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Forum Nachhaltiges Tirol, am 17.06.2010
Protokoll zum Workshop 3 - Wachstum versus Endlichkeit
Moderation: Michael Graf
Protokoll: Veronika Violand
TeilnehmerInnen:
Vorname Nachname Organisation
Reinhard Bruckmüller Ingenieurkonsulent für Vermessungswesen
Eva Dubsek SOS-Kinderdorf
Wolfgang Eder Industriellenvereinigung Tirol
Armin Erger Zukunftszentrum Tirol
Barbara Erler-Klima Energie Tirol
Andrea Fink AdTLR, Abteilung Raumordnung-Statistik
Michael Hohenwarter Zukunftsraum Lienz
Ulrich Pleger SOL Tirol
Michael Pfleger
Christian Scherber
Klaus Schönach Arbeiterkammer Tirol
und weitere 5
Studierende
der Universität
Innsbruck
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Zusammenfassung
Der Moderator begann mit einem kurzen Input über Wachstumsverläufe.
Während in der Natur natürliches Wachstum automatisch zu einem Ende kommt (vgl. ein
Baum wächst nicht in den Himmel), tun wir so, als könne die Wirtschaft unendlich wachsen.
Bei einem Wirtschaftswachstum von 3 % kommt es zu einer Verdoppelung der Wirtschafts-
leistung innerhalb von 24 Jahren und einer Vervielfachung um den Faktor 17 in 96 Jahren.
Bei einem Wachstum von 6 % kommt es zu einer Vervierfachung der Wirtschaftsleitung in-
nerhalb von 24 Jahren und einer Vervielfachung um den Faktor 268 in 96 Jahren (siehe Ta-
belle).
Exponentielles Wachstum:
in 24 Jahren in 96 Jahren
3 % Wachstum bedeutet BIP x 2 BIP x 17
6 % Wachstum bedeutet BIP x 4 BIP x 268
In dialogischer Form wurden folgende Leitfragen erörtert:
1. Wie unverzichtbar ist Wachstum?
2. Wie kann Wachstum mit Nachhaltigkeit zur Deckung gebracht werden?
3. Wie groß ist der Handlungsspielraum auf regionaler Ebene?
Dabei kristallisierten sich zum Thema Wachstum zwei Richtungen heraus:
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Die meisten TeilnehmerInnen artikulierten die Unmöglichkeit von unendlichem Wachstum in
einer endlichen Welt. Ein TN hält exponentielles Wachstum im oben beschriebenen Ausmaß
für möglich, wenn dieses im Dienstleistungssektor, im Bereich Wissen und anderen nicht
Rohstoff verbrauchenden Sektoren stattfindet.
Folgende Fragen wurden diskutiert:
• Welchen Beitrag können Individuen im Bereich Wachstumsbegrenzung leisten? (Ver-
wendung von nachhaltiger Energie, bewusster Konsum usw.)
• Wo kann die öffentliche Hand - in diesem Fall das Land Tirol - Rahmenbedingungen
schaffen? (Wirtschaftsförderung, die an Nachhaltigkeitskriterien gebunden ist, nach-
haltige Prinzipien im öffentlichen Beschaffungswesen)
• Wo bedarf es Veränderungen auf EU- oder Weltebene? (Besteuerung von Finanz-
transaktionen u. ä.)
Ein TN beschäftigt sich mit konkreten Umsetzungsmöglichkeiten im Feld „transition towns“
(Netzwerk von Städten und Regionen, die bewusst am Umstieg auf eine Wirtschaftsweise
ohne Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und ohne Wachstumszwang arbeiten).
