2. Der Beginn des fachlichen Nachdenkens über Denkmalvermittlung im
Zuge der Verwissenschaftlichung der Denkmalpflege in der Zeit um 1900
▶ Im Zuge der Diskussionen um ein Denkmalschutzgesetz wird Denkmalpflege um 1900 zwar als
öffentliches Interesse apostrophiert, den Protagonisten des Faches war die Diskrepanz zum Interesse
der Öffentlichkeit allerdings bereits deutlich. Vermittlung wird als wichtige Aufgabe der Denkmalpflege
betrachtet; dies zunächst und vornehmlich als Programm zur Denkmalbildung (v.a. Georg Dehio,
Adolph von Oechelhäuser u.a.)
▶ In seinem modernen Denkmalkultus von 1903 definiert Alois Riegl das öffentliche Interesse an
Denkmalpflege als Interesse eines jeden Einzelnen und begründet den Allen zugänglichen Alterswert
als zentralen Denkmalwert des 20. Jh.; Bildungswerten hingegen attestiert er elitären Charakter
▶ Paul Clemen, einer der Protagonisten der Denkmaldebatte um 1900, sucht in den 1920er Jahren an
die lebendige und warme, in der Gesellschaft breit verankerte Denkmalpflege des 19. Jh. anzuknüpfen
und fokussiert in seinen Überlegungen auf symbolische und mythische Denkmalwerte für Alle
▶ Bereits in der Zeit um 1900 gibt es ein Einverständnis über die Notwendigkeit von
Denkmalvermittlung, die vorgeschlagenen Konzepte unterscheiden sich allerdings im Grundsatz: Dem
Konzept der Denkmalbildung als Volkserziehung stehen Überlegungen zur Fundierung der
Denkmalpflege im Interesse der Öffentlichkeit entgegen
▶ Die Diskrepanz zwischen kognitiven und emotionalen Zugängen zum Denkmal wurzelt im Prozess
der Verwissenschaftlichung um 1900
Ingrid Scheurmann
3. Die wissenschaftliche Denkmalpflege sucht ihr
Um 1900 Verhältnis zur Öffentlichkeit zu definieren
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Archiv
Wenn es uns nicht gelingt, „unsere Grundsätze und
Anschauungen ins Volk hineinzutragen, sie zum Gemeingut
[…] breiter Schichten des Volkes zu machen, so ist trotz
aller Gesetzgebung und Polizeivorschriften, unser Mühen
auf Dauer umsonst.“
Adolf von Oechelhäuser, in: Gemeinsame Tagung für Denkmalpflege und
Heimatschutz, Salzburg 1911.
LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland
„Der Unterricht, zumal in den drei Fächern Geschichte,
Religion, Deutsch [...], wird durch den fortgesetzten Hinweis
auf diese sichtbare Welt überall Stütze und Beflügelung
finden. Das wird zugleich die jungen Menschen stärker zur
Augensinnlichkeit zu erziehen helfen.“
Paul Clemen: Die deutsche Kunst und die Denkmalpflege. Ein Bekenntnis, Berlin 1933, S. 23.
Ingrid Scheurmann
4. Die institutionalisierte Denkmalpflege zwischen
Um 1919 Amtlichkeit und Öffentlichkeit
„Das Landesamt für Denkmalpflege ist
dagegen in weiteren Volkskreisen kaum
bekannt, die Presse beschäftigt sich selten
mit seinem Tun, das sich Angriffen
auszusetzen ängstlich vermeidet. Der
Universitätsarchiv der TU Dresden
Vergleich (mit dem Heimatschutz, I.S.)
zeigt deutlich, wie viel wirkungsvoller die
auf breiter Oeffentlichkeit gestützte
Anordnung ist als die innerhalb von
Amtsräumen sich vollziehende
bureaukratische. Und dies trotz des
Umstandes, daß die Denkmalpflege in den
Alterthumsvereinen Organe genug besaß,
um sich Freunde und weitgehenden
Einfluß im Lande zu schaffen.“
Gurlitt, Cornelius: Sächsische Denkmalpflege. Erinnerungen und
Erfahrungen, Dresden 1919, S. 23.
Ingrid Scheurmann
5. Um 1800 Rückblick auf die Wurzeln des modernen
Denkmaldenkens: Erhaltung als Menschheitsaufgabe
„Alle Kunstwerke gehören als solche
der gesamten gebildeten Menschheit
an, und der Besitz derselben ist mit
der Pflicht verbunden, Sorge für ihre
Erhaltung zu tragen. Wer diese Pflicht
vernachlässigt, wer mittelbar oder
unmittelbar zum Schaden oder zum
Ruin derselben beiträgt, ladet den
Vorwurf der Barbarei auf sich, und die
Verachtung aller gebildeten jetzigen
und zukünftigen Zeiten wird seine
Pierers Universal-Lexikon, 1891
Strafe sein.“
Johann Wolfgang von Goethe, Über Restauration von
Kunstwerken, in: Propyläen. Eine periodische Schrift, Bd.
