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Das Menschenrecht auf Nahrung




       Pedro Bejarano, LL.M.




            Berlin, 2005
2




Inhaltsverzeichnis



Inhaltsverzeichnis                                                   2

Einleitung                                                           5


1.     Konzeption der Menschenrechte als Rahmenbegriff des Rechts
       auf Nahrung - Grundlage und Gegenstand                        6
1.1.   Entwicklung der Menschenrechtskonzeption                      6
1.2.   Begründungsstrategien der Menschenrechte                     23
       1.2.1. Diskurstheorie                                        24
       1.2.2. Vertragstheorien bzw. Kontraktualismusansätze         28
1.3.   Der Menschenrechtsbegriff                                    33
2.     Der Grundgedanke eines Rechts auf Nahrung                    35
2.1.   Die Welternährungslage                                       37
2.2.   Erklärungen zu den Ursachen des Hungers                      41
       2.2.1. Der Armutsansatz                                      41
       2.2.2. Die Dependenz-Theorie                                 43
       2.2.3. Neokolonialismus                                      44
       2.2.4. Der progressive Ansatz                                44
       2.2.5. Unzureichende internationale Rahmenbedingungen        45
       2.2.6. Die Verschuldung der Entwicklungsländer               46
       2.2.7. Hunger als Entitlement Failure: Der Verlust von
              Verwirklichungschancen                                46
       2.2.8. Überbevölkerungsreduzierung                           51
       2.2.9. Eine Fiktion: Die Verschwörungstheorie                54
3

2.3.   Negative Konsequenzen der Mangelernährung                        55
2.4.   Begriffsbestimmungen                                             57
3.     Der völkerrechtliche Stellenwert des Rechts auf Nahrung          60
3.1.   Die Charta der Vereinten Nationen                                61
       3.1.1. Entstehungsgeschichte                                     61
       3.1.2. Die Präambel der UN-Charta                                64
       3.1.3. Ziele und Grundsätze der UN-Charta                        65
       3.1.4. Art. 1 (3) UN-Charta                                      65
       3.1.5. Art. 55 UN-Charta                                         66
3.2.   Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR)               69
3.3.   Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und
       kulturelle Rechte (IPwskR)                                       71
       3.3.1. Der normative Inhalt des IPwskR                           74
       3.3.2. Die generelle Verpflichtungsklausel des IPwskR            76
       3.3.3. Der Status der Menschenrechte im IPwskR                   80
             3.3.3.1. Das Generationsmodell                             80
             3.3.3.2. Die Statuslehre                                   83
             3.3.3.3. Das 3-Ebenen-Modell d. Respect, Protect und Fulfil 90
3.4.   Die rechtliche Verankerung des Rechts auf Nahrung im IPwskR      94
       3.4.1. Art. 11 IPwskR                                            97
       3.4.2. Entstehungsgeschichte des Art. 11 IPwskR                  98
       3.4.3. Die juristische Natur des Rechts auf Nahrung              99
       3.4.4. Die Konnotation einer angemessenen Ernährung             101
       3.4.5. Verpflichtungsebenen                                     102
       3.4.6. Recht auf Nahrung und Recht auf Leben                    104
       3.4.7. ECOSOC und CESCR und der Entwurf eines Fakultativen
              Protokolls zum Sozialpakt                           105
       3.4.8. Entwurf eines Fakultativprotokolls zum Sozialpakt       106
3.5.   Institutioneller Rahmen zum Schutz des Rechts auf Nahrung       106
4.     Begründung des Rechts auf Nahrung                               119
4.1.   Hunger als Verteilungsgerechtigkeitsmangel                      119
       4.1.1. Der liberale Ansatz von Friedrich August von Hayek       123
       4.1.2. Der sozialliberale Ansatz von John Rawls                 124
       4.1.3. Die kommunitaristische Position von Michael Walzer       124
       4.1.4. Die aktivierende Position von Amartya Sen                125
4

4.2.   Die Begründung des Rechts auf Nahrung aus der
       Grundbedürfnisthese                                          126
       4.2.1. Genese der Grundbedürfnisstrategien                   126
       4.2.2. Begriffsbestimmung                                    129
4.3.   Die Human Security Conception                                130
5.     Lösungsansätze zur Bekämpfung der Unterernährung             133
5.1.   Die Stellungnahme der Weltbank                               133
5.2.   Empowerment of Capabilities                                  137
5.3.   Der Welt-Marshall-Plan                                       138
5.4.   Steuer auf Waffenhandel                                      140
5.5.   Kerosinsteuer                                                140
5.6.   Der UN-Bericht “Investing in Development: A Practical Plan
       to Achieve the Millennium Development Goals” (2005)          141
Schlussfolgerungen                                                  143
5

Einleitung


Trotz der völkerrechtlichen Anerkennung des Rechts auf Nahrung stirbt jede
Sekunde ein Mensch an den Folgen des Hungers. Das sind mehr als 30 Mil-
lionen Menschen, die jedes Jahr bei dieser tagtäglichen Tragödie ums Leben
kommen. Besonders betroffen sind Kleinkinder, weil Hunger der Verursacher
der jährlich 11 Millionen Todesfälle von Kindern unter 5 Jahren ist: A l l e
fünf Sekunden stirbt ein Kind an den Folgen des Hungers.
Einer solchen Realität gegenüber stellt sich die Frage, ob das Recht in der
Lage ist, Hunger und Unterernährung auszurotten, nämlich ob die Verwirkli-
chung des Rechts auf Nahrung überhaupt erreicht werden kann. Ist etwa der
Hunger ein juristisches oder ein politisches Problem? Gibt es Lösungen zur
Frage des Hungers? Könnten wir als Juristen zur Lösung der Frage des
Hungers beitragen? Um die einleitende Fragestellung beantworten zu kön-
nen, vereint diese Magisterarbeit neben den juristischen Aspekten auch dis-
ziplinübergreifende Auffassungen. Auf diese Art und Weise werden im ersten
Teil philosophische, historische und ideengeschichtliche Themen angeschnit-
ten, um so die Frage nach dem Recht auf Nahrung als Menschenrecht be-
antworten zu können. Im zweiten Teil werden die Grundgedanken eines
Rechts auf Nahrung dargestellt, während im drittel Teil auf völkerrechtliche
Fragen eingegangen wird, um die Auslegung des Rechts auf Nahrung im
Kontext des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte vornehmen zu können. Im vierten Teil werden politologische Aspekte
angesprochen und im anschließend letzten Teil Lösungsansätze zur Be-
kämpfung des Hungers dargestellt.
6


1.        Konzeption der Menschenrechte als Rahmenbegriff des
Rechts auf Nahrung - Grundlage und Gegenstand


Mit der Verabschiedung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, so-
ziale und kulturelle Rechte1 von 1966 wurde das Recht auf Nahrung als un-
antastbares Menschenrecht anerkannt und seit damals vielfältig bekräftigt.
Wie das Recht auf Nahrung als soziales Menschenrecht mit dem Inbegriff
der Menschenrechte harmoniert und welche Voraussetzungen gegeben sein
müssen, um ein Recht auf Nahrung verlangen zu können, ist in diesem Teil
festzustellen. Dafür wird die Fortentwicklung des Menschenrechtskonzepts
aus dem historischen Entstehungskontext erschlossen und kurz aufgewie-
sen.




1.1. Entwicklung der Menschenrechtskonzeption


Obwohl die Geltungsforderung der Menschenrechte heutzutage als ahisto-
risch betrachtet wird, haben Menschenrechte eine geschichtliche Entfaltung,
die verschiedene Prozesse sozialer Wandlung darstellt2.


Darum ist es wichtig, die Entwicklung der Menschenrechtsidee in knapper
Schilderung darzustellen. Dabei beschränke ich mich auf die Grundbegriffe,
die in ihrer Zusammensetzung im Laufe der Geschichte zur Entstehung der
Idee der Menschenrechte beigetragen haben.


Der Konzept der Menschenrechte als solche war zwar in der Antike unbe-
kannt, aber dessen Fundamente wurden in der philosophischen Entwicklung
Griechenlands aufgestellt3. Darum rühren naturrechtliche Ansätze bereits
von den vorsokratischen Sophisten im fünften Jahrhundert vor Christi Geburt
her4. Die Sophisten konzentrierten sich im Gegensatz zu ihren Vorgängern,
den „Naturphilosophen“, eher auf die menschliche sophía, die „nicht nur die


1
  IPwskR
2
  Vgl. Oestreich 1968, 9 ff.
3
  ebd., 15
4
  ebd.
7

philosophische Weisheit, sondern in einem ursprünglichen umfassenden
Sinn alle handwerklichen und geistigen Fähigkeiten der Menschen“ repräsen-
tiert5.


Hinsichtlich des Werdegangs der Menschenrechte liegt der Wert der Sophis-
tik darin, dass zum ersten Mal in der griechischen Philosophie der Blick weg
von der Natur und vollständig auf den Menschen gerichtet wurde6.


In diesem Sinne werden die Reflexionen der Sophisten als bahnbrechend
betrachtet, weil es die menschliche Natur als Maß aller Dinge in den Blick-
punkt der philosophischen Debatte rückte7.


Der Mensch wurde auch zum Mittelpunkt der Rechtsvorstellungen8. Die So-
phisten lehrten nicht nur, dass alle Menschen frei geschaffen und keiner zum
Sklaven bestimmt wurde – ein subversiver Satz in der griechischen Gesell-
schaft, die sich ja auf das Institut der Sklaverei stützte - sondern auch, dass
das natürliche Recht die positiven Gesetze weitaus überwindet9.


Bei der Philosophenschule der Stoa poikile, gegründet um 300 vor Christi
von Zenon aus Kition, finden sich auch vorangehende Vorstellungen eines
allen Menschen als Menschen zukommenden Rechts10. Oberste Maxime der
Ethik, die im Zentrum des Denkens der Stoa steht, ist die Forderung, mit sich
selbst und mit der Natur in Harmonie zu leben11. Daraus ergibt sich der
Glaube an ein völlig gültiges Weltgesetz, nämlich das sittliche Gleichheits-
prinzip der Menschen, wodurch alle Menschen von Geburt an gleichsetzt und
ihnen gewisse Naturrechte zuerkannt werden12.


Die Stoiker erheben zwei grundlegende soziale Forderungen: Gerechtigkeit
und Menschenliebe in einem Ausmaß, wie es die Antike bis dahin nicht ge-
kannt hatte. Sie erstrecken sie auf alle Menschen, denn sie schließen auch

5
  Fenske 2003, 55 ff.
6
  Vgl. Fenske 2003, 162
7
  ebd.
8
  Oestreich 1968, 15
9
  ebd.
10
   Vgl. Störig 2002, 218 ff.
11
   ebd.
12
   ebd.
8

die Sklaven und die Barbaren ein13. Diese neue humane Gesinnungsethik
bewirkte eine Milderung der Sklaverei und die Fürsorge für Bedürftige und
Kranke und legte Fundamente für die Idee einer Menschenwürde14.


Im Georgias wies Sokrates (470 – 399 v. Chr.) die Gerechtigkeit als höchstes
menschliches Gut und als Ziel aller Staatsführung aus. Er bemerkte, dass
ohne Gerechtigkeit keine Gemeinschaft existieren kann15.


In der Politeia paraphrasiert Kephalos den Dichter Simonides, um den Begriff
der Gerechtigkeit zu definieren: „Jedem das Seine zu geben“16. Im Reich der
Ideen besetzt die Idee des höchsten Guten die oberste Stelle17. Sie ist sozu-
sagen die Idee der Ideen. „Das höchste Gute ist allem übergeordnet als sein
oberster Zweck. Es ist der Endzweck der Welt“18.


Alles, was Platon (427 v. Chr. – 347 v. Chr.) am Einzelmenschen darlegt,
beispielsweise Tugend, Sittlichkeit, rechtes Handeln oder Gerechtigkeit, kehrt
im Staat in vergrößerter Skala wieder19.


„Die denkbar höchste Form des sittlichen Lebens ist das sittliche Leben der
Gemeinschaft in einem guten Staat“20, wobei die Gerechtigkeit zum Funda-
ment dieses guten Staates wird21.


Bezüglich seiner Staatslehre gibt es genauso viele Sorten von Verfassungen
(politeia), wie es Arten von Menschen gibt, denn die Staatsformen entstehen
aus der Natur der Menschen, also entspricht jeder Verfassungstyp einem
feststehenden Seelenzustand seiner Bürger22. In der Timokratie verlangen
sie nach Wertschätzung, in der Oligarchie nach Wohlhabenheit, in der De-
mokratie nach Freiheit23. Aber der Ehrgeiz der Timokratie führt zu einer Oli-
garchie, weil das Regime sich ausschließlich auf das Wohl des Staates rich-

13
   ebd.
14
   ebd.
15
   Vgl. Oestreich 1968,15
16
   Fenske 2003, 74
17
   ebd.
18
   ebd.
19
   ebd.
20
   ebd., 183
21
   ebd.
22
   Vgl. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart 2002, 183 ff.
23
   ebd.
9

tet24. Die Oligarchie spaltet den Staat in Arme und Reiche. Werden die Ar-
men immer ärmer, dann vertreiben sie die Machthaber und errichten eine
Demokratie25. Der Drang nach Freiheit wird in der Demokratie immer größer,
so dass diese Freiheit bald zur Zügellosigkeit wird. Gegen diese Ausschwei-
fung muss das Volk die Macht dem Tyrannen übertragen26.


Im idealen Staat bestehen von Natur aus drei unterschiedliche Aufgaben:
Ernährung und Erwerb als Grundlage, Verteidigung nach außen, Leitung und
Vernunft. Die Gerechtigkeit einer solchen egalitären Sozialordnung, genauso
wie beim Einzelmenschen, besteht darin, dass diese drei Aufgaben unter der
Vernunft in das richtige Verhältnis kommen27.


Im Dialog Politikós (Der Staatsmann), verteidigt Platon den „Kommunismus“
der politeia“ mit einem mächtigen „tugendhaften Herrscher“ als „praktischem
Gesetzgeber“ und „nicht länger in völlig unterschiedliche Klassen“ getrennten
Bürgern als das ideale System, um das richtige Verhältnis der sozialen Ge-
rechtigkeit zu erreichen28.


Für Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) ist die Glückseligkeit das höchste Gut des
Menschen. Der Mensch ist vor allem Vernunftwesen und die Tugend besteht
darin, dass der Mensch die Vollkommenheit seiner Vernunft anstrebt29.


Aristoteles unterscheidet zwei Arten von Tugend. Während die ethische Tu-
gend die Herrschaft der Vernunft über die wollüstigen Triebe bedeutet, rep-
räsentiert die dianoethische Tugend - im Vergleich mit der ethischen Tugend
die höhere - die Vervollkommnung der Vernunft selbst. In dieser Hinsicht lag
die Grundlage allen Rechtes in der gottgegebenen Vernunft des Menschen30.
Wie für Platon ist die moralische Gemeinsamkeit der Bürger in einem auf
Gesetz und Tugend aufgebauten guten Staat auch für Aristoteles die höchste




24
   ebd.
25
   ebd.
26
   ebd.
27
   Vgl. Störig 2002, 187
28
   Fenske 2003, 80
29
   Vgl. Störig 2002, 206 ff.
30
   ebd.
10

Form der Sittlichkeit31. Politik ist in dieser Hinsicht nichts anderes als ange-
wandte Ethik32.


Der Staat ist für Aristoteles im Gegensatz zur platonischen Staatslehre kein
einheitliches Wesen, sondern aus Einzelmenschen gebildet33. Der Staat ist
hingegen Bestandteil, eine Untergemeinschaft eines gegliederten Ganzen34.


Der Mensch ist nach der aristotelischen Betrachtung ein politisches bzw. ge-
sellschaftliches Lebewesen, das zur seiner Vervollkommnung die Gemein-
schaft mit anderen benötigt35. Diese Verbundenheit der Menschen miteinan-
der ist nur durch das Recht – die lex naturae - möglich36.


Das natürliche Recht als das wahre Gesetz existiert von jeher, bevor eine
staatliche Gemeinschaft errichtet wurde37. Durch dieses Gesetz, das für
Menschen und Gottheit verpflichtende Norm ist, wird die Ungleichheit der
Völker und Menschen erklärt und die Sklaverei gerechtfertigt38.


Die Stoiker haben die Gleichheit der Menschen durch den Hauptgedanken
begründet, dass neben der realen Gemeinschaft das Reich der Vernunft vor-
handen ist, und in diesem ist jeder Mensch Teilhaber an der Weltvernunft, so
dass also alle Menschen mit Vernunft ausgestattet sind. Ebenfalls sind alle
Menschen von der sittlichen Zielsetzung aus gleichberechtigt39.


Im römischen Kaiserreich fanden die Grundtheorien der Stoiker eine Fort-
entwicklung und Anwendung auf soziale und politische Fragen durch den
Politiker und Juristen Cicero und den römischen Stoiker Seneca40.


Auch für Cicero (106 – 43 v. Chr.) ist der Mensch von Natur aus ein Wesen,
das gesellschaftlich veranlagt ist, und er sieht darin den Hauptgrund für eine


31
   ebd.
32
   ebd.
33
   ebd.
34
   ebd.
35
   Vgl. Quinton 1994, 302 ff.
36
   ebd.
37
   ebd.
38
   ebd.
39
   ebd.
40
   Vgl.Oestreich 1968, 17
11

Staatenbildung41. Ein Staat ist demzufolge ein Kreis von Menschen, die ge-
meinsame Rechte für legitim erklären und daraus einen kollektiven Nutzen
ziehen42.


Der Staat ist laut Cicero wie bei Aristoteles eine apriorische Rechtsgemein-
schaft, die über die menschliche Vernunft erfahrbar ist43. Die Ziele dieses
Staates sind grundsätzlich, für Recht und Gerechtigkeit unter den Bürgern zu
sorgen, für Wohlstand und äußere Sicherheit.44


Die Ungleichheiten unter den Menschen, besonders die Sklaverei, sind tödli-
che Krankheiten des Staates45. Darum müssen die positiven Gesetze am
allgemeinen Naturrecht und an Tugenden orientiert werden, denn wenn die
Gesetze nur der reinen Nützlichkeit folgen, gibt es gar keine Gerechtigkeit46.


Durch Cicero wurde die lex naturae aus einem Gegenstand der Philosophie
zu einem Gegenstand des Rechtsdenkens und der Rechtskonzeption. Das
Naturrecht, das im Letzten göttlich begründet wird, bewirkt im Römischen
Imperium eine progressive Abschaffung von Ungleichheiten unter den Men-
schen - beispielsweise für Barbaren, Sklaven und Frauen - wie sie Aristoteles
noch als sittlich akzeptiert hatte47.

 „Mit der Teilhabe eines jeden Menschen an der kosmischen Weltvernunft
war auch die religiös gestimmte unbedingte Achtung gegen jeden Menschen
verbunden: Homo res sacra hominis“48.


Der Philosoph Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.) wandte sich in seiner Schrift
Über die Milde (De clementia) an den Cäsar, um zu beteuern, dass wahre
Größe und Majestät in der Sorge für das Gemeinwohl liege. Die Herrschaft
bedeute nicht anderes als Dienst am Volke49.




41
   ebd.
42
   Vgl. Quinton 1995, 306 ff.
43
   ebd.
44
   ebd.
45
   ebd.
46
   ebd.
47
   Vgl. Brieskorn 1997, 31 ff.
48
   Oestreich 1968, 18
49
   ebd.
12

Den Ansätzen Senecas lag die feste Überzeugung von der Zusammengehö-
rigkeit aller Menschen und von ihrem gemeinsamen Schicksal zugrunde: „Wir
sind Glieder eines Körpers. Die Natur schuf uns alle als Verwandte“50.


Hinsichtlich der Antike kann man zusammenfassend sagen, dass frühe Fas-
sungen des Naturrechts – vor allem bei den Sophisten und Stoikern - in der
griechischen und in der römischen Antike nachgewiesen wurden, welche das
christliche Denken des Mittelalters, das aufklärerische Naturrecht und die
zeitgenössische Begründung der Menschenrechte geprägt hat.


Zur den Hauptbegriffen des Naturrechts der Antike gehört die Vorstellung,
dass dem Menschen vor aller staatlichen Rechtsetzung feststehende Rechte
zustehen, die sich aus seiner Natur bzw. aus seiner Vernunft ergeben. Diese
von der Natur abgeleiteten Rechte des Menschen, also seine Menschenrech-
te, gelten unabhängig von Zeit und Raum, weil die Natur auch unveränderlich
ist. Auch nach dem Ansatz der Vernunft sind alle Menschen gleichwertig.


Eine andere Weltanschauung, die dem Menschen von Natur aus eine gewis-
se ontologische Ausstattung zuspricht, ist das christliche Menschenbild51.
Das einstige Christentum konnte an den Überlegungen der Bibel und des
Stoizismus anknüpfen52.


Zwei zentrale Vorstellungen können von der Bibel abgeleitet werden: Die
Idee der Menschenwürde und die der Gleichheit der Menschen53. Die Kon-
zeption der Gleichheit gründet sich auf die Behauptung, dass Menschen Kin-
der Gottes und demzufolge Brüder und Schwestern in Christus seien54. Die
Gleichheit zwischen den Menschen findet in der Gleichberechtigung von Ge-
schwistern in einer Familie ihre Allegorie55. Dieses Ideal kommt der stoischen
Forderung der allgemeinen Menschenliebe nahe56.




50
   ebd.
51
   Vgl. Höffe 2001, 85
52
   Vgl. www.bpb.de/publikationen/!SFJ2B, 0 , 0, Idee_der_Menschenrechte.html
53
   Vgl. Störig 2002, 240 ff.
54
   ebd.
55
   ebd.
56
   ebd.
13

Der Mensch ist darüber hinaus das Ebenbild Gottes und als solches die Kro-
ne der Schöpfung57.Aus dieser Aussage folgt einerseits, dass dem Men-
schen eine Würde und ein Wert zukommen, wie sie in der Schöpfung sonst
nirgends erreicht sind, und andererseits, dass diese göttlichen Herkunft die
prinzipielle Gleichstellung und Freiheit aller Menschen bedingt58.


„Dem Christentum war von vornherein ein übernationaler Zug eigen. Hatte
doch Christus seine Jünger ausgesandt, alle Völker zu lehren. Es kannte
auch von vornherein keine Standesschranken. Christus hatte sich gerade an
die ‚Mühseligen und Beladenen’ gewandt. Die ersten Bekenner des Christen-
tums entstammen in der Masse den unteren Bevölkerungsschichten. Das
Christentum war eine geistige Revolution ‚von unten’ die aber alsbald die
Spitzen des gesellschaftlichen Aufbaus mit ergriff“59.


Die christlich-stoischen Gedanken wurden im Mittelalter von Thomas von
Aquin (1225 - 1274) fortentwickelt60. Weil Thomas von Aquin den Staat für
eine moralische Größe hält, definiert er es als Mission des Staates, die Bür-
ger zu einem fairen und tugendhaften Leben zu führen61. Die zentralen Vor-
aussetzungen dafür sind die Aufrechterhaltung des Friedens und die Schaf-
fung äußeren Wohlstandes62.


Wie die Griechen der Antike begreift Thomas von Aquin den Menschen voll-
ständig im Kontext der Gesellschaft und des Staates63. Mit der Definition des
Aristoteles argumentiert Thomas immer wieder, dass „homo naturaliter ani-
mal politicum est“. Darum solle das Handeln des Einzelnen auf das Gemein-
wohl der Gesellschaft gerichtet werden64.


Es sei unmöglich – behauptet Thomas – dass ein Mensch gut sein kann,
wenn er nicht im rechten Bezug zum gemeinen Wohl stehe65.


Die Philosophie der Innerlichkeit von Augustinus (354 - 430), stützt sich auf
den christlichen Glauben. Durch Christus, die Heiligen Schriften und die Kir-
57
   ebd.
58
   ebd.
59
   Störig 2002, 242
60
   Vgl. Auprich 2000, 29
61
   Vgl. Störig 2002, 285 ff.
62
   ebd.
63
   Vgl.Fenske 2003, 212 ff.
64
   ebd.
65
   Störig, 295 ff.
14

che wird den Menschen die göttliche Autorität vermittelt. Die Wahrheit der
Heiligen Schriften ist unfehlbar, weil Gott selbst durch sie spricht. Die Kirche
stellt den Menschen unter die Autorität Christi. Hinsichtlich dieser Autoritäten
- Christus, Heilige Schriften, Kirche - ist jede ungläubige Überlegung unzu-
lässig. Der Glaube wird vorausgesetzt, und die Vernunft folgt.66


Ein wichtiger Denker der Spätscholastik war Giovanni Pico della Mirandola
(1463 - 1494). Pico hebt die Sonderstellung des Menschen in der Gestaltung
des Alls hervor. Gott schafft den Menschen als Schöpfer seiner selbst und
deswegen hat der Mensch die Freiheit, durch eigenes Tätigwerden in freier
Selbstbestimmung sein Wesen selbst zu machen. Der Mensch kann alles
sein, was er will, weil er von Geburt an zu jedweder Lebensform ausgestattet
ist67.


In Bezug auf das christliche Gedankengut kann man zusammenfassend sa-
gen, dass die Gottähnlichkeit des Menschen der Grundsatz der christlichen
Begründung der Menschenrechte ist, wie in der Bibel formuliert wird (1,26
Genesis). Als einer Schöpfung Gottes kommt dem Menschen eine unantast-
bare Würde zu. Die von dieser Würde abgeleiteten Rechte gelten immer und
überall, also unabhängig von Kulturen, Staatsformen oder politischen Syste-
men. Die Konzeption des Menschen als Ebenbild Gottes impliziert die
Gleichheit aller Menschen. Aus diesem Prinzip lässt sich folgern, dass allen
Menschen die gleichen Rechte zukommen. In diesem Bezugspunkt stimmt
das christliche Menschenbild sowohl mit den klassischen als auch mit den
zeitgenössischen Menschenrechtserklärungen überein.


