 20
  • 21. len Gemälden nur vorüberschreitet, bevor man eines davon genauer betrachtet. Denn sobald das Interesse da ist, wird der Samen von selber gegossen.“ Als der Professor die letzten Worte gesprochen hat- te, verschwand die Schrift auf dem Erdball und Caro drehte sich wieder zu ihm. Dr. Bionicus war mitt- lerweile zu seinen Flip Charts weitergegangen und sagte: „Ich meine es ernst mit meinem Grundsatz und des- halb sollen diese Flip Charts wie meine Ausstellung für dich sein. Betrachte sie einfach und dann sag mir, worüber du mehr wissen möchtest.“ Caro ging ein paar Schritte zu den Flip Charts hi- nüber und betrachtete sie aufmerksam. Auf dem er- sten waren ein paar undefinierbare Skizzen zu sehen, auf dem zweiten gleitete ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln über das Meer, auf dem dritten und dem vierten gab es jeweils eine Liste, die Überschrift auf der einen war Naturgesetze und auf der anderen Men- schengesetze und auf dem fünften Chart schließlich, war eine Abbildung der Kontinente zu sehen. Nachdem Caro jede Chart genau betrachtet hatte, sagte sie zu Dr. Bionicus: „Ich glaube, ich brauche für alles noch eine genauere Erklärung, denn so richtig schlau bin ich nicht geworden. Aber es sieht alles sehr interessant aus.“ Dr. Bionicus lächelte, dann rückte er sich seine Bril- le zurecht und sagte: „Ja so ist das mit der Welt von Außen. Die meisten Dinge erkennt man eben erst, wenn man ihre Bedeutung kennt. Auch wenn man vieles von Außen gut erkennen kann, so bleibt im In- 21
  • 22. neren noch immer viel verborgen. Also nun zu meinen Bildern. Auf dem ersten, fin- den sich meine Gedanken und Notizen, in ihnen kann man von Außen noch nicht viel erkennen, aber das zweite Bild ist für mich das perfekte Symbol für die Welt von Außen.“ Während Caro und ich das Bild des Vogels, der über das Meer gleitete, genauer betrachteten, fuhr der Pro- fessor fort: „Wer möglichst hoch über der Welt schwebt, der hat den besten Aussichtspunkt für die Welt von Außen gefunden. Er sieht die ganze Bühne. Der Albatros, den ich gezeichnet habe, hat aber noch eine besonde- re Gabe. Sobald er ins Meer eintaucht, sieht er auch die Welt von Innen. Denn wie ich schon gesagt habe, ist es nicht genug, die Welt nur von Außen zu sehen. Um sie verstehen zu können, muss man sie von bei- den Seiten betrachten.“ Nach einer kleinen Pause fügte Dr. Bionicus hinzu: „Ich hoffe, der Gedanke und das Bild des Albatros helfen dir auf dem Weg zu deiner Zeichnung, Caro.“ Caro nickte und dennoch schien sie ein wenig in Gedanken versunken zu sein. Auch ich grübelte und so standen Caro und ich nachdenklich auf dem besten Logenplatz der schönsten Bühne Namens Welt. Dr. Bionicus war mittlerweile zu den nächsten Bil- dern weitergegangen und riss uns aus unseren Gedan- ken: „Drei spannende Charts hätte ich noch für dich. Bist du bereit?“ Caro war schnell wieder Feuer und Flamme und so 22
  • 23. begann Dr. Bionicus zu erzählen: „Mit meinen letzen drei Charts habe ich versucht darzustellen, welche Gleichmäßigkeiten es auf der Welt gibt. Denn wer die Welt von Außen betrachtet, der sieht das Ganze und stellt fest, dass es bestimmte Regeln und Gleichmäßigkeiten gibt. So siehst du auf meinem dritten Chart eine Liste der Naturgesetze. Dazu gehören zum Beispiel die Gravi- tation, die Thermodynamik oder die Lichtgeschwin- digkeit. Die Naturgesetze kann niemand auf der Erde ändern, ein Poet würde sagen, dass sie einfach sind. So verhindert zum Beispiel die Schwerkraft, dass du wie ein mit Gas gefüllter Luftballon plötzlich ins All fliegst. Viel spannender noch sind aber die Menschenge- setze. Das sind die Gesetze, welche die Menschen selber schaffen, wie zum Beispiel die juristischen Gesetze oder die Festlegung auf ein bestimmtes Wirt- schaftssystem. Die Menschengesetze sind nicht über- all gleich auf der Erde, zusätzlich können sie sich im Laufe der Zeit verändern und dennoch sind sie häufig so beständig wie die Naturgesetze. Das ist doch eine spannende Unterscheidung, oder?“ „Daran habe ich noch nie gedacht, das gefällt mir“, antwortete Caro und schüttelte sich ein paar Locken, die in ihr Blickfeld gefallen waren, aus dem Gesicht. Gespannt drehte sie sich bereits zum nächsten Chart, auf dem eine Abbildung der Kontinente zu sehen war. „Das ist mein letztes Bild. Auch wenn es nur eine Abbildung ist, so wirst du gleich bemerken, dass man zumindest gleich vier verschiedene Dinge darauf se- 23
  • 24. hen kann, nämlich auf welchen Teilen der Welt, wel- che Religionen vorherrschen, wo es Krieg gibt und wie wohlhabend und glücklich die Menschen sind. Eigentlich komme ich ja ohne große Technik auf meinem Planeten aus, aber dieses Bild war mir sehr wichtig, sodass ich eine kleine Ausnahme gemacht habe. Innerhalb des Bildes liegt nämlich ein kleiner Speicher, der mit Daten gefüttert ist. So kann ich auf einer kleinen Anzeige auf der Rückseite des Bildes, meine gewünschten Dimensionen einstellen und dann leuchten die Länder in den entsprechenden Far- ben auf.“ Ich war überrascht, dass Dr. Bionicus ein solches Bild auf seinem Planeten hatte, vorallem weil ich wusste, dass er nur mehr sehr selten auf die Erde kam und sich mit Technik eigentlich nicht gut auskannte. So blickte ich ein wenig verwundert auf den Profes- sor, der bereits angestrengt durch seine Brillengläser auf die kleine Anzeige blickte und Caro fragte: „Welche Dimensionen interessieren dich beson- ders? Wohlstand, Kriege, Religionen oder Glück?“ „Glück und Wohlstand“, erwiderte Caro. Dr. Bionicus drückte ein paar Tasten, dann sagte er: „Gib Acht, was passiert, wenn ich nun Glück und Wohlstand einstelle, … ,wie du siehst, leuchten jetzt die besonders wohlhabenden Regionen der Erde grün auf und die glücklichsten Regionen haben rote Quer- striche.“ Caro und ich beugten uns zum Chart und bemerk- ten, dass die wohlhabendsten Regionen nicht unbe- dingt auch die glücklichsten waren und die Ärmsten 24
  • 25. nicht die Unglücklichsten. Das brachte Caro ins Grübeln und sie begann sachte auf ihrer Unterlippe herum zu knabbern. Nach eini- gen Augenblicken fragte sie: „Wie wird man eigentlich glücklich?“ Es entging mir nicht, dass Dr. Bionicus kurz den Blick senkte und sich für einen Moment an seine Bril- le griff. Dann sagte er: „Auf diese Frage gibt es sehr viele individuelle Ant- worten. Ich kann dir gerne ein anderes Mal mehr da- rüber erzählen. Aber jetzt geht es sich nicht mehr aus. Ich habe nämlich schon vorhin bemerkt, dass wir die Zeit ganz übersehen haben und meine Vögel Yin und Yang dringend etwas zu trinken brauchen.“ Caro wirkte ein wenig verdutzt über den plötzlichen Schwenk des Professors, aber es schien, als würde sie jetzt nicht nachbohren wollen, denn sie stand schwei- gend da. Da schlug Dr. Bionicus vor: „Besucht doch in der Zwischenzeit Sofia, ich bin mir sicher, sie hat wich- tige Antworten auf diese Frage.“ Als ich den Namen Sofia hörte, wurde mir ein we- nig mulmig. Doch gleichzeitig merkte ich, wie mich Caro und Dr. Bionicus erwartungsvoll anblickten. „…Es ist wichtig für Caro“, hörte ich den Professor sagen. Also gab ich klein bei. „Kein Problem, wir besuchen Sofia. Danke, dass du uns geholfen hast, wir zwei werden uns jetzt schnell auf den Weg zur Erde machen, um Mittag zu essen.“ Caro nickte zustimmend, dankte Dr. Bionicus und wir machten uns auf den Weg. 25
  • 26. „Es war mir ein Fest“, sagte Dr. Bionicus noch schnell und als wir schon fast an der Krümmung, un- ter der wir ihn nicht mehr sehen könnten, angelangt waren, blickte ich mich noch einmal vorsichtig nach ihm um. Er stand bei Yin und Yang und blickte gedan- kenverloren durch die Käfigstäbe. Ich hatte Recht ge- habt, dass Caro mit ihrer letzten Frage einen wunden Punkt in ihm getroffen hatte. Und Caro war es auch nicht entgangen. Denn als wir uns der Erde langsam näherten be- merkte Caro: „Vorhin hat Dr. Bionicus plötzlich so abwesend gewirkt. Als wir wegflogen, hat er ganz traurig seine Vögel angesehen. Warum lässt er sie nicht einfach frei fliegen, genauso wie seinen Alba- tros?“ „Ich glaube er hat Angst, dass sie vielleicht nicht mehr zu ihm zurückfinden würden“, entgegnete ich, aber innerlich wusste ich, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Wir sahen nun bereits unter uns den See, der in der Sonne glitzerte und näherten uns rasch Caros Haus. Ich spürte die Wärme der Sonne auf meiner Haut und mir gefiel dieser Ort immer besser. Eine friedvolle Stimmung lag in der Luft, als wir kurz darauf die paar Treppen auf die Veranda empor stiegen und das Haus betraten. In meine Nase stieg eine Mischung aus frisch lasier- tem Holz und Leder, als ich den Eingangsbereich bet- rat, welcher gleich in ein großes geräumiges Wohn- zimmer überging. Mein Blick fiel schnell auf die 26
  • 27. Couchbank vor dem großen Fernseher, ich vermutete, dass sie neu sein musste. Durch die großen Fenster flutete das Sonnenlicht in den Raum und ich kam zu dem schnellen Urteil, dass hier alles sehr wohnlich und gemütlich war. Caro führte mich in die Küche und wir beschlossen Spaghetti zu kochen, um für den Nachmittag gerüstet zu sein. Den schwierigeren Part der Sauce übernahm Caro, während ich darauf aufpasste, dass die Nudeln nicht zu lange kochten. So stand ich vor dem Topf und überlegte, wann ich das letzte Mal gekocht hatte. Mir fiel auf, dass es schon lange her gewesen sein musste. Ich versuchte mich zu erinnern, da schweiften meine Gedanken auch schon zu Sofia. Und als ob Caro meine Gedanken lesen konnte, sagte sie plötzlich: „Jonathan, darf ich dich fragen, warum das mit So- fia ein wenig schwierig ist?“ Ich hielt kurz inne, weil ich nicht so recht wusste, was ich sagen sollte. Warum es mit Sofia schwierig war? Eigentlich war es ja gar nicht schwierig, ich hatte sie nur schon länger nicht gesehen, dachte ich. Und natürlich fiel mir auch ein, dass sie einmal meine Freundin gewesen war. Ich entschied mich, Caro folgendes zu sagen: „Sofia und ich haben einmal eine besondere Bezie- hung gehabt, wenn du verstehst was ich meine.“ „Klar verstehe ich“, entgegnete sie. „Wenn es dir lieber ist sie nicht zu besuchen, dann gehen wir nicht.“ Das kam für mich in dieser Situation aber nicht in 27