2, Sp. 1, Tübingen 1799, S. 119f.
Ingrid Scheurmann
6. Universitätsarchiv der TU Dresden
Um 1900 Denkmalpflege und Volkserziehung
„Dient somit in erster Linie die Inventarisation den Behörden, so
ist sie zweitens bestimmt für die Besitzer der Denkmäler, auf
deren Belehrung es ankommt; die Inventarisation hat eine
erzieherische Aufgabe.“
Cornelius Gurlitt auf dem 1. Tag für Denkmalpflege in Dresden 1900, Stenographische Berichte,
Berlin 1900 S. 25.
„Mit Polizei- und Zwangsmaßregeln allein ist ja eine
Karlsruher Institut für Technologie (KIT),
gesunde und umfassende Denkmalpflege nie und nirgends
durchzuführen. Verständnisvolle Mitarbeit des Volkes,
Heimatliebe und Heimatstolz müssen hinzukommen, sonst
nützt die beste Gesetzgebung nichts, […] Die Erziehung
des Volkes nach dieser Richtung liegt aber zum größten
Teil außerhalb des staatlichen Machtbereichs.“
Archiv
Adolf von Oechelhaeuser: Wege, Ziele und Gefahren der Denkmalpflege, Karlsruhe
1909,S. 24.
Ingrid Scheurmann
7. Um 1900 Verortung und Entschleunigung:
Denkmalfreundschaft und Heimatgefühl
„Unsere ruhelose Zeit hat nichts nötiger, als
dass der Jugend ein örtliches Heimatgefühl
in klaren, unvergesslichen Bildern ins Leben
mitgegeben werde, zumal in den höheren
Ständen, deren Leben nichts als ein ewiger
Ortswechsel ist. Ich denke endlich an
Georg Dehio, Reppenstedt
Erziehung zur Denkmalsfreundschaft mit
allen Mitteln von Wort, Schrift und Bilddruck,
die uns heute in so mannigfaltiger
Anwendbarkeit zur Verfügung stehen.“
Georg Dehio: Denkmalschutz und Denkmalpflege im 19.
Jahrhundert, In: Wohlleben, Marion (Hg.): Georg Dehio - Alois
Riegl. Konservieren, nicht restaurieren. Streitschriften zur
Denkmalpflege um 1900, Braunschweig 1988, S. 96f.
Ingrid Scheurmann
8. Um 1900 Selbstbild Wissenschaft: Erhalten, nicht kreieren
„Die Denkmalpflege gehört deshalb
nicht zur Kunst, weil sie nichts neues
zu schaffen hat, sondern nur altes zu
begreifen, zu erhalten und
nötigenfalls zu ergänzen. Der
idestroem.de
Architekt als solcher kommt für sie
nur als technischer Gehilfe in
Betracht.“
Georg Dehio: Vorbildung zur Denkmalpflege, Vortrag
auf dem 4. Tag für Denkmalpflege, Erfurt 1903,
Stenographischer Bericht, S. 138.
Ingrid Scheurmann
9. Die Denkmalpflege 1, 1899
Denkmaldidaktik
1900 / 1975
Bildstrategien als Mittel der
Rückseite des Kataloges „Eine Zukunft für
unsere Vergangenheit“, München 1975
Ingrid Scheurmann
10. 1903 Öffentliches Interesse als Interesse des Einzelnen
„‘Öffentliches Interesse‘ soll wohl nichts
anders heißen, als úInteresse des Einzelnen‘,
und zwar des Einzelnen nicht in seiner
Eigenschaft als Angehöriger eines Staates
oder eines Volksstammes, sondern als
Privatperson. Nicht weil das Denkmal dem
Bundesdenkmalamt Wien
Staate oder einem seiner Volksstämme ú‘zu
Ruhm und Zierde gereicht‘, sondern weil
jeder Einzelne sein subjektives ästhetisches
Bedürfnis daran zu stillen vermag, muß das
Denkmal davor geschützt werden, die
Fähigkeit zu dieser Dienstleistung
einzubüßen.“
Alois Riegl: Wesen und Entstehung des modernen Denkmalkultus in:
Bacher, Ernst (Hg.): Kunstwerk oder Denkmal? Alois Riegls
Schriften zur Denkmalpflege, Wien 1995, S. 103.