Nach dem Mittelalter wurde die Würde der Menschen jedoch nicht mehr an
dessen Gottebenbildlichkeit fixiert68. Die Epoche des Humanismus und der
Aufklärung wurde durch die Leitbegriffe bestimmt, dass die Vernunft als We-
sensmerkmal des Menschen allgemeingültige Maßstäbe für Gesellschaft und
Politik repräsentiert und dass die Freiheit den Grundsatz des sozialen und
politischen Handels darstellt69.

66
   Vgl. Fenske 2003, 138 ff.
67
   Vgl. Auprich 2000, 29 ff.
68
   Quinton 1995, 327
69
   Vgl. Störig 2002, 317 ff.
15

Durch den Humanismus im 16. Jahrhundert wurde der antike Stoizismus mit
seiner Emphase der rationalen Natur des Menschen wiederbelebt70.


Thomas Hobbes und John Locke trugen mit ihren Lehren zur Konzeption der
Idee der Menschenrechte bei71.


Für Thomas Hobbes (1588 - 1679) ist der Mensch grundsätzlich egoistisch,
der nur nach dem eigenen Vorteil strebt. Im Naturzustand, in dem alle Indivi-
duen bloß aus diesem Ziel handeln, herrscht der ununterbrochene Krieg. Aus
diesen Umständen ergibt sich der Wunsch nach Sicherheit, und aus dem
menschlichen Wunsch nach Sicherheit und Rechtsschutz kommt die überge-
ordnete Gewalt des Staates zustande72.


„Hobbes betont, dass der Mensch nur die Wahl zwischen zwei Übeln hat:
dem Urzustand, das heißt völliger Anarchie; oder der restlosen Unterwerfung
unter eine staatliche Ordnung.“73


Mit der „Zweiten Abhandlung über die Regierung“ (Second Treatise on Go-
vernment, 1690) macht sich John Locke (1632 - 1704) Hoffnungen auf ein
Gemeinwesen - den Staat als Verkörperung der politischen Gewalt - das
nicht nur den Frieden gewährleistet, sondern auch auf den Interessen seiner
Bürger und sozialem Wohlergehen beruht74. Locke legt Wert auf
Gewaltenteilung und grundsätzlich auf „life, liberty und property“, welche als
Grundsätze des zeitgenössischen Grund- und Menschenrechtskatalogs
eingeordnet sind75.


Zur Erklärung der Entstehung des Staates rekurriert auch Locke auf den Na-
turzustand (state of nature) völliger Gleichheit (equality) und Freiheit (free-
dom)76. Diese Freiheit entstammt dem Naturgesetz (law of nature), das den
einzelnen zur eigenen Selbsterhaltung und zur Selbsterhaltung des Mitmen-
schen verpflichtet77. Im Unterschied zu Hobbes wird der Mensch bereits im

70
   ebd.
71
   Vgl. Quinton 1995, 332 ff.
72
   ebd.
73
   Störig 2002, 334
74
   Vgl. Quinton 1995, 341 ff.
75
   ebd.
76
   Vgl. Fenske 2003, 324 ff.
77
   ebd.
16

Naturzustand Eigentümer und Agent einer Geldwirtschaft: Eigentum, Freiheit
und Leben sind ewige und universelle Werte, die zum Naturrecht gehören78.
Im Prinzip ist der Naturzustand friedliches Zusammenleben. Erst durch den
Versuch, Gewalt über andere Menschen zu bekommen, entsteht der
Kriegszustand. Dieser kann nur durch ein Staatswesen beendet werden, was
lt. Hobbes zum Verlassen des Naturzustandes führt79.


Zusammen mit David Hume (1711 - 1776) und Adam Ferguson (1723 -
1816) gehört Adam Smith (1723 - 1790) zu den wichtigsten Vertretern der
„schottischen Moralphilosophie“80. Die Moralphilosophie der „schottischen
Schule“ hat ihre Basis in einer Theorie von den Gefühlen, und sie lehnt alle
Ansätze ab, die auf die Vernunft basieren81. Darüber hinaus versucht diese
philosophische Strömung zu erklären, inwiefern egoistisch agierende Men-
schen entgegen der überwiegenden humanistisch-altruistischen Ansicht zum
Gemeinwohl beitragen können82.


In seinem Werk „Theory of Moral Sentiments“ behauptet Smith, dass die Rol-
le der Moralphilosophie darin besteht, sich den Voraussetzungen des
menschlichen Glücks zu widmen83. Darin liegt eine Abgrenzung von der vor-
herrschenden christlichen Ethik, die Moral mit Wahrheit und Begründbarkeit
in Zusammenhang bringt84.


Smith zufolge ist das Streben des Individuums nach Verbesserung seiner
ökonomischen und sozialen Lage die ausschlaggebende Triebkraft der Sozi-
alisation und der Entstehung von Wohlstand85.

Um produktiv zu sein, muss jedoch der angeborene Egoismus - durch das
ursprüngliche Sentiment der Sympathie für den Mitmenschen - bezwungen
werden86. Die Sympathie stützt sich auf die Einbildungskraft, die es uns er-
laubt, sich in die Lage anderer zu versetzen. Sympathie basiert auf die psy-

78
   ebd.
79
   ebd.
80
   Vgl. Fenske, Geschichte der politischen Ideen, Frankfurt/Main 2003, S. 364 ff.
81
   ebd.
82
   ebd.
83
   Vgl. Trapp, Adam Smith – politische Philosophie und politische Ökonomie, Göttingen 1987, 53 ff.
84
   ebd.
85
   ebd.
86
   ebd., 65 ff.
17

chischen und sozialen Affekte unserer Mitmenschen87. Wir müssen Affekte
und Interessen mit den Augen eines dritten Menschen betrachten: Aus der
Basis von Sympathie und von unparteiischen Urteilen kann Pflichtgefühl ent-
stehen, und zwar die Orientierung an Normen, die uns veranlasst, unsere
egoistische Sentiments zu beherrschen88.


Smith wurde zum Begründer der Theorie der Marktwirtschaft durch sein
Meisterwerk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“
(1776)89. In diesem Buch versucht Smith, die Grundlage des Fortschrittes der
Nationen zu erklären, wobei er drei ausschlaggebende Elemente herausge-
funden hat: Freiheit, Eigennutz und Wettbewerb. Fundament seiner Lehre
sind nicht altruistische, sondern egoistisch agierende Individuen, die in ihrem
natürlichen Verlangen nach Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse unab-
sichtlich das Gemeinwohl fördern90.


Smith gilt als Verfechter des Freihandels und Gegner von direkten Staatsein-
griffen in Marktmechanismen. Dabei macht er jedoch einige Einschränkun-
gen: Er behauptet, dass die entwickelte Marktwirtschaft erst in der Lage ist
zu funktionieren, wenn die folgenden Staatsaufgaben richtig wahrgenommen
werden: Verteidigung, innere Sicherheit, Justiz, Verkehrswesen, Bildung,
Gesundheitswesen und die Verhinderung von Monopolen91.


Die Theorie der Marktwirtschaft ist eng mit der Gesellschaftslehre des Libera-
lismus verbunden:


„Definitorisch ist unter Liberalismus jener politische Ideenkomplex zu verste-
hen, der durch die Postulate der Selbstbestimmungsfähigkeit der Individuen
durch Vernunft, der Individualfreiheit gegenüber dem Staat (Menschen- und
Bürgerrechte), der Bändigung politischer Herrschaft durch Verfassung und
der Selbstregulierung der Ökonomie durch Gesetzmäßigkeiten von Markt
und Wettbewerb abgesteckt ist, in eine Evolutionsvorstellung geschichtlichen
Fortschritts mündet und zumindest in der Entstehungs- und Blütezeit vom
Bürgertum mit seinen Eigentums- und Erwerbsinteressen und seinen daraus
erwachsenden Machtsansprüchen getragen wurde“92.
87
   ebd.
88
   ebd.
89
   ebd., 181 ff.
90
  ebd.
91
  ebd.
92
   Schiller, Liberalismus. In: Nohlen, (Hrsg.), Digitale Bibliothek Band 79: Lexikon der Politik, Berlin 2003, 727
18




Im „Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter
den Menschen“ rekonstruiert Jean-Jacques Rousseau eine theoretische Ur-
geschichte der Menschengattung93.


Am Anfang bestehe ein harmonischer Naturzustand, in dem der Natur-
mensch glücklich sei und in dem es gar keine Ungleichheit gebe außer be-
züglich Alter, Kraft, und Gesundheit. Durch eine Art „Schuld“ des Menschen
entstehen aber das Eigentum, die bürgerliche Gesellschaft und der all das
schützende Staat. Sowohl im Eigentum als auch im Staat liege das Grund-
übel94.


„Statt dem Menschen zu einem Beisichsein zu verhelfen, bringen Eigentum
und Staat eine dreifache Ungleichheit und Entfremdung hervor: Sofern das
Eigentum sich mit Gesetz und Recht umgibt, schafft es Reiche und Arme,
sofern mit einer Obrigkeit, Herrschende und Beherrschte, und im Fall einer
Willkür- und Gewaltherrschaft zusätzlich Herren und Sklaven“.95


In     „Vom        Gesellschaftsvertrag“   schlägt   Rousseau   einen   politisch-
gesellschaftlichen und einen individuellen Ausweg vor, und zwar die Grün-
dung einer Gesellschaft mit einem „Staatswesen, das seine Macht von vorn-
herein an die Freiheit der Bürger bindet“96 und die Heilung des Individuums
durch Erziehung und die Wiedergewinnung der Naturnähe.


Eine ausschlaggebende Zäsur in der Entfaltung der Menschenrechtskonzep-
tion repräsentieren die amerikanischen Menschenrechtserklärungen des
achtzehnten Jahrhunderts, die erstmals eine logisch verfasste Kodifizierung
von Menschenrechten und Grundfreiheiten umfassen und wonach die Erhe-
bung des Naturrechts zum Gesetzesrecht erreicht wurde97.


Die wirtschaftliche und politische Freiheitsbewegung in Amerika wendete
sich hauptsächlich gegen die Übergriffe der englischen Herrschaft98. Die

93
   Vgl. Höffe 2001, 178 ff.
94
  ebd.
95
  ebd., 180
96
   ebd., 182
97
   Vgl. Fenske 2003, 366 ff.
98
   ebd.
19

amerikanischen Menschenrechtserklärungen haben den Menschenrechts-
schutz als Staatszweck proklamiert99.


Die französische Menschenrechtserklärung von 1789 richtete sich an den
Staat und hob hervor, dass „die Unkenntnis, das Vergessen oder die Miss-
achtung der Rechte des Menschen die alleinigen Ursachen des öffentlichen
Unglücks und der Verderbtheit der Regierungen sind“.100


Das Gedankengut der französischen und amerikanischen Erklärungen präg-
ten die deutsche Naturrechtslehre und vor allem die Vernunftrechtslehre von
Immanuel Kant101. Immanuel Kant (1724 – 1804) gründete den Wert und die
Würde des Menschen auf dessen Selbstbewusstsein, Freiheit, Moralität und
Vernunft102. Beim Kategorischen Imperativ geht es um die Frage, was der
Mensch tun soll103.


Alle Dinge sind käuflich. Nur der Mensch hat Würde, nämlich einen Wert jen-
seits aller Nützlichkeit. Der Mensch verdient als Mensch und nicht aufgrund
von Leistungen Wertschätzung104. Alle Menschen sollen darum so miteinan-
der umgehen, dass sie ihrer aller Würde nicht verletzen. Sie sollen sich nicht
als Mittel gebrauchen und auch nicht gebrauchen lassen. Kein Mensch darf
einen anderen Menschen instrumentalisieren. Die Anerkennung der Persön-
lichkeit eines jeden Menschen ist allen Zwecken übergeordnet105. Eine Fas-
sung von Kants Sittengesetz lautet:


„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Per-
son eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel
brauchst.“ 106


Dieses Sittengesetz bezeichnet Kant als den „kategorischen Imperativ“, weil
es die Form eines Befehls hat und weil dieser Befehl ohne Ausnahme gilt.


99
   ebd.
100
    Oestreich 1968, 69
101
    Vgl. Höffe 2001, 189 ff.
102
    Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, Berlin 1968, 76
103
    Vgl. Höffe 2001, 189 ff.
104
    ebd.
105
    ebd.
106
    Höffe 2001, 198
20

Das Sittengesetz ist kein religiöses Gebot, sondern vielmehr das Gesetz der
Vernunft selbst107.


Bei Kant bilden die Freiheit, die Gleichheit und die Selbständigkeit des Men-
schen Grundsätze jeder Gesetzgebung108. Auf der Grundlage eines Ethos
der Menschenwürde verlangt Kant, dass das Recht der Menschen „heilig
gehalten werden müsse, mag es der herrschenden Gewalt auch noch so
große Aufopferung kosten“109.


Bisher kann man zusammenfassend behaupten, dass die Menschenrechte
im modernen Sinn durch die Aufklärung und deren Ansätze vom Gesell-
schaftsvertrag begründet wurden. Ein Grundsatz der aufklärerischen Staats-
lehre postuliert, dass der Mensch durch einen Vertrag aus einem gesetzlo-
sen Urzustand in eine Rechtsordnung übergeht. Eine Besonderheit dieser
Rechtsordnung besteht darin, dass sie nicht als Selbstzweck betrachtet wird,
sondern ausschließlich dazu da ist, die Rechte der Menschen zu garantieren.


Die klassische aufklärerische Staatslehre (auch Vertragstheorie bzw. Kon-
traktualismus genannt) hat gemeinsame Grundelemente. Der Vertrag des
Kontraktualismus ist kein historischer Vorfall, sondern ein legitimationstheo-
retisches Gedankengebäude, das verschiedene Werte wie etwa politische
Gewalt, Eigentum, Freiheit und Geldwirtschaft rechtfertigen will110. Darum ist
der Kontraktualismus der Aufklärung keine deskriptive Theorie, sondern eine
normative Theorie, die eine Begründung politischer und sozialer Herrschaft
entwickelt111. Der Höhepunkt der Aufklärungsphilosophie wird vom kanti-
schen Vernunftrecht dargestellt, wobei die Vernunft die Grundlage der Men-
schenrechte ist112. Ansatzpunkt ihrer Begründung ist bei Kant das vorstaatli-
che Recht der Freiheit, das sich aus dem Wesen des Menschen ergibt. Die
Freiheit ist der ursprüngliche Anspruch, der als Kern des Rechtswesens gilt.




107
    ebd.
108
    Vgl. Oestreich 1968, 77
109
    ebd.
110
    Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1653 ff.
111
    ebd.
112
    ebd., 1658
21

Weil sie allen Menschen in gleichem Maß zusteht, umfasst sie genauso der
Grundsatz der Gleichheit113.


Der naturrechtliche Gedanke des vernünftigen Menschen hat inzwischen das
Menschenbild verändert und die aufklärerische Grundvorstellung der subjek-
tiven Rechte wurde allmählich in den liberalen Ordnungen durchgesetzt114.


Durch die industrielle Revolution in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
verschlimmern sich die Lebensbedingungen des Proletariats dadurch, dass
die entstandenen Arbeiterbewegungen – durch den Kampf gegen die bürger-
lich-liberalen und individualistischen Rechte – zum Aufstieg der sozialen
Menschenrechte führen115.


Aufgrund des Totalitarismus im 20. Jahrhundert musste die Konzeption der
Menschenrechte noch einmal gewandelt werden116.


In der internationalen Gemeinschaft fand eine angespannte Auseinanderset-
zung bezüglich der Menschenrechte statt, die u. a. wegen Roosevelts These
der vier Grundfreiheiten – freedom of speech and expression, freedom of
every person to worship God in his own way, freedom from want und free-
dom from fear - zur Errichtung der Vereinten Nationen und zur Verabschie-
dung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte führten117.


„In the future days, which we seek to make secure, we look forward to a
world founded upon four essential human freedoms.
The first is freedom of speech and expression - everywhere in the world.
The second is freedom of every person to worship God in his own way – eve-
rywhere in the world.
The third is freedom from want – wich, translated into world terms, means
economic understandings wich will secure to every nation a healthy peace-
time life for its inhabitants – everywhere in the world.
The fourth is freedom from fear – wich, translated into world term, means a
worldwide reduction of armaments to such a point and in such a thorough
fashion that no nation will be in a position to commit an act of physical ag-
gression against any neighbor – anywhere in the world.

113
    ebd., 1659
114
    Vgl. Oestreich 1968, 100 ff.
115
    ebd., 105
116
    Vgl. Fenske 2003, 499 ff.
117
    ebd.
22

That is no vision of a distant millennium. It is a definite basis for a kind of
world attainable in our time and generation.(…) To that injust order we op-
pose the greater conception - the moral order.”118


Das wichtige an diesen vier Freiheiten ist, dass sie über die Grenzen des
Nationalstaats hinweg gedacht werden119. Jeder Mensch, egal welcher Reli-
gion, Nationalität, Abstammung oder Hautfarbe, soll in den Genuss dieser
Rechte kommen120.


Die dritte Freiheit – die Freiheit von Mangel und Not, überall auf der Welt ist
bedeutsam, weil Roosevelt damit ausspricht, dass es zentrale Aufgabe so-
wohl staatlicher als auch supranationaler Instanzen sein muss, entschlossen
die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen und deren Lebensbedin-
gungen zu verbessern121. Roosevelt ist damit weit von der libertären Position
entfernt, die solche Maßnahmen als moralisch illegitim betrachtet, weil sie
aus ihrer Sicht Eingriffe in die Freiheit bedeuten122.


Aufgrund der Verschlechterung der Weltprobleme wuchs die Forderung nach
effizienterer internationaler Zusammenarbeit123.


Auf diese Art und Weise entstanden der Internationale Pakt über bürgerlich-
politische Rechte (IPbpR) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte (IPwskR), beide 1966 verabschiedet, sowie
eine umfangreiche Vielfalt weiterer Konventionen und Abkommen124.


Schließlich nahmen die meisten Länder der Welt die Grund- und Menschen-
rechte in ihre Verfassungen auf, und andere Menschenrechtserklärungen
wurden im weiteren Verlauf auf regionaler Ebene verabschiedet: 1950 für
Europa, 1969 für Amerika, 1981 für Afrika und 1990 für die islamische
Welt125.


118
    www.wwnorton.com/college/history/ralph/workbook/ralprs36b.htm
119
    www.phil.euv.frankfurt-o.de/download/2004WS/PolitischePhilosophie/Kapitel09.pdf
120
    ebd.
121
    ebd.
122
    ebd.
123
    Vgl. Delbrück, Menschenrechte/Menschenrechtspolitik, 2003, 7080 ff.
124
    ebd.
125
    ebd.
23

Es ist immer noch umstritten, ob die Geschichte der Grund- und Menschen-
rechte in der Antike beginnt, aber es gibt Gründe, über Antike und Men-
schenrechte nachzudenken, weil das wesentliche Element der Idee der Men-
schenrechte, nämlich die Vorstellung von Gleichberechtigung und Gemein-
wohl, bis in die Antike zurückverfolgt werden kann126.


Von diesem Ausgangspunkt her präsentiert Wolfgang Schmale eine kurz ge-
fasste Geschichte der Menschenrechte:


„Ein ideeller Entwicklungsstrang beginnt zweifellos in der Antike, spätestens
mit der Naturrechtslehre der Stoa und der späteren Rezeption durch die
Christen. Es folgten: ein neuer Sprung mit der Durchsetzung der Idee von
der Glaubensfreiheit im 16. Jahrhundert; die politischen bürgerlichen Revolu-
tionen in den Niederlanden, England, Amerika und Frankreich vom 16. bis
18. Jahrhundert; damit eng verbunden die umfassende Naturrechts- und
Menschenrechtslehre der Aufklärung; Kodifizierung der Menschenrechte als
Menschenrechte als Menschenrechte oder auch Grundrechte in Verfassun-
gen und Rechtserklärungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert; ‚Export’
von Europa in die Welt; Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Ver-
einten Nationen vom 10. Dezember 1948, usw. Weitere Entwicklungsstränge
sind mit bestimmten geographischen Räumen, z. T. mit einzelnen Staaten,
einhergehend mit der Manifestierung einer nationalen Identität, direkt ver-
bunden. Andere Entwicklungsstränge sind nur regionalgeschichtlich be-
stimmbar. Und immer wieder entfalteten einzelne Persönlichkeiten makrohis-
torische Wirkungen“.127



1.2. Begründungsstrategien der Menschenrechte

Mit der Verabschiedung des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, sozia-
le und kulturelle Rechte 1966 wird das Recht auf angemessene Ernährung
als universelles Menschenrecht anerkannt. Aber wie lässt sich das Recht auf
angemessene Ernährung im Rahmen der Menschenrechte begründen?
Hierbei spielen die Begründungsstrategien eine zentrale Rolle, weil sie einen
strukturierten Komplex wissenschaftlicher Grundsätze bilden, womit die theo-
retische Rechtfertigung von Menschenrechten möglich ist128.




126
      Vgl. Stourzh 2000,5
127
      www.univie.ac.at/igl.geschichte/ws2001-2002/ringvo_ws2002_schmale.htm
128
      Vgl. Nohlen, Begründungszusammenhang, 2003, 8066
24

Ob sich die Menschenrechte in überzeugender Weise begründen lassen, ist
ausschlaggebend dafür, dass das Recht auf Nahrung als Menschenrecht
plausibel gemacht wird. Ihre Begründbarkeit ist deshalb eine unerlässliche
Vorbedingung seiner Darstellung.


Für eine Begründung der Menschenrechte sind grundsätzlich schlaglichtartig
zwei Theorien zu benennen: die Diskurstheorie und die Vertragstheorie.


1.2.1. Die Diskurstheorie

Kernthese der Diskurstheorie ist, dass ethische Fragen und damit auch die
Frage der Gerechtigkeit durch praktische Vernunft beantwortet werden kön-
nen. Unter praktischer Vernunft versteht man die menschliche Fähigkeit der
Anleitung und Bestimmung des Willens. Kant bestimmt die praktische Ver-
nunft als das Vermögen, allgemeine ethischen Prinzipien aufzustellen, nach
denen der Wille die Handlungen ausrichten soll129. Darum stützt sich diese
These auf die Tradition der kantischen Ethik und wird grundsätzlich von Jür-
gen Habermas und Robert Alexy vertreten130.


Unter Diskursethik wird derjenige Teil der Diskurstheorie verstanden, der sich
mit praktischen – und folglich ethischen und juristischen in Abweichung von
theoretischen – Fragen beschäftigt131.


Die Diskursethiker interpretieren die Vernunft auf der Grundlage der Sprach-
und Verständigungskompetenzen: die Vernunft ist nur im Rahmen der Spra-
che begrifflich, wobei die Verständigung ein essentielles Element jeder Rede
ist132. Unter dieser Bedingung entwickelt die Diskursethik ein Modell, dessen
explizite normative Bestimmungen aus impliziten normativen Kommunikati-
onsvoraussetzungen abgeleitet werden133.


Die Diskursethik besagt, dass die Menschenrechte als Normen mit universel-
ler normativer Wirksamkeit durch ein bestimmtes Verfahren begründet wer-

129
    Vgl. Brieskorn 1997, 154 ff.
130
    ebd.
131
    Vgl. Kersting, Diskurstheorie, 2003, 143 ff.
132
    ebd., 145
133
    ebd.
25

den können134. Als eine Theorie des Verfahrens der vernünftigen Begrün-
dung von Wert- und Verpflichtungsurteilen ist sie darauf gerichtet, ein System
von Diskursregeln zu erarbeiten. Damit wird sie als prozedurale Gerechtig-
keitstheorie gekennzeichnet135.


Diesem Ansatz nach besteht zwischen Legitimität und Wahrheit ein innerer
Nexus136. Der feste Glaube der Menschen an die Geltung ihrer Normen weist
einen innewohnenden Wahrheitsbezug auf137. Die Legitimationsüberzeugun-
gen implizieren den Anspruch universaler und rationaler Wirksamkeit, und
darum sind sie zu überprüfen138. Ausgangspunkt der prozeduralen Legitima-
tions- und Normenbegründung ist der ideale Diskurs als Legitimationsin-
stanz.


Habermas definiert Diskurs als „die argumentative, dialogisch konzipierte und
methodisch reflektierte Form des über die vernünftige Rede vermittelten be-
grifflichen Denkens“139, wonach die üblichen Legitimationskriterien wie bei-
spielsweise Gott, Natur oder Tradition durch die formalen Prozeduren des
Konsens (als vernünftige Einigung gleichberechtigter Menschen verstanden)
ersetzt werden. Und zwar muss der Konsens, der keine faktische Einigung
darstellt, den Regeln des idealen Diskurses entsprechen140. Diskursregeln
sind jedoch Rederegeln, während Menschenrechte Normen im Rahmen des
Handelns darstellen.141


„Ein direkter Schluss von den Diskursregeln auf die Menschenrechte ist nicht
möglich. Die Diskursregeln sind nur Rederegeln. Sie einzuhalten, bedeutet
lediglich, den anderen im Diskurs als gleichberechtigten Partner zu behan-
deln. Daraus folgt noch nicht, dass der andere schlechthin, also auch im Be-
reich des Handelns, als Person anerkannt werden muss. Aus einer sprach-
pragmatischen Anerkennung folgt noch keine moralische oder rechtliche An-
erkennung“142.




134
    Vgl. Hinkmann 2002, 81
135
    ebd.
136
    Vgl. Rötgers 1995, 146
137
    ebd.
138
    Kersting, Diskurstheorie, 2003, 143
139
    Kraemer 1995, 145
140
    Vgl. Kersting, Diskurstheorie, 2003, 143
141
    Hinkmann 2002, 84
142
    Alexy, zit. aus Hinkmann 2002, 85
26

Deshalb unterscheidet Alexy zwischen einer diskurstheoretischen Rechtferti-
gung der Diskursregeln und einer Rechtfertigung der Menschenrechte143.


Die Regeln des idealen Diskurses, die auch bei der Begründung der Men-
schenrechte eine zentrale Rolle spielen, lauten:


(1)      Jeder darf bei Reden mitmachen;
(2)      Jeder darf an jeder Äußerung zweifeln,
(3)      Kein Mitsprecher darf daran gehindert werden, die vorhergehenden
Rechte wahrzunehmen144.