  • 28. Frage, also sagte ich: „Wir besuchen Sofia. Es ist ja keine große Ge- schichte. Und ich bin mir sicher, sie wird dir bei dei- ner Zeichnung weiterhelfen können.“ So setzten wir uns an den Küchentisch, um uns für das nächste Abenteuer zu stärken. Während ich Caro beobachtete, wie sie geschickt die Nudeln aufrollte und in ihren Mund schob, fiel mir noch etwas An- deres ein, was ich mich schon heute Morgen gefragt hatte: Wo waren eigentlich Caros Eltern? Ich wollte Caro jetzt nicht danach fragen, es war ja noch genügend Zeit und sie sah gerade so zufrieden aus. Während wir nach dem Essen alles verstauten, summte Caro die ganze Zeit eine Melodie, wie schon heute Morgen. Jetzt hatte ich Zeit mich auf die Melo- die zu konzentrieren und tatsächlich, ich erkannte sie. Es war der Refrain eines U2 Liedes, Beautiful Day. Ich freute und wunderte mich zugleich, dass ich das Lied erkannt hatte, denn eigentlich hatte ich mit die- ser modernen Musik ja weniger zu tun. Ich versuchte mich zu erinnern, wo ich das Lied gehört hatte, da fiel es mir ein. Ich musste lächeln. Es war bereits sehr viele Jahre her, ich war damals nach einem Kongress mit einem japanischen Geschäftsmann in einer Moskauer Flug- hafencafeteria gesessen. Auf Grund eines Schnee- sturms hatten alle Flüge große Verspätung und so saßen wir mehrere Stunden in diesem Café fest und warteten. Nicht zu übersehen war eine riesige Lein- wand gewesen, auf der dieses Lied in einer Endlos- schleife gespielt wurde. 28
  • 29. Und während Caro das Lied vor sich hin summte, dachte ich mir, dass so kein 16 oder 17 jähriges Mäd- chen aussah, das keine Eltern mehr hatte. Vielleicht waren sie ja einfach nur auf Urlaub! Ich ärgerte mich darüber, immer gleich so düstere Gedanken zu haben und sagte: „Dann kann’s jetzt los gehen, es ist höchste Zeit.“ „Wohin geht es diesmal?“, fragte Caro und verzog ihren Mund zu einem breiten erwartungsfreudigen Lächeln. „Nach Südamerika“, entgegnete ich und wenig spä- ter nahmen wir unsere Fahrt durch die Lüfte auf und ließen das sonnige Südskandinavien hinter uns. 29
  • 30. Jardin de niños del arbol Caro und ich waren bereits im Landeanflug auf Ar- gentinien und wir merkten schnell, dass es hier richtig kühl war. Starker Wind jagte die Wolkenfetzen über das hügelige Land, es roch nach Regen. Die Bäume und Sträucher waren vom Wind ganz gebogen. Nach dem vielen Sonnenschein am Vormittag waren Caro und ich nicht darauf gefasst gewesen. Eigentlich dumm, denn in der Eile hatten wir ganz darauf ver- gessen, dass in Argentinien derzeit natürlich Winter war. Nun standen wir ein wenig fröstelnd vor der großen Metallpforte des Jardin de niños del arbol; was über- setzt so viel wie Kindergarten der Bäume bedeutete. Ich blickte durch die Pforte in den Garten und mir wurde bewusst, dass ich wirklich eine halbe Ewigkeit nicht mehr hier gewesen war. Ich konnte mein Herz leicht klopfen hören und atmete die kühle aber erfri- schende Luft tief ein. „Mr. Jonathan, welch Überraschung!“, rief Señora Abraldes und öffnete die Tore des Kindergartens. „Ich bringe euch zu Sofia!“ Caro und ich folgten Señora Abraldes durch den Garten zum Sonnenhaus, wie So- fia seinerzeit das Hauptgebäude des Jardin de niños del arbol genannt hatte. Das Sonnenhaus war ein aus Holz gebautes und mit Efeu überzogenes längliches Oval mit großen Glasfenstern. „Die Kinder sollten sich hier nie eingesperrt füh- len“, hatte Sofia einst gesagt, als wir die Pläne für den Kindergarten entworfen haben. 30
  • 31. Wir betraten das Sonnenhaus und blickten auf drei Dutzend Kinder, die kreuz und quer im Raum verteilt waren. Manche malten Bilder oder kritzelten einfach auf ihren Blättern herum, andere bastelten mit Kas- tanien oder Tannenzweigen und der Rest spielte mit Bällen oder lief aufgeregt um die Tische im Sonnen- haus herum. Das Stimmengewirr der Kinder erfüll- te den Raum. Ganz so wie in einem völlig normalen Kindergarten, aber dennoch fühlte es sich hier ein wenig anders an: Ein wenig freier und friedvoller. Mein Blick fiel auf Sofia, die gerade über die Schul- tern eines kleinen Jungen blickte, welcher versuchte, eine Berglandschaft zu malen. Ihre dunklen glatten Haare verdeckten ihr Gesicht ein wenig, doch ich er- kannte sofort, was ich schon immer in ihr gesehen hatte. Wie wenig sich das Wesen von Menschen doch änderte, dachte ich. Sie war zwar älter geworden, doch es waren keine tiefen Spuren der vergangenen 30 Jahre zu sehen und ein nahezu jugendlicher Aus- druck lag auf ihrem Gesicht. „Sofia“, rief Señora Abraldes, „du hast Besuch.“ Als Sofia zu uns aufsah, wurde mir klar, wie un- vorbereitet ich auf diesen Moment eigentlich gewe- sen war. Ich merkte noch, dass Sofia leicht zuckte, als sie aufstand, um dann gefasst auf mich zuzusteuern und mit klarer Stimme zu sagen: „Schön, dass du da bist.“ Ich wusste nicht so recht was ich sagen sollte, da blickte sie auch schon auf Caro und scherzte: „Hast du Zuwachs bekommen?“ Darauf hin gab ich ein wenig verlegen zurück: „Ja, 31
  • 32. so könnte man es auch nennen, …, nein, das Wichti- ge ist“, ich räusperte mich und fand meine gewohnte Stimme wieder: „Caro hat ihren Kopf voller Fragen und ich helfe ihr dabei, Antworten zu finden. Wir wa- ren schon bei Dr. Bionicus und auf der Suche nach dem Glück hat er uns geraten, zu dir zu kommen, da du die Expertin des Glücks bist. Und nun sind wir hier.“ „Ah, das scheint ja nun einmal ein vernünftiges Pro- jekt zu sein“, entgegnete Sofia und blinzelte Caro zu. „Na, dann kommt.“ Wir nahmen an einem kleinen runden Holztisch inmitten des Sonnenhauses Platz. Sofia fragte Caro, was genau am Glück sie nun am meisten interessiere und Caro antwortete: „Ich möchte wissen, wie man glücklich wird.“ Da lächelte Sofia und entgegnete: „Da hast du dir ja bereits die spannendste Frage von allen ausgesucht. Ich will versuchen, dir eine Antwort darauf zu geben. Aber zuerst frage ich dich: Zähle mir ein paar Men- schen auf, die du kennst, von denen du annimmst, dass sie glücklich sind.“ Caro knabberte auf ihrer Unterlippe und blickte durch die großen Glasfenster ins Freie. Nach einigem Grübeln antwortete sie: „Ich glaube, meine beste Freundin Hannah ist sehr glücklich. Aber sonst fallen mir eigentlich keine Men- schen ein, die so richtig glücklich wirken. Außer den Kindern da, sie wirken sehr glücklich.“ Sofia antwortete: „Warum, glaubst du, sind deine beste Freundin Hannah und diese Kinder hier glück- lich?“ 32
  • 33. Caro dachte angestrengt nach, dann sagte sie: „Hannah singt gerne und sie mag Georg. Und sie verbringt viel Zeit mit Georg und mit dem Singen. Sie hat Spaß an diesen Sachen. Und die Kinder hier, die haben auch Spaß. Sie sind lebendig.“ Sofia blickte auf die Kinder und lächelte. So ei- nigten sich die beiden darauf, dass Glück etwas mit Spaß haben und Lebendig sein zu tun hatte. Dann fügte Sofia hinzu: „Glück ist aber sehr individuell. Nicht jedem ma- chen die gleichen Dinge Freude. Obwohl Menschen letztlich fast immer die gleichen Dinge brauchen, wie zum Beispiel Geliebt und Verstanden zu werden, so sind sie im Inneren dennoch ganz verschieden. Ich vergleiche die Psyche der Menschen gerne mit Korallenriffen im Meer. Alle Korallen benötigen die gleichen Bedingungen zum Überleben und dennoch sind sie ganz verschieden aufgebaut. Manche sind verwinkelt und haben richtige Stockwerke, andere wiederum sind einfacher und man kann sie gut erfor- schen. Das hängt nicht nur mit dem Alter der Riffe zusammen, sondern natürlich auch damit, was ihnen im Laufe der Zeit widerfährt. So kann es sein, dass sich Riffe durch ein ungünstiges Klima in ihrer Ge- stalt verändern oder Teile sogar ganz zerstört werden. Wenn man die Korallenriffe dann genauer ansehen möchte, gibt es Tage und Zeiten, da ist das Meerwas- ser richtig trüb und man kann das Innere der Riffe kaum erkennen. Und manchmal ist das Wasser rich- tig klar und dann strahlen die Riffe in den schönsten Farben.“ 33
  • 34. Mittlerweile hatte es draußen zu regnen begonnen und die Tropfen prasselten gegen die Scheiben. Se- ñora Abraldes brachte uns warmen Tee und ich fühlte mich zum ersten Mal seit langem so richtig wohl. Caro nippte an ihrem Tee, dann sagte sie: „Dr. Bionicus hat Jonathan und mir auf einer Kar- te gezeigt, dass die Menschen in manchen Regionen glücklicher sind als in anderen. Die müssen doch si- cher einen bestimmten Weg zum Glück entwickelt haben, oder?“ „Das kann schon sein. Wahrscheinlich liegt das an der Kultur in bestimmten Regionen, daran, welche Religion es dort gibt, welchen Stellenwert Familie oder der Beruf hat oder auch einfach, wie wichtig Feste und Fröhlich sein in einer Kultur sind. Aber trotzdem ist Glück sehr individuell, davon bin ich überzeugt.“ Ich beobachtete Caro, wie sie ihren Kopf auf ihre Hand stützte und nachdenklich ins Freie sah. Viel- leicht dachte sie darüber nach, ob es nicht doch einen bestimmten Weg zum Glück gab. Einige der Kinder waren bereits neugierig auf uns geworden und stan- den um unseren Tisch herum. Sie interessierten sich jedoch weniger für unsere Gespräche, als für Caro. Besonders ihre Locken hatten es den Kindern angetan und ein mutiges Mädchen ertastete bereits mit ihren Fingern die Struktur der Locken. Mich hingegen be- obachteten die Kinder eher aus der Ferne, mit mehr Ehrfurcht, was in diesem Moment recht nützlich war. Caro jedoch schien ihre besondere Lockenbehand- lung in keinster Weise zu stören, sie drehte ihren Kopf 34