Ingrid Scheurmann
11. 1903 Der Alterswert als Denkmalwert für Alle
„Auch der Widerstreit der Urteile […]
darf uns nicht allein nicht stören,
sondern er muß sogar begrüßt werden;
denn gerade in dieser erweckten Lust
aller, in den Denkmalkultus
dreinzureden, haben wir das sicherste
Symptom dafür zu erblicken, daß nun
der Denkmalkultus auch bei uns
dasjenige zu werden sich anschickt,
was einer freudigen und
Österreichische Kunsttopografie Bd. 1, 1907
selbstbewußten Denkmalpflege erst
den richtigen Rückhalt gibt: eine
gemeinsame Gefühlssache für alle.“
Alois Riegl: Wesen und Entstehung des modernen
Denkmalkultus in: Bacher, Ernst (Hg.): Kunstwerk oder
Denkmal? Alois Riegls Schriften zur Denkmalpflege, Wien
1995, S. 144.
Weißenkirchen in der Wachau
Ingrid Scheurmann
12. 1914-1918 Volkserziehung und Propaganda
„Und wenn wir diesen gesegneten und
heilsamen militärischen Militarismus nicht
hätten, wir müßten uns einen Zivil-
Militarismus erfinden und konstruieren als
Abb. in: Paul Clemen: Protection of Art during War, Leipzig 1919, S. 55
eiserne Schule der Volkserziehung, als
Zucht zur Unterordnung, zum stillen
Pflichtgefühl, zu dem, was ich das
Marschieren in der Kolonne nennen
möchte, zur Disziplin. [...] Nein, der ganz
deutsche Geist ist in diesem Kriege
aufgestanden.“
Paul Clemen: Der Krieg und der Zustand der Kunstdenkmäler
auf dem westlichen Kriegsschauplatz, in: Kriegstagung für
Denkmalpflege, Brüssel 1915, Stenographischer Bericht, S. 14.
Das Innere der Kathedrale von St. Quentin, Frühjahr 1918
Ingrid Scheurmann
13. 1916-1975ff Vermittlung zur Überwindung von Widerständen
gegen Denkmalpflege
„Auch Max Dvorak stellt nicht
Gleichgültigkeit und Richtigkeit des
Begriffsinhaltes úDenkmal‘ als Ursache
für dessen geringe Wirksamkeit zur
in: „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“, München 1975, Abb. 18.
Diskussion und scheint damit zu
bestätigen, dass gerade und nahezu
ausschließlich Widerstände und
Gesinnungen innerhalb der Gesellschaft
es sind, die das Denkmal bedrohen ...“
Erwin Thalhammer, Brachte das Jahr des Denkmalschutzes
1975 einen neuen Denkmalbegriff?, in: ÖZKD, Nr. 1-3, 1976,
S. 2-5, S. 4.
Erste und zweite Gründerzeit (Essen)
Ingrid Scheurmann
14. Fazit:
1. Das gesetzlich festgeschriebene "öffentliche Interesse" am Denkmalerhalt
bedarf der Legitimation durch das Interesse der Öffentlichkeit.
2. Das Verhältnis von fachlichen und emotionalen Werten, von Wissen und
Wahrnehmung, Geschichte und Erinnerung ist neu zu gewichten.
3. Fachlichkeit bedarf einer sozial relevanten Vermittlung.
4. Die Verpflichtung der deutschen Denkmalpflege auf Nation und Volk hat
im 20. Jh. zu einer politischen Funktionalisierung des Faches geführt, die
kritisch vermittelt werden muss.
5. Neue "Leitbilder" fokussieren auf Identitätsstiftung als Referenz aktueller
Denkmalwerte. Die meisten Denkmale offerieren aber auch Differenz und
Vielfalt und bieten Ansatzpunkte für unterschiedliche Narrative.
6. Das öffentliche Interesse an der Bewahrung von Denkmalen bedarf einer
gesellschaftlichen Wertlegitimierung, der um 1900 Pietät und Ehrfurcht als
Haltung korrespondierten. In der pluralistischen Gegenwartsgesellschaft
könnten Interaktion und Offenheit an deren Stelle treten.
Ingrid Scheurmann
15. 7. Denkmalvermittlung konkretisiert sich traditionell in Veröffentlichungen,
die ihre Bildungsinhalte textlich transportieren und die emotionalen
Komponenten auf der Bildebene vermitteln. Die Komplexität aktueller
vorwiegend bildorientierter Sehgewohnheiten des Publikums verlangt neue
Strategien.
8. Die web-basierten sozialen Netzwerke ermöglichen unmittelbare
Formen des Austausches und temporäre Formen der Organisation. Die
Denkmalpflege muss deren Potentiale abwägen und mit ihrer jungen
Klientel in auch deren Medium in Kontakt treten.
9. Denkmalvermittlung erfordert Neugier, Professionalität, Nachhaltigkeit
und Kontinuität.
10. Das Kommunizieren und Partizipieren ist auch als Aufforderung an die
Denkmalpflege zu verstehen, über die innenfachlichen Grenzen hinweg
miteinander zu reden.
Ingrid Scheurmann