Alexy versucht diese Diskursregeln als objektiv geltende Regeln zu begrün-
den145. Seine Beweisführung setzt sich aus drei Elementen zusammen: ei-
nem transzendentalen bzw. transzendentalpragmatischen Element, einer
anthropologischen These, wonach das Menschenbild des Nutzenmaximie-
rers vorausgesetzt ist, und der empirischen Prämisse, wonach der Mensch
mit einem Interesse an Richtigkeit ausgestattet ist146.


Das transzendentale Argument besagt, dass Freiheit und Gleichheit der Mit-
sprecher Voraussetzungen des Sprechaktes der Behauptung sind147. Be-
hauptungen sind unerlässliche Bestandteile der allgemeinsten Lebensform
der Menschen148. Um einen Sprachakt als Behauptung betrachten zu kön-
nen, muss er mit einem Anspruch auf Richtigkeit verbunden sein. D. h., wer
etwas behauptet, erhebt einen Anspruch auf Richtigkeit und deswegen auf
Begründbarkeit149. Aus dem Anspruch auf Begründbarkeit folgt die Pflicht
des Behauptenden, das Behauptete auf Verlangen zu begründen150. Wer
etwas begründet, gibt vor, den anderen als gleichberechtigten Begründungs-
partner zu akzeptieren151. Wer sein ganzes Leben lang keine Behauptung




143
    ebd.
144
    Vgl. Edinger 2000, 20
145
    Vgl. Hinkmann 2002, 86
146
    ebd.
147
    ebd., 87
148
    ebd.
149
    ebd.
150
    ebd., 88
151
    ebd.
27

aufstellt und keine Begründung gibt, nimmt nicht an der allgemeinsten
Lebensform des Menschen teil152.


Mit der Konzeption der allgemeinsten Lebensform meint Alexy, dass die not-
wendigen Bedingungen des Sprechaktes der Behauptung allen menschli-
chen Lebensformen gemeinsam sind. D. h., jede menschliche Lebensform
hat das Potential und eine gewisse Praxis, verschiedene Interessenkonflikte
argumentativ zu lösen, auch wenn das nicht in jedem Fall geschieht153.


Mit der empirische Prämisse des Interesses an Richtigkeit meint Alexy, dass
der Mensch mit einem sozial wirksamen Interesse an Richtigkeit bzw. Wahr-
heit ausgestattet ist, und damit aus moralischer Überzeugung in jeder Kon-
fliktsituation argumentiert, um zu einer richtigen Lösung zu gelangen154.


Mit der individuellen Nutzenmaximierung meint Alexy, dass ein Konfliktver-
halten, das auf ökonomischer Vernunft basiert, Grundlage der Entfaltung je-
ner praktischen Vernunft ist, die mit Unterstützung der Diskursregeln reali-
siert werden soll155.


Die Begründung der Menschenrechte bzw. die Transposition der Argumenta-
tions- und Kommunikationsvoraussetzungen (Bereich des Diskurses) für den
Bereich der Menschenrechte (Bereich des Handelns) erfolgt durch drei
interdependente                Thesen:   der   Autonomie,   des   Konsens   und   der
Demokratie156. Die Autonomiethese besagt, dass jeder Diskursteilnehmer,
die Autonomie seiner Gesprächpartner als gegeben annimmt, was die
Leugnung einiger Menschenrechte ausschließt157.


Die Konsensthese verbindet die Rechtmäßigkeit der Normen mit der hypo-
thetischen globalen Zustimmung des idealen Diskurses und rechtfertigt
grundsätzlich die Gleichheit der Diskursteilnehmer158. Die Demokratiethese
besagt, dass nur durch demokratische Prozesse die Diskursregeln und damit
152
    ebd.
153
    ebd., 90
154
    Vgl. Brieskorn 1997, 158
155
    ebd.
156
    Vgl. Hinkmann 2002, 87
157
    ebd.
158
    ebd.
28

auch die Menschenrechte in der Praxis sinnvoll umgesetzt werden kön-
nen159.


Habermas behauptet jedoch, dass Menschenrechte nur innerhalb des positi-
ven Rechts innerhalb eines Nationalstaates durchsetzt und sanktioniert wer-
den können160.


Alexy bekräftigt schließlich diese Sichtweise und weist darauf hin, dass Men-
schenrechte nur dann ordentlich verwirklicht werden können, wenn sie in po-
sitives Recht transformiert und in Bürgerrechte umgewandelt werden161.


1.2.2. Vertragstheorien bzw. Kontraktualismusansätze

Die Vertragstheorien umfassen Ansätze, die die Sozialordnung, die Verfas-
sung und den Staat begründen, in Analogie zu mehrseitigen Rechtsgeschäf-
ten mit wechselseitigem Vorteil162. Staatsformen und Normen werden als
begründet betrachtet, wenn sie durch die Normerzeugung die Billigung aller
Betroffenen erwerben163.


Die Vertragsüberlegung ist seit dem Altertum - durch das sophistische Ge-
sellschaftsverständnis –, dem Mittelalter – durch den Herrschaftsvertrag –
und der Neuzeit – durch das Vertragskonzept – nachweisbar164.


Vertragstheorien finden sich bei Thomas Hobbes, John Locke, Jean Jacques
Rousseau und Immanuel Kant165. Die Vertragstheorien gehen davon aus,
dass in einem fiktiv vorstaatlichen Naturzustand alle Menschen zugleich
gleich und frei sind, aber angesichts der allgemeinen Unsicherheitssituation
entstehen die Vertragsverhandlungen166. Die zweckmäßige Rationalität der
Vertragspartner bestimmt die Verfahrensweise und das Ergebnis der Ver-
tragsverhandlungen167.

159
    ebd.
160
    ebd., 93
161
    ebd.
162
    Vgl. Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1660
163
    ebd.
164
    Vgl. Rieger, Vertragstheorien, 2003, 9986
165
    ebd.
166
    ebd., 1987
167
    ebd.
29



„Erst im Zuge der Ablösung der mittelalterlichen Naturrechtsteleologie und
Ordo-Spekulation durch einen methodologischen und normativen Individua-
lismus ist ein konstruktiver Kontraktualismus entstanden, der mit seinem Ar-
gumentationsdreischritt: anarchischer Naturzustand – Vertrag – Gesell-
schaft/Staat das Denken der politischen Philosophen und Naturrechtsjuristen
des 17. und 18. Jh.s durchgängig bestimmt hat, der aber auch in der politi-
schen Philosophie der Gegenart als Rechtfertigungstheorie des philosophi-
schen Liberalismus große und systematische Bedeutung erlangt und mit sei-
nen begründungstheoretischen Vorstellungen selbst in der zeitgenössischen
Moralphilosophie Fuß gefasst hat.“168


Der Vertrag des Kontraktualismus ist bei den Philosophen der Neuzeit kein
historisches Geschehnis, sondern eher ein Gedankengebäude169. Der Kon-
traktualismus ist deswegen keine deskriptive Lehre, durch die historische
Verfahren erklärt werden, sondern ein normativer Ansatz, der eine Begrün-
dung politischer Gewalt formuliert170. Bei den Denkern der Neuzeit ist die
politische Gewalt grundsätzlich begründungsbedürftig171. Die Legitimations-
instanz ist dieser Theorie nach weder Gott noch die Natur, noch die Traditi-
on, sondern eher der freie und rationale Mensch: nur auf seinen rationalen
Willen kann die politische Gewalt begründet werden172.


„Aus vertragstheoretischer Perspektive ist der Mensch kein politisches Le-
bewesen     aristotelischen  Zuschnitts    mehr,    dem    die    politisch-
gemeinschaftliche Existenzform in die natürliche Wesensverfassung einge-
schrieben wäre, sondern ein atomar-vereinzeltes, eigeninteressiertes Indivi-
duum“173.


Um die Herrschaftslegitimation zu erklären, entwickelt die Vertragstheorie
den Naturzustandsgrundsatz, indem alle staatlichen Leistungen fehlen und
jedermann nur seine Vorteile anstrebt, was zu Situationen bis hin zu einem
Bürgerkrieg führt174. Die einzige Möglichkeit, dieser chaotischen Situation zu
entkommen, besteht darin, dass man auf die absolute Freiheit verzichten und
eine gemeinschaftliche Koexistenz errichten muss175.


168
    Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1653
169
    Vgl. Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1654
170
    ebd.
171
    ebd.
172
    ebd.
173
    ebd.
174
    ebd., 1655
175
    ebd.
30



Die individuelle Freiheitseinschränkung, die zur Etablierung der staatlichen
Ordnung erforderlich ist, wird nur unter der Rationalitätskondition der Re-
ziprozität begründet176. Der Staat ist also nur auf der Grundlage eines Ver-
trages durchführbar, wonach die Menschen sich gegenseitig zum Verzicht
der individuellen Freiheit und zur politischen Unterordnung verpflichten177.


Eine Wiederbelebung der Vertragstheorie in der Gegenwart startet mit der
Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, deren Gegenstand die soziale
Gerechtigkeit ist.178 Rawls erschafft den Naturzustand mittels des „Schleiers
des Nichtwissens“ als ein fiktives Gedankentheorem, wodurch das Indivi-
duum in einer fairen Situation als gleichzeitig gleich und frei betrachtet
wird179.


In diesem Kontext gilt die Kooperation der rationalen Vertragspartner als vor-
teilhaft, jedoch will jeder sich zugleich eine möglichst großen Beteiligung an
Ressourcen sichern180. Unter diesen Umständen entstehen zwei Vertei-
lungsprinzipien, die darin bestehen, dass einerseits allen Bürgern die glei-
chen politischen und zivilen Freiheitsrechte zustehen und andererseits, dass
die sozio-ökonomischen Ungleichheiten nur zumutbar sind, insoweit sie in
einer Ordnung fairer Chancengleichheit auch den am wenigsten Begünstig-
ten zugute kommen181.


Elemente des ersten Prinzips sind:
•         politisch-rechtliche Gleichheit und
•         Maximierung der individuellen Freiheit182.


Durch den ersten Grundsatz lassen sich grundlegende bürgerlich-politische
Menschenrechte begründen183. Rawls nennt unter anderem das Wahlrecht,
das Recht auf Eigentum, die Rede- und Versammlungsfreiheit, die Gewis-

176
    Vgl. Rieger, Vertragstheorien, 2003, 9988
177
    ebd.
178
    Vgl. Kersting, Vertragstheorien 2003, 1659
179
    ebd.
180
    Vgl. Kühn 1984, 18
181
    Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1662
182
    ebd.
183
    Edinger 2000, 18
31

sens- und Gedankenfreiheit, die Freiheit der Person und das Recht auf
Schutz vor willkürlicher Inhaftierung184.


Dem gegenüber stehen die Elemente des zweiten Prinzips:


•        Chancengleichheit nicht nur als formale Chancengleichheit (in Form
gleicher gesetzlichen Rechte auf vorteilhafte soziale Positionen), sondern
auch als faire Chancen (Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten sollten ähnliche
Lebenschancen haben) betrachtet185.


•        Das Differenzprinzip heißt, dass Ungleichheiten nur dann gerechtfer-
tigt sind, wenn sie auch den am schlechtesten gestellten Mensch zum Vorteil
gereichen. Durch dieses Prinzip wird die Pareto-Optimalität bzw. das Nut-
zenprinzip des Utilitarismus ersetzt186. Ein Zustand ist pareto-optimal, „bei
dem (...) das Wohlergehen eines (...) Gesellschaftsmitglieds nicht erhöht
werden kann, ohne daß dadurch mindestens ein anderes Individuum eine
Einbuße erleidet.“187




Aus diesem zweiten Grundsatz heraus werden einige soziale Menschenrech-
te begründet188. Zwischen den Grundsätzen besteht, so Rawls, eine klare
Rangfolge, nach der das Verteilungsprinzip des zweiten Grundsatzes der
gleichen Freiheit aller nachgeordnet ist189. Folglich muss sich daraus ein
Primat der bürgerlich-politischen vor den sozialen Menschenrechten erge-
ben190.


Menschen im Urzustand entscheiden sich aus folgenden Gründen für die
beiden Gerechtigkeitsprinzipien191:


•        Durch das erste Prinzip wird das Grundgut der Freiheit für alle

184
    ebd.
185
    Vgl. Kühn 1984, 24
186
    ebd.
187
    Fuchs-Heinritz/Lautmann 1995, 487
188
    Edinger 2000, 19
189
    ebd.
190
    ebd.
191
    Kühn 1984, 22 ff.
32

         gesichert
•        Sicherstellung der Annehmbarkeit der schlechtest möglichen Position
•        Allgemeine Anerkennung, weil jeder Vorteile daraus zieht, damit auch
         Stabilität des Systems
•        Förderung der Selbstachtung, weil jeder Mensch als Selbstzweck, und
         nicht (wie beim Utilitarismus) als Mittel gesehen wird.


Weil Rawls Theorie der Gerechtigkeit nur auf das innergesellschaftliche Insti-
tutionssystem bezogen ist, hat Rawls seine Theorie auf die zwischenstaatli-
che Ebene gedehnt und damit nicht nur die Menschenrechte als verfas-
sungsrechtliche Grundrechte, sondern auch als Komponente des Völker-
rechts zu begründen versucht192.


Dieses Ziel verfolgt Rawls in „The Law of Peoples“, der überarbeiteten Fas-
sung einer Amnesty-International-Vorlesung aus dem Jahr 1993193. In die-
sem Werk erweitert Rawls sein Urzustandsmodell nicht im Sinne eines Indi-
vidualismus auf die globale Ebene mit der Folge, einen universalen
Umverteilungsgrundsatz zugunsten der schlechtest gestellten Menschen zu
verlangen; er formuliert vielmehr einen Prozess in zwei Ebenen, wobei jedes
Volk für sich faire Regeln entsprechend den Grundsätzen der Theorie der
Gerechtigkeit einrichtet194. Anschließend etablieren die Völker gemeinsame
Prinzipien, um miteinander umzugehen:


„(1) Peoples are free and independent, and their freedom and independence
are to be respected by other peoples; (2) Peoples are to observe treaties and
undertakings; (3) Peoples are equal and are parties to the agreements that
bind them; (4) Peoples are to observe a duty of non-intervention; (5) Peoples
have the right of self-defense but no right to instigate war for reasons other
than self-defense; (6) Peoples are to honor human rights; (7) Peoples are to
observ certain specific restrictions in the conduct of war; (8) Peoples have a
duty to assist other peoples living under unfavorable conditions that prevent
their having a just or decent political and social regime“.195




192
    Vgl. Hinkmann 2002, 185
193
    ebd.
194
    ebd., 186
195
    Rawls 1999, 37, zit. nach: Hinkmann 2002, 191
33

Die acht Grundsätze der gerechten Gemeinschaftlichkeit werden zunächst in
liberalen Demokratien konstitutionell entwickelt, aber sie müssen – als Prin-
zipien für deren Außenpolitik - für „anständige“ Völker gebilligt werden, damit
sie rechtsverbindlich sind196. Diese acht gewissen Grund- und Menschen-
rechte, behandeln ihre Bürger als kompetente und kooperationsfähige Mit-
glieder der sozialen Ordnung, ihr Rechtssystem wird von einer gemeinsamen
Vorstellung der Gerechtigkeit inspiriert, und sie sind nicht aggressiv gegen
andere Staaten197.


Rawls Grundsätze der internationalen Gemeinschaftlichkeit wird auch kriti-
siert, weil trotz des Verweises auf die Achtung der Menschenrechte der
sechste Grundsatz nur rudimentär formuliert ist198.


Trotzdem betont Rawls, dass die Einhaltung der bürgerlich-politischen Rech-
te die Erfüllung bestimmter Verwirklichungsbedingungen verlangt, denn wenn
den Mitgliedern einer politischen Gesellschaft nicht die nötigen Grundgüter
zur Verfügung gestellt werden, um ihnen einen effektiven Genuss ihrer
Grundfreiheiten zu ermöglichen, sind diese wert- und nutzlos199.


Tatsächlich ist für einen verhungernden Menschen ein Anspruch auf Aner-
kennung als Rechtsperson nicht viel wert: Ohne faire Nahrungsversorgung,
Ausbildungsmöglichkeiten, eine gerechte Einkommensverteilung, eine fun-
damentale öffentliche Gesundheitsvorsorge und sogar eine angemessene
Arbeitsmarktpolitik, sind die liberalen bürgerlich-politische Rechte für viele
Mitglieder einer politischen Gemeinschaft unwirksam200.




1.3. Der Menschenrechtsbegriff


Dass das Recht auf angemessene Ernährung als Menschenrecht anerkannt
wird, ist unbestritten, aber wie kann man ein Menschenrecht definieren? In

196
    ebd., 192
197
    ebd.
198
    ebd.
199
    ebd., 193
200
    ebd.
34

ihrem naturrechtlichen Signifikat werden Menschenrechte als unantastbare,
unveräußerliche und überstaatliche Rechte des Menschen bezeichnet, die
ihm allein aufgrund seiner Menschenwürde zustehen201.


„Menschenrechte im strengen Sinn des Wortes können nur Rechte sein, die
dem Menschen als solchem kraft seines Wesens als Träger höchster geisti-
ger und sittlicher Werte zukommen. Sie müssen also als vorstaatlich gege-
bene Rechte bestehen und können durch Positivierung in der staatlichen o-
der zwischenstaatlichen Rechtsordnung nur anerkannt und umschrieben,
nicht verliehen werden“202.


Aus dieser Begriffsbestimmung werden drei Elemente abgeleitet: Vorstaat-
lichkeit, naturrechtliche Grundlegung und Individualbezug der Menschen-
rechte203. Es wird hervorgehoben, dass Menschenrechte unabhängig von
staatlicher Anerkennung vorhanden sind: obwohl durch den Fakt der Positi-
vierung Menschenrechte anerkannt und umschrieben werden, ist die Positi-
vierung dieser Rechte nicht unbedingt erforderlich für ihre Existenz204. Damit
werden sie einerseits aus der gelegentlichen Willkür des Gesetzgebers he-
rausgezogen, und andererseits können sie operationalisiert werden205.


Ein Kardinalproblem, das bei der Auseinandersetzung der Menschenrechte
eine große Rolle spielt, ist die tatsächliche Verwirrung der Grund-, Bürger-
und Menschenrechtsdefinition206. Ausgangspunkt der Erläuterung ist die Be-
trachtung der Menschenrechte als Oberbegriff, wobei Grundrechte Men-
schenrechte in eine Verfassung übergesetzt sind, denn sie werden in einer
Rechtsform verankert und konkretisiert207. Bürgerrechte sind andererseits
eine besondere Ausprägung der Grundrechte, die nur den Bürgern eines be-
stimmten Staates zustehen208.




201
    Vgl. Brieskorn 1997, 17
202
    Friesenhan 1961, 504
203
    ebd.
204
    ebd., 505
205
    ebd.
206
    Vgl. Fritzsche, Menschenrechte, Paderborn 2004, 22
207
    ebd.
208
    ebd.
35




2.       Der Grundgedanke eines Rechts auf Nahrung


Das Recht auf angemessene Nahrung ist ein grundlegendes Menschenrecht,
das allen Menschen auf der Welt zusteht209. Dieses Recht basiert auf der
Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Men-
schenrechte und ist in zahlreichen internationalen Instrumenten bestätigt
worden. Das Recht auf Nahrung ist durch den Internationalen Pakt über wirt-
schaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 – den sog. Sozialpakt der
Vereinten Nationen - völkerrechtlich verbindlich210.


Das Recht auf Nahrung wird als Recht aller Menschen auf Zugang zu pro-
duktiven Ressourcen definiert. Beim Recht auf Nahrung handelt es sich nicht
hauptsächlich darum, mit Nahrungsmitteln versorgt zu werden, sondern viel-
mehr darum, Menschen die Chance zu ermöglichen, sich selbst zu versor-
gen. Der Staat soll dafür geeignete Rahmenbedingungen gestalten, die es
den Menschen erlaubt, sich selbst zu ernähren211.


Die Erklärung über Fortschritt und Soziale Entwicklung von 1969 betont,
dass es eine Verpflichtung der Staaten ist, „Hunger und Unternährung zu
beseitigen und das Recht auf angemessene Ernährung zu gewährleisten“212.


Die Allgemeine Erklärung zur endgültigen Beseitigung von Hunger und Man-
gelernährung von 1974 weist darauf hin, dass jeder Mensch „das unveräu-
ßerliche Recht darauf hat, von Hunger und Mangelernährung befreit zu wer-
den, um sich frei entfalten und seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten
erhalten zu können“213, und sie betrachtet zugleich, dass die internationale
Gemeinschaft bereits über die erforderlichen Ressourcen verfügt und demzu-
folge in der Lage ist, die angestrebte Zielsetzung zu erreichen214.

209
    Alston, 1984, 22
210
    Vgl. Eide, Asbjørn 1995, 89
211
    http://gpool.lfrz.at/gpool/main.cgi?rq=ed&etid=29&eid=67003&oid=699&th=1
212
    UNO, Erklärung über Fortschritt und soziale Entwicklung, verkündet von der Generalversammlung der Vereinten
Nationen in ihrer Resolution 2542 (XXIV) vom 11. Dezember 1969, II Art.10b:
http:// www. fao. Org/Legal/RTF/intl/intl_e.htm
213
    http://www2.gtz.de/right-to-food/deutsch/akteure.htm
214
    ebd.
36



Darüber hinaus wurde das Recht auf angemessene Ernährung in der Erklä-
rung über die Rechte der behinderten Menschen von 1975, die Vorschriften
des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der
Frau von 1979 und der Erklärung zum Recht auf Entwicklung von 1986 be-
kräftigt215.


Überdies bekräftigen die Erklärung über die Rechte des Kindes von 1959
und das Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 das Recht
jedes Kindes auf eine Lebensqualität, die die seelische, körperliche und so-
ziale Entfaltung des Kindes gewährleistet216.


Zusätzlich unterstreicht das Zusatzprotokoll zum Amerikanischen Überein-
kommen über Menschenrechte im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte von 1988 in seinem Art. 12, dass jeder das Recht auf
angemessene Ernährung hat, „durch welche die Möglichkeit gewährleistet
wird, ein Höchstmaß an körperlicher, emotionaler und geistiger Entwicklung
zu genießen“217.


Ein weiteres Dokument zum regionalen Menschenrechtsschutz, die Allge-
meine Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1981, bestätigt das Recht
eines jeden, Nahrung und Trinken zu erhalten. Darüber hinaus erkennt die
ILO-Konvention 169 über die Indigene Völker das Recht auf angebrachte
Ernährung an218.


Daneben wurde das Recht auf angemessene Nahrung in Abschlussdoku-
menten zahlreicher internationaler Gipfeltreffen und Zusammenkünfte aner-
kannt und bekräftigt: inter alia, die Welternährungskonferenz von 1974, die
Erklärung von Cocoyoc von 1974, die Declarations of Principles and Pro-
gramme of Action of the World Conference on Agrarian Reform and Rural
Development von 1979, der Weltkindergipfel von 1990, die International Con-
ference on Nutrition von 1992, die Erklärung von Wien und das Aktionspro-

215
    http://www.gtz.de/right-to-food/download/WF_stand_depatte.pdf
216
    ebd.
217
    ebd.
218
    ebd.
37

gramm der Weltmenschenrechtskonferenz von 1993, die Kopenhagener Er-
klärung und das Aktionsprogramm des Weltsozialgipfels von 1995, die Welt-
frauenkonferenz in Beijing von 1995, der Welternährungsgipfel in Rom von
1996 und sein verabschiedeter Aktionsplan zur Verbesserung der Ernäh-
rungssituation und außerdem der Millenniumsgipfel der Vereinten Nationen
von 2000, dessen erste Ziel ist, den Anteil der Hungernden durch soziale und
finanzielle Maßnahmen auf die Hälfte zu reduzieren219.


In der verabschiedeten Erklärung des World Food Gipfels im Juni 2002, wur-
de „the right of everyone to have access to safe und nutritious food“ aner-
kannt, und die UN-Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO
hat zuletzt durch einen Leitlinienkatalog im Jahr 2004 das Recht auf Nahrung
festgeschrieben220.


Obwohl das Recht auf Nahrung, wie schon kurz dargestellt, in zahlreichen
internationalen und regionalen Rechtstexten kodifiziert ist, blieb es lange Zeit
ignoriert, ein Charakteristikum, das es allgemein mit den anderen wirtschaft-
lichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte teilte. D. h., das Recht auf
Nahrung wird nur als programmatisches Leitprinzip betrachtet, ohne in der
Praxis eine bedeutende Rolle zu spielen. Das Problem der Umsetzung des
Rechts auf Nahrung ist vergleichbar mit der Realisierung anderer sozialer
Menschenrechte, gegen deren Rechtscharakter Vorbehalte formuliert wer-
den. Weil diese Rechte nicht unmittelbar realisierbar erscheinen, könne es
sich um keine Menschenrechte handeln, sondern vielmehr um politische
Zielvorgaben, die lediglich eines Tages und unter bestimmten finanziellen
Voraussetzungen verwirklicht werden könnten. 221




2.1. Die Welternährungslage


Inzwischen leiden Millionen Menschen auf der Welt an Hunger, Mangeler-
nährung oder unter den Folgen ihrer unsicheren Ernährungslage. Auf keinen

219
      ebd.
220
      http.//www.vistaverde.de/news/Politik/0409/27_nahrung.php
221
      Vgl. van Hoof 1984, 97 ff.
38

Fall ist diese prekäre Lage in einem Mangel an Nahrungsmittel begründet,
weil die Ressourcen der Erde alle Bewohner ernähren können222.