  • 35. wieder zu Sofia und sagte: „Kannst du mir nicht noch ein paar Ratschläge über das Glück geben?“ Sofia nickte. Dann stand sie auf, stellte sich auf ihre Zehenspitzen und ließ ihren Blick über den Kinder- garten schweifen. Plötzlich hielt sie inne und forderte uns auf, in ihre Richtung zu sehen. Wir drehten un- sere Köpfe und sahen zwei ungefähr fünf Jahre alte Burschen, die auf einem Bein herum hüpften und an die Decke starrten. Da fiel von oben auch schon ein Ball herab und einer der beiden ergatterte ihn. Dann warf er den Ball wieder so weit er konnte Richtung Decke und das Spiel ging von Neuem los. Die bei- den Burschen lachten dabei, sie schubsten einander, sprangen aufgeregt auf und ab und es war kein Ende des Spiels ab zu sehen. Sofia sagte: „Merke dir einfach das Bild dieser beiden und ver- giss es nicht. Sie sind glücklich, weil sie Spaß haben bei dem was sie tun, weil geteiltes Glück das Glück noch größer macht und weil sie vollkommen in ihr Spiel eingetaucht sind. Sie sind wie in ihrer eigenen Welt, dadurch haben sie alles was sie brauchen und kommen auch nicht auf die Idee, sich mit anderen zu vergleichen und vielleicht darüber nachzudenken, ob sie etwas nicht haben, das jemand anderer hat. Das ist schon das ganze Geheimnis.“ Wir sahen den beiden Burschen noch eine Weile zu, dann sagte Sofia: „Wenn es eine bestimmte Art gibt, das Glück zu fin- den, dann ist sie, dass du in dir selber suchen musst. Nur du kannst heraus finden, was dir Freude macht, denn so wie kein Korallenriff einem anderen gleicht, 35
  • 36. so ist auch jeder Mensch verschieden. Du musst die Antwort in dir selber suchen.“ Caro lächelte und nippte an ihrem Tee. „Die Reise nach Innen“, murmelte sie leise vor sich hin und blicke mich mit funkelnden Augen an. Caro hatte verstanden, was die Reise nach Innen war und ich wusste, dass wir bald damit beginnen würden. Während wir langsam den Tee austranken, wurden die Kinder um uns immer mutiger. Mittlerweile hat- ten sie sich sogar schon an mich heran getraut und begannen an meinen Ärmeln zu zupfen. „Ihr müsst aufpassen“, lächelte Sofia, „wenn ihr noch länger hierbleibt, lassen sie euch nicht mehr ge- hen. So ist das nun einmal.“ Caro lachte und sagte: „Eine Frage habe ich noch, Sofia. Gibt es etwas, das dich besonders glücklich macht? Oder kannst du dein Glück in wenigen Sätzen zusammenfassen?“ Sofia lächelte und sagte: „Ja, das kann ich. Ich habe sogar einen Glückssatz. Eigentlich ist er nur für mich bestimmt, denn er ist etwas abstrakt, aber ich hoffe, du verstehst ihn den- noch. Ich werde ihn aber nicht näher erklären, einver- standen!?“ Caro nickte und blickte gespannt auf Sofia, die ih- ren Blick mit einem Lächeln auf den Lippen durch den Kindergarten schweifen ließ und dabei sagte: „Das ist es. Das ist alles, was da ist. Also worauf warten wir?“ Die Art und Weise wie Sofia diesen Satz sagte be- rührte mich. Ich saß da und fühlte mich plötzlich ein 36
  • 37. wenig seltsam, richtig ungewohnt, aber ich konnte das Gefühl nicht einordnen, welches sich irgendwo tief in mir bemerkbar gemacht hatte. Um uns herum waren mittlerweile immer mehr Kinder, die uns interessiert anblickten. Ich überlegte kurz, ob sie verstanden worüber wir redeten. Ich beo- bachtete ihre Gesichter genauer und dachte mir, dass es ihnen wahrscheinlich vollkommen egal war, wo- rüber wir redeten, aber dennoch war ich mir sicher, dass sie alles ganz genau verstanden. Auf ihre Art und Weise, eben wie Kinder verstehen. Señora Abraldes näherte sich dem Tisch und machte Sofia darauf aufmerksam, dass in Kürze einige Eltern kommen würden, um ihre Kinder abzuholen. So öffnete Sofia noch eine kleine Lade, welche ganz versteckt unter der Holzplatte des Tisches ange- bracht war und holte eine Ansichtskarte hervor. Auf der Karte war ein wunderschöner üppiger, tief in der Erde verwurzelter grüner Baum zu sehen. Am unte- ren Ende des Bildes stand in geschwungener Schrift: Jardin de niños del arbol. „Ich hoffe, das Bild gefällt dir. Ich finde, der Baum mit seinen Wurzeln passt auch sehr gut zum Men- schen. Nur wenn er kräftig und gesund verwurzelt ist, können sich seine Äste und Blätter in den Himmel strecken. Das Bild ist für dich, ein Geschenk.“ Caro bedankte sich herzlich, während wir durch den Eingang auch schon die ersten Eltern in das Sonnen- haus kommen sahen. Sogleich wirbelten einige Kin- der aufgeregt durch den Raum und Señora Abraldes und Sofia hatten alle Hände voll zu tun. 37
  • 38. „Bist du zufrieden?“, fragte ich Caro. „Sehr zufrieden“, erwiderte sie, mit der Ansichts- karte in ihren Händen. In all dem Trubel verabschiedeten wir uns von Sofia und als ich mich gerade wegdrehen wollte, fragte sie noch: „Und Jonathan, wie geht es dir mit deinen Theori- en?“ „Gut, gut“, sagte ich hastig und drehte mich Rich- tung Ausgang. Ich bemerkte noch wie sie Caro etwas ins Ohr flüsterte, dann waren wir auch schon wieder im Freien. Mittlerweile hatte es zu regnen aufgehört, aber der Wind pfiff noch immer über das Land. Das Sonnen- haus wurde bereits immer kleiner unter uns, da wollte ich von Caro noch wissen: „Was hat dir Sofia ins Ohr geflüstert?“ Caro lächelte und sagte: „Vergiss nicht, worauf es ankommt, ich liebe, was ich tue und die Kinder geben es mir tausendfach zurück.“ 38
  • 39. Ein skandinavischer Abend Ich hatte das Gefühl, dass ich nachdenklicher als Caro war, als wir nebeneinander auf der Veranda in den Schaukelstühlen saßen und die letzten Lichtstrah- len des Tages beobachteten. Die Vögel zwitscherten dem Tag Gute Nacht zu und der See lag bereits in der Dämmerung. Ich dachte an Sofia, an die Worte, die sie mir beim Abschied gesagt hatte und an den ganzen verrückten Tag. Noch vor 24 Stunden war ich auf ei- ner irischen Universität gewesen, hatte nach einem Gespräch mit einem Wissenschaftler vor der Biblio- thek gesessen, an meinen Theorien getüftelt und in die Sterne geblickt, um eine Antwort zu finden. Und jetzt saß ich auf der Veranda eines skandinavischen Hauses mit einem Lockenkopf von 16 Jahren, hatte vielleicht den verrücktesten Tag meines Lebens hin- ter mir und dennoch: Etwas in mir war aufgebrochen, aber ich konnte dieses Was noch nicht einordnen. So saßen Caro und ich auf der Veranda und wippten in unseren Schaukelstühlen, während sich die Nacht langsam über der Landschaft ausbreitete. „Das war ein irrer Tag“, sagte Caro, „Danke“, und nach einer Weile fügte sie hinzu: „Geht es dir gut?“ „Ja“, sagte ich und lächelte ein wenig. „Ich hab noch so viele Fragen“, sagte Caro und blickte mich mit einer Mischung aus Freude und Angst an. „Du kannst ruhig fragen“, entgegnete ich, „wir sind noch lange nicht am Ende unserer Reise angelangt.“ Caro holte eine mit Früchten gefüllte blaue Tonscha- 39
  • 40. le aus der Küche. Schwungvoll setzte sie sich wieder neben mich, nahm ein paar Trauben aus der Schale, hielt sie in die Höhe, betrachtete sie und sagte: „Woraus besteht das Glück eigentlich so wirklich, ich meine so richtig, biologisch? Wenn ich eine dieser Trauben esse, dann werde ich doch auch glücklicher.“ Genussvoll schob sich Caro eine Traube in den Mund und grinste mich an. Ich lachte und suchte nach einem guten Vergleich, um mehr über das Glück zu erklären, da fiel mein Blick auf die letzten von der Abendsonne beleuchteten Hügel am Horizont. Ich sagte: „Stell dir vor, du besteigst einen Berg, und nach stundenlangem anstrengendem Aufstieg gelangst du an den Gipfel. Du streckst deine Arme aus und ge- nießt die Aussicht. Jetzt empfindest du Glück. Bio- logisch gesehen sind das Hormone, die dein Körper dabei ausschüttet. Aber Glück ist nicht gleich Glück, es gibt das kurzfristige Glück, das du schnell einfan- gen kannst und das langfristige, das schwieriger zu erreichen ist. Wenn du zum Beispiel eine Traube isst, dann ist das kurzfristiges Glück, wenn du hingegen ein Ziel er- reichst, für das du sehr lange arbeiten musstest, dann wird dein Glück langfristiger sein.“ Nachdenklich wippte Caro auf ihrem Schaukel- stuhl, dann fragte sie: „Glaubst du, dass es das ewige Glück überhaupt gibt?“ „Ich weiß es nicht“, erwiderte ich, „auf jeden Fall ist es sehr schwierig zu erreichen.“ Nachdenklich saßen wir auf der Veranda und hielten Ausschau nach den ersten Sternen, die am Himmel zu funkeln begannen. 40
  • 41. Caro legte ihren Kopf leicht zur Seite und sagte: „So- fia hat erzählt, dass Vergleiche nicht gut für das Glück sind. Aber würden wir Menschen, ohne uns mit an- deren zu vergleichen, nicht viel weniger erreichen?“ Ich sagte: „Du hast schon Recht. Aber dennoch sind Vergleiche ganz gefährlich. Stell dir zum Bei- spiel einen Indianer vor, der abgeschieden mit sei- nem Stamm auf einer kleinen Insel lebt. Eines Tages taucht ein großes Schiff auf und legt auf der Nach- barinsel an. Menschen steigen aus und beginnen dort Häuser, Bars und Discos zu bauen. Plötzlich sieht der Indianer jeden Tag, wenn er auf das Meer blickt, die Menschen auf der Insel feiern und tanzen, er hört sie lachen und lärmen. Er kann erkennen, dass sie dort exotische Gerichte essen und mit schnellen Motor- booten über das Meer jagen. Was glaubst du, wie sich dieser Indianer jetzt fühlt? Das Schlimmste an Vergleichen ist für mich jedoch, dass sie für manche Menschen nie aufhören. Es gibt sechs Milliarden Menschen auf der Welt. Glaubst du nicht auch, dass wenn du es versuchst, du immer noch einen Menschen finden wirst, der scheinbar mehr hat, dem es scheinbar besser geht oder der glücklicher ist als du? Für das Glück können Vergleiche wie Gift sein. Man muss nicht alles haben, um glücklich zu sein.“ Nachdenklich wippte Caro auf ihrem Schaukelstuhl hin und her und schob sich noch eine Traube in den Mund. Vom See wehte eine sanfte Brise zu uns herauf und die Sterne funkelten immer heller. Meine Gedanken schweiften weiter und mir fiel auf, 41
  • 42. dass ich schon lange nicht mehr so viel gesprochen hatte wie gerade eben. Da glänzte in meinem Augen- winkel Caros Amulett und ich fragte: „Woher hast du eigentlich dieses schöne Amulett?“ „Von meinen Eltern, sie haben es mir geschenkt als ich noch kleiner war. Sie haben gesagt, dass ich es immer fest drücken soll, sobald ich mich alleine fühle oder vor einer Herausforderung stehe und dann wür- den meine Sorgen verfliegen.“ Ein Wolkenband zog langsam vor den Mond und es wurde dunkler. Ich bemerkte, dass Caro noch etwas auf ihrem Herzen hatte und nach einer Formulierung rang. Dann sagte sie: „Ich habe heute so viele tolle Dinge gelernt, aber irgendwie weiß ich nicht, wie ich das mit mir verknüpfen soll. Ich meine, bei Dr. Bio- nicus war mir klar, dass es die Reise nach Außen war, aber bei Sofia, hat da schon die Reisen nach Innen begonnen?“ „Es war ein Vorfühlen auf die Reise nach Innen“, erwiderte ich. „Morgen früh geht es dann richtig los.“ Caro lächelte und wir vereinbarten, dass ich morgen in der Früh wieder zu ihr kommen sollte. Ich stieg die paar Stufen von der Veranda hinunter und überquerte die Wiese in Richtung des Sees. Dann drehte ich mich noch einmal um, das schwache Licht des Sternenhim- mels schien auf Caros Haus und ich hoffte, dass Caro nach all den Erlebnissen gleich eingeschlafen war. Ich setzte meinen Weg fort und verschwand im Dun- keln der Nacht. 42
  • 43. Caros Glück Das Morgenlicht flutete durch die Fenster in Caros Zimmer, als wir am nächsten Morgen auf dem großen Teppich in der Mitte des Raumes saßen. Caro wirkte augeschlafen und sah mich erwartungsvoll an. Ich fragte: „Bist du bereit für die Reise nach Innen?“ Caro nickte. Schon beim Herkommen hatte ich mir überlegt, wel- che Fragen ich Caro stellen könnte, damit die Reise möglichst weit gehen würde. Da war mir eingefallen, dass mir vor langer Zeit ein Professor von einer Tech- nik erzählt hatte, bei der man mit Hilfe verschiedener Fragen mehr über sich erfahren könnte. Obwohl ich mich nicht mehr haargenau an jede der Fragen erin- nern konnte, gelang es mir doch sie zu rekonstruieren. Schließlich kannte ich mich mit Techniken gut aus, zumindest in der Theorie. Also sagte ich zu Caro: „Wir brauchen zuerst ein- mal einen Block und einen Bleistift.“ Sekunden später saß Caro mit den Utensilien be- waffnet wieder neben mir auf dem Teppich. „Ich werde dir jetzt sieben Fragen stellen, eine nach der anderen natürlich und du schreibst einfach drauf- los. Denk nicht daran, was die Dinge heißen, die du schreibst, schreib einfach, was tief aus dir kommt. Natürlich musst du mir nachher nicht erzählen, was du geschrieben hast, schließlich ist es nur für dich.“ Caro nickte mir zustimmend zu und zückte ihren Stift. Ich sagte: „Die erste Frage lautet: 43
  • 44. „Was sind die Dinge, die dich inspirieren und dir Energie geben? Was sind die Dinge, die du wirk- lich liebst?“ Caro schrieb, sie schrieb bestimmt drei Minuten lang, ohne auch nur aufzublicken. Während Caro nach- dachte, ließ ich meinen Blick ein wenig schweifen. Caro hatte die Karte des Jardin de niños del arbol be- reits auf ihrer Wand gleich neben dem großen Schrank befestigt. Ich musste an Sofia denken und wie sie mich beim Abschied angesehen hatte. Ich konzen- trierte mich wieder auf Caro. Ich stellte ihr die näch- ste Frage und so ging es dann weiter bis zur siebten: „Was macht dich traurig? Welche Hindernisse liegen auf deinem Weg?“ „Stell dir vor, du wärst ein Adler und könntest von oben auf deine Lebensreise sehen. Wo bist du gerade?“ „Wenn du dein Leben von außen betrachtest, was fragt es dich, zu tun?“ „Wenn du deine Lebensreise vorspulst und dann zurückschaust, wofür möchtest du in Erinnerung behalten werden?“ „Stell dir vor, du könntest dich mit den besten Teilen deiner Selbst verbinden und eine Frage stellen. Welche Frage wäre das?“ „Und was ist deine Antwort?“ Caro schrieb, schrieb und schrieb, bestimmt vier Seiten voll. Nachdem sie geendet hatte, fragte ich sie: 44
  • 45. „Und wie war die Reise zu dir selbst?“ „Spannend“, sagte sie, „ein wenig aufgewühlt fühle ich mich und ich glaube, ich weiß jetzt viel mehr über mich selbst.“ Ich wollte nicht weiterfragen, denn Caros Antwor- ten waren nur für sie bestimmt und schließlich kannte ich sie auch noch nicht so gut. Dennoch vermutete ich, dass wir im Laufe unserer Reise noch über einige Antworten stolpern würden. Momentan waren ohnehin die vielen Fotos, die rund um Caro auf dem Teppich lagen, viel wichtiger. Vielleicht war ja dort jemand zu sehen, der eine wich- tige Rolle für Caros Zeichnung spielen könnte. Caro beugte sich über die Fotos und murmelte: „Hier sind Hannah und Georg, sie sind meine be- sten Freunde, dann habe ich hier ein Foto meiner Schulklasse und eines meiner Theaterklasse und dann natürlich auch eines von meinen Eltern und meinem kleinen Bruder.“ Gespannt blickte ich auf das letzte Foto. Tatsäch- lich, hier war Caros Familie vergnügt am Strand und sogar Caro war darauf zu sehen. Ich fragte vorsichtig: „Wo ist denn eigentlich deine Familie?“ Caro grinste ein wenig und sagte: „Ich dachte schon du würdest nie danach fragen. Die junge Caro ganz allein in einem großen Haus, ... , nein natürlich nicht, meine Eltern sind nur gerade zu Besuch bei Verwand- ten in England. Und meinen kleinen Bruder haben sie mitgenommen. Ich durfte da bleiben, um mich auf die erste Schulwoche vorzubereiten. Und wie du siehst, tu ich das.“ 45
  • 46. Caro lächelte und mir fiel ein kleiner Stein vom Herzen, weil sich das Rätsel um ihre Familie vorerst gelöst hatte. Aber ich wollte vorsichtig sein, denn das Leben war stets voller Überraschungen. „Wer ist dir sonst noch wichtig?“, fragte ich. Für einen Moment fasste sie sich an ihr Amulett, presste die Unterlippen zusammen und ich hatte das Gefühl, als würde sie meiner Frage am liebsten aus- weichen wollen. Dann sagte sie zögernd: „Na ja, Cle- mens gibt es da auch noch.“ Ich wollte nicht nachbohren, da fuhr sie fort: „Er war mein Freund, aber jetzt ist er, …, keine Ahnung, wir waren früher auch sehr eng befreundet, aber jetzt hab ich das Gefühl, als wäre von unserer Freundschaft nicht mehr sehr viel übrig geblieben. Aber ich will gerade nicht darüber reden.“ Caro knabberte am Ende ihres Bleistifts und blickte zum Fenster, wie sie es schon getan hatte, seit sie Clemens zum ersten Mal erwähnte. Ich wollte Caro schnell auf andere Gedanken bringen, also fragte ich: „Gibt es auch Dinge und Gegenstände, die für dich und deine Zeichnung wichtig sein könnten?“ Caro wandte ihren Blick vom Fenster ab und ließ ihn durch das Zimmer gleiten. Dann stand sie auf und holte aus dem Kleiderschrank ihre Lieblingsweste und ihre Tanzschuhe, von der Kommode brachte sie ihr Schmuckkästchen und schließlich stolperte sie in ihren Flip Flops, die sie unter dem Bett gefunden hat- te, wieder zu mir auf den Teppich. Außer Atem sagte sie: „So, jetzt habe ich einige der Dinge, die mir wichtig 46
  • 47. sind hergebracht. Was hältst du davon, wenn ich nun eine erste Zeichnung wage, mit den Dingen und Men- schen darauf, die mir besonders wichtig sind?“ Ich war einverstanden und nickte, während Caro bereits ein neues Blatt nahm und mit Buntschift zu malen begann. Nach einer Weile begutachtete Caro ihre fertige Zeichnung und sagte: „Ich glaube auf dem Blatt sind nun die wichtigsten Dinge und Menschen. Aber ich frage mich, wie ich alle Antworten aus den sieben Fragen in meine Zeich- nung einbauen kann? Die Dinge, die mich aufhalten und meine Lebensreise sind doch auch irgendwie wichtig.“ Ich entgegnete: „Was alles auf deine Zeichnung kommt, dann kannst nur du wissen. Aber ich glaube, dass die Dinge, die dich aufhalten, auch wichtig sind. Schließlich gehören sie ja zu dir und du musst deinen Weg und deine Art finden, ihnen gegenüberzutreten. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie auf deine Zeich- 47
  • 48. nung müssen, aber für dich persönlich spielen sie si- cher eine Rolle.“ Caro nickte. Dann stand sie plötzlich auf, ging zu ihrem Aquarium und drehte mir den Rücken zu. Ich konnte erkennen, dass sie in Gedanken versunken war. Sie biss auf ihrem Bleistift herum und sah den Fischen zu, wie sie langsam und still ihre Kreise im Wasser zogen. Es sah so aus, als würde Caro mit et- was kämpfen, mit einer Frage tief in ihrem Innern. Und mit einem Ruck drehte sie sich um, sah mich an und sagte: „Weißt du Jonathan, manchmal hab ich das Gefühl, dass ich eigentlich nicht wirklich weiß, wer ich bin. Manchmal hab ich das Gefühl, dass ich gar keinen richtigen Charakter habe.“ Mit einem zweiten Ruck drehte sie sich wieder zum Aquarium zurück. Ich war überrascht über den plötz- lichen Ausbruch und suchte nach den richtigen Wor- ten. Dann sagte ich: „Ich kenne dich erst zwei Tage lang und dennoch weiß ich schon von so vielen Din- gen, die dich besonders machen. Denkst du, dass es viele Menschen gibt, die ihr Leben auf nur ein Blatt Papier malen möchten? Ich glaube nicht. Aber Cha- rakter entsteht über die Zeit, es nützt nichts, sich vor- zunehmen, wer man sein und was man tun wolle, man muss es tun. Stell dir einen Gärtner vor, der seine Blu- men gießt. Die Blumen, die er immer wieder gießt, blühen auf, die anderen gehen verloren. Da nützt es nicht, dass er sich nur vornimmt sie zu gießen.“ Caro beobachtete ihre Fische und sah mich nicht an. Sie grübelte. Dann ging sie zu ihrem Fernrohr, blieb dort ein paar Sekunden stehen, drehte sich wieder um 48