„Trotz Fortschritten sind immer noch über 850 Millionen Menschen unterer-
nährt, und jährlich sterben 10 Millionen, vor allem Kinder unter 5 Jahren, an
den Folgen von Unter- und Mangelernährung. Alle 6 Sekunden stirbt ein Kind
daran. So komplex die Ursachen von Armut und Hunger sind, so vielfältig
präsentieren sich auch die geeigneten Lösungsansätze. Patentrezepte gibt
es leider nicht. Nur eines ist sicher: Hunger ist nicht in erster Linie ein Ange-
bots- oder Produktionsproblem, denn weltweit wird genügend Nahrung her-
gestellt.“223

Nachfolgend soll aufgezeigt werden, dass gute politische und wirtschaftliche
Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern sowie eine gerechtere in-
ternationale Ordnung die Schlüsselfaktoren zur Bekämpfung der Armut und
des Hungers darstellen224. Zunächst werden jedoch der aktuelle Stand der
Welternährungslage skizziert und die wichtigsten Ursachen der Unterernäh-
rung aufgeführt.


Schätzungsweise 1,2 Milliarden Menschen müssen pro Tag mit weniger als
einem US-Dollar auskommen. Etwa 1,3 Milliarden Menschen besitzen kein
sauberes Trinkwasser, 2 Milliarden leben unter schlechten sanitären Bedin-
gungen, und die Haushalte von 2 Milliarden – einem Drittel der Menschheit –
haben keinen elektrischen Strom. 852 Millionen Menschen sind unterernährt.


„More than one billion people are chronically hungry. Every year 13 to 18 mil-
lion people die as a result of hunger and starvation.
Every 24 hours, 35 000 human beings die as a direct or indirect result of
hunger and starvation - 24 every minute, 18 of whom are children under five
years of age.
No other disaster compares to the devastation of hunger. More people have
died from hunger in the last two years than were killed in World War I and
World War II together”.225

Als    Hauptgrund             für Hunger und              Unterentwicklung wird die Armut
                       226
gekennzeichnet            .


222
    www.verbraucherministerium.de/index-00022AF443241154A9F26521C0A8D8.htm
223
    FAO, Landwirtschaft: Horizont 2010, Doc. C 9324, Rom 1993, 1: http:// www. Fao.org/Legal/RTF/intl_e.htm
224
    Vgl. Allgemeine Bemerkung Nr. 12 E/c.12/1999/ 5: www.fao.or/Legal/RTF/intl.intl-e.htm
225
    United Nations, Right to adequate food as a human right, New York 1995. In:
www.un.org/rights/HRToday/hrbiblio.htm
226
    von Blanckenburg 1986, 50
39

„Hinsichtlich der Hintergründe und der Hauptzusammenhänge des Welter-
nährungsproblems werden in der öffentlichen Diskussion ziemlich verschie-
dene Auffassungen vertreten. Hier ist der Zusammenhang zwischen Armut
und Mangelernährung bedeutsam“227.


Vormals wurde geglaubt, dass Hunger grundsätzlich ein Produktionsproblem
sei, das mit angebotsseitigen Strategien beseitigt werden kann228. In diesem
Sinne ist zwar eine Steigerung der Agrarproduktion erforderlich, aber ebenso
wichtig ist der Zugang zu Nahrung durch nachfrageseitige Maßnahmen, da-
durch, dass der Teufelskreis der Armut durchbrochen werden kann229.


„Unterernährung führt zu einer geringen Arbeitsproduktivität, Unterbeschäfti-
gung und Armut und damit zu einer geringen Kaufkraft, die den Erwerb von
Nahrungsmitteln erschwert“ 230.


Im 4. World Food Survey wurde darauf hingewiesen, dass Mangelernährung
besonders         in    Ländern        mit     geringen        Einkommen            und   mangelhafter
Wirtschaftsentwicklung erscheint. Ungenügend ernährte Menschen finden
sich grundsätzlich unter denen, die arm sind, und zwar unter den landlosen
Landarbeitern, städtischen Arbeitslosen und den Gelegenheitsarbeitern.


„Das Ernährungsproblem ist demnach zu einem erheblichen Teil bedingt
durch die Höhe der Einkommen und durch die Einkommensverteilung in ei-
ner Bevölkerung. Menschen, die sich nicht aus Eigenbau mit Nahrung selbst
versorgen können, müssen diese kaufen, und viele haben nicht genügend
Einkommen oder Kaufkraft, um für sich und ihre Familien hinreichende Nah-
rung zu erwerben. Wie schon erwähnt, erschwert die Armut unter den Kon-
sumenten auch ein Anheben der Nahrungspreise, wie es zur Erhöhung des
Nahrungsangebotes der Landwirtschaft erwünscht wäre“231.


Da Hunger kein Agrarproduktionsproblem, sondern vielmehr das Ergebnis
eines         Verteilungspolitikdefizits               ist,      hat         Jean     Ziegler,    UN-
Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, erläutert, dass der Acker-
bau heutzutage Nahrungsmittel für zwölf Millionen Menschen erzeugt. Dies
geschieht bei einer Weltbevölkerung von 6 Milliarden. Ziegler behauptet,


227
    ebd.
228
    ebd., 58 ff.
229
    ebd.
230
    Horber 2000. In: http: // www.humanrights.ch/cms/pdf/001012_horber.pdf
231
    FAO 1977. Zit. nach: von Blanckenburg 1986, 61
40

dass die katastrophale Ernährungslage auf die mörderische und absurde
Weltordnung zurückzuführen ist232.


Das weltweite Nahrungsaufkommen ist nicht von Knappheit, sondern Über-
fluss geprägt: Die Produktion von Weizen, Reis und anderem Getreide reicht
allein für eine Versorgung jedes Menschen mit 3.500 Kalorien täglich aus,
dazu kommt das allgemein gegessene Gemüse, Bohnen, Nüsse, Wurzelge-
müse usw., Obst, Milch und Milchprodukte, Eier, Fleisch aus bäuerlicher Hal-
tung, Fisch. Genügend Nahrung ist vorhanden, mindestens 4,3 Pfund Nah-
rung stehen täglich weltweit pro Person zur Verfügung: 2,5 Pfund Getreide,
Bohnen und Nüsse, ca. 1 Pfund Obst und Gemüse und fast 1 Pfund Fleisch,
Milch und Ei. Jedoch sind viele Menschen zu arm, um genügend Nahrungs-
mittel zu kaufen. Die meisten „Hungerländer“ verfügen derzeit sogar über
genügend Nahrung für ihre Bevölkerung. Viele sind Nettoexporteure von
Nahrung und anderen Agrarerzeugnissen233.


Einer Studie des Worldwatch-Instituts von Washington zufolge würden die
Nahrungsmittel ausreichen, um alle Menschen zu ernähren – allein wenn
man berücksichtigt, dass immer noch bis zur Hälfte der Weltgetreideernte an
Tiere verfüttert wird, die dann geschlachtet werden234. Würden die Menschen
dieses Getreide direkt verzehren, anstatt es an Tiere zu verfüttern, könnte
die siebenfache Anzahl Menschen davon satt werden235.


Die Welt ist voller Überflussbeispiele. Worldwatch hat errechnet, dass jährlich
75 Milliarden Dollar für Luxusgüter wie Make Up, Parfüms, kulinarische Vor-
lieben, Kreuzfahrten oder Eiscreme ausgegeben werden, während für die
Gesundheitsvorsorge von Frauen, die Beseitigung von Hunger und Unterer-
nährung, sauberes Trinkwasser, die Impfung von Kindern und den Kampf
gegen den Analphabetismus 47,3 Milliarden nötig wären. Allein die Gelder,
die dem Mineralwasser und Hundefutter in den Industrieländern zugewiesen




232
    www.vistaverde.de/news/Politik/0301/15 hunger.htm
233
    Vgl. www.awitness.org/journal/mythen_hunger.html
234
    www.worldwatch.or/pubs.drew/2004
235
    ebd.
41

werden, könnten das Problem des Hungers und des Trinkwassers von zwei
Drittel der Menschheit lösen236.


2.2. Erklärungen zu den Ursachen des Hungers

2.2.1. Der Armutsansatz

Armut kann sich als eine defizitäre Grundbedürfnisbefriedigung definieren237.
In diesem Sinne sind dann diejenigen Menschen arm, deren Konsum bzw.
Grundbedarfsgüter einen absoluten oder relativen Standard nicht erreicht,
weil den bedürftigen Menschen Mindestbedingungen für eine wirksame Teil-
nahme am Prozess der gesellschaftlichen Güterstellung und Güterverteilung
fehlen238. Eine erforderliche Kondition für eine unternehmende Beteiligung an
diesem Vorgang ist der Zugang zu Produktionsmitteln239. Ebenso wichtig in
dieser Hinsicht sind die körperlichen und geistigen Fähigkeiten, um diese
Produktionsmittel wirkungsvoll nutzen zu können. Hinreichende Ernährung,
Bildung und Gesundheit werden als integrale Bestandteile der Grundbedürf-
nisbefriedigung berücksichtigt240.


Die individuelle Wahrnehmung von Armut wird ausschlaggebend mitbe-
stimmt von dem sozialen Wertesystem, an dem sich das Individuum orien-
tiert241. Die Kriterien zur Unterscheidung der Armen von den Nichtarmen
spiegeln auch kollektive Prioritäten und Vorstellungen von Wohlfahrt und An-
sprüchen wider242.


Definiert man Armut als defizitäre Grundbedürfnisbefriedigung, dann können
solche Defizite mittels sozialer Indikatoren gemessen werden243. Als soziale
Indikatoren werden theoretische Begriffe wie Ernährung, Gesundheit oder
Bildung verwendet244. Für das Bildungswesen z. B. kann die Einschulungs-
quote als Input-Indikator und die Alphabetisierungsquote als Output-Indikator

236
    www.worldwatch.or/pubs/sow/2004
237
    Sangmeister, Armut, 2003, 4328
238
    ebd.
239
    ebd., 4329
240
    ebd.
241
    ebd.
242
    ebd., 4330
243
    ebd.
244
    ebd., 4331
42

verwendet werden, während beim Nahrungswesen das tägliche Kalorienan-
gebot pro Kopf als Input-Indikator und die Lebenserwartung bei der Geburt
als Output-Indikator dient245.


„Anspruchsvollere Indizes der Armut lassen sich durch Zusammenfassung
relevanter statistischer Maßzahlen bilden; dadurch werden die in den sozia-
len Indikatoren enthaltenen Informationen fokussiert. Eine Möglichkeit der
Aggregation sozialer Indikatoren stellt der Human Development Index (HDI)
dar, der vom UNDP seit 1990 berechnet wird. Der HDI setzt sich aus den als
soziale Leitindikatoren verstandenen variablen Lebenserwartung bei der Ge-
burt, Alphabetisierungsquote, durchschnittliche Dauer des Schulbesuchs so-
wie dem realen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zusammen.“246


Die Entwicklungspolitik hat sich in den letzten Jahrzehnten an wechselnden
theoretischen Modellen orientiert und daraus verschiedene Vorhaben der
Armutsbekämpfung abgeleitet247.


Zur Zeit sind die Entwicklungspolitikexperten sich einig, dass zur Bewältigung
des Armutsproblems in Entwicklungsländern wenigstens zwei Strategien mit-
einander verknüpft werden müssen: (1) eine Wirtschafts- und Finanzpolitik,
die auf Wachstum gerichtet ist; (2) spezielle Programme, um die Verdienst-
möglichkeiten der Armen zu steigern 248.


Die Armut in Entwicklungsländern wird jedoch durch die ungleiche Verteilung
von Boden, Finanzkapital, Sachkapital sowie durch die defizitäre Ausstattung
mit Humankapital fortgesetzt249.


Ein Kampf gegen die Massenarmut muss als ethischer Imperativ verstanden
werden; aber auch unter funktionalen Kriterien erlangt die Armutsbekämp-
fung ein zentrales Signifikat, weil Ernährung, Gesundheit, Bildung sowie die
Erfüllung anderer Grundbedürfnisse Bedingungsfaktoren von Produktivität
und wirtschaftlicher Dynamik sind250.



245
    ebd., 4332
246
    United Nations Development Programme, Human Development Report 1991, 90. Zit. nach: Sangmeister 2003,
4334
247
    Thibaut 2003, 7997
248
    Sangmeister, Armut, 2003, 4335
249
    ebd.
250
    ebd., 4336
43

2.2.2. Die Dependenz-Theorie

Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist, dass es lediglich eine kapitalistische
Welt gibt, und dass das Schicksal der einzelnen Länder von ihrem Standort
abhängt251. Die Kernländer bzw. Industrieländer stehen den Peripherielän-
dern bzw. den Entwicklungsländern gegenüber. Diese sind unterentwickelt,
weil die Industrieländer durch eine systematische Ausbeutung das Kapital
aus den Entwicklungsländern herausgenommen haben. Sie sind zurück-
geblieben, weil die Industrieländer sie durch verschiedenen Vorrichtungen in
Dependenz halten und ihnen immer noch die Kosten für den Fortschritt der
Industrieländer aufbürden252.


Die Landwirtschaft spielt hier eine große Rolle, weil das Ziel der Industrielän-
der darin besteht, eine globale Arbeitsteilung zu verwirklichen253. Unter die-
sen Umständen müssen die Peripherieländer besonders landwirtschaftliche
und mineralische Primärprodukte zum Export produzieren, während die Zent-
ralländer Industriegüter erzeugen. Die Orientierung der Nahrungsproduktion
auf den Export hindert die Peripherieländer daran, die Mangelernährung ihrer
Bevölkerung zu beseitigen254.


„Auf dieser Grundthese, auf der die wirtschaftlich übermächtigen Industrie-
länder die Entwicklungsländer in Abhängigkeit und auf Agrarexporte ausge-
richtet halten, baut sich die Behauptung von der Schuld der reichen Länder
am Hunger in der Welt auf. Es wird unterstellt, dass der hohe Nahrungskon-
sum in den Industrieländern zu Lasten der Entwicklungsländer gehe, dass
die Industrieländer die Entwicklungsländer hinderten, sich vorrangig auf
Selbstversorgung ihrer Bevölkerung mit Nahrung auszurichten, dass der
große Fleischkonsum in den Industrieländern weitgehend auf Getreide- und
Maniok-Exporten der Entwicklungsländer, die hier zur Tierfütterung verwen-
det werden, beruhe, dass der hohe Energieaufwand in der landwirtschaftli-
chen Erzeugung der Industrieländer die Energiekosten für die Entwicklungs-
länder verteure.“255




251
    von Blanckenburg 1986, 63
252
    ebd.
253
    ebd.
254
    ebd., 64
255
    von Blanckenburg 1986, 64
44



2.2.3. Der Neokolonialismus


Der Neokolonialismus ist die Fortsetzung der Kolonialherrschaft mit politi-
schen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, militärischen oder technischen
Mitteln256.
Vor allem multinationale Konzerne gelten als Mechanismen für die Erhaltung
der agrarexportierenden Strukturen in den Entwicklungsländern257. Die Oli-
garchie bzw. die Elite der Entwicklungsländer ist den wirtschaftlichen Interes-
sen der reichen Länder untergeordnet und damit an der Bewährung der
strukturellen Dependenz beteiligt258.


2.2.4. Der progressive Ansatz

Frances Moore Lappé und Joseph Collins behaupten in ihrem Buch „Food
First“ (1978), dass jedes Land in der Lage sein sollte, sich selbst zu ernäh-
ren259. Die Nahrungsversorgung der einheimischen Bevölkerung gelingt den
Entwicklungsländern nicht, weil zwischen der Oligarchie der Entwicklungs-
länder, den multinationalen Konzernen und den Interessenvertretungen der
Industrieländer ein Bündnis besteht260. Eliten und multinationale Konzerne
verfügen über den Einsatz von Land, Arbeitskräften, Kapital, Kredit, Techno-
logie und Forschung ausschließlich, um ihr eigenes Bestreben nach Profit zu
befriedigen261.


„Besonders liegt Collins und Lappé daran, zu zeigen, wie die reichen Natio-
nen ihre internationale wirtschaftliche Machtstellung und auch ihre Entwick-
lungshilfeprogramme nutzen, um eine Kontrolle über die Agrarmärkte der
Dritten Welt zugunsten ihrer eigenen Wirtschaft zu gewinnen. Diese Überle-
gungen führen sie zu dem Schluss, das primär nicht die Entwicklungsländer,
sondern die reichen Länder für den Hunger in der Dritten Welt verantwortlich
sind. Sie folgern daraus, dass zur Lösung des Problems eine stärkere Ab-
koppelung der Entwicklungsländer vom internationalen Austausch erforder-
lich ist und dass dort der Nahrungsproduktion erste Priorität mit dem Ziel der
Selbstversorgung – ‚Food First’ - zuerkannt werden muss“.262

256
    ebd., 66
257
    ebd.
258
    ebd., 67
259
    ebd., 68
260
    ebd.
261
    ebd., 69
262
    ebd.
45



Susan George behauptet in ihrem Buch „How the Other Half Dies“ (1976),
dass die Menschen in der Dritten Welt verhungern, weil sie arm sind. Die
Ungleichheiten im Landbesitz werden als Hauptgrund der Armut ausgewie-
sen. Die Lebensmittel sind teuer, weil die Preise vom Landbesitzer und letzt-
lich vom Weltwirtschaftssystem bestimmt werden263.


„Schlechte Rahmenbedingungen im Süden: Ein Blick auf die Staaten mit
dem höchsten Anteil von Unterernährten an der Gesamtbevölkerung oder auf
die Liste negativer Länderbeispiele zeigt eine der wichtigsten, wenn nicht die
Hauptursache von Armut und Hunger auf: schlechte politische und wirtschaft-
liche Rahmenbedingungen. Ineffiziente Regierungssysteme, wachsende An-
zahl von bewaffneten Konflikten und Naturkatastrophen, Korruption, hohe
Militärausgaben, gravierende Demokratiedefizite, fehlende Strategie zur Ein-
dämmung des Bevölkerungswachstums, wachstumsfeindliche Wirtschaftspo-
litik – dies sind einige Stichworte dazu“.264



2.2.5. Unzureichende internationale Rahmenbedingungen


Die Gründe für Armut und Hunger liegen nicht nur in den betroffenen Län-
dern, sondern auch in den fehlerhaften Normen des internationalen Handels.
Der Protektionismus der Industrieländer hindert die Entwicklungsländer dar-
an, ihre Produkte zu exportieren und damit den Handel als Motor der Ent-
wicklung einzusetzen265.


„So hat die UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in einer
vielbeachteten Studie im letzten Jahr aufgezeigt, dass der Dritten Welt allein
bei den arbeitsintensiven Industrien aufgrund anhaltender Handelsschranken
jährlich 700 Milliarden Dollar an Exporterlösen verloren gehen – von der
Landwirtschaft ganz zu schweigen. Diese Summe entspricht mehr als dem
Doppelten der jährlichen öffentlichen und privaten Mittelflüsse der reichen
Länder und der multilateralen Organisationen in die Empfängerländer“.266




263
    ebd., 70
264
    ebd.
265
    Horber 2000, 2. In: http:// www.humanrights.ch/cms/pdf/00101012_horber.pdf
266
    ebd.
46




2.2.6. Die Verschuldung der Entwicklungsländer


Verschuldung ist die Bezeichnung für die staatliche Kreditaufnahme auf dem
globalen Kapitalmarkt, deren Gesamtbetrag als problematisch betrachtet
wird, wenn der Schuldendienst eine große Portion an den Exporteinnahmen
ausmacht und die Chancen eines Landes einschränkt, die Devisen für inlän-
dische Investitionen einzusetzen. Zur Verschuldungskrise kommt es, wenn
ein Land zahlungsunfähig wird267.


Seit Anfang der achtziger Jahre hat der explosionsartige Anstieg der Zinssät-
ze dazu geführt, dass die Länder der Dritten Welt nicht mehr in der Lage wa-
ren, ihre Schulden zu tilgen. In dieser Zeit begann der Lebensstandard in den
verschuldeten Ländern drastisch zu sinken, und die Nahrungslage ver-
schlimmerte sich vielfach. 268


2.2.7. Hunger als Entitlement Failure: Der Verlust von Verwirklichungs-
chancen


Dem Buch „Ökonomie für den Menschen“ von Amartya Sen zufolge ist der
Hunger weniger das Ergebnis von Nahrungsmittelknappheit als vielmehr das
Ergebnis eines Verteilungsproblems im Sinne eines unzureichendes Zu-
gangs zu den Nahrungsmitteln269.


„Menschen leiden Hunger, wenn sie ihr Zugangsrecht auf eine angemessene
Nahrungsmenge nicht wirksam machen können.“270


Sens Ansatz lautet : Hunger und Fehlernährung sind niemals lediglich ein
Problem der Menge an Nahrungsmitteln271. In seiner Analyse und für seinen
Lösungsansatz erscheint der Begriff „entitlement“, der als Verwirklichungs-
chance bzw. Verfügungsmacht über Güter, Dienstleistungen oder Rechte

267
    Vgl. Boeck 2003, 9973
268
    Vgl. Sangmeister 2003, 5673
269
    Vgl. Sen 2003, 9 ff.
270
    Sen 2003, 253
271
    Wagner, Entwicklung als Freiheit. In: www.inwent.org/ E+Z/1997-2002/ez400-7.htm
47

verstanden wird272. Wenn Menschen verhungern, dann ist der Fakt, dass
Lebensmittel auf dem Markt vorhanden sind, unerheblich. Menschen leiden
an Hunger, obwohl Lebensmittel zu ihrer Versorgung beschaffbar wären273.


„Erfolgreiche Lösungsansätze des Hungers müssen neben der Steigerung
der Nahrungsmittelproduktion immer auch gegen die immateriellen Defizite
angehen, die mit Armut und Ausgrenzung verbunden sind, sei es die Unmög-
lichkeit einer selbstverantwortlichen Lebensgestaltung, die fehlende Beteili-
gung an Entscheidungsprozessen aller Art oder der Verlust von Selbstver-
trauen bis zur Hoffnungslosigkeit. Armut ist untrennbar verbunden mit Unfrei-
heit, Entwurzelung und Unsicherheit.“274


Ein zentrales Element zur Verbesserung der Ernährungssicherheit ist die
Förderung der sozialen Entwicklung im Sinne der Herstellung politischer, so-
zialer und wirtschaftlicher Bedingungen, mittels derer man Menschen in die
Lage versetzt, ihre Probleme selbst anzupacken275.


Hungersnöte und Mangelernährung können nur überwunden werden, wenn
eine entsprechende Nahrungsmittelmenge produziert wird, aber vor allem,
wenn ein sozial gerechtes Umfeld geschaffen wird, das den Menschen er-
möglicht, sich zu entfalten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und somit erfolg-
reich für sich selbst zu sorgen276.


Die Amartya-Sen-Konzeption zur Überwindung des Hungers und der Unter-
ernährung ist Bestandteil seiner Entwicklungstheorie, die die Wege zu Ge-
rechtigkeit und Solidarität in der globalen Ordnung für alle öffnen soll277. Ent-
wicklung ist in dieser Hinsicht, der Abbau von Unfreiheiten und die Erweite-
rung der substanziellen Freiheiten, die den Menschen zukommen. Unterent-
wicklung, Armut und Hunger sind demgemäss Formen von Unfreiheit278.


„Der Entwicklungsprozess ist im wesentlichen identisch mit der Geschichte
der Überwindung von Unfreiheiten. Zwar ist diese Geschichte keineswegs
vom Prozess des Wirtschaftswachstums und der Akkumulation natürlichen

272
    ebd.
273
    ebd.
274
    Sen, Zit. nach: www.iz3w.org/i23w/ausgaben/244/LP_s19.html
275
    ebd.
276
    ebd.
277
    ebd.
278
    ebd.
48

und menschlichen Kapitals loszulösen, doch schließt sie sehr viel mehr ein
und geht weit über diese Variablen hinaus“279.


Sens Ansatz der menschlichen Verwirklichungschancen darf nicht mit der
                                                       280
Theorie des Humankapitals verwechselt werden.            Die Humankapital-
Theorie interessiert sich grundsätzlich für die Produktivitätssteigerung, sie
stellt also die menschlichen Fähigkeiten in den Vordergrund, die als Kapital
für die Produktion eingesetzt werden können281. Die These der Verwirkli-
chungschance betont hingegen die grundlegende Freiheit des Menschen,
seine realen Entscheidungschancen auszuweiten und sein erstrebenswertes
Leben zu führen. Der Wert des Menschen darf nicht auf seinen produktiven
Nutzen reduziert werden282.


Bei der Interdependenz von Freiheit und Entwicklung manifestiert sich die
Freiheit sowohl in
•        Prozessen, die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit ermöglichen,
         als auch in
•        realen Chancen, die die Menschen hinsichtlich ihrer sozialen Umstän-
         de haben283


Unfreiheit kann mangelhafte Prozesse verursachen, beispielsweise die Ver-
letzung politischer bzw. bürgerlichen Freiheiten – oder mangelhafte Chan-
cen, die nicht ausreichen, um minimale Ziele zu realisieren284. Dazu gehört
das Fehlen grundlegender Chancen wie beispielsweise die Vermeidung von
Hunger und Krankheiten285.


Individuelle Freiheit hat eine eminente Bedeutung für die Entwicklung. Sie
verstärkt sowohl die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu helfen als auch
auf die Welt einzuwirken, und beides ist für den Entwicklungsprozess uner-
lässlich286.


279
    Sen 2003, 350
280
    Vgl. Sen 2003, 347
281
    ebd.
282
    ebd.
283
    www.iz3w.org./i23w/ausgaben/244/LP_s19.html
284
    ebd.
285
    ebd.
286
    Vgl. Sen 2003, 50
49

Hier zeigt sich simultan der funktionelle Charakter der Freiheiten, weil ihre
Erweiterung den Aufschwung fördert und die Entwicklung voranbringt287.
Freiheit ist somit Mittel und Zweck der Entwicklung, wobei fünf relevante
Grundfreiheiten unterschieden werden:


„(1) politische Freiheiten, (2) ökonomische Einrichtungen, (3) soziale Chan-
cen, (4) gesellschaftliche Transparenz und (5) soziale Sicherheit. Diese in-
strumentellen Freiheiten erweitern die Verwirklichungschancen eines Indivi-
duums, in größerer Freiheit zu leben, aber sie dienen auch dazu, sich wech-
selseitig zu ergänzen“288.