  • 49. und sagte: „Lassen wir das einmal. Ich glaube, ich weiß, was ich gerade will. Ich will noch mehr darüber erfahren, wer ich bin und was ich will. Und ich habe eine Idee.“ Sie ging zum Teppich, hob geschwind ihr goldenes Büchlein auf und begann darin herumzublättern. „Ich will mein eigenes Glück einmal aufschreiben, beschreiben, was Glück für mich ist. Hannah hat mir in der Schule einmal einen Spruch auf eines meiner Schulhefte geschrieben, den ich dann in mein gol- denes Büchlein übertragen habe.“ Nie verlerne so zu lachen wie du jetzt lachst froh und frei, denn ein Leben ohne Lachen ist wie ein Frühling ohne Mai. „Und weil mir der Spruch damals so gut gefallen hat, hat sie mir noch ein kurzes Gedicht über das Glück dazugeschrieben.“ Glück ist, wenn man etwas tut was man liebt, Glück ist, wenn man tut was man liebt mit den Menschen die man liebt, Glück ist, wenn es von Herzen kommt. Und wieder begann Caro in ihrem Zimmer ihre Run- den zu drehen. Ein wenig tat sie es den Fischen in ihrem Aquarium gleich. Ich musste schmunzeln. Da hörte ich Caro auch schon: „Wie fange ich an mein Glück zu beschreiben, was hat Sofia gesagt? Mit et- was, dass mir Spaß macht. Glück ist, Glück ist für 49
  • 50. mich …“, murmelte Caro vor sich hin, „Glück ist, wenn es von Herzen kommt. Ich hab’s, ich schreibe jetzt mein eigenes Glück ist - Gedicht.“ Triumphierend nahm Caro einen neuen Zettel. Dann schrieb sie bestimmt 50 Glück ist – Sätze aus denen sie folgendes Gedicht formte: Glück ist, wenn ich mit Hannah und Georg lustige Dinge unternehme. Glück ist, wenn ich mit meinen Eltern und meinem Bruder einen tollen Ausflug mache. Glück ist, wenn ich mit dem Ruderboot auf dem See fahre, Glück ist, wenn mir ein Spruch viel bedeutet und ich ihn in mein Büchlein schreibe. Glück ist, wenn ich andere zum Lachen bringe. Glück ist, wenn ich tanze bis zum Umfallen. Glück ist, wenn ich mich lebendig fühle. Zufrieden blicke Caro auf das Blatt Papier: „Das kommt sofort in mein goldenes Büchlein. Und jetzt essen wir was!“, lachte sie. Als ich gerade den letzten Bissen der Lasagne in meinen Mund schob, sagte Caro: „Glaubst du eigent- lich, dass ich aus dem was mich glücklich macht, auch meinen Traumberuf entwerfen kann?“ „Ich hab schon daran gedacht“, entgegnete ich, „und weiß auch schon, wer uns dabei helfen wird. Wir werden Madame Ribery besuchen, sie ist Karriere- forscherin und zwar eine wirklich gute.“ 50
  • 51. Madame Ribery Als Caro und ich in Rabat, der Hauptstadt Marokkos, ankamen, war es bereits später Nachmittag. Es war noch immer angenehm mild und eine sanfte Brise wehte vom Meer zu Madame Riberys Haus. Wir saßen im Vorgarten bei einem kleinen Holztischchen umge- ben von Palmen und warteten auf sie. Noch vor we- nigen Minuten hatte sie uns überschwänglich begrüßt und war dann im Inneren des Hauses verschwunden, um ihren Gatten Matthieu lautstark anzuweisen uns ein Abendessen zuzubereiten. Ich musste lächeln. Madame Ribery war einer jener Menschen, die eine unglaublich offene und gewin- nende Art hatten und zur gleichen Zeit genau wussten, was sie erreichen wollten. Sie hatte Matthieu beim Studieren in Marseille kennen gelernt, schnell be- schlossen zu heiraten und eine Familie zu gründen, um nach einigen Jahren mit ihren beiden Kindern nach Rabat, ihrer Heimatstadt, zurückzukehren. Dort hatte ich sie dann auch kennen gelernt. Mein Interesse für Karriereforschungen hatte mich damals zu ihr geführt und ich merkte rasch, dass Ma- dame Ribery eine besondere Gabe hatte, wichtige Dinge einfach und anschaulich darzustellen. Sie hatte eine harte Schale und einen weichen Kern und ihr war wichtig, dass sie und ihre Arbeit von Nutzen waren. Sie beschäftigte sich mit Karrieren und Berufsbildern und ihrer Veränderung im Laufe der Zeit. Ich war mir sicher, dass sie Caro helfen konnte und gleichzeitig freute ich mich, wieder in Rabat zu sein. 51
  • 52. „Da bin ich schon wieder“, lächelte sie, „alles un- ter Dach und Fach. Ich bin bereit für dich und deine Wünsche, Caro.“ Caro nahm ihr goldenes Büchlein heraus und zeigte ihr persönliches Glück ist Gedicht. Sie sagte: „Jona- than hat gemeint, wir schaffen es, daraus zu kreie- ren, was ich später in meinem Leben einmal machen möchte.“ „Später?“, sagte Madame Ribery etwas vorwurfs- voll und stemmte demonstrativ die Hände in die Hüf- ten. „Später ist gar nicht gut, das Leben findet im Hier und Jetzt statt, aber da ich weiß, wie du es meinst, will ich nicht streng sein. Und schließlich hast du ja auch noch viel Zeit. Auf die Frage, was du später ein- mal machen möchtest, sage ich dir, dass du genau das machen solltest, was du in deinem Gedicht beschrie- ben hast.“ Caro sah Madame Ribery zweifelnd an. „Genau das und zuerst das und ja nichts anderes“, fuhr Madame Ribery fort. „Du magst mich jetzt vielleicht für ein wenig ver- rückt halten, aber ich sage dir eins: Wenn man älter wird, gibt es meistens zwei Möglichkeiten, entweder man wird ernster oder man wird verrückter. Und ich bevorzuge eher die zweite Variante.“ Madame Ribery klatschte in die Hände und lachte vergnügt. „Deshalb habe ich auch beschlossen meine For- schungen etwas greifbarer zu machen, sagen wir handfester. Ich bin kurz davor meine erste Ausstellung zu eröffnen. Matthieu und ich haben an der Rückseite des Hauses ein Atelier eingerichtet, seht selbst.“ 52
  • 53. Wir gingen durch den Garten zur Rückseite des Hauses. Als Madame Ribery die Türe zum Atelier öffnete, traute ich meinen Augen nicht. Vor mir lag eine riesige Halle mit einem Glasdach, der Boden be- stand aus diesen typischen marokkanischen bunten Kacheln und im ganzen Raum verteilt befanden sich große und kleine Statuen und Figuren. Da gab es von Solarzellen betriebene Fischerboote, überdimensio- nale Golfschläger, Gitarren, von deren Saiten Men- schen aßen und unzählige weitere sonderbare phan- tasievolle Figuren. Und alle waren aus Ton gefertigt. Ich war überwältigt. Bei meinem letzten Besuch hat es dieses Atelier noch nicht gegeben. Damals war ich mit Madame Ribery noch über dicken Dokumenten gesessen, um mehr über ihre Forschungen erfahren zu können. Obwohl ich schon damals begeistert über ihre einfache Sprache und ihre vielen Abbildungen gewesen war, dieses Atelier überraschte mich nun wirklich. Wer hatte all diese Skulpturen getöpfert, fragte ich mich. Bevor ich weiterdenken konnte, füllte Madame Riberies Stimme den Raum auch schon aus: „Im Großen und Ganzen gibt es in meinem Atelier zwei Bereiche, der eine ist der akademische und der andere der praktische. Ich würde vorschlagen, wir beginnen mit dem akademischen. Ich habe hier die wichtigsten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Karrieren dargestellt. Hier seht ihr zum Beispiel die Veränderung des Managers über den Zeitraum der letzten 50 Jahre.“ Wir blickten auf zehn große Statuen, von denen keine einer anderen glich. Auf der ersten Statue war 53
  • 54. ein Schild befestigt, auf dem stand: Jahr 1960. Auf der nächsten ein Schild mit Jahr 1965 und so ging es in Fünferschritten bis ins Jahr 2010. Jede Statue war aus Ton gefertigt. Dennoch konnte man klare Unter- schiede im Gesichtsausdruck, der Körperhaltung, der Kleidung und auch der Gegenstände erkennen, wel- che die Manager in ihren Händen hielten. „Hier seht ihr zum Beispiel, dass der Manager aus dem Jahr 2005 einen Laptop trägt. Der Laptop ist sein Symbol. Im Jahr 1985 hingegen musste ein Manager einen Taschenrechner herumtragen, um als Manager gesehen zu werden. So ist das mit Symbolen“, kicher- te Madame Ribery. „Am besten an den Managern gefällt mir jedoch, dass wir beim Töpfern sogar das mathematische Mit- tel der Rückenkrümmungen abgebildet haben. Das heißt, die Manager hier sind bis zum Jahr 2010 im- mer weiter nach vorne gebeugt. Die Krümmung ist stets ein wenig stärker geworden und das entspricht exakt den wissenschaftlichen Daten“, ergänzte Ma- dame Ribery. „Dann gibt es hier noch Darstellungen von Karriere- pfadeffekten und neuerer Trends aus der Forschung. Aber im Moment ist das gar nicht so wichtig. Für uns ist der praktische Teil viel wichtiger, er liegt mir auch mehr am Herzen. Kommt mit.“ Madame Ribery führte uns vor eine große Wand aus weichem Ton, auf der tausende verschiedene kleine Abdrücke zu sehen waren. Die Wand war in drei ver- schiedene Bereiche unterteilt. Wir marschierten an der Wand entlang, bis wir ganz links vor dem ersten 54
  • 55. Bereich standen. Madame Ribery erklärte: „Für den ersten Bereich habe ich eine Universitäts- klasse eingeladen. Ich habe sie gebeten, gemeinsam alle Berufe zu sammeln und aufzuschreiben, die sie sich vorstellen konnten. Sie sammelten Beispiele wie Feuerwehrmann, Polizist, Immobilienmakler, Manager, Kellner, Gärtner, Musiker und so weiter. Anschließend bat ich sie sich auf eine Abbildung für jeden Beruf zu einigen. Für einen Gärtner entstand zum Beispiel die Abbildung einer Frau in Gummistie- feln und einer Gießkanne in der Hand. Die Universi- tätsklasse sammelte ungefähr hundert Berufe, deren Abbildungen dann getöpfert wurden. Anschließend wurden die Figuren in den weichen Ton der Wand gedrückt, welcher vorher zusätzlich noch ein wenig erwärmt worden war, damit die Figuren in der Fol- ge auch hielten. Unter jede Figur kam dann noch ein kleines Schild, auf dem der Beruf stand, damit es auch keine Verwechslungen gab. Ist so weit alles klar?“ Caro und ich standen vor der Wand und blickten auf all die verschiedenen Figuren. Manche der Berufe konnte man leicht erkennen, wie zum Beispiel den Gondoliere, der mit seinem Ruder auf einer riesigen Gondel stand und sofort an Venedig erinnerte. Andere Berufe hingegen waren schwierig zu erkennen, doch dabei half dann das Schild darunter. Nachdem Caro und ich die vielen Figuren angesehen hatten, waren wir bereit für den zweiten Bereich. Madame Ribery führte uns zehn Meter nach rechts und wir blickten nun auf eine ganze Reihe neuer Fi- guren. Noch auffallender als die Figuren waren je- 55
  • 56. doch die Beschreibungen auf den Tafeln darunter. Da gab es den Facility Manager, den Feng Shui Berater, den Privatkundenbetreuer, den Risikoprodukttester, den Inhouse-Consultant und viele ausgefallene Be- schreibungen mehr. Zusätzlich fanden sich jedoch auch alle Berufe aus dem ersten Bereich wieder, wie zum Beispiel Polizist oder Kellner. Insgesamt gab es ungefähr vier mal so viele Figuren wie noch im ersten Bereich. Caro und ich waren neugierig auf eine Er- klärung und so erzählte Madame Ribery: „Für den zweiten Bereich habe ich Firmenchefs aus verschiedensten Arbeitsfeldern eingeladen. Sie be- kamen die Aufgabe, jene Berufe zu töpfern, die sie selbst anbieten, um anschließend die Figuren in die Wand zu drücken. Wie ihr sehen könnt, entstanden wesentlich mehr Figuren als im ersten Bereich. Mitt- lerweile ist er schon randvoll, es sind ungefähr 500 und ich habe beschlossen, keine Firmenchefs mehr einzuladen. Bevor ich euch jetzt sage, was diese Wand aussagen soll, erkläre ich noch den dritten Bereich. Für diesen habe ich wieder Universitätsklassen eingeladen. Aber diesmal habe ich sie gebeten, all ihre Traumberufe zu sammeln und aufzuschreiben, unabhängig da- von, ob es diese bereits gibt oder nicht. Nachdem die Studenten eine lange Liste erstellt hatten, sollten sie nachsehen, ob ihre Traumberufe bereits in den ersten beiden Bereichen vorkamen. Manche kamen vor und deshalb haben wir sie nicht mehr getöpfert. Doch es gab auch einige, die nicht vorkamen und diese finden sich nun im dritten Bereich. Der Bereich der Wün- 56
  • 57. sche, sozusagen.“ In der Zwischenzeit waren Caro und ich in den drit- ten Bereich weitergegangen. Ich blickte auf eine gan- ze Reihe neuer Figuren und Berufe. Da gab es den Pflanzenheiler, den Verkäufer von solarbetriebenen Kleinflugzeugen, den Redenschreiber oder den Erfin- der von gesundem Alkohol. Ich war überrascht, dass es so viele zusätzliche neue Figuren gab. Madame Ribery beobachtete uns, wie wir beein- druckt vor dieser riesigen Wand standen. Daraufhin sagte sie: „Ich liebe diese Wand und bin stolz auf sie, weil sie so viele Ergebnisse meiner Forschungen ab- bildet. Die Wand sagt sehr vieles aus, aber am wich- tigsten ist folgendes: Auf der einen Seite ist die Kre- ativität der Menschen grenzenlos, wenn man sie nur lässt. Das sieht man an den vielen fantastischen und kreativen Berufen im zweiten und dritten Bereich. Vor 20 Jahren hat es noch nicht so viele Berufe ge- geben und es macht mich froh zu sehen, dass immer mehr junge Menschen die Möglichkeit bekommen, ihre Zukunft noch individueller zu gestalten. Auf der anderen Seite zeigt diese Wand, dass viele jun- ge Menschen noch immer unter dem Druck stehen, sich in eine vorgefertigte Welt einpassen zu müssen. Nimmt man ihnen ihre Träume, so geben sich viele schnell mit etwas einfachem zufrieden. So kann es sein, dass jemand der immer davon geträumt hat ei- nen Spezialfrisiersalon für ausgefallene Hochsteck- frisuren zu eröffnen, bereits in jungen Jahren, aus welchen Gründen auch immer, seine Träume begräbt und ein normaler Friseur wird. Nicht dass ihr denkt, 57
  • 58. ich hätte etwas gegen Friseure, das ist ein schöner Be- ruf, aber ich hoffe, ihr versteht was ich meine.“ Ich dachte über das Beispiel mit dem Friseur nach, da riss mich Caro auch schon wieder aus meinen Gedanken: „Aber ist das nicht traurig, dass es für so viele Menschen keine Berufe gibt? Ich bin mir sicher, wenn ich versuche mit meinem Glücksgedicht mei- nen Glücksberuf zu finden und ihn dann töpfere, so wird er nur eine Form mehr im dritten Bereich. Und womöglich werde ich dann nie einen Beruf finden. Da ist es doch gleich besser, man erspart sich das alles und sieht sich in den ersten beiden Bereichen um.“ Madame Ribery, die wie ein Fels in der Brandung vor ihrer Wand stand, hatte aufmerksam zugehört: „Du hast sicherlich in vielem Recht. Ich liebe di- ese Wand so sehr, weil sie so viele Fragen und Ant- worten aufwirft, so dass man wochenlang darüber reden könnte und noch immer auf neue Aspekte sto- ßen würde. Zu deiner Frage: Unter dem Strich haben Menschen viele gute Gründe so zu sein wie die Welt sie sehen will, denn schließlich ist das ja häufig auch nicht ganz schlecht und erspart ihnen so einiges an Ärger und Zeit. Und dennoch vergessen viele Men- schen bei all diesem Streben, dass es nicht nur diese hundert Standardberufe gibt und sie fragen sich nicht, was und wer sie eigentlich wirklich sein wollen. Diese Wand zeigt so vieles, aber mir zeigt sie voral- lem, wie viel von der unglaublich fantastischen Krea- tivität der Menschen in unserem System noch auf der Strecke bleibt.“ Madame Ribery schnappte kurz nach Luft. Caro 58
  • 59. knabberte auf ihrer Unterlippe und mittlerweile wusste ich schon, dass sie dann stark nachdachte. Auch ich musste nachdenken. So standen wir drei vor der großen Wand mit den vielen Figuren und es schien, als würde uns die Wand mit ihren vielen Fra- gen und Antworten erdrücken. Nach einigem Grübeln sagte Caro: „Das heißt du meinst, jeder solle zuerst einmal ver- suchen, seine Träume zu verwirklichen?“ „Ja, der Meinung bin ich“, entgegnete Madame Ri- bery bestimmt. Doch Caro hatte einen Einwand: „Und was ist mit den Menschen, die es sich nicht leisten können, darauf zu warten, dass ihre Träume in Erfül- lung gehen. Die Geld benötigen, um sich etwas zu essen zu kaufen? Diese Menschen müssen doch den erstbesten Beruf nehmen, den sie bekommen können. Und in der Schule mit dem Lernen ist das ähnlich. Die Lehrer und sicher auch meine Mitschüler werden nicht einverstanden sein, wenn ich immer das lerne, was ich für richtig halte. So funktioniert das doch nicht.“ Caro war nun auf dem besten Weg sich mit Madame Ribery anzulegen, doch so bestimmt Madame Ribery bei ihren Ausführungen auch manchmal war, so auf- merksam war sie auch, wenn sie einmal einen interes- sierten Gesprächspartner gefunden hatte. So sagte sie: „Du hast natürlich Recht. Es ist nicht immer einfach seine Träume zu verwirklichen. Man ist nicht alleine auf der Welt und muss häufig Kompromisse schlie- ßen. Es ist eben schwer möglich und oft auch nicht sinnvoll, totale Freiheit zu ermöglichen. Nicht jeder 59
  • 60. Schüler kann in der Schule immer das lernen, was er möchte. Aber trotzdem denke ich, dass es prinzipiell sehr wichtig ist zu versuchen, das umzusetzen, was man schaffen möchte. Wenn man dann merkt, dass etwas nicht so geht wie man es sich gewünscht hat, kann man noch immer einen Kompromiss schließen oder auch ganz umdenken. Unter dem Strich wird man aber auf jeden Fall besser dran sein, als wenn man von Haus aus gesagt hat, dass sein Glück sowie- so nicht möglich sei und deshalb nur auf die Möglich- keiten gesehen hat, die es schon gab. Deshalb rate ich dir: Gib deine Träume nicht auf.“ Caro war zu einer der Tonfiguren weitergegangen und fragte: „Darf ich versuchen, aus meinem Glücks- gedicht meinen Traumberuf zu töpfern?“ „Dafür ist dieses Atelier da. Lass deiner Kreati- vität freien Lauf“, entgegnete Madame Ribery und klatschte in die Hände. Caro wollte noch in Ruhe töp- fern, so beschlossen Madame Ribery und ich bereits zum Abendessen vorzugehen und verließen das Ate- lier. Draußen war es schon fast ganz dunkel geworden, aber es war noch immer angenehm mild. Wir gingen zurück in den Vorgarten, wo Matthieu mittlerweile mit den Kindern auf uns wartete. Schon von weitem roch ich frischen Pfefferminztee, sah das Holzkohle- feuer und wusste, wir würden eine Tajine essen, ein traditionelles marokkanisches Gericht, welches in ei- ner Tonschüssel über dem Feuer gegart wird. Als hätte Caro das Essen gerochen, kam sie auch schon wenig später mit ihrem getöpferten Glücksbe- 60
  • 61. ruf gelaufen. Da ich ihr Gedicht kannte, ahnte ich, was sie getöpfert hatte: Hannah, Georg und sich selbst, lachend beim Tanzen. Und mir war klar, dass Caro noch viel mehr in dieser Figur sah, als ich oder jeder andere sehen konnte. Während wir uns alle im Dunkeln der marokka- nischen Nacht bei Kerzenschein über die Tajine her- machten, uns über alte Zeiten austauschten und Caro und ich Matthieu und auch die Kinder näher kennen lernten, wurde mir wieder bewusst, was Madame Ri- bery für eine tolle Frau war. Und ich hatte das Gefühl, mich heute Abend sehr lebendig zu fühlen. Ich blickte auf Caro und dachte mir, dass es ihr genauso ging. Die dünne Sichel des Mondes lag über Rabat, als wir uns voneinander verabschiedeten. Caro und ich machten uns auf die Heimreise durch die Lüfte. Als sich gerade die Lichter der Stadt unter uns im Dunk- len verloren, zog mich Caro am Ärmel. „So sehr ich mich schon auf Zuhause und mein Bett freue, so mag ich jetzt noch kurz weg bleiben, irgend- wo anders, …“ Ich blickte auf die Mondsichel über uns und deutete hinauf: „Wie wär’s mit einem kurzen Abstecher?“ Caro lächelte und so setzten wir uns auf den Mond, gerade so, dass wir nicht im Licht waren, aber der Schein noch ausreichte, um es ein wenig hell zu ha- ben. Wir blickten auf die Lichter der Erde und saßen lange schweigend da. Dann sagte ich zu ihr: „Du bist jetzt so richtig drin- nen in deiner Welt, hab ich recht?“ 61