Der erste Entwicklungsschritt ist nicht die Bekämpfung von Armut und Elend,
sondern der Vorrang grundlegender Freiheitsrechte289. Obwohl eine Demo-
kratie kein automatisch wirkendes Heilmittel darstellt, erhöht sie die unmittel-
baren Verwirklichungschancen der Menschen, wobei politische und soziale
Partizipation eingeschlossen werden290.


Der freie Zugang zum Markt repräsentiert einen bedeutenden Beitrag zur
Entwicklung291. Besonders wichtig ist der freie Zugang zum Arbeitsmarkt. Die
Verweigerung dieser Freiheit ist ein Mittel, um Menschen in Abhängigkeit zu
halten. Ähnliches gilt für den freien Zugang zu den Warenmärkten: Beson-
ders in der Dritten Welt leiden viele Kleinbauern und Kleinproduzenten
darunter, dass strukturelle Beschränkungen ihnen diese Freiheit blockieren.
Staatliche Eingriffe und Regulierungen sind deswegen nicht nur legitim, son-
dern auch erforderlich292.


Der Marktmechanismus ist nur dann erfolgreich, wenn die gebotenen Chan-
cen einigermaßen gleich verteilt sind293. Um das zu ermöglichen, sind der
Zugang zu angemessener Nahrung, elementarem Schulunterricht, medizini-
scher Grundversorgung ausschlaggebend. Deshalb muss der Marktmecha-
nismus durch eine gerechte Verteilung der sozialen Chancen ergänzt wer-



287
    ebd., 51
288
    Sen 2003, 52
289
    Sen 2003, 181
290
    ebd.
291
    Vgl. Sen 2003, 139 ff.
292
    ebd.
293
    Vgl. Sen 2003, 177ff.
Dr. iur. Pedro Bejarano Alomia, LL.B., LL. M. - Menschenrecht auf Nahrung
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  • 1. Das Menschenrecht auf Nahrung Pedro Bejarano, LL.M. Berlin, 2005
  • 2. 2 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 2 Einleitung 5 1. Konzeption der Menschenrechte als Rahmenbegriff des Rechts auf Nahrung - Grundlage und Gegenstand 6 1.1. Entwicklung der Menschenrechtskonzeption 6 1.2. Begründungsstrategien der Menschenrechte 23 1.2.1. Diskurstheorie 24 1.2.2. Vertragstheorien bzw. Kontraktualismusansätze 28 1.3. Der Menschenrechtsbegriff 33 2. Der Grundgedanke eines Rechts auf Nahrung 35 2.1. Die Welternährungslage 37 2.2. Erklärungen zu den Ursachen des Hungers 41 2.2.1. Der Armutsansatz 41 2.2.2. Die Dependenz-Theorie 43 2.2.3. Neokolonialismus 44 2.2.4. Der progressive Ansatz 44 2.2.5. Unzureichende internationale Rahmenbedingungen 45 2.2.6. Die Verschuldung der Entwicklungsländer 46 2.2.7. Hunger als Entitlement Failure: Der Verlust von Verwirklichungschancen 46 2.2.8. Überbevölkerungsreduzierung 51 2.2.9. Eine Fiktion: Die Verschwörungstheorie 54
  • 3. 3 2.3. Negative Konsequenzen der Mangelernährung 55 2.4. Begriffsbestimmungen 57 3. Der völkerrechtliche Stellenwert des Rechts auf Nahrung 60 3.1. Die Charta der Vereinten Nationen 61 3.1.1. Entstehungsgeschichte 61 3.1.2. Die Präambel der UN-Charta 64 3.1.3. Ziele und Grundsätze der UN-Charta 65 3.1.4. Art. 1 (3) UN-Charta 65 3.1.5. Art. 55 UN-Charta 66 3.2. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) 69 3.3. Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) 71 3.3.1. Der normative Inhalt des IPwskR 74 3.3.2. Die generelle Verpflichtungsklausel des IPwskR 76 3.3.3. Der Status der Menschenrechte im IPwskR 80 3.3.3.1. Das Generationsmodell 80 3.3.3.2. Die Statuslehre 83 3.3.3.3. Das 3-Ebenen-Modell d. Respect, Protect und Fulfil 90 3.4. Die rechtliche Verankerung des Rechts auf Nahrung im IPwskR 94 3.4.1. Art. 11 IPwskR 97 3.4.2. Entstehungsgeschichte des Art. 11 IPwskR 98 3.4.3. Die juristische Natur des Rechts auf Nahrung 99 3.4.4. Die Konnotation einer angemessenen Ernährung 101 3.4.5. Verpflichtungsebenen 102 3.4.6. Recht auf Nahrung und Recht auf Leben 104 3.4.7. ECOSOC und CESCR und der Entwurf eines Fakultativen Protokolls zum Sozialpakt 105 3.4.8. Entwurf eines Fakultativprotokolls zum Sozialpakt 106 3.5. Institutioneller Rahmen zum Schutz des Rechts auf Nahrung 106 4. Begründung des Rechts auf Nahrung 119 4.1. Hunger als Verteilungsgerechtigkeitsmangel 119 4.1.1. Der liberale Ansatz von Friedrich August von Hayek 123 4.1.2. Der sozialliberale Ansatz von John Rawls 124 4.1.3. Die kommunitaristische Position von Michael Walzer 124 4.1.4. Die aktivierende Position von Amartya Sen 125
  • 4. 4 4.2. Die Begründung des Rechts auf Nahrung aus der Grundbedürfnisthese 126 4.2.1. Genese der Grundbedürfnisstrategien 126 4.2.2. Begriffsbestimmung 129 4.3. Die Human Security Conception 130 5. Lösungsansätze zur Bekämpfung der Unterernährung 133 5.1. Die Stellungnahme der Weltbank 133 5.2. Empowerment of Capabilities 137 5.3. Der Welt-Marshall-Plan 138 5.4. Steuer auf Waffenhandel 140 5.5. Kerosinsteuer 140 5.6. Der UN-Bericht “Investing in Development: A Practical Plan to Achieve the Millennium Development Goals” (2005) 141 Schlussfolgerungen 143
  • 5. 5 Einleitung Trotz der völkerrechtlichen Anerkennung des Rechts auf Nahrung stirbt jede Sekunde ein Mensch an den Folgen des Hungers. Das sind mehr als 30 Mil- lionen Menschen, die jedes Jahr bei dieser tagtäglichen Tragödie ums Leben kommen. Besonders betroffen sind Kleinkinder, weil Hunger der Verursacher der jährlich 11 Millionen Todesfälle von Kindern unter 5 Jahren ist: A l l e fünf Sekunden stirbt ein Kind an den Folgen des Hungers. Einer solchen Realität gegenüber stellt sich die Frage, ob das Recht in der Lage ist, Hunger und Unterernährung auszurotten, nämlich ob die Verwirkli- chung des Rechts auf Nahrung überhaupt erreicht werden kann. Ist etwa der Hunger ein juristisches oder ein politisches Problem? Gibt es Lösungen zur Frage des Hungers? Könnten wir als Juristen zur Lösung der Frage des Hungers beitragen? Um die einleitende Fragestellung beantworten zu kön- nen, vereint diese Magisterarbeit neben den juristischen Aspekten auch dis- ziplinübergreifende Auffassungen. Auf diese Art und Weise werden im ersten Teil philosophische, historische und ideengeschichtliche Themen angeschnit- ten, um so die Frage nach dem Recht auf Nahrung als Menschenrecht be- antworten zu können. Im zweiten Teil werden die Grundgedanken eines Rechts auf Nahrung dargestellt, während im drittel Teil auf völkerrechtliche Fragen eingegangen wird, um die Auslegung des Rechts auf Nahrung im Kontext des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vornehmen zu können. Im vierten Teil werden politologische Aspekte angesprochen und im anschließend letzten Teil Lösungsansätze zur Be- kämpfung des Hungers dargestellt.
  • 6. 6 1. Konzeption der Menschenrechte als Rahmenbegriff des Rechts auf Nahrung - Grundlage und Gegenstand Mit der Verabschiedung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, so- ziale und kulturelle Rechte1 von 1966 wurde das Recht auf Nahrung als un- antastbares Menschenrecht anerkannt und seit damals vielfältig bekräftigt. Wie das Recht auf Nahrung als soziales Menschenrecht mit dem Inbegriff der Menschenrechte harmoniert und welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um ein Recht auf Nahrung verlangen zu können, ist in diesem Teil festzustellen. Dafür wird die Fortentwicklung des Menschenrechtskonzepts aus dem historischen Entstehungskontext erschlossen und kurz aufgewie- sen. 1.1. Entwicklung der Menschenrechtskonzeption Obwohl die Geltungsforderung der Menschenrechte heutzutage als ahisto- risch betrachtet wird, haben Menschenrechte eine geschichtliche Entfaltung, die verschiedene Prozesse sozialer Wandlung darstellt2. Darum ist es wichtig, die Entwicklung der Menschenrechtsidee in knapper Schilderung darzustellen. Dabei beschränke ich mich auf die Grundbegriffe, die in ihrer Zusammensetzung im Laufe der Geschichte zur Entstehung der Idee der Menschenrechte beigetragen haben. Der Konzept der Menschenrechte als solche war zwar in der Antike unbe- kannt, aber dessen Fundamente wurden in der philosophischen Entwicklung Griechenlands aufgestellt3. Darum rühren naturrechtliche Ansätze bereits von den vorsokratischen Sophisten im fünften Jahrhundert vor Christi Geburt her4. Die Sophisten konzentrierten sich im Gegensatz zu ihren Vorgängern, den „Naturphilosophen“, eher auf die menschliche sophía, die „nicht nur die 1 IPwskR 2 Vgl. Oestreich 1968, 9 ff. 3 ebd., 15 4 ebd.
  • 7. 7 philosophische Weisheit, sondern in einem ursprünglichen umfassenden Sinn alle handwerklichen und geistigen Fähigkeiten der Menschen“ repräsen- tiert5. Hinsichtlich des Werdegangs der Menschenrechte liegt der Wert der Sophis- tik darin, dass zum ersten Mal in der griechischen Philosophie der Blick weg von der Natur und vollständig auf den Menschen gerichtet wurde6. In diesem Sinne werden die Reflexionen der Sophisten als bahnbrechend betrachtet, weil es die menschliche Natur als Maß aller Dinge in den Blick- punkt der philosophischen Debatte rückte7. Der Mensch wurde auch zum Mittelpunkt der Rechtsvorstellungen8. Die So- phisten lehrten nicht nur, dass alle Menschen frei geschaffen und keiner zum Sklaven bestimmt wurde – ein subversiver Satz in der griechischen Gesell- schaft, die sich ja auf das Institut der Sklaverei stützte - sondern auch, dass das natürliche Recht die positiven Gesetze weitaus überwindet9. Bei der Philosophenschule der Stoa poikile, gegründet um 300 vor Christi von Zenon aus Kition, finden sich auch vorangehende Vorstellungen eines allen Menschen als Menschen zukommenden Rechts10. Oberste Maxime der Ethik, die im Zentrum des Denkens der Stoa steht, ist die Forderung, mit sich selbst und mit der Natur in Harmonie zu leben11. Daraus ergibt sich der Glaube an ein völlig gültiges Weltgesetz, nämlich das sittliche Gleichheits- prinzip der Menschen, wodurch alle Menschen von Geburt an gleichsetzt und ihnen gewisse Naturrechte zuerkannt werden12. Die Stoiker erheben zwei grundlegende soziale Forderungen: Gerechtigkeit und Menschenliebe in einem Ausmaß, wie es die Antike bis dahin nicht ge- kannt hatte. Sie erstrecken sie auf alle Menschen, denn sie schließen auch 5 Fenske 2003, 55 ff. 6 Vgl. Fenske 2003, 162 7 ebd. 8 Oestreich 1968, 15 9 ebd. 10 Vgl. Störig 2002, 218 ff. 11 ebd. 12 ebd.
  • 8. 8 die Sklaven und die Barbaren ein13. Diese neue humane Gesinnungsethik bewirkte eine Milderung der Sklaverei und die Fürsorge für Bedürftige und Kranke und legte Fundamente für die Idee einer Menschenwürde14. Im Georgias wies Sokrates (470 – 399 v. Chr.) die Gerechtigkeit als höchstes menschliches Gut und als Ziel aller Staatsführung aus. Er bemerkte, dass ohne Gerechtigkeit keine Gemeinschaft existieren kann15. In der Politeia paraphrasiert Kephalos den Dichter Simonides, um den Begriff der Gerechtigkeit zu definieren: „Jedem das Seine zu geben“16. Im Reich der Ideen besetzt die Idee des höchsten Guten die oberste Stelle17. Sie ist sozu- sagen die Idee der Ideen. „Das höchste Gute ist allem übergeordnet als sein oberster Zweck. Es ist der Endzweck der Welt“18. Alles, was Platon (427 v. Chr. – 347 v. Chr.) am Einzelmenschen darlegt, beispielsweise Tugend, Sittlichkeit, rechtes Handeln oder Gerechtigkeit, kehrt im Staat in vergrößerter Skala wieder19. „Die denkbar höchste Form des sittlichen Lebens ist das sittliche Leben der Gemeinschaft in einem guten Staat“20, wobei die Gerechtigkeit zum Funda- ment dieses guten Staates wird21. Bezüglich seiner Staatslehre gibt es genauso viele Sorten von Verfassungen (politeia), wie es Arten von Menschen gibt, denn die Staatsformen entstehen aus der Natur der Menschen, also entspricht jeder Verfassungstyp einem feststehenden Seelenzustand seiner Bürger22. In der Timokratie verlangen sie nach Wertschätzung, in der Oligarchie nach Wohlhabenheit, in der De- mokratie nach Freiheit23. Aber der Ehrgeiz der Timokratie führt zu einer Oli- garchie, weil das Regime sich ausschließlich auf das Wohl des Staates rich- 13 ebd. 14 ebd. 15 Vgl. Oestreich 1968,15 16 Fenske 2003, 74 17 ebd. 18 ebd. 19 ebd. 20 ebd., 183 21 ebd. 22 Vgl. Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart 2002, 183 ff. 23 ebd.
  • 9. 9 tet24. Die Oligarchie spaltet den Staat in Arme und Reiche. Werden die Ar- men immer ärmer, dann vertreiben sie die Machthaber und errichten eine Demokratie25. Der Drang nach Freiheit wird in der Demokratie immer größer, so dass diese Freiheit bald zur Zügellosigkeit wird. Gegen diese Ausschwei- fung muss das Volk die Macht dem Tyrannen übertragen26. Im idealen Staat bestehen von Natur aus drei unterschiedliche Aufgaben: Ernährung und Erwerb als Grundlage, Verteidigung nach außen, Leitung und Vernunft. Die Gerechtigkeit einer solchen egalitären Sozialordnung, genauso wie beim Einzelmenschen, besteht darin, dass diese drei Aufgaben unter der Vernunft in das richtige Verhältnis kommen27. Im Dialog Politikós (Der Staatsmann), verteidigt Platon den „Kommunismus“ der politeia“ mit einem mächtigen „tugendhaften Herrscher“ als „praktischem Gesetzgeber“ und „nicht länger in völlig unterschiedliche Klassen“ getrennten Bürgern als das ideale System, um das richtige Verhältnis der sozialen Ge- rechtigkeit zu erreichen28. Für Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) ist die Glückseligkeit das höchste Gut des Menschen. Der Mensch ist vor allem Vernunftwesen und die Tugend besteht darin, dass der Mensch die Vollkommenheit seiner Vernunft anstrebt29. Aristoteles unterscheidet zwei Arten von Tugend. Während die ethische Tu- gend die Herrschaft der Vernunft über die wollüstigen Triebe bedeutet, rep- räsentiert die dianoethische Tugend - im Vergleich mit der ethischen Tugend die höhere - die Vervollkommnung der Vernunft selbst. In dieser Hinsicht lag die Grundlage allen Rechtes in der gottgegebenen Vernunft des Menschen30. Wie für Platon ist die moralische Gemeinsamkeit der Bürger in einem auf Gesetz und Tugend aufgebauten guten Staat auch für Aristoteles die höchste 24 ebd. 25 ebd. 26 ebd. 27 Vgl. Störig 2002, 187 28 Fenske 2003, 80 29 Vgl. Störig 2002, 206 ff. 30 ebd.
  • 10. 10 Form der Sittlichkeit31. Politik ist in dieser Hinsicht nichts anderes als ange- wandte Ethik32. Der Staat ist für Aristoteles im Gegensatz zur platonischen Staatslehre kein einheitliches Wesen, sondern aus Einzelmenschen gebildet33. Der Staat ist hingegen Bestandteil, eine Untergemeinschaft eines gegliederten Ganzen34. Der Mensch ist nach der aristotelischen Betrachtung ein politisches bzw. ge- sellschaftliches Lebewesen, das zur seiner Vervollkommnung die Gemein- schaft mit anderen benötigt35. Diese Verbundenheit der Menschen miteinan- der ist nur durch das Recht – die lex naturae - möglich36. Das natürliche Recht als das wahre Gesetz existiert von jeher, bevor eine staatliche Gemeinschaft errichtet wurde37. Durch dieses Gesetz, das für Menschen und Gottheit verpflichtende Norm ist, wird die Ungleichheit der Völker und Menschen erklärt und die Sklaverei gerechtfertigt38. Die Stoiker haben die Gleichheit der Menschen durch den Hauptgedanken begründet, dass neben der realen Gemeinschaft das Reich der Vernunft vor- handen ist, und in diesem ist jeder Mensch Teilhaber an der Weltvernunft, so dass also alle Menschen mit Vernunft ausgestattet sind. Ebenfalls sind alle Menschen von der sittlichen Zielsetzung aus gleichberechtigt39. Im römischen Kaiserreich fanden die Grundtheorien der Stoiker eine Fort- entwicklung und Anwendung auf soziale und politische Fragen durch den Politiker und Juristen Cicero und den römischen Stoiker Seneca40. Auch für Cicero (106 – 43 v. Chr.) ist der Mensch von Natur aus ein Wesen, das gesellschaftlich veranlagt ist, und er sieht darin den Hauptgrund für eine 31 ebd. 32 ebd. 33 ebd. 34 ebd. 35 Vgl. Quinton 1994, 302 ff. 36 ebd. 37 ebd. 38 ebd. 39 ebd. 40 Vgl.Oestreich 1968, 17
  • 11. 11 Staatenbildung41. Ein Staat ist demzufolge ein Kreis von Menschen, die ge- meinsame Rechte für legitim erklären und daraus einen kollektiven Nutzen ziehen42. Der Staat ist laut Cicero wie bei Aristoteles eine apriorische Rechtsgemein- schaft, die über die menschliche Vernunft erfahrbar ist43. Die Ziele dieses Staates sind grundsätzlich, für Recht und Gerechtigkeit unter den Bürgern zu sorgen, für Wohlstand und äußere Sicherheit.44 Die Ungleichheiten unter den Menschen, besonders die Sklaverei, sind tödli- che Krankheiten des Staates45. Darum müssen die positiven Gesetze am allgemeinen Naturrecht und an Tugenden orientiert werden, denn wenn die Gesetze nur der reinen Nützlichkeit folgen, gibt es gar keine Gerechtigkeit46. Durch Cicero wurde die lex naturae aus einem Gegenstand der Philosophie zu einem Gegenstand des Rechtsdenkens und der Rechtskonzeption. Das Naturrecht, das im Letzten göttlich begründet wird, bewirkt im Römischen Imperium eine progressive Abschaffung von Ungleichheiten unter den Men- schen - beispielsweise für Barbaren, Sklaven und Frauen - wie sie Aristoteles noch als sittlich akzeptiert hatte47. „Mit der Teilhabe eines jeden Menschen an der kosmischen Weltvernunft war auch die religiös gestimmte unbedingte Achtung gegen jeden Menschen verbunden: Homo res sacra hominis“48. Der Philosoph Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.) wandte sich in seiner Schrift Über die Milde (De clementia) an den Cäsar, um zu beteuern, dass wahre Größe und Majestät in der Sorge für das Gemeinwohl liege. Die Herrschaft bedeute nicht anderes als Dienst am Volke49. 41 ebd. 42 Vgl. Quinton 1995, 306 ff. 43 ebd. 44 ebd. 45 ebd. 46 ebd. 47 Vgl. Brieskorn 1997, 31 ff. 48 Oestreich 1968, 18 49 ebd.
  • 12. 12 Den Ansätzen Senecas lag die feste Überzeugung von der Zusammengehö- rigkeit aller Menschen und von ihrem gemeinsamen Schicksal zugrunde: „Wir sind Glieder eines Körpers. Die Natur schuf uns alle als Verwandte“50. Hinsichtlich der Antike kann man zusammenfassend sagen, dass frühe Fas- sungen des Naturrechts – vor allem bei den Sophisten und Stoikern - in der griechischen und in der römischen Antike nachgewiesen wurden, welche das christliche Denken des Mittelalters, das aufklärerische Naturrecht und die zeitgenössische Begründung der Menschenrechte geprägt hat. Zur den Hauptbegriffen des Naturrechts der Antike gehört die Vorstellung, dass dem Menschen vor aller staatlichen Rechtsetzung feststehende Rechte zustehen, die sich aus seiner Natur bzw. aus seiner Vernunft ergeben. Diese von der Natur abgeleiteten Rechte des Menschen, also seine Menschenrech- te, gelten unabhängig von Zeit und Raum, weil die Natur auch unveränderlich ist. Auch nach dem Ansatz der Vernunft sind alle Menschen gleichwertig. Eine andere Weltanschauung, die dem Menschen von Natur aus eine gewis- se ontologische Ausstattung zuspricht, ist das christliche Menschenbild51. Das einstige Christentum konnte an den Überlegungen der Bibel und des Stoizismus anknüpfen52. Zwei zentrale Vorstellungen können von der Bibel abgeleitet werden: Die Idee der Menschenwürde und die der Gleichheit der Menschen53. Die Kon- zeption der Gleichheit gründet sich auf die Behauptung, dass Menschen Kin- der Gottes und demzufolge Brüder und Schwestern in Christus seien54. Die Gleichheit zwischen den Menschen findet in der Gleichberechtigung von Ge- schwistern in einer Familie ihre Allegorie55. Dieses Ideal kommt der stoischen Forderung der allgemeinen Menschenliebe nahe56. 50 ebd. 51 Vgl. Höffe 2001, 85 52 Vgl. www.bpb.de/publikationen/!SFJ2B, 0 , 0, Idee_der_Menschenrechte.html 53 Vgl. Störig 2002, 240 ff. 54 ebd. 55 ebd. 56 ebd.
  • 13. 13 Der Mensch ist darüber hinaus das Ebenbild Gottes und als solches die Kro- ne der Schöpfung57.Aus dieser Aussage folgt einerseits, dass dem Men- schen eine Würde und ein Wert zukommen, wie sie in der Schöpfung sonst nirgends erreicht sind, und andererseits, dass diese göttlichen Herkunft die prinzipielle Gleichstellung und Freiheit aller Menschen bedingt58. „Dem Christentum war von vornherein ein übernationaler Zug eigen. Hatte doch Christus seine Jünger ausgesandt, alle Völker zu lehren. Es kannte auch von vornherein keine Standesschranken. Christus hatte sich gerade an die ‚Mühseligen und Beladenen’ gewandt. Die ersten Bekenner des Christen- tums entstammen in der Masse den unteren Bevölkerungsschichten. Das Christentum war eine geistige Revolution ‚von unten’ die aber alsbald die Spitzen des gesellschaftlichen Aufbaus mit ergriff“59. Die christlich-stoischen Gedanken wurden im Mittelalter von Thomas von Aquin (1225 - 1274) fortentwickelt60. Weil Thomas von Aquin den Staat für eine moralische Größe hält, definiert er es als Mission des Staates, die Bür- ger zu einem fairen und tugendhaften Leben zu führen61. Die zentralen Vor- aussetzungen dafür sind die Aufrechterhaltung des Friedens und die Schaf- fung äußeren Wohlstandes62. Wie die Griechen der Antike begreift Thomas von Aquin den Menschen voll- ständig im Kontext der Gesellschaft und des Staates63. Mit der Definition des Aristoteles argumentiert Thomas immer wieder, dass „homo naturaliter ani- mal politicum est“. Darum solle das Handeln des Einzelnen auf das Gemein- wohl der Gesellschaft gerichtet werden64. Es sei unmöglich – behauptet Thomas – dass ein Mensch gut sein kann, wenn er nicht im rechten Bezug zum gemeinen Wohl stehe65. Die Philosophie der Innerlichkeit von Augustinus (354 - 430), stützt sich auf den christlichen Glauben. Durch Christus, die Heiligen Schriften und die Kir- 57 ebd. 58 ebd. 59 Störig 2002, 242 60 Vgl. Auprich 2000, 29 61 Vgl. Störig 2002, 285 ff. 62 ebd. 63 Vgl.Fenske 2003, 212 ff. 64 ebd. 65 Störig, 295 ff.
  • 14. 14 che wird den Menschen die göttliche Autorität vermittelt. Die Wahrheit der Heiligen Schriften ist unfehlbar, weil Gott selbst durch sie spricht. Die Kirche stellt den Menschen unter die Autorität Christi. Hinsichtlich dieser Autoritäten - Christus, Heilige Schriften, Kirche - ist jede ungläubige Überlegung unzu- lässig. Der Glaube wird vorausgesetzt, und die Vernunft folgt.66 Ein wichtiger Denker der Spätscholastik war Giovanni Pico della Mirandola (1463 - 1494). Pico hebt die Sonderstellung des Menschen in der Gestaltung des Alls hervor. Gott schafft den Menschen als Schöpfer seiner selbst und deswegen hat der Mensch die Freiheit, durch eigenes Tätigwerden in freier Selbstbestimmung sein Wesen selbst zu machen. Der Mensch kann alles sein, was er will, weil er von Geburt an zu jedweder Lebensform ausgestattet ist67. In Bezug auf das christliche Gedankengut kann man zusammenfassend sa- gen, dass die Gottähnlichkeit des Menschen der Grundsatz der christlichen Begründung der Menschenrechte ist, wie in der Bibel formuliert wird (1,26 Genesis). Als einer Schöpfung Gottes kommt dem Menschen eine unantast- bare Würde zu. Die von dieser Würde abgeleiteten Rechte gelten immer und überall, also unabhängig von Kulturen, Staatsformen oder politischen Syste- men. Die Konzeption des Menschen als Ebenbild Gottes impliziert die Gleichheit aller Menschen. Aus diesem Prinzip lässt sich folgern, dass allen Menschen die gleichen Rechte zukommen. In diesem Bezugspunkt stimmt das christliche Menschenbild sowohl mit den klassischen als auch mit den zeitgenössischen Menschenrechtserklärungen überein. Nach dem Mittelalter wurde die Würde der Menschen jedoch nicht mehr an dessen Gottebenbildlichkeit fixiert68. Die Epoche des Humanismus und der Aufklärung wurde durch die Leitbegriffe bestimmt, dass die Vernunft als We- sensmerkmal des Menschen allgemeingültige Maßstäbe für Gesellschaft und Politik repräsentiert und dass die Freiheit den Grundsatz des sozialen und politischen Handels darstellt69. 66 Vgl. Fenske 2003, 138 ff. 67 Vgl. Auprich 2000, 29 ff. 68 Quinton 1995, 327 69 Vgl. Störig 2002, 317 ff.
  • 15. 15 Durch den Humanismus im 16. Jahrhundert wurde der antike Stoizismus mit seiner Emphase der rationalen Natur des Menschen wiederbelebt70. Thomas Hobbes und John Locke trugen mit ihren Lehren zur Konzeption der Idee der Menschenrechte bei71. Für Thomas Hobbes (1588 - 1679) ist der Mensch grundsätzlich egoistisch, der nur nach dem eigenen Vorteil strebt. Im Naturzustand, in dem alle Indivi- duen bloß aus diesem Ziel handeln, herrscht der ununterbrochene Krieg. Aus diesen Umständen ergibt sich der Wunsch nach Sicherheit, und aus dem menschlichen Wunsch nach Sicherheit und Rechtsschutz kommt die überge- ordnete Gewalt des Staates zustande72. „Hobbes betont, dass der Mensch nur die Wahl zwischen zwei Übeln hat: dem Urzustand, das heißt völliger Anarchie; oder der restlosen Unterwerfung unter eine staatliche Ordnung.“73 Mit der „Zweiten Abhandlung über die Regierung“ (Second Treatise on Go- vernment, 1690) macht sich John Locke (1632 - 1704) Hoffnungen auf ein Gemeinwesen - den Staat als Verkörperung der politischen Gewalt - das nicht nur den Frieden gewährleistet, sondern auch auf den Interessen seiner Bürger und sozialem Wohlergehen beruht74. Locke legt Wert auf Gewaltenteilung und grundsätzlich auf „life, liberty und property“, welche als Grundsätze des zeitgenössischen Grund- und Menschenrechtskatalogs eingeordnet sind75. Zur Erklärung der Entstehung des Staates rekurriert auch Locke auf den Na- turzustand (state of nature) völliger Gleichheit (equality) und Freiheit (free- dom)76. Diese Freiheit entstammt dem Naturgesetz (law of nature), das den einzelnen zur eigenen Selbsterhaltung und zur Selbsterhaltung des Mitmen- schen verpflichtet77. Im Unterschied zu Hobbes wird der Mensch bereits im 70 ebd. 71 Vgl. Quinton 1995, 332 ff. 72 ebd. 73 Störig 2002, 334 74 Vgl. Quinton 1995, 341 ff. 75 ebd. 76 Vgl. Fenske 2003, 324 ff. 77 ebd.
  • 16. 16 Naturzustand Eigentümer und Agent einer Geldwirtschaft: Eigentum, Freiheit und Leben sind ewige und universelle Werte, die zum Naturrecht gehören78. Im Prinzip ist der Naturzustand friedliches Zusammenleben. Erst durch den Versuch, Gewalt über andere Menschen zu bekommen, entsteht der Kriegszustand. Dieser kann nur durch ein Staatswesen beendet werden, was lt. Hobbes zum Verlassen des Naturzustandes führt79. Zusammen mit David Hume (1711 - 1776) und Adam Ferguson (1723 - 1816) gehört Adam Smith (1723 - 1790) zu den wichtigsten Vertretern der „schottischen Moralphilosophie“80. Die Moralphilosophie der „schottischen Schule“ hat ihre Basis in einer Theorie von den Gefühlen, und sie lehnt alle Ansätze ab, die auf die Vernunft basieren81. Darüber hinaus versucht diese philosophische Strömung zu erklären, inwiefern egoistisch agierende Men- schen entgegen der überwiegenden humanistisch-altruistischen Ansicht zum Gemeinwohl beitragen können82. In seinem Werk „Theory of Moral Sentiments“ behauptet Smith, dass die Rol- le der Moralphilosophie darin besteht, sich den Voraussetzungen des menschlichen Glücks zu widmen83. Darin liegt eine Abgrenzung von der vor- herrschenden christlichen Ethik, die Moral mit Wahrheit und Begründbarkeit in Zusammenhang bringt84. Smith zufolge ist das Streben des Individuums nach Verbesserung seiner ökonomischen und sozialen Lage die ausschlaggebende Triebkraft der Sozi- alisation und der Entstehung von Wohlstand85. Um produktiv zu sein, muss jedoch der angeborene Egoismus - durch das ursprüngliche Sentiment der Sympathie für den Mitmenschen - bezwungen werden86. Die Sympathie stützt sich auf die Einbildungskraft, die es uns er- laubt, sich in die Lage anderer zu versetzen. Sympathie basiert auf die psy- 78 ebd. 79 ebd. 80 Vgl. Fenske, Geschichte der politischen Ideen, Frankfurt/Main 2003, S. 364 ff. 81 ebd. 82 ebd. 83 Vgl. Trapp, Adam Smith – politische Philosophie und politische Ökonomie, Göttingen 1987, 53 ff. 84 ebd. 85 ebd. 86 ebd., 65 ff.
  • 17. 17 chischen und sozialen Affekte unserer Mitmenschen87. Wir müssen Affekte und Interessen mit den Augen eines dritten Menschen betrachten: Aus der Basis von Sympathie und von unparteiischen Urteilen kann Pflichtgefühl ent- stehen, und zwar die Orientierung an Normen, die uns veranlasst, unsere egoistische Sentiments zu beherrschen88. Smith wurde zum Begründer der Theorie der Marktwirtschaft durch sein Meisterwerk „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“ (1776)89. In diesem Buch versucht Smith, die Grundlage des Fortschrittes der Nationen zu erklären, wobei er drei ausschlaggebende Elemente herausge- funden hat: Freiheit, Eigennutz und Wettbewerb. Fundament seiner Lehre sind nicht altruistische, sondern egoistisch agierende Individuen, die in ihrem natürlichen Verlangen nach Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse unab- sichtlich das Gemeinwohl fördern90. Smith gilt als Verfechter des Freihandels und Gegner von direkten Staatsein- griffen in Marktmechanismen. Dabei macht er jedoch einige Einschränkun- gen: Er behauptet, dass die entwickelte Marktwirtschaft erst in der Lage ist zu funktionieren, wenn die folgenden Staatsaufgaben richtig wahrgenommen werden: Verteidigung, innere Sicherheit, Justiz, Verkehrswesen, Bildung, Gesundheitswesen und die Verhinderung von Monopolen91. Die Theorie der Marktwirtschaft ist eng mit der Gesellschaftslehre des Libera- lismus verbunden: „Definitorisch ist unter Liberalismus jener politische Ideenkomplex zu verste- hen, der durch die Postulate der Selbstbestimmungsfähigkeit der Individuen durch Vernunft, der Individualfreiheit gegenüber dem Staat (Menschen- und Bürgerrechte), der Bändigung politischer Herrschaft durch Verfassung und der Selbstregulierung der Ökonomie durch Gesetzmäßigkeiten von Markt und Wettbewerb abgesteckt ist, in eine Evolutionsvorstellung geschichtlichen Fortschritts mündet und zumindest in der Entstehungs- und Blütezeit vom Bürgertum mit seinen Eigentums- und Erwerbsinteressen und seinen daraus erwachsenden Machtsansprüchen getragen wurde“92. 87 ebd. 88 ebd. 89 ebd., 181 ff. 90 ebd. 91 ebd. 92 Schiller, Liberalismus. In: Nohlen, (Hrsg.), Digitale Bibliothek Band 79: Lexikon der Politik, Berlin 2003, 727
  • 18. 18 Im „Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ rekonstruiert Jean-Jacques Rousseau eine theoretische Ur- geschichte der Menschengattung93. Am Anfang bestehe ein harmonischer Naturzustand, in dem der Natur- mensch glücklich sei und in dem es gar keine Ungleichheit gebe außer be- züglich Alter, Kraft, und Gesundheit. Durch eine Art „Schuld“ des Menschen entstehen aber das Eigentum, die bürgerliche Gesellschaft und der all das schützende Staat. Sowohl im Eigentum als auch im Staat liege das Grund- übel94. „Statt dem Menschen zu einem Beisichsein zu verhelfen, bringen Eigentum und Staat eine dreifache Ungleichheit und Entfremdung hervor: Sofern das Eigentum sich mit Gesetz und Recht umgibt, schafft es Reiche und Arme, sofern mit einer Obrigkeit, Herrschende und Beherrschte, und im Fall einer Willkür- und Gewaltherrschaft zusätzlich Herren und Sklaven“.95 In „Vom Gesellschaftsvertrag“ schlägt Rousseau einen politisch- gesellschaftlichen und einen individuellen Ausweg vor, und zwar die Grün- dung einer Gesellschaft mit einem „Staatswesen, das seine Macht von vorn- herein an die Freiheit der Bürger bindet“96 und die Heilung des Individuums durch Erziehung und die Wiedergewinnung der Naturnähe. Eine ausschlaggebende Zäsur in der Entfaltung der Menschenrechtskonzep- tion repräsentieren die amerikanischen Menschenrechtserklärungen des achtzehnten Jahrhunderts, die erstmals eine logisch verfasste Kodifizierung von Menschenrechten und Grundfreiheiten umfassen und wonach die Erhe- bung des Naturrechts zum Gesetzesrecht erreicht wurde97. Die wirtschaftliche und politische Freiheitsbewegung in Amerika wendete sich hauptsächlich gegen die Übergriffe der englischen Herrschaft98. Die 93 Vgl. Höffe 2001, 178 ff. 94 ebd. 95 ebd., 180 96 ebd., 182 97 Vgl. Fenske 2003, 366 ff. 98 ebd.