  • 62. „Ja, das bin ich“, sagte sie und seufzte. „Das war wirklich ein aufregender Tag.“ Ich war lange nicht hier gewesen und als ich so da saß und den Erdball unter meinen Füßen sah, konnte ich eigentlich nicht verstehen, weshalb ich in der letz- ten Zeit so wenig Blick für all diese Dinge gehabt hat- te. All meine Gedanken und mein Leben kamen mir plötzlich viel kleiner und weniger bedrohlich vor. Wie auf einem Satellitenbild der Erde bei Nacht, strahlten die Lichter der großen bewohnten Städte und hüllten den Erdball in ein samtiges Licht. In die Stille sagte Caro: „Ich fühle mich gerade ganz seltsam, es ist schwer zu beschreiben. Das al- les ist wie ein Traum, wie ein unglaublicher Traum und ich habe Angst, plötzlich aufzuwachen. Alles ist so neu und hört sich doch so einfach an. Ich glaube, wenn ich weiter träume, dann bleibt es auch einfach. Aber wenn ich aufwache, dann fürchte ich, dass es ganz schwierig werden wird.“ Wir saßen eine Weile nebeneinander, dann fuhr Caro mit ihrer Glücksfigur in der Hand fort: „Ich mei- ne, zum Beispiel meine getöpferte Figur, jetzt einmal ganz ehrlich, Jonathan, wie soll ich das jemals um- setzen?“ Nach einer kleinen Pause sagte ich: „Wer weiß schon, wie viel Unterschied zwischen Traum und Realität wirklich ist? Sieh den Stern da drüben. Du siehst ihn an. Und dann willst du ihn angreifen und ehe du dich versiehst, hast du durch ihn durchgegrif- fen. Ich glaube nicht, dass das die wichtige Frage ist. Das was jetzt gerade ist, ist. Du hast heute deine Fi- 62
  • 63. gur getöpfert und in dem Moment, in dem du sie ge- schaffen hast, war es für dich möglich, dass du deinen Traum auch umsetzen kannst. Wenn es heute möglich ist, so auch morgen, warum sollte es je aufhören? Ich glaube, es ist wichtig zu wissen was man will, auch wenn man oft nicht weiß, wie die Dinge letztendlich entstehen werden.“ Die Erde lag ruhig unter uns, ich atmete die frische Luft und suchte nach Worten. „Sieh auf die Erde und stell sie dir als großes Spielfeld vor. Siehst du die vie- len Spieler und die vielen Ereignisse, die rund um die Uhr geschehen? Ich finde, wenn man hier oben sitzt, bekommt man ein Gefühl dafür, wie groß und uner- gründlich dieses Spiel doch eigentlich ist. Wer kann schon sagen, wie viele Spieler auf nur einen einzigen Spielzug Einfluss haben. Alles entscheiden zu können ist einfach nicht möglich. Aber du kannst dein Bestes tun. Und wenn ich hier so sitze, frage ich mich was real oder nicht real schon für eine große Rolle dabei spielen.“ Caro dachte lange über meine Worte nach. Dann meinte sie: „Aber selbst wenn ich vieles entscheiden kann, so ist das Spiel doch so groß, dass ich nie alles überblicken werde können. Was ich meine ist, dass nicht jeder Tag einfach ist, manchmal gelingen Dinge nicht, es regnet oder Menschen verletzen einen. Ich hab dir doch von meinen besten Freunden Han- nah und Georg erzählt. Hannah ist wirklich fröhlich, aber Georg kann manchmal wirklich böse werden. Ich kenne den Grund dafür nicht und es macht mich manchmal richtig traurig.“ 63
  • 64. „Ich verspreche dir auch nicht, dass alles leicht ist oder dass es für alles eine Antwort gibt. Aber in einem bin ich sicher: Erinnerst du dich an das, was ich heute Vormittag über den Gärtner gesagt habe, der die Wahl hat, seine Blumen zu gießen oder nicht? Es geht darum, was du tust oder eben nicht tust. Und um deine Einstellung zu den Dingen. Siehst du das Wolkenband dort unten? Bestimmt sagen dort die Menschen, dass es regnet und ungemütlich ist. Aber ich bin mir sicher, es gibt jemanden der sagt, dass die Sonne scheint. Und dieser Jemand macht es richtig.“ Caro stützte ihren Kopf auf ihre Hände, sie wirkte ein wenig verzweifelt. Deshalb sagte ich: „Ich glaube, wir haben für heute genug erlebt und geredet. Lass uns einfach noch ein wenig auf dem Mond sitzen und der Erde zusehen, dann fliegen wir heim und legen uns hin. Denn morgen besuchen wir einen Freund. Ich glaube, dann wirst du noch besser verstehen.“ Caro sah auf die vielen Lichter der Erde und ihre Augen fielen ihr schon zu. Ich stützte sie, denn um ein Haar wäre sie vom Mond einfach herunter gepurzelt. 64
  • 65. Ein himmlischer Professor Am nächsten Morgen machten wir uns gleich auf in Richtung eines kleinen Planeten, ähnlich dem von Dr. Bionicus. Auch diesmal wollten wir einen Professor besuchen, einen Doktor, aber einen der sich mit Ge- hirnen und Quantenphysik gut auskannte. Dr. Quantum winkte uns schon von weitem zu. Ich er- kannte sein Micky Maus T-Shirt und musste lächeln. Seine Haare standen noch ein bisschen mehr zu Berge als normalerweise und er grinste bis über beide Oh- ren. Ich freute mich, Dr. Quantum zu sehen. Obwohl ich in meinem Leben viele Wissenschaftler getroffen hat- te, war er wirklich einer derer, die einen immer wie- der verblüfften. Ich war mir sicher, er würde es auch diesmal tun. 65
  • 66. „Seid gegrüßt ihr zwei, in meiner kleinen galak- tischen Welt, was führt euch zu mir?“, lächelte Dr. Quantum und spielte mit seiner Brille. Caro und ich erzählten ihm von unserer bisherigen Reise, von Ca- ros Wunsch und baten ihn, uns mehr über das Denken zu erzählen. Dr. Quantum schnippte mit dem Finger und legte auch schon freudig los: „Himmlisch, ja dann werde ich euch einmal einfüh- ren in die Geheimnisse des menschlichen Gehirns. Aber bevor ich beginne, hat dir Jonathan schon von unserem Grundsatz erzählt?“ Caro musste grinsen, offensichtlich erinnerte sie sich an Dr. Bionicus und sagte: „Ja, ich weiß schon bestens Bescheid.“ „Großartig“, fuhr der Doktor fort: „Ich sage im- mer, in unserem Gehirn ist es wie mit einem großen Spielzeugeisenbahnsystem, in dem du der Bahnhofs- direktor bist. Du bestimmst, wo und wohin die Gleise verlegt werden, wie oft Züge fahren, wie die Land- schaft aussieht und welche Städte Hauptverkehrskno- tenpunkte werden. Dort wo häufig Züge fahren, dort entwickelt sich sehr viel und dort wo keine fahren, wachsen mit der Zeit langsam Gräser über die Gleise und irgendwann verschwinden diese ganz.“ Caro drehte sich zu mir und fragte: „Ist das wie mit den Blumen, die ich gieße oder eben nicht?“ „Ja genau, das ist wie mit den Blumen“, antwortete ich und blickte Caro etwas überrascht an. Sie hatte die Geschichte mit den Blumen schnell verstanden und ich bekam die Vorahnung, ihr bald nicht mehr viel beibringen zu können. 66
  • 67. Da fuhr Dr. Quantum auch schon mit Begeisterung fort: „Nun streiten sich die Wissenschaftler ja immer darüber, ob du wirklich der Architekt deines Bahn- systems bist. Sie wollen erforschen, welche und wie viele der Strecken schon von Geburt oder von Kind- heit an da sind und wie viele Strecken überhaupt er- richtet werden können. Das sind alles spannende Fra- gen. Ich will sie aber nur kurz streifen. Am besten nehmen wir als Beispiel gleich Jona- than. Er ist ja schon ein wenig älter. Also überlegen wir uns, ob wir ihm das Fahrradfahren auch jetzt noch beibringen könnten. Was denkst du?“ Klar, dass Dr. Quantum gleich seinen Spaß mit mir haben wollte. Spitzbübisch sah er mich an und mir fiel auf, dass er der Micky Maus auf seinem T-Shirt schon ziemlich ähnelte. Caro grinste, doch bevor sie antworten konnte, fuhr Dr. Quantum auch schon fort: „Es ist schon okay, dass du nicht gleich Nein ge- sagt hast, aber wenn du es gesagt hättest, dann hättest du den jüngsten Forschungen auf diesem Gebiet ent- sprochen. Wir wollen nicht zu hart zu Jonathan sein, aber es ist auf jeden Fall so, dass je älter man wird, es sich immer schwieriger gestaltet, neue Dinge zu lernen. Mit viel Mühe würde Jonathan es wahrschein- lich noch schaffen, aber generell ist es so, dass man in jungen Jahren noch alles leicht und schnell erlernen kann, während es später im Leben viel schwieriger wird. Also solange du jung bist, kannst du noch nahe- zu alles lernen. Genauso liegen die Menschen falsch, die immer über Talente und Begabungen sprechen. Sie sehen 67
  • 68. Menschen die etwas gut können, zum Beispiel Gei- ge spielen und sogleich sagen sie: Die haben aber Talent! Das kann man nicht lernen. Gott muss ihnen schon ein Talent mitgegeben haben. So ein Blödsinn, sage ich dir. Sie haben von klein auf geübt und daran Gefallen gefunden. Also lass dir von niemandem ein- reden, du hättest kein Talent für irgendwas. Eine spannende Frage ist natürlich, wie viel und was wir nun tatsächlich alles lernen können. Wenn man bedenkt, dass wir Menschen vielleicht zehn Pro- zent all unserer geistigen Ressourcen nutzen, so er- kennt man, dass die Grenzen unseres Gehirns so weit entfernt sind, dass wir noch nicht einmal eine Ahnung haben, wie weit sie wirklich weg sind. Also abgese- hen davon, dass manche Menschen aus ihrem Gehirn vielleicht sogar Superman machen könnten, glauben manche Wissenschaftler sogar, dass es möglich sei, durch die Kraft seines Gehirns, auch angeborene Krankheiten noch abwenden oder verändern zu kön- nen. Aber damit wird es auch schon sehr kompliziert. Der Punkt ist: Deine Gedanken sind viel mächtiger als du denkst. Und das Schöne ist, du kannst viele faszinierende Dinge mit ihnen machen, solange du darauf Acht gibst, dass sie frei sind. Soll ich dir sagen, wie man das macht?“ Caro nickte und es schien, als würde sie den For- scher in seinem Micky-Maus T-Shirt überaus amü- sant finden. „Ich habe mich auf der Universität fast nie gelang- weilt, ich habe auf die Wörter des Professors geachtet und daraus lustige Reime geformt, habe mir angese- 68