  • 19. 19 amerikanischen Menschenrechtserklärungen haben den Menschenrechts- schutz als Staatszweck proklamiert99. Die französische Menschenrechtserklärung von 1789 richtete sich an den Staat und hob hervor, dass „die Unkenntnis, das Vergessen oder die Miss- achtung der Rechte des Menschen die alleinigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und der Verderbtheit der Regierungen sind“.100 Das Gedankengut der französischen und amerikanischen Erklärungen präg- ten die deutsche Naturrechtslehre und vor allem die Vernunftrechtslehre von Immanuel Kant101. Immanuel Kant (1724 – 1804) gründete den Wert und die Würde des Menschen auf dessen Selbstbewusstsein, Freiheit, Moralität und Vernunft102. Beim Kategorischen Imperativ geht es um die Frage, was der Mensch tun soll103. Alle Dinge sind käuflich. Nur der Mensch hat Würde, nämlich einen Wert jen- seits aller Nützlichkeit. Der Mensch verdient als Mensch und nicht aufgrund von Leistungen Wertschätzung104. Alle Menschen sollen darum so miteinan- der umgehen, dass sie ihrer aller Würde nicht verletzen. Sie sollen sich nicht als Mittel gebrauchen und auch nicht gebrauchen lassen. Kein Mensch darf einen anderen Menschen instrumentalisieren. Die Anerkennung der Persön- lichkeit eines jeden Menschen ist allen Zwecken übergeordnet105. Eine Fas- sung von Kants Sittengesetz lautet: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Per- son eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“ 106 Dieses Sittengesetz bezeichnet Kant als den „kategorischen Imperativ“, weil es die Form eines Befehls hat und weil dieser Befehl ohne Ausnahme gilt. 99 ebd. 100 Oestreich 1968, 69 101 Vgl. Höffe 2001, 189 ff. 102 Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, Berlin 1968, 76 103 Vgl. Höffe 2001, 189 ff. 104 ebd. 105 ebd. 106 Höffe 2001, 198
  • 20. 20 Das Sittengesetz ist kein religiöses Gebot, sondern vielmehr das Gesetz der Vernunft selbst107. Bei Kant bilden die Freiheit, die Gleichheit und die Selbständigkeit des Men- schen Grundsätze jeder Gesetzgebung108. Auf der Grundlage eines Ethos der Menschenwürde verlangt Kant, dass das Recht der Menschen „heilig gehalten werden müsse, mag es der herrschenden Gewalt auch noch so große Aufopferung kosten“109. Bisher kann man zusammenfassend behaupten, dass die Menschenrechte im modernen Sinn durch die Aufklärung und deren Ansätze vom Gesell- schaftsvertrag begründet wurden. Ein Grundsatz der aufklärerischen Staats- lehre postuliert, dass der Mensch durch einen Vertrag aus einem gesetzlo- sen Urzustand in eine Rechtsordnung übergeht. Eine Besonderheit dieser Rechtsordnung besteht darin, dass sie nicht als Selbstzweck betrachtet wird, sondern ausschließlich dazu da ist, die Rechte der Menschen zu garantieren. Die klassische aufklärerische Staatslehre (auch Vertragstheorie bzw. Kon- traktualismus genannt) hat gemeinsame Grundelemente. Der Vertrag des Kontraktualismus ist kein historischer Vorfall, sondern ein legitimationstheo- retisches Gedankengebäude, das verschiedene Werte wie etwa politische Gewalt, Eigentum, Freiheit und Geldwirtschaft rechtfertigen will110. Darum ist der Kontraktualismus der Aufklärung keine deskriptive Theorie, sondern eine normative Theorie, die eine Begründung politischer und sozialer Herrschaft entwickelt111. Der Höhepunkt der Aufklärungsphilosophie wird vom kanti- schen Vernunftrecht dargestellt, wobei die Vernunft die Grundlage der Men- schenrechte ist112. Ansatzpunkt ihrer Begründung ist bei Kant das vorstaatli- che Recht der Freiheit, das sich aus dem Wesen des Menschen ergibt. Die Freiheit ist der ursprüngliche Anspruch, der als Kern des Rechtswesens gilt. 107 ebd. 108 Vgl. Oestreich 1968, 77 109 ebd. 110 Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1653 ff. 111 ebd. 112 ebd., 1658
  • 21. 21 Weil sie allen Menschen in gleichem Maß zusteht, umfasst sie genauso der Grundsatz der Gleichheit113. Der naturrechtliche Gedanke des vernünftigen Menschen hat inzwischen das Menschenbild verändert und die aufklärerische Grundvorstellung der subjek- tiven Rechte wurde allmählich in den liberalen Ordnungen durchgesetzt114. Durch die industrielle Revolution in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verschlimmern sich die Lebensbedingungen des Proletariats dadurch, dass die entstandenen Arbeiterbewegungen – durch den Kampf gegen die bürger- lich-liberalen und individualistischen Rechte – zum Aufstieg der sozialen Menschenrechte führen115. Aufgrund des Totalitarismus im 20. Jahrhundert musste die Konzeption der Menschenrechte noch einmal gewandelt werden116. In der internationalen Gemeinschaft fand eine angespannte Auseinanderset- zung bezüglich der Menschenrechte statt, die u. a. wegen Roosevelts These der vier Grundfreiheiten – freedom of speech and expression, freedom of every person to worship God in his own way, freedom from want und free- dom from fear - zur Errichtung der Vereinten Nationen und zur Verabschie- dung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte führten117. „In the future days, which we seek to make secure, we look forward to a world founded upon four essential human freedoms. The first is freedom of speech and expression - everywhere in the world. The second is freedom of every person to worship God in his own way – eve- rywhere in the world. The third is freedom from want – wich, translated into world terms, means economic understandings wich will secure to every nation a healthy peace- time life for its inhabitants – everywhere in the world. The fourth is freedom from fear – wich, translated into world term, means a worldwide reduction of armaments to such a point and in such a thorough fashion that no nation will be in a position to commit an act of physical ag- gression against any neighbor – anywhere in the world. 113 ebd., 1659 114 Vgl. Oestreich 1968, 100 ff. 115 ebd., 105 116 Vgl. Fenske 2003, 499 ff. 117 ebd.
  • 22. 22 That is no vision of a distant millennium. It is a definite basis for a kind of world attainable in our time and generation.(…) To that injust order we op- pose the greater conception - the moral order.”118 Das wichtige an diesen vier Freiheiten ist, dass sie über die Grenzen des Nationalstaats hinweg gedacht werden119. Jeder Mensch, egal welcher Reli- gion, Nationalität, Abstammung oder Hautfarbe, soll in den Genuss dieser Rechte kommen120. Die dritte Freiheit – die Freiheit von Mangel und Not, überall auf der Welt ist bedeutsam, weil Roosevelt damit ausspricht, dass es zentrale Aufgabe so- wohl staatlicher als auch supranationaler Instanzen sein muss, entschlossen die Grundbedürfnisse der Menschen zu befriedigen und deren Lebensbedin- gungen zu verbessern121. Roosevelt ist damit weit von der libertären Position entfernt, die solche Maßnahmen als moralisch illegitim betrachtet, weil sie aus ihrer Sicht Eingriffe in die Freiheit bedeuten122. Aufgrund der Verschlechterung der Weltprobleme wuchs die Forderung nach effizienterer internationaler Zusammenarbeit123. Auf diese Art und Weise entstanden der Internationale Pakt über bürgerlich- politische Rechte (IPbpR) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR), beide 1966 verabschiedet, sowie eine umfangreiche Vielfalt weiterer Konventionen und Abkommen124. Schließlich nahmen die meisten Länder der Welt die Grund- und Menschen- rechte in ihre Verfassungen auf, und andere Menschenrechtserklärungen wurden im weiteren Verlauf auf regionaler Ebene verabschiedet: 1950 für Europa, 1969 für Amerika, 1981 für Afrika und 1990 für die islamische Welt125. 118 www.wwnorton.com/college/history/ralph/workbook/ralprs36b.htm 119 www.phil.euv.frankfurt-o.de/download/2004WS/PolitischePhilosophie/Kapitel09.pdf 120 ebd. 121 ebd. 122 ebd. 123 Vgl. Delbrück, Menschenrechte/Menschenrechtspolitik, 2003, 7080 ff. 124 ebd. 125 ebd.
  • 23. 23 Es ist immer noch umstritten, ob die Geschichte der Grund- und Menschen- rechte in der Antike beginnt, aber es gibt Gründe, über Antike und Men- schenrechte nachzudenken, weil das wesentliche Element der Idee der Men- schenrechte, nämlich die Vorstellung von Gleichberechtigung und Gemein- wohl, bis in die Antike zurückverfolgt werden kann126. Von diesem Ausgangspunkt her präsentiert Wolfgang Schmale eine kurz ge- fasste Geschichte der Menschenrechte: „Ein ideeller Entwicklungsstrang beginnt zweifellos in der Antike, spätestens mit der Naturrechtslehre der Stoa und der späteren Rezeption durch die Christen. Es folgten: ein neuer Sprung mit der Durchsetzung der Idee von der Glaubensfreiheit im 16. Jahrhundert; die politischen bürgerlichen Revolu- tionen in den Niederlanden, England, Amerika und Frankreich vom 16. bis 18. Jahrhundert; damit eng verbunden die umfassende Naturrechts- und Menschenrechtslehre der Aufklärung; Kodifizierung der Menschenrechte als Menschenrechte als Menschenrechte oder auch Grundrechte in Verfassun- gen und Rechtserklärungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert; ‚Export’ von Europa in die Welt; Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Ver- einten Nationen vom 10. Dezember 1948, usw. Weitere Entwicklungsstränge sind mit bestimmten geographischen Räumen, z. T. mit einzelnen Staaten, einhergehend mit der Manifestierung einer nationalen Identität, direkt ver- bunden. Andere Entwicklungsstränge sind nur regionalgeschichtlich be- stimmbar. Und immer wieder entfalteten einzelne Persönlichkeiten makrohis- torische Wirkungen“.127 1.2. Begründungsstrategien der Menschenrechte Mit der Verabschiedung des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, sozia- le und kulturelle Rechte 1966 wird das Recht auf angemessene Ernährung als universelles Menschenrecht anerkannt. Aber wie lässt sich das Recht auf angemessene Ernährung im Rahmen der Menschenrechte begründen? Hierbei spielen die Begründungsstrategien eine zentrale Rolle, weil sie einen strukturierten Komplex wissenschaftlicher Grundsätze bilden, womit die theo- retische Rechtfertigung von Menschenrechten möglich ist128. 126 Vgl. Stourzh 2000,5 127 www.univie.ac.at/igl.geschichte/ws2001-2002/ringvo_ws2002_schmale.htm 128 Vgl. Nohlen, Begründungszusammenhang, 2003, 8066
  • 24. 24 Ob sich die Menschenrechte in überzeugender Weise begründen lassen, ist ausschlaggebend dafür, dass das Recht auf Nahrung als Menschenrecht plausibel gemacht wird. Ihre Begründbarkeit ist deshalb eine unerlässliche Vorbedingung seiner Darstellung. Für eine Begründung der Menschenrechte sind grundsätzlich schlaglichtartig zwei Theorien zu benennen: die Diskurstheorie und die Vertragstheorie. 1.2.1. Die Diskurstheorie Kernthese der Diskurstheorie ist, dass ethische Fragen und damit auch die Frage der Gerechtigkeit durch praktische Vernunft beantwortet werden kön- nen. Unter praktischer Vernunft versteht man die menschliche Fähigkeit der Anleitung und Bestimmung des Willens. Kant bestimmt die praktische Ver- nunft als das Vermögen, allgemeine ethischen Prinzipien aufzustellen, nach denen der Wille die Handlungen ausrichten soll129. Darum stützt sich diese These auf die Tradition der kantischen Ethik und wird grundsätzlich von Jür- gen Habermas und Robert Alexy vertreten130. Unter Diskursethik wird derjenige Teil der Diskurstheorie verstanden, der sich mit praktischen – und folglich ethischen und juristischen in Abweichung von theoretischen – Fragen beschäftigt131. Die Diskursethiker interpretieren die Vernunft auf der Grundlage der Sprach- und Verständigungskompetenzen: die Vernunft ist nur im Rahmen der Spra- che begrifflich, wobei die Verständigung ein essentielles Element jeder Rede ist132. Unter dieser Bedingung entwickelt die Diskursethik ein Modell, dessen explizite normative Bestimmungen aus impliziten normativen Kommunikati- onsvoraussetzungen abgeleitet werden133. Die Diskursethik besagt, dass die Menschenrechte als Normen mit universel- ler normativer Wirksamkeit durch ein bestimmtes Verfahren begründet wer- 129 Vgl. Brieskorn 1997, 154 ff. 130 ebd. 131 Vgl. Kersting, Diskurstheorie, 2003, 143 ff. 132 ebd., 145 133 ebd.
  • 25. 25 den können134. Als eine Theorie des Verfahrens der vernünftigen Begrün- dung von Wert- und Verpflichtungsurteilen ist sie darauf gerichtet, ein System von Diskursregeln zu erarbeiten. Damit wird sie als prozedurale Gerechtig- keitstheorie gekennzeichnet135. Diesem Ansatz nach besteht zwischen Legitimität und Wahrheit ein innerer Nexus136. Der feste Glaube der Menschen an die Geltung ihrer Normen weist einen innewohnenden Wahrheitsbezug auf137. Die Legitimationsüberzeugun- gen implizieren den Anspruch universaler und rationaler Wirksamkeit, und darum sind sie zu überprüfen138. Ausgangspunkt der prozeduralen Legitima- tions- und Normenbegründung ist der ideale Diskurs als Legitimationsin- stanz. Habermas definiert Diskurs als „die argumentative, dialogisch konzipierte und methodisch reflektierte Form des über die vernünftige Rede vermittelten be- grifflichen Denkens“139, wonach die üblichen Legitimationskriterien wie bei- spielsweise Gott, Natur oder Tradition durch die formalen Prozeduren des Konsens (als vernünftige Einigung gleichberechtigter Menschen verstanden) ersetzt werden. Und zwar muss der Konsens, der keine faktische Einigung darstellt, den Regeln des idealen Diskurses entsprechen140. Diskursregeln sind jedoch Rederegeln, während Menschenrechte Normen im Rahmen des Handelns darstellen.141 „Ein direkter Schluss von den Diskursregeln auf die Menschenrechte ist nicht möglich. Die Diskursregeln sind nur Rederegeln. Sie einzuhalten, bedeutet lediglich, den anderen im Diskurs als gleichberechtigten Partner zu behan- deln. Daraus folgt noch nicht, dass der andere schlechthin, also auch im Be- reich des Handelns, als Person anerkannt werden muss. Aus einer sprach- pragmatischen Anerkennung folgt noch keine moralische oder rechtliche An- erkennung“142. 134 Vgl. Hinkmann 2002, 81 135 ebd. 136 Vgl. Rötgers 1995, 146 137 ebd. 138 Kersting, Diskurstheorie, 2003, 143 139 Kraemer 1995, 145 140 Vgl. Kersting, Diskurstheorie, 2003, 143 141 Hinkmann 2002, 84 142 Alexy, zit. aus Hinkmann 2002, 85
  • 26. 26 Deshalb unterscheidet Alexy zwischen einer diskurstheoretischen Rechtferti- gung der Diskursregeln und einer Rechtfertigung der Menschenrechte143. Die Regeln des idealen Diskurses, die auch bei der Begründung der Men- schenrechte eine zentrale Rolle spielen, lauten: (1) Jeder darf bei Reden mitmachen; (2) Jeder darf an jeder Äußerung zweifeln, (3) Kein Mitsprecher darf daran gehindert werden, die vorhergehenden Rechte wahrzunehmen144. Alexy versucht diese Diskursregeln als objektiv geltende Regeln zu begrün- den145. Seine Beweisführung setzt sich aus drei Elementen zusammen: ei- nem transzendentalen bzw. transzendentalpragmatischen Element, einer anthropologischen These, wonach das Menschenbild des Nutzenmaximie- rers vorausgesetzt ist, und der empirischen Prämisse, wonach der Mensch mit einem Interesse an Richtigkeit ausgestattet ist146. Das transzendentale Argument besagt, dass Freiheit und Gleichheit der Mit- sprecher Voraussetzungen des Sprechaktes der Behauptung sind147. Be- hauptungen sind unerlässliche Bestandteile der allgemeinsten Lebensform der Menschen148. Um einen Sprachakt als Behauptung betrachten zu kön- nen, muss er mit einem Anspruch auf Richtigkeit verbunden sein. D. h., wer etwas behauptet, erhebt einen Anspruch auf Richtigkeit und deswegen auf Begründbarkeit149. Aus dem Anspruch auf Begründbarkeit folgt die Pflicht des Behauptenden, das Behauptete auf Verlangen zu begründen150. Wer etwas begründet, gibt vor, den anderen als gleichberechtigten Begründungs- partner zu akzeptieren151. Wer sein ganzes Leben lang keine Behauptung 143 ebd. 144 Vgl. Edinger 2000, 20 145 Vgl. Hinkmann 2002, 86 146 ebd. 147 ebd., 87 148 ebd. 149 ebd. 150 ebd., 88 151 ebd.
  • 27. 27 aufstellt und keine Begründung gibt, nimmt nicht an der allgemeinsten Lebensform des Menschen teil152. Mit der Konzeption der allgemeinsten Lebensform meint Alexy, dass die not- wendigen Bedingungen des Sprechaktes der Behauptung allen menschli- chen Lebensformen gemeinsam sind. D. h., jede menschliche Lebensform hat das Potential und eine gewisse Praxis, verschiedene Interessenkonflikte argumentativ zu lösen, auch wenn das nicht in jedem Fall geschieht153. Mit der empirische Prämisse des Interesses an Richtigkeit meint Alexy, dass der Mensch mit einem sozial wirksamen Interesse an Richtigkeit bzw. Wahr- heit ausgestattet ist, und damit aus moralischer Überzeugung in jeder Kon- fliktsituation argumentiert, um zu einer richtigen Lösung zu gelangen154. Mit der individuellen Nutzenmaximierung meint Alexy, dass ein Konfliktver- halten, das auf ökonomischer Vernunft basiert, Grundlage der Entfaltung je- ner praktischen Vernunft ist, die mit Unterstützung der Diskursregeln reali- siert werden soll155. Die Begründung der Menschenrechte bzw. die Transposition der Argumenta- tions- und Kommunikationsvoraussetzungen (Bereich des Diskurses) für den Bereich der Menschenrechte (Bereich des Handelns) erfolgt durch drei interdependente Thesen: der Autonomie, des Konsens und der Demokratie156. Die Autonomiethese besagt, dass jeder Diskursteilnehmer, die Autonomie seiner Gesprächpartner als gegeben annimmt, was die Leugnung einiger Menschenrechte ausschließt157. Die Konsensthese verbindet die Rechtmäßigkeit der Normen mit der hypo- thetischen globalen Zustimmung des idealen Diskurses und rechtfertigt grundsätzlich die Gleichheit der Diskursteilnehmer158. Die Demokratiethese besagt, dass nur durch demokratische Prozesse die Diskursregeln und damit 152 ebd. 153 ebd., 90 154 Vgl. Brieskorn 1997, 158 155 ebd. 156 Vgl. Hinkmann 2002, 87 157 ebd. 158 ebd.
  • 28. 28 auch die Menschenrechte in der Praxis sinnvoll umgesetzt werden kön- nen159. Habermas behauptet jedoch, dass Menschenrechte nur innerhalb des positi- ven Rechts innerhalb eines Nationalstaates durchsetzt und sanktioniert wer- den können160. Alexy bekräftigt schließlich diese Sichtweise und weist darauf hin, dass Men- schenrechte nur dann ordentlich verwirklicht werden können, wenn sie in po- sitives Recht transformiert und in Bürgerrechte umgewandelt werden161. 1.2.2. Vertragstheorien bzw. Kontraktualismusansätze Die Vertragstheorien umfassen Ansätze, die die Sozialordnung, die Verfas- sung und den Staat begründen, in Analogie zu mehrseitigen Rechtsgeschäf- ten mit wechselseitigem Vorteil162. Staatsformen und Normen werden als begründet betrachtet, wenn sie durch die Normerzeugung die Billigung aller Betroffenen erwerben163. Die Vertragsüberlegung ist seit dem Altertum - durch das sophistische Ge- sellschaftsverständnis –, dem Mittelalter – durch den Herrschaftsvertrag – und der Neuzeit – durch das Vertragskonzept – nachweisbar164. Vertragstheorien finden sich bei Thomas Hobbes, John Locke, Jean Jacques Rousseau und Immanuel Kant165. Die Vertragstheorien gehen davon aus, dass in einem fiktiv vorstaatlichen Naturzustand alle Menschen zugleich gleich und frei sind, aber angesichts der allgemeinen Unsicherheitssituation entstehen die Vertragsverhandlungen166. Die zweckmäßige Rationalität der Vertragspartner bestimmt die Verfahrensweise und das Ergebnis der Ver- tragsverhandlungen167. 159 ebd. 160 ebd., 93 161 ebd. 162 Vgl. Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1660 163 ebd. 164 Vgl. Rieger, Vertragstheorien, 2003, 9986 165 ebd. 166 ebd., 1987 167 ebd.
  • 29. 29 „Erst im Zuge der Ablösung der mittelalterlichen Naturrechtsteleologie und Ordo-Spekulation durch einen methodologischen und normativen Individua- lismus ist ein konstruktiver Kontraktualismus entstanden, der mit seinem Ar- gumentationsdreischritt: anarchischer Naturzustand – Vertrag – Gesell- schaft/Staat das Denken der politischen Philosophen und Naturrechtsjuristen des 17. und 18. Jh.s durchgängig bestimmt hat, der aber auch in der politi- schen Philosophie der Gegenart als Rechtfertigungstheorie des philosophi- schen Liberalismus große und systematische Bedeutung erlangt und mit sei- nen begründungstheoretischen Vorstellungen selbst in der zeitgenössischen Moralphilosophie Fuß gefasst hat.“168 Der Vertrag des Kontraktualismus ist bei den Philosophen der Neuzeit kein historisches Geschehnis, sondern eher ein Gedankengebäude169. Der Kon- traktualismus ist deswegen keine deskriptive Lehre, durch die historische Verfahren erklärt werden, sondern ein normativer Ansatz, der eine Begrün- dung politischer Gewalt formuliert170. Bei den Denkern der Neuzeit ist die politische Gewalt grundsätzlich begründungsbedürftig171. Die Legitimations- instanz ist dieser Theorie nach weder Gott noch die Natur, noch die Traditi- on, sondern eher der freie und rationale Mensch: nur auf seinen rationalen Willen kann die politische Gewalt begründet werden172. „Aus vertragstheoretischer Perspektive ist der Mensch kein politisches Le- bewesen aristotelischen Zuschnitts mehr, dem die politisch- gemeinschaftliche Existenzform in die natürliche Wesensverfassung einge- schrieben wäre, sondern ein atomar-vereinzeltes, eigeninteressiertes Indivi- duum“173. Um die Herrschaftslegitimation zu erklären, entwickelt die Vertragstheorie den Naturzustandsgrundsatz, indem alle staatlichen Leistungen fehlen und jedermann nur seine Vorteile anstrebt, was zu Situationen bis hin zu einem Bürgerkrieg führt174. Die einzige Möglichkeit, dieser chaotischen Situation zu entkommen, besteht darin, dass man auf die absolute Freiheit verzichten und eine gemeinschaftliche Koexistenz errichten muss175. 168 Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1653 169 Vgl. Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1654 170 ebd. 171 ebd. 172 ebd. 173 ebd. 174 ebd., 1655 175 ebd.
  • 30. 30 Die individuelle Freiheitseinschränkung, die zur Etablierung der staatlichen Ordnung erforderlich ist, wird nur unter der Rationalitätskondition der Re- ziprozität begründet176. Der Staat ist also nur auf der Grundlage eines Ver- trages durchführbar, wonach die Menschen sich gegenseitig zum Verzicht der individuellen Freiheit und zur politischen Unterordnung verpflichten177. Eine Wiederbelebung der Vertragstheorie in der Gegenwart startet mit der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, deren Gegenstand die soziale Gerechtigkeit ist.178 Rawls erschafft den Naturzustand mittels des „Schleiers des Nichtwissens“ als ein fiktives Gedankentheorem, wodurch das Indivi- duum in einer fairen Situation als gleichzeitig gleich und frei betrachtet wird179. In diesem Kontext gilt die Kooperation der rationalen Vertragspartner als vor- teilhaft, jedoch will jeder sich zugleich eine möglichst großen Beteiligung an Ressourcen sichern180. Unter diesen Umständen entstehen zwei Vertei- lungsprinzipien, die darin bestehen, dass einerseits allen Bürgern die glei- chen politischen und zivilen Freiheitsrechte zustehen und andererseits, dass die sozio-ökonomischen Ungleichheiten nur zumutbar sind, insoweit sie in einer Ordnung fairer Chancengleichheit auch den am wenigsten Begünstig- ten zugute kommen181. Elemente des ersten Prinzips sind: • politisch-rechtliche Gleichheit und • Maximierung der individuellen Freiheit182. Durch den ersten Grundsatz lassen sich grundlegende bürgerlich-politische Menschenrechte begründen183. Rawls nennt unter anderem das Wahlrecht, das Recht auf Eigentum, die Rede- und Versammlungsfreiheit, die Gewis- 176 Vgl. Rieger, Vertragstheorien, 2003, 9988 177 ebd. 178 Vgl. Kersting, Vertragstheorien 2003, 1659 179 ebd. 180 Vgl. Kühn 1984, 18 181 Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1662 182 ebd. 183 Edinger 2000, 18
  • 31. 31 sens- und Gedankenfreiheit, die Freiheit der Person und das Recht auf Schutz vor willkürlicher Inhaftierung184. Dem gegenüber stehen die Elemente des zweiten Prinzips: • Chancengleichheit nicht nur als formale Chancengleichheit (in Form gleicher gesetzlichen Rechte auf vorteilhafte soziale Positionen), sondern auch als faire Chancen (Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten sollten ähnliche Lebenschancen haben) betrachtet185. • Das Differenzprinzip heißt, dass Ungleichheiten nur dann gerechtfer- tigt sind, wenn sie auch den am schlechtesten gestellten Mensch zum Vorteil gereichen. Durch dieses Prinzip wird die Pareto-Optimalität bzw. das Nut- zenprinzip des Utilitarismus ersetzt186. Ein Zustand ist pareto-optimal, „bei dem (...) das Wohlergehen eines (...) Gesellschaftsmitglieds nicht erhöht werden kann, ohne daß dadurch mindestens ein anderes Individuum eine Einbuße erleidet.“187 Aus diesem zweiten Grundsatz heraus werden einige soziale Menschenrech- te begründet188. Zwischen den Grundsätzen besteht, so Rawls, eine klare Rangfolge, nach der das Verteilungsprinzip des zweiten Grundsatzes der gleichen Freiheit aller nachgeordnet ist189. Folglich muss sich daraus ein Primat der bürgerlich-politischen vor den sozialen Menschenrechten erge- ben190. Menschen im Urzustand entscheiden sich aus folgenden Gründen für die beiden Gerechtigkeitsprinzipien191: • Durch das erste Prinzip wird das Grundgut der Freiheit für alle 184 ebd. 185 Vgl. Kühn 1984, 24 186 ebd. 187 Fuchs-Heinritz/Lautmann 1995, 487 188 Edinger 2000, 19 189 ebd. 190 ebd. 191 Kühn 1984, 22 ff.
  • 32. 32 gesichert • Sicherstellung der Annehmbarkeit der schlechtest möglichen Position • Allgemeine Anerkennung, weil jeder Vorteile daraus zieht, damit auch Stabilität des Systems • Förderung der Selbstachtung, weil jeder Mensch als Selbstzweck, und nicht (wie beim Utilitarismus) als Mittel gesehen wird. Weil Rawls Theorie der Gerechtigkeit nur auf das innergesellschaftliche Insti- tutionssystem bezogen ist, hat Rawls seine Theorie auf die zwischenstaatli- che Ebene gedehnt und damit nicht nur die Menschenrechte als verfas- sungsrechtliche Grundrechte, sondern auch als Komponente des Völker- rechts zu begründen versucht192. Dieses Ziel verfolgt Rawls in „The Law of Peoples“, der überarbeiteten Fas- sung einer Amnesty-International-Vorlesung aus dem Jahr 1993193. In die- sem Werk erweitert Rawls sein Urzustandsmodell nicht im Sinne eines Indi- vidualismus auf die globale Ebene mit der Folge, einen universalen Umverteilungsgrundsatz zugunsten der schlechtest gestellten Menschen zu verlangen; er formuliert vielmehr einen Prozess in zwei Ebenen, wobei jedes Volk für sich faire Regeln entsprechend den Grundsätzen der Theorie der Gerechtigkeit einrichtet194. Anschließend etablieren die Völker gemeinsame Prinzipien, um miteinander umzugehen: „(1) Peoples are free and independent, and their freedom and independence are to be respected by other peoples; (2) Peoples are to observe treaties and undertakings; (3) Peoples are equal and are parties to the agreements that bind them; (4) Peoples are to observe a duty of non-intervention; (5) Peoples have the right of self-defense but no right to instigate war for reasons other than self-defense; (6) Peoples are to honor human rights; (7) Peoples are to observ certain specific restrictions in the conduct of war; (8) Peoples have a duty to assist other peoples living under unfavorable conditions that prevent their having a just or decent political and social regime“.195 192 Vgl. Hinkmann 2002, 185 193 ebd. 194 ebd., 186 195 Rawls 1999, 37, zit. nach: Hinkmann 2002, 191
  • 33. 33 Die acht Grundsätze der gerechten Gemeinschaftlichkeit werden zunächst in liberalen Demokratien konstitutionell entwickelt, aber sie müssen – als Prin- zipien für deren Außenpolitik - für „anständige“ Völker gebilligt werden, damit sie rechtsverbindlich sind196. Diese acht gewissen Grund- und Menschen- rechte, behandeln ihre Bürger als kompetente und kooperationsfähige Mit- glieder der sozialen Ordnung, ihr Rechtssystem wird von einer gemeinsamen Vorstellung der Gerechtigkeit inspiriert, und sie sind nicht aggressiv gegen andere Staaten197. Rawls Grundsätze der internationalen Gemeinschaftlichkeit wird auch kriti- siert, weil trotz des Verweises auf die Achtung der Menschenrechte der sechste Grundsatz nur rudimentär formuliert ist198. Trotzdem betont Rawls, dass die Einhaltung der bürgerlich-politischen Rech- te die Erfüllung bestimmter Verwirklichungsbedingungen verlangt, denn wenn den Mitgliedern einer politischen Gesellschaft nicht die nötigen Grundgüter zur Verfügung gestellt werden, um ihnen einen effektiven Genuss ihrer Grundfreiheiten zu ermöglichen, sind diese wert- und nutzlos199. Tatsächlich ist für einen verhungernden Menschen ein Anspruch auf Aner- kennung als Rechtsperson nicht viel wert: Ohne faire Nahrungsversorgung, Ausbildungsmöglichkeiten, eine gerechte Einkommensverteilung, eine fun- damentale öffentliche Gesundheitsvorsorge und sogar eine angemessene Arbeitsmarktpolitik, sind die liberalen bürgerlich-politische Rechte für viele Mitglieder einer politischen Gemeinschaft unwirksam200. 1.3. Der Menschenrechtsbegriff Dass das Recht auf angemessene Ernährung als Menschenrecht anerkannt wird, ist unbestritten, aber wie kann man ein Menschenrecht definieren? In 196 ebd., 192 197 ebd. 198 ebd. 199 ebd., 193 200 ebd.
  • 34. 34 ihrem naturrechtlichen Signifikat werden Menschenrechte als unantastbare, unveräußerliche und überstaatliche Rechte des Menschen bezeichnet, die ihm allein aufgrund seiner Menschenwürde zustehen201. „Menschenrechte im strengen Sinn des Wortes können nur Rechte sein, die dem Menschen als solchem kraft seines Wesens als Träger höchster geisti- ger und sittlicher Werte zukommen. Sie müssen also als vorstaatlich gege- bene Rechte bestehen und können durch Positivierung in der staatlichen o- der zwischenstaatlichen Rechtsordnung nur anerkannt und umschrieben, nicht verliehen werden“202. Aus dieser Begriffsbestimmung werden drei Elemente abgeleitet: Vorstaat- lichkeit, naturrechtliche Grundlegung und Individualbezug der Menschen- rechte203. Es wird hervorgehoben, dass Menschenrechte unabhängig von staatlicher Anerkennung vorhanden sind: obwohl durch den Fakt der Positi- vierung Menschenrechte anerkannt und umschrieben werden, ist die Positi- vierung dieser Rechte nicht unbedingt erforderlich für ihre Existenz204. Damit werden sie einerseits aus der gelegentlichen Willkür des Gesetzgebers he- rausgezogen, und andererseits können sie operationalisiert werden205. Ein Kardinalproblem, das bei der Auseinandersetzung der Menschenrechte eine große Rolle spielt, ist die tatsächliche Verwirrung der Grund-, Bürger- und Menschenrechtsdefinition206. Ausgangspunkt der Erläuterung ist die Be- trachtung der Menschenrechte als Oberbegriff, wobei Grundrechte Men- schenrechte in eine Verfassung übergesetzt sind, denn sie werden in einer Rechtsform verankert und konkretisiert207. Bürgerrechte sind andererseits eine besondere Ausprägung der Grundrechte, die nur den Bürgern eines be- stimmten Staates zustehen208. 201 Vgl. Brieskorn 1997, 17 202 Friesenhan 1961, 504 203 ebd. 204 ebd., 505 205 ebd. 206 Vgl. Fritzsche, Menschenrechte, Paderborn 2004, 22 207 ebd. 208 ebd.
  • 35. 35 2. Der Grundgedanke eines Rechts auf Nahrung Das Recht auf angemessene Nahrung ist ein grundlegendes Menschenrecht, das allen Menschen auf der Welt zusteht209. Dieses Recht basiert auf der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Men- schenrechte und ist in zahlreichen internationalen Instrumenten bestätigt worden. Das Recht auf Nahrung ist durch den Internationalen Pakt über wirt- schaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 – den sog. Sozialpakt der Vereinten Nationen - völkerrechtlich verbindlich210. Das Recht auf Nahrung wird als Recht aller Menschen auf Zugang zu pro- duktiven Ressourcen definiert. Beim Recht auf Nahrung handelt es sich nicht hauptsächlich darum, mit Nahrungsmitteln versorgt zu werden, sondern viel- mehr darum, Menschen die Chance zu ermöglichen, sich selbst zu versor- gen. Der Staat soll dafür geeignete Rahmenbedingungen gestalten, die es den Menschen erlaubt, sich selbst zu ernähren211. Die Erklärung über Fortschritt und Soziale Entwicklung von 1969 betont, dass es eine Verpflichtung der Staaten ist, „Hunger und Unternährung zu beseitigen und das Recht auf angemessene Ernährung zu gewährleisten“212. Die Allgemeine Erklärung zur endgültigen Beseitigung von Hunger und Man- gelernährung von 1974 weist darauf hin, dass jeder Mensch „das unveräu- ßerliche Recht darauf hat, von Hunger und Mangelernährung befreit zu wer- den, um sich frei entfalten und seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten erhalten zu können“213, und sie betrachtet zugleich, dass die internationale Gemeinschaft bereits über die erforderlichen Ressourcen verfügt und demzu- folge in der Lage ist, die angestrebte Zielsetzung zu erreichen214. 209 Alston, 1984, 22 210 Vgl. Eide, Asbjørn 1995, 89 211 http://gpool.lfrz.at/gpool/main.cgi?rq=ed&etid=29&eid=67003&oid=699&th=1 212 UNO, Erklärung über Fortschritt und soziale Entwicklung, verkündet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution 2542 (XXIV) vom 11. Dezember 1969, II Art.10b: http:// www. fao. Org/Legal/RTF/intl/intl_e.htm 213 http://www2.gtz.de/right-to-food/deutsch/akteure.htm 214 ebd.
  • 36. 36 Darüber hinaus wurde das Recht auf angemessene Ernährung in der Erklä- rung über die Rechte der behinderten Menschen von 1975, die Vorschriften des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau von 1979 und der Erklärung zum Recht auf Entwicklung von 1986 be- kräftigt215. Überdies bekräftigen die Erklärung über die Rechte des Kindes von 1959 und das Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 das Recht jedes Kindes auf eine Lebensqualität, die die seelische, körperliche und so- ziale Entfaltung des Kindes gewährleistet216. Zusätzlich unterstreicht das Zusatzprotokoll zum Amerikanischen Überein- kommen über Menschenrechte im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte von 1988 in seinem Art. 12, dass jeder das Recht auf angemessene Ernährung hat, „durch welche die Möglichkeit gewährleistet wird, ein Höchstmaß an körperlicher, emotionaler und geistiger Entwicklung zu genießen“217. Ein weiteres Dokument zum regionalen Menschenrechtsschutz, die Allge- meine Erklärung der Menschenrechte im Islam von 1981, bestätigt das Recht eines jeden, Nahrung und Trinken zu erhalten. Darüber hinaus erkennt die ILO-Konvention 169 über die Indigene Völker das Recht auf angebrachte Ernährung an218. Daneben wurde das Recht auf angemessene Nahrung in Abschlussdoku- menten zahlreicher internationaler Gipfeltreffen und Zusammenkünfte aner- kannt und bekräftigt: inter alia, die Welternährungskonferenz von 1974, die Erklärung von Cocoyoc von 1974, die Declarations of Principles and Pro- gramme of Action of the World Conference on Agrarian Reform and Rural Development von 1979, der Weltkindergipfel von 1990, die International Con- ference on Nutrition von 1992, die Erklärung von Wien und das Aktionspro- 215 http://www.gtz.de/right-to-food/download/WF_stand_depatte.pdf 216 ebd. 217 ebd. 218 ebd.
  • 37. 37 gramm der Weltmenschenrechtskonferenz von 1993, die Kopenhagener Er- klärung und das Aktionsprogramm des Weltsozialgipfels von 1995, die Welt- frauenkonferenz in Beijing von 1995, der Welternährungsgipfel in Rom von 1996 und sein verabschiedeter Aktionsplan zur Verbesserung der Ernäh- rungssituation und außerdem der Millenniumsgipfel der Vereinten Nationen von 2000, dessen erste Ziel ist, den Anteil der Hungernden durch soziale und finanzielle Maßnahmen auf die Hälfte zu reduzieren219. In der verabschiedeten Erklärung des World Food Gipfels im Juni 2002, wur- de „the right of everyone to have access to safe und nutritious food“ aner- kannt, und die UN-Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO hat zuletzt durch einen Leitlinienkatalog im Jahr 2004 das Recht auf Nahrung festgeschrieben220. Obwohl das Recht auf Nahrung, wie schon kurz dargestellt, in zahlreichen internationalen und regionalen Rechtstexten kodifiziert ist, blieb es lange Zeit ignoriert, ein Charakteristikum, das es allgemein mit den anderen wirtschaft- lichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte teilte. D. h., das Recht auf Nahrung wird nur als programmatisches Leitprinzip betrachtet, ohne in der Praxis eine bedeutende Rolle zu spielen. Das Problem der Umsetzung des Rechts auf Nahrung ist vergleichbar mit der Realisierung anderer sozialer Menschenrechte, gegen deren Rechtscharakter Vorbehalte formuliert wer- den. Weil diese Rechte nicht unmittelbar realisierbar erscheinen, könne es sich um keine Menschenrechte handeln, sondern vielmehr um politische Zielvorgaben, die lediglich eines Tages und unter bestimmten finanziellen Voraussetzungen verwirklicht werden könnten. 221 2.1. Die Welternährungslage Inzwischen leiden Millionen Menschen auf der Welt an Hunger, Mangeler- nährung oder unter den Folgen ihrer unsicheren Ernährungslage. Auf keinen 219 ebd. 220 http.//www.vistaverde.de/news/Politik/0409/27_nahrung.php 221 Vgl. van Hoof 1984, 97 ff.
  • 38. 38 Fall ist diese prekäre Lage in einem Mangel an Nahrungsmittel begründet, weil die Ressourcen der Erde alle Bewohner ernähren können222. „Trotz Fortschritten sind immer noch über 850 Millionen Menschen unterer- nährt, und jährlich sterben 10 Millionen, vor allem Kinder unter 5 Jahren, an den Folgen von Unter- und Mangelernährung. Alle 6 Sekunden stirbt ein Kind daran. So komplex die Ursachen von Armut und Hunger sind, so vielfältig präsentieren sich auch die geeigneten Lösungsansätze. Patentrezepte gibt es leider nicht. Nur eines ist sicher: Hunger ist nicht in erster Linie ein Ange- bots- oder Produktionsproblem, denn weltweit wird genügend Nahrung her- gestellt.“223 Nachfolgend soll aufgezeigt werden, dass gute politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern sowie eine gerechtere in- ternationale Ordnung die Schlüsselfaktoren zur Bekämpfung der Armut und des Hungers darstellen224. Zunächst werden jedoch der aktuelle Stand der Welternährungslage skizziert und die wichtigsten Ursachen der Unterernäh- rung aufgeführt. Schätzungsweise 1,2 Milliarden Menschen müssen pro Tag mit weniger als einem US-Dollar auskommen. Etwa 1,3 Milliarden Menschen besitzen kein sauberes Trinkwasser, 2 Milliarden leben unter schlechten sanitären Bedin- gungen, und die Haushalte von 2 Milliarden – einem Drittel der Menschheit – haben keinen elektrischen Strom. 852 Millionen Menschen sind unterernährt. „More than one billion people are chronically hungry. Every year 13 to 18 mil- lion people die as a result of hunger and starvation. Every 24 hours, 35 000 human beings die as a direct or indirect result of hunger and starvation - 24 every minute, 18 of whom are children under five years of age. No other disaster compares to the devastation of hunger. More people have died from hunger in the last two years than were killed in World War I and World War II together”.225 Als Hauptgrund für Hunger und Unterentwicklung wird die Armut 226 gekennzeichnet . 222 www.verbraucherministerium.de/index-00022AF443241154A9F26521C0A8D8.htm 223 FAO, Landwirtschaft: Horizont 2010, Doc. C 9324, Rom 1993, 1: http:// www. Fao.org/Legal/RTF/intl_e.htm 224 Vgl. Allgemeine Bemerkung Nr. 12 E/c.12/1999/ 5: www.fao.or/Legal/RTF/intl.intl-e.htm 225 United Nations, Right to adequate food as a human right, New York 1995. In: www.un.org/rights/HRToday/hrbiblio.htm 226 von Blanckenburg 1986, 50
  • 39. 39 „Hinsichtlich der Hintergründe und der Hauptzusammenhänge des Welter- nährungsproblems werden in der öffentlichen Diskussion ziemlich verschie- dene Auffassungen vertreten. Hier ist der Zusammenhang zwischen Armut und Mangelernährung bedeutsam“227. Vormals wurde geglaubt, dass Hunger grundsätzlich ein Produktionsproblem sei, das mit angebotsseitigen Strategien beseitigt werden kann228. In diesem Sinne ist zwar eine Steigerung der Agrarproduktion erforderlich, aber ebenso wichtig ist der Zugang zu Nahrung durch nachfrageseitige Maßnahmen, da- durch, dass der Teufelskreis der Armut durchbrochen werden kann229. „Unterernährung führt zu einer geringen Arbeitsproduktivität, Unterbeschäfti- gung und Armut und damit zu einer geringen Kaufkraft, die den Erwerb von Nahrungsmitteln erschwert“ 230. Im 4. World Food Survey wurde darauf hingewiesen, dass Mangelernährung besonders in Ländern mit geringen Einkommen und mangelhafter Wirtschaftsentwicklung erscheint. Ungenügend ernährte Menschen finden sich grundsätzlich unter denen, die arm sind, und zwar unter den landlosen Landarbeitern, städtischen Arbeitslosen und den Gelegenheitsarbeitern. „Das Ernährungsproblem ist demnach zu einem erheblichen Teil bedingt durch die Höhe der Einkommen und durch die Einkommensverteilung in ei- ner Bevölkerung. Menschen, die sich nicht aus Eigenbau mit Nahrung selbst versorgen können, müssen diese kaufen, und viele haben nicht genügend Einkommen oder Kaufkraft, um für sich und ihre Familien hinreichende Nah- rung zu erwerben. Wie schon erwähnt, erschwert die Armut unter den Kon- sumenten auch ein Anheben der Nahrungspreise, wie es zur Erhöhung des Nahrungsangebotes der Landwirtschaft erwünscht wäre“231. Da Hunger kein Agrarproduktionsproblem, sondern vielmehr das Ergebnis eines Verteilungspolitikdefizits ist, hat Jean Ziegler, UN- Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, erläutert, dass der Acker- bau heutzutage Nahrungsmittel für zwölf Millionen Menschen erzeugt. Dies geschieht bei einer Weltbevölkerung von 6 Milliarden. Ziegler behauptet, 227 ebd. 228 ebd., 58 ff. 229 ebd. 230 Horber 2000. In: http: // www.humanrights.ch/cms/pdf/001012_horber.pdf 231 FAO 1977. Zit. nach: von Blanckenburg 1986, 61
  • 40. 40 dass die katastrophale Ernährungslage auf die mörderische und absurde Weltordnung zurückzuführen ist232. Das weltweite Nahrungsaufkommen ist nicht von Knappheit, sondern Über- fluss geprägt: Die Produktion von Weizen, Reis und anderem Getreide reicht allein für eine Versorgung jedes Menschen mit 3.500 Kalorien täglich aus, dazu kommt das allgemein gegessene Gemüse, Bohnen, Nüsse, Wurzelge- müse usw., Obst, Milch und Milchprodukte, Eier, Fleisch aus bäuerlicher Hal- tung, Fisch. Genügend Nahrung ist vorhanden, mindestens 4,3 Pfund Nah- rung stehen täglich weltweit pro Person zur Verfügung: 2,5 Pfund Getreide, Bohnen und Nüsse, ca. 1 Pfund Obst und Gemüse und fast 1 Pfund Fleisch, Milch und Ei. Jedoch sind viele Menschen zu arm, um genügend Nahrungs- mittel zu kaufen. Die meisten „Hungerländer“ verfügen derzeit sogar über genügend Nahrung für ihre Bevölkerung. Viele sind Nettoexporteure von Nahrung und anderen Agrarerzeugnissen233. Einer Studie des Worldwatch-Instituts von Washington zufolge würden die Nahrungsmittel ausreichen, um alle Menschen zu ernähren – allein wenn man berücksichtigt, dass immer noch bis zur Hälfte der Weltgetreideernte an Tiere verfüttert wird, die dann geschlachtet werden234. Würden die Menschen dieses Getreide direkt verzehren, anstatt es an Tiere zu verfüttern, könnte die siebenfache Anzahl Menschen davon satt werden235. Die Welt ist voller Überflussbeispiele. Worldwatch hat errechnet, dass jährlich 75 Milliarden Dollar für Luxusgüter wie Make Up, Parfüms, kulinarische Vor- lieben, Kreuzfahrten oder Eiscreme ausgegeben werden, während für die Gesundheitsvorsorge von Frauen, die Beseitigung von Hunger und Unterer- nährung, sauberes Trinkwasser, die Impfung von Kindern und den Kampf gegen den Analphabetismus 47,3 Milliarden nötig wären. Allein die Gelder, die dem Mineralwasser und Hundefutter in den Industrieländern zugewiesen 232 www.vistaverde.de/news/Politik/0301/15 hunger.htm 233 Vgl. www.awitness.org/journal/mythen_hunger.html 234 www.worldwatch.or/pubs.drew/2004 235 ebd.
  • 41. 41 werden, könnten das Problem des Hungers und des Trinkwassers von zwei Drittel der Menschheit lösen236. 2.2. Erklärungen zu den Ursachen des Hungers 2.2.1. Der Armutsansatz Armut kann sich als eine defizitäre Grundbedürfnisbefriedigung definieren237. In diesem Sinne sind dann diejenigen Menschen arm, deren Konsum bzw. Grundbedarfsgüter einen absoluten oder relativen Standard nicht erreicht, weil den bedürftigen Menschen Mindestbedingungen für eine wirksame Teil- nahme am Prozess der gesellschaftlichen Güterstellung und Güterverteilung fehlen238. Eine erforderliche Kondition für eine unternehmende Beteiligung an diesem Vorgang ist der Zugang zu Produktionsmitteln239. Ebenso wichtig in dieser Hinsicht sind die körperlichen und geistigen Fähigkeiten, um diese Produktionsmittel wirkungsvoll nutzen zu können. Hinreichende Ernährung, Bildung und Gesundheit werden als integrale Bestandteile der Grundbedürf- nisbefriedigung berücksichtigt240. Die individuelle Wahrnehmung von Armut wird ausschlaggebend mitbe- stimmt von dem sozialen Wertesystem, an dem sich das Individuum orien- tiert241. Die Kriterien zur Unterscheidung der Armen von den Nichtarmen spiegeln auch kollektive Prioritäten und Vorstellungen von Wohlfahrt und An- sprüchen wider242. Definiert man Armut als defizitäre Grundbedürfnisbefriedigung, dann können solche Defizite mittels sozialer Indikatoren gemessen werden243. Als soziale Indikatoren werden theoretische Begriffe wie Ernährung, Gesundheit oder Bildung verwendet244. Für das Bildungswesen z. B. kann die Einschulungs- quote als Input-Indikator und die Alphabetisierungsquote als Output-Indikator 236 www.worldwatch.or/pubs/sow/2004 237 Sangmeister, Armut, 2003, 4328 238 ebd. 239 ebd., 4329 240 ebd. 241 ebd. 242 ebd., 4330 243 ebd. 244 ebd., 4331
  • 42. 42 verwendet werden, während beim Nahrungswesen das tägliche Kalorienan- gebot pro Kopf als Input-Indikator und die Lebenserwartung bei der Geburt als Output-Indikator dient245. „Anspruchsvollere Indizes der Armut lassen sich durch Zusammenfassung relevanter statistischer Maßzahlen bilden; dadurch werden die in den sozia- len Indikatoren enthaltenen Informationen fokussiert. Eine Möglichkeit der Aggregation sozialer Indikatoren stellt der Human Development Index (HDI) dar, der vom UNDP seit 1990 berechnet wird. Der HDI setzt sich aus den als soziale Leitindikatoren verstandenen variablen Lebenserwartung bei der Ge- burt, Alphabetisierungsquote, durchschnittliche Dauer des Schulbesuchs so- wie dem realen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zusammen.“246 Die Entwicklungspolitik hat sich in den letzten Jahrzehnten an wechselnden theoretischen Modellen orientiert und daraus verschiedene Vorhaben der Armutsbekämpfung abgeleitet247. Zur Zeit sind die Entwicklungspolitikexperten sich einig, dass zur Bewältigung des Armutsproblems in Entwicklungsländern wenigstens zwei Strategien mit- einander verknüpft werden müssen: (1) eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die auf Wachstum gerichtet ist; (2) spezielle Programme, um die Verdienst- möglichkeiten der Armen zu steigern 248. Die Armut in Entwicklungsländern wird jedoch durch die ungleiche Verteilung von Boden, Finanzkapital, Sachkapital sowie durch die defizitäre Ausstattung mit Humankapital fortgesetzt249. Ein Kampf gegen die Massenarmut muss als ethischer Imperativ verstanden werden; aber auch unter funktionalen Kriterien erlangt die Armutsbekämp- fung ein zentrales Signifikat, weil Ernährung, Gesundheit, Bildung sowie die Erfüllung anderer Grundbedürfnisse Bedingungsfaktoren von Produktivität und wirtschaftlicher Dynamik sind250. 245 ebd., 4332 246 United Nations Development Programme, Human Development Report 1991, 90. Zit. nach: Sangmeister 2003, 4334 247 Thibaut 2003, 7997 248 Sangmeister, Armut, 2003, 4335 249 ebd. 250 ebd., 4336
  • 43. 43 2.2.2. Die Dependenz-Theorie Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist, dass es lediglich eine kapitalistische Welt gibt, und dass das Schicksal der einzelnen Länder von ihrem Standort abhängt251. Die Kernländer bzw. Industrieländer stehen den Peripherielän- dern bzw. den Entwicklungsländern gegenüber. Diese sind unterentwickelt, weil die Industrieländer durch eine systematische Ausbeutung das Kapital aus den Entwicklungsländern herausgenommen haben. Sie sind zurück- geblieben, weil die Industrieländer sie durch verschiedenen Vorrichtungen in Dependenz halten und ihnen immer noch die Kosten für den Fortschritt der Industrieländer aufbürden252. Die Landwirtschaft spielt hier eine große Rolle, weil das Ziel der Industrielän- der darin besteht, eine globale Arbeitsteilung zu verwirklichen253. Unter die- sen Umständen müssen die Peripherieländer besonders landwirtschaftliche und mineralische Primärprodukte zum Export produzieren, während die Zent- ralländer Industriegüter erzeugen. Die Orientierung der Nahrungsproduktion auf den Export hindert die Peripherieländer daran, die Mangelernährung ihrer Bevölkerung zu beseitigen254. „Auf dieser Grundthese, auf der die wirtschaftlich übermächtigen Industrie- länder die Entwicklungsländer in Abhängigkeit und auf Agrarexporte ausge- richtet halten, baut sich die Behauptung von der Schuld der reichen Länder am Hunger in der Welt auf. Es wird unterstellt, dass der hohe Nahrungskon- sum in den Industrieländern zu Lasten der Entwicklungsländer gehe, dass die Industrieländer die Entwicklungsländer hinderten, sich vorrangig auf Selbstversorgung ihrer Bevölkerung mit Nahrung auszurichten, dass der große Fleischkonsum in den Industrieländern weitgehend auf Getreide- und Maniok-Exporten der Entwicklungsländer, die hier zur Tierfütterung verwen- det werden, beruhe, dass der hohe Energieaufwand in der landwirtschaftli- chen Erzeugung der Industrieländer die Energiekosten für die Entwicklungs- länder verteure.“255 251 von Blanckenburg 1986, 63 252 ebd. 253 ebd. 254 ebd., 64 255 von Blanckenburg 1986, 64
  • 44. 44 2.2.3. Der Neokolonialismus Der Neokolonialismus ist die Fortsetzung der Kolonialherrschaft mit politi- schen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, militärischen oder technischen Mitteln256. Vor allem multinationale Konzerne gelten als Mechanismen für die Erhaltung der agrarexportierenden Strukturen in den Entwicklungsländern257. Die Oli- garchie bzw. die Elite der Entwicklungsländer ist den wirtschaftlichen Interes- sen der reichen Länder untergeordnet und damit an der Bewährung der strukturellen Dependenz beteiligt258. 2.2.4. Der progressive Ansatz Frances Moore Lappé und Joseph Collins behaupten in ihrem Buch „Food First“ (1978), dass jedes Land in der Lage sein sollte, sich selbst zu ernäh- ren259. Die Nahrungsversorgung der einheimischen Bevölkerung gelingt den Entwicklungsländern nicht, weil zwischen der Oligarchie der Entwicklungs- länder, den multinationalen Konzernen und den Interessenvertretungen der Industrieländer ein Bündnis besteht260. Eliten und multinationale Konzerne verfügen über den Einsatz von Land, Arbeitskräften, Kapital, Kredit, Techno- logie und Forschung ausschließlich, um ihr eigenes Bestreben nach Profit zu befriedigen261. „Besonders liegt Collins und Lappé daran, zu zeigen, wie die reichen Natio- nen ihre internationale wirtschaftliche Machtstellung und auch ihre Entwick- lungshilfeprogramme nutzen, um eine Kontrolle über die Agrarmärkte der Dritten Welt zugunsten ihrer eigenen Wirtschaft zu gewinnen. Diese Überle- gungen führen sie zu dem Schluss, das primär nicht die Entwicklungsländer, sondern die reichen Länder für den Hunger in der Dritten Welt verantwortlich sind. Sie folgern daraus, dass zur Lösung des Problems eine stärkere Ab- koppelung der Entwicklungsländer vom internationalen Austausch erforder- lich ist und dass dort der Nahrungsproduktion erste Priorität mit dem Ziel der Selbstversorgung – ‚Food First’ - zuerkannt werden muss“.262 256 ebd., 66 257 ebd. 258 ebd., 67 259 ebd., 68 260 ebd. 261 ebd., 69 262 ebd.
  • 45. 45 Susan George behauptet in ihrem Buch „How the Other Half Dies“ (1976), dass die Menschen in der Dritten Welt verhungern, weil sie arm sind. Die Ungleichheiten im Landbesitz werden als Hauptgrund der Armut ausgewie- sen. Die Lebensmittel sind teuer, weil die Preise vom Landbesitzer und letzt- lich vom Weltwirtschaftssystem bestimmt werden263. „Schlechte Rahmenbedingungen im Süden: Ein Blick auf die Staaten mit dem höchsten Anteil von Unterernährten an der Gesamtbevölkerung oder auf die Liste negativer Länderbeispiele zeigt eine der wichtigsten, wenn nicht die Hauptursache von Armut und Hunger auf: schlechte politische und wirtschaft- liche Rahmenbedingungen. Ineffiziente Regierungssysteme, wachsende An- zahl von bewaffneten Konflikten und Naturkatastrophen, Korruption, hohe Militärausgaben, gravierende Demokratiedefizite, fehlende Strategie zur Ein- dämmung des Bevölkerungswachstums, wachstumsfeindliche Wirtschaftspo- litik – dies sind einige Stichworte dazu“.264 2.2.5. Unzureichende internationale Rahmenbedingungen Die Gründe für Armut und Hunger liegen nicht nur in den betroffenen Län- dern, sondern auch in den fehlerhaften Normen des internationalen Handels. Der Protektionismus der Industrieländer hindert die Entwicklungsländer dar- an, ihre Produkte zu exportieren und damit den Handel als Motor der Ent- wicklung einzusetzen265. „So hat die UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in einer vielbeachteten Studie im letzten Jahr aufgezeigt, dass der Dritten Welt allein bei den arbeitsintensiven Industrien aufgrund anhaltender Handelsschranken jährlich 700 Milliarden Dollar an Exporterlösen verloren gehen – von der Landwirtschaft ganz zu schweigen. Diese Summe entspricht mehr als dem Doppelten der jährlichen öffentlichen und privaten Mittelflüsse der reichen Länder und der multilateralen Organisationen in die Empfängerländer“.266 263 ebd., 70 264 ebd. 265 Horber 2000, 2. In: http:// www.humanrights.ch/cms/pdf/00101012_horber.pdf 266 ebd.
  • 46. 46 2.2.6. Die Verschuldung der Entwicklungsländer Verschuldung ist die Bezeichnung für die staatliche Kreditaufnahme auf dem globalen Kapitalmarkt, deren Gesamtbetrag als problematisch betrachtet wird, wenn der Schuldendienst eine große Portion an den Exporteinnahmen ausmacht und die Chancen eines Landes einschränkt, die Devisen für inlän- dische Investitionen einzusetzen. Zur Verschuldungskrise kommt es, wenn ein Land zahlungsunfähig wird267. Seit Anfang der achtziger Jahre hat der explosionsartige Anstieg der Zinssät- ze dazu geführt, dass die Länder der Dritten Welt nicht mehr in der Lage wa- ren, ihre Schulden zu tilgen. In dieser Zeit begann der Lebensstandard in den verschuldeten Ländern drastisch zu sinken, und die Nahrungslage ver- schlimmerte sich vielfach. 268 2.2.7. Hunger als Entitlement Failure: Der Verlust von Verwirklichungs- chancen Dem Buch „Ökonomie für den Menschen“ von Amartya Sen zufolge ist der Hunger weniger das Ergebnis von Nahrungsmittelknappheit als vielmehr das Ergebnis eines Verteilungsproblems im Sinne eines unzureichendes Zu- gangs zu den Nahrungsmitteln269. „Menschen leiden Hunger, wenn sie ihr Zugangsrecht auf eine angemessene Nahrungsmenge nicht wirksam machen können.“270 Sens Ansatz lautet : Hunger und Fehlernährung sind niemals lediglich ein Problem der Menge an Nahrungsmitteln271. In seiner Analyse und für seinen Lösungsansatz erscheint der Begriff „entitlement“, der als Verwirklichungs- chance bzw. Verfügungsmacht über Güter, Dienstleistungen oder Rechte 267 Vgl. Boeck 2003, 9973 268 Vgl. Sangmeister 2003, 5673 269 Vgl. Sen 2003, 9 ff. 270 Sen 2003, 253 271 Wagner, Entwicklung als Freiheit. In: www.inwent.org/ E+Z/1997-2002/ez400-7.htm
  • 47. 47 verstanden wird272. Wenn Menschen verhungern, dann ist der Fakt, dass Lebensmittel auf dem Markt vorhanden sind, unerheblich. Menschen leiden an Hunger, obwohl Lebensmittel zu ihrer Versorgung beschaffbar wären273. „Erfolgreiche Lösungsansätze des Hungers müssen neben der Steigerung der Nahrungsmittelproduktion immer auch gegen die immateriellen Defizite angehen, die mit Armut und Ausgrenzung verbunden sind, sei es die Unmög- lichkeit einer selbstverantwortlichen Lebensgestaltung, die fehlende Beteili- gung an Entscheidungsprozessen aller Art oder der Verlust von Selbstver- trauen bis zur Hoffnungslosigkeit. Armut ist untrennbar verbunden mit Unfrei- heit, Entwurzelung und Unsicherheit.“274 Ein zentrales Element zur Verbesserung der Ernährungssicherheit ist die Förderung der sozialen Entwicklung im Sinne der Herstellung politischer, so- zialer und wirtschaftlicher Bedingungen, mittels derer man Menschen in die Lage versetzt, ihre Probleme selbst anzupacken275. Hungersnöte und Mangelernährung können nur überwunden werden, wenn eine entsprechende Nahrungsmittelmenge produziert wird, aber vor allem, wenn ein sozial gerechtes Umfeld geschaffen wird, das den Menschen er- möglicht, sich zu entfalten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und somit erfolg- reich für sich selbst zu sorgen276. Die Amartya-Sen-Konzeption zur Überwindung des Hungers und der Unter- ernährung ist Bestandteil seiner Entwicklungstheorie, die die Wege zu Ge- rechtigkeit und Solidarität in der globalen Ordnung für alle öffnen soll277. Ent- wicklung ist in dieser Hinsicht, der Abbau von Unfreiheiten und die Erweite- rung der substanziellen Freiheiten, die den Menschen zukommen. Unterent- wicklung, Armut und Hunger sind demgemäss Formen von Unfreiheit278. „Der Entwicklungsprozess ist im wesentlichen identisch mit der Geschichte der Überwindung von Unfreiheiten. Zwar ist diese Geschichte keineswegs vom Prozess des Wirtschaftswachstums und der Akkumulation natürlichen 272 ebd. 273 ebd. 274 Sen, Zit. nach: www.iz3w.org/i23w/ausgaben/244/LP_s19.html 275 ebd. 276 ebd. 277 ebd. 278 ebd.
  • 48. 48 und menschlichen Kapitals loszulösen, doch schließt sie sehr viel mehr ein und geht weit über diese Variablen hinaus“279. Sens Ansatz der menschlichen Verwirklichungschancen darf nicht mit der 280 Theorie des Humankapitals verwechselt werden. Die Humankapital- Theorie interessiert sich grundsätzlich für die Produktivitätssteigerung, sie stellt also die menschlichen Fähigkeiten in den Vordergrund, die als Kapital für die Produktion eingesetzt werden können281. Die These der Verwirkli- chungschance betont hingegen die grundlegende Freiheit des Menschen, seine realen Entscheidungschancen auszuweiten und sein erstrebenswertes Leben zu führen. Der Wert des Menschen darf nicht auf seinen produktiven Nutzen reduziert werden282. Bei der Interdependenz von Freiheit und Entwicklung manifestiert sich die Freiheit sowohl in • Prozessen, die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit ermöglichen, als auch in • realen Chancen, die die Menschen hinsichtlich ihrer sozialen Umstän- de haben283 Unfreiheit kann mangelhafte Prozesse verursachen, beispielsweise die Ver- letzung politischer bzw. bürgerlichen Freiheiten – oder mangelhafte Chan- cen, die nicht ausreichen, um minimale Ziele zu realisieren284. Dazu gehört das Fehlen grundlegender Chancen wie beispielsweise die Vermeidung von Hunger und Krankheiten285. Individuelle Freiheit hat eine eminente Bedeutung für die Entwicklung. Sie verstärkt sowohl die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu helfen als auch auf die Welt einzuwirken, und beides ist für den Entwicklungsprozess uner- lässlich286. 279 Sen 2003, 350 280 Vgl. Sen 2003, 347 281 ebd. 282 ebd. 283 www.iz3w.org./i23w/ausgaben/244/LP_s19.html 284 ebd. 285 ebd. 286 Vgl. Sen 2003, 50
  • 49. 49 Hier zeigt sich simultan der funktionelle Charakter der Freiheiten, weil ihre Erweiterung den Aufschwung fördert und die Entwicklung voranbringt287. Freiheit ist somit Mittel und Zweck der Entwicklung, wobei fünf relevante Grundfreiheiten unterschieden werden: „(1) politische Freiheiten, (2) ökonomische Einrichtungen, (3) soziale Chan- cen, (4) gesellschaftliche Transparenz und (5) soziale Sicherheit. Diese in- strumentellen Freiheiten erweitern die Verwirklichungschancen eines Indivi- duums, in größerer Freiheit zu leben, aber sie dienen auch dazu, sich wech- selseitig zu ergänzen“288. Der erste Entwicklungsschritt ist nicht die Bekämpfung von Armut und Elend, sondern der Vorrang grundlegender Freiheitsrechte289. Obwohl eine Demo- kratie kein automatisch wirkendes Heilmittel darstellt, erhöht sie die unmittel- baren Verwirklichungschancen der Menschen, wobei politische und soziale Partizipation eingeschlossen werden290. Der freie Zugang zum Markt repräsentiert einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung291. Besonders wichtig ist der freie Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Verweigerung dieser Freiheit ist ein Mittel, um Menschen in Abhängigkeit zu halten. Ähnliches gilt für den freien Zugang zu den Warenmärkten: Beson- ders in der Dritten Welt leiden viele Kleinbauern und Kleinproduzenten darunter, dass strukturelle Beschränkungen ihnen diese Freiheit blockieren. Staatliche Eingriffe und Regulierungen sind deswegen nicht nur legitim, son- dern auch erforderlich292. Der Marktmechanismus ist nur dann erfolgreich, wenn die gebotenen Chan- cen einigermaßen gleich verteilt sind293. Um das zu ermöglichen, sind der Zugang zu angemessener Nahrung, elementarem Schulunterricht, medizini- scher Grundversorgung ausschlaggebend. Deshalb muss der Marktmecha- nismus durch eine gerechte Verteilung der sozialen Chancen ergänzt wer- 287 ebd., 51 288 Sen 2003, 52 289 Sen 2003, 181 290 ebd. 291 Vgl. Sen 2003, 139 ff. 292 ebd. 293 Vgl. Sen 2003, 177ff.