  • 69. hen, welche Gesten er macht und mir überlegt, wel- che Sportarten er mit diesen ausüben könnte. Oder ich bin in meinen Gedanken mit Freunden durch New York City spaziert oder auf Skiern über unverspur- te Tiefschneehänge gesaust. Deshalb sage ich dir: Deine Gedanken sind sehr mächtig. Du schaffst dir dein Universum. So etwas wie Langeweile, das kann es doch gar nicht geben. Hast du schon einmal ein kleines Kind gesehen dem langweilig war? Ich sage dir, die sichersten und gefährlichsten Gefängnisse sind die, die wir uns selber schaffen. Niemand wird dich in dieser Hinsicht so bestrafen können wie du dich selbst bestrafen kannst oder belohnen …“, und wieder kicherte Dr. Quantum. Jetzt nahm er aus einer Schale, in der ein paar Zwie- bel, Äpfel und Steine waren, einen grünen Stein und fragte Caro: „Was siehst du?“ Caro überlegte und erwartete, dass jetzt irgendwas kommen würde, aber da sie bloß einen Stein sah, sag- te sie: „Einen Stein.“ „Du siehst einen Stein und ich sehe ein Schwein“, kicherte der Professor. „Und jetzt würden sicher viele denken, dass ich verrückt sein müsse. Doch ich wette mit dir, es gibt bestimmt mehr Verrückte, die einen Stein sehen, als es Verrückte gibt, die ein Schwein sehen!! Hahaha.“ Dr. Quantum fand das überaus lustig, aber er hatte noch nicht genug: „Und welche Farbe hat das Schwein? Pink oder grün? Pink. Nein: Grün!“ Dr. Quantum lachte schallend und Caro und ich 69
  • 70. blickten ihn etwas entgeistert an. Ein wenig ernster sagte er dann: „Ob pink oder grün, ob orange oder rot, jede Farbe ist nur eine Sichtweise von vielen. Ich weiß, bei Farben hört sich das schon recht verrückt an. Aber ich habe auch ein einfacheres Beispiel, vielleicht kennst du es ja schon. Dr. Quantum griff jetzt zu seinem Wasserglas und trank es bis zur Hälfte leer. Dann sagte er: „Was denkst du? Ist das Glas halb voll oder ist das Glas halb leer?“ Caros Gesicht hellte sich auf. Offensichtlich kannte sie das Beispiel mit dem Wasserglas schon. Aber sie war nicht ganz zufrieden. „Aber ob etwas pink oder grün ist, ist schon etwas anders, als ob ein Glas halb voll oder halb leer ist.“ „Hihihi“, kicherte Dr. Quantum. „Natürlich ist das nicht ganz das Gleiche. Aber für dein Gehirn ergibt es keinen großen Unterschied. Stell dir den Stein geistig vor. Dann male ihn rosa an und betrachte ihn. Jetzt ist er rosarot. Auch wenn er für alle anderen grün ist, für dich ist er noch immer rosarot. Und wenn du findest, dass das Glas halb leer ist, so siehst du die Dinge wahrscheinlich nicht so far- benfroh, als wenn du meinst, dass es halb voll sei. Deshalb sage ich dir, es ist wichtig, wie du die Dinge siehst. Denn deine Gedanken beeinflussen auch wie du dich fühlst. Wenn du traurige Dinge denkst, dann wirst du dich sehr wahrscheinlich schlecht fühlen und umgekehrt genauso.“ Caro grübelte ein wenig und knabberte auf ihrer Unterlippe herum. Dann sagte sie: „Ich werde das jetzt auch öfter ausprobieren, was du 70
  • 71. über die Schule gesagt hast. Also, dass dir nie lang- weilig war, weil du an andere Dinge gedacht oder dir verrückte Dinge vorgestellt hast. Das finde ich sehr gut und es ist sicherlich lustiger. Aber ich finde, dass es nicht immer geht, Dinge lustig oder zumindest nicht so traurig zu sehen und manchmal will ich das auch gar nicht, weil es ein- fach nicht ehrlich ist. Wenn es zum Beispiel meinen Freunden schlecht geht, dann möchte ich nicht darü- ber lachen können.“ Caro scharrte mit dem Fuß auf dem Boden des klei- nen Planeten herum, als würde sie ihren Worten noch mehr Gewicht verleihen wollen. Caros Worte erin- nerten mich daran, was sie gestern über Georg gesagt hatte und wie kompliziert die Welt doch oft war und ich wurde ein wenig nachdenklicher. Dr. Quantum hingegen freute sich, mit Caro disku- tieren zu können und spielte angeregt mit der Brille in seiner Hand. Er sagte: „Natürlich wollen wir nicht darüber lachen, wenn es Freunden schlecht geht. So weit kommt es aber gar nicht, so lange dir deine Freunde viel bedeuten. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ganz im Gegenteil. Du sollst deinen Freunden helfen. Wie? Indem du lernst, dich in dei- ne Freunde hineinzuversetzen und die Welt mit ihren Augen zu sehen. Dafür muss man nämlich fühlen und zusätzlich auch denken können. Und anschließend kannst du ihnen helfen, nicht so traurig zu sein, das Glas eben halb voll anstatt halb leer zu sehen und dann könnt ihr gemeinsam Lösungen für ein Problem finden. 71
  • 72. Und damit du deinen Freunden helfen kannst nicht so traurig zu sein, musst du es vorher selbst lernen. Und dabei kann dir das Beispiel mit dem halb vollen Glas helfen. Und auch der rosa Stein, weil er dich fröhlich macht und dir zeigt, dass du für das, was du denkst, selbst verantwortlich bist. Und fröhlich zu sein und umdenken zu können kann für manche Menschen das Wichtigste überhaupt sein, wenn sie zum Beispiel sehr krank sind, Schmerzen haben oder wenn sie gerade ein wichtiger Mensch verlassen hat. In diesen Momenten kann für sie die Welt untergehen. Dann kann es ihnen helfen, dass sie daran denken, wie lang ihr Leben noch ist oder was sie in ihrem Leben noch alles machen können. Und dadurch geht die Welt dann häufig doch nicht ganz unter. Es ist nicht leicht und dennoch gehören auch diese Dinge zum Leben. Und noch etwas: Alles in deinem Gehirn braucht Zeit. Niemand kann sofort alles lernen oder gleich al- les vergessen. Erinnere dich an die Gleise. Erinnere dich an das Gras, das über die Gleise wächst. So ist es mit dem Vergessen. Und du vergisst häufig schneller, wenn du dem Gras nicht dabei zusiehst, sondern dich stattdessen um neue Gleise, bessere und schönere Verbindungen, kümmerst. Das menschliche Gehirn ist permanent damit be- schäftigt Probleme zu lösen. Deshalb ist es ganz nor- mal, dass der Mensch die natürliche Neigung hat zu grübeln und sich auf traurige Dinge zu konzentrieren. Allein schon deshalb sage ich dir, wenn du bei klarem Verstand bist und versuchst zu denken und Dinge 72
  • 73. fröhlich zu sehen, bist du noch immer weit davon entfernt über die Probleme deiner Freunde zu lachen. Das ist gut so und es soll dir auch nie passieren. Ein wenig mehr Fröhlichkeit bringt dich noch nicht in dein eigenes rosarotes Gefängnis, …, rosarotes Ge- fängnis, das gefällt mir, wahrhaft himmlisch“, kicher- te Dr. Quantum. Er blickte auf den Himmel und freute sich. Es sah ganz danach aus, als hätte er gerade viel Spaß bei einem geistigen Ausflug in ein rosarotes Gefängnis. Caro und ich hatten vorerst genug gehört, deshalb be- schlossen wir, den Professor mit seinem neuen Wort- spiel alleine zu lassen. Wir bedankten uns sehr herzlich bei ihm und da mich bereits die ganze Zeit die Äpfel in der Schale angelächelt hatten, fragte ich, ob ich für den Rückweg noch einen haben könnte. Dr. Quantum war einver- standen. Ich ging schnell zur Vase, griff mir einen Ap- fel, da hörte ich im Hintergrund den Professor sagen: „Caro, eine Geschichte muss ich aber unbedingt noch erzählen.“ Ich hatte es geahnt und er legte bereits los: „Es ist eine Geschichte zu den verschiedenen Sicht- weisen. Da ich mich ja ein wenig als der Botschafter des Lachens, der Verrücktheit und des Perspektiven- wechsels in der manchmal ernsten Welt der Gehirn- forschung und der Physik zähle, starte ich die erste Stunde des Semesters einer Vorlesung an der Uni im- mer folgendermaßen. Ich laufe lachend in den Raum, trage ein Micky-Maus Kostüm und bin bewaffnet mit Bonbons. Dann male ich einen speziellen Gegenstand 73
  • 74. an die Tafel, der sich von Semester zu Semester än- dert. Da gab es schon Kirchtürme, Unterhosen, Gir- landen oder simple Kreise. Dann sage ich den Stu- denten, dass sie mir so viele Geschichten oder Witze wie möglich zu den Gegenständen in Verbindung mit Micky Maus erzählen müssen. Zwei kleine Ge- schichten zu Micky Maus habe ich nun für dich: Die kleine Micky war noch ein Baby, als sie über den Rand von Dagobert Ducks Geldspeicher spähte und auf die glänzenden Goldmünzen darin blickte. Da die Münzen so schön funkelten und sie unbedingt mit ihnen spielen wollte, krabbelte sie über den Rand und rutschte auf einer Girlande in den Geldspeicher. So wurde sie zur Micky Maus. oder: Micky Maus krabbelt in der Geschichten- werkstatt herum. Da findet sie einen kleinen Kirch- turm aus Karton. Sie setzt sich den Kirchturm auf ihre Nase und simsalabim: Pinocchio ist geboren. Die Studenten sind richtig kreativ und es macht je- des Mal großen Spaß. Dann sage ich ihnen, dass ich mir wünsche, dass sie es das ganze Semester lang mit den Theorien, wie mit den Gegenständen machen sollen. Das heißt, dass sie sich alles in persönlichen Bildern vorstellen und nie damit aufhören sollen, im- mer an neue humorvolle Sichtweisen zu denken. Ich glaube, die Studenten lernen bei mir wirklich einiges, denn für mich ist der Schlüssel zum Wissen eine Art zu denken, aus hunderten Sichtweisen ausgewählt. 74
  • 75. Mein Auftritt hat sich schon herumgesprochen. Deshalb verpasst nie auch ein einziger Student die er- ste Vorlesung und oft bilden sich regelrechte Trauben vor den Eingangstüren. Da manche meiner Kollegen davon Wind bekommen haben und seither glauben, dass ich verrückt geworden sei, setze ich von Zeit zu Zeit meine Brille auf, ziehe einen Pullover über mein T-Shirt, blicke ernst und veröffentliche eine neue wis- senschaftliche Theorie. Dann sind sie immer beruhigt und nehmen mir meinen Lehrstuhl nicht weg. Wie lu- stig diese Welt doch ist!“ Jetzt lachte Dr. Quantum und ich hörte sein Lachen noch lange durch das All schallen, als Caro und ich bereits in die Erdatmosphäre in Richtung Skandina- vien eingetaucht waren. Und dann hörte ich entfernt Dr. Quantum noch ru- fen: „Aber offensichtlich ist dein Gehirn doch nicht ganz alleine!“ 75