http://www.transitionnetwork.org
Einführungsvideo:
In Transition 1.0: from oil dependence to local resilience -
http://transitionculture.org/in-transition/
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Wortmeldungen aus dem Dialogprozess:
Überlegungen zu Wachstum
Exponentielles Wirtschaftswachstum kennen wir erst seit dem 18. Jahrhundert, dem Beginn
der industriellen Revolution. Erst der Einsatz fossiler Energieträger, der den Produktionspro-
zess weitgehend von den Begrenzungen menschlicher körperlicher Arbeit entkoppelte,
macht das beispiellose Wirtschaftswachstum möglich. Bis nach dem 2. Weltkrieg und den
darauf folgenden Wiederaufbaujahren, ermöglichte das Wachstum zumindest in der westli-
chen Welt einen beispiellosen Wohlstandzuwachs. Die Gleichung BIP Wachstum = Zufrie-
denheit scheint seit einigen Jahrzehnten nicht mehr zu stimmen. Die Selbstmordrate ist in
den reichsten Industrienationen deutlich höher als in armen Staaten. Entscheidend scheint
die Frage zu sein, ob eine Wirtschaft wachsen kann oder ob es aufgrund der exponentiellen
Vorgaben des Geldwesens einen systemimmanenten Wachstumszwang gibt. In unserem
System handelt es sich um einen Wachstumszwang (siehe Tabelle oben). Bereits 1973
zeigte die Studie des Club of Rome Grenzen des Wachstums auf, dass unendliches Wachs-
tum / unendlicher Ressourcenverbrauch in einer endlichen Welt unmöglich ist. Die Ölreser-
ven werden irgendwann erschöpft sein. Die Ölpreissteigerungen sind einerseits als Indikator
für Knappheit zu sehen, andererseits sind andere Faktoren, wie beispielsweise Spekulation
verantwortlich für die volatile Preisentwicklung auf den Märkten.
Beispielgeschichte: Das elfte Lederstück – Ein Märchen über unser Geld (s. Anhang)
http://www.talentenetztirol.net/1_2_0/a_2_3/Talente-Netz-Tirol-Home-/Das-elfte-Lederstueck.html
Soziale Folgen
Wichtig ist es, Wachstum nicht nur als ökonomischen Prozess zu betrachten. Die Anzahl der
Menschen, die „gesellschaftlich nicht mehr dazu gehören“ wächst: Alte Menschen mit sehr
geringer Pension, Arbeitslose, junge Menschen, die den Sprung in die Arbeitswelt nicht
schaffen... Die Kluft wird größer, das Auseinander-Driften der Gesellschaft, die sich immer
mehr in arme und reiche Menschen polarisiert, ist unübersehbar (vgl. Armutsbericht, Zunah-
me der Überschuldung privater Haushalte aber auch der öffentlichen Hand).
Annahmen als systemkonservierende Ursache
Menschen sind vorstellungsschwach, beispielsweise scheint ein Leben ohne Handy nicht
mehr möglich zu sein. Auch die Finanzmärkte, wie sie derzeit etabliert sind, scheinen ein Na-
turgesetz zu sein. Es sollte nicht darauf vergessen werden, dass die beispiellose Liberalisie-
rung der Finanzmärkte in den 80-iger Jahren (Reagan in den USA und Thatcher in GBR)
diese Spekulationen erst möglich machte. Die Finanzmärkte sind daher ein Ergebnis politi-
scher Entscheidungen. Regeln können neu gestaltet werden. Seit der Wirtschaftskrise
2008/2009 scheint das Bewusstsein für einen Ausbruch aus dem derzeitigen Regelsystem
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des Finanzmarktes und die notwendige Entwicklung neuer Spielregeln gestiegen zu sein.
Die periodisch wiederkehrenden Zusammenbrüche des Finanzsystems zeigen, dass der Ka-
pitalismus immer wieder Krisen hervorbringt (ca. alle 60 Jahre). Der Glaubenssatz, dass zu-
nehmender materieller Wohlstand zunehmende Zufriedenheit mit sich bringt, scheint zumin-
dest im reichen Westen, wo Vereinsamung, psychische Krankheiten etc. im Steigen sind,
widerlegt.
Der Glaubenssatz, dass Konkurrenz das beste Ergebnis schafft, war in der Gruppe umstrit-
ten. Einerseits ist er das Credo in der westlichen Wirtschaftswelt, andererseits zeigt sich in
der Natur oft, dass Kooperation und nicht Konkurrenz zu einem guten Funktionieren beiträgt
(vgl. Ameisenhaufen, Wald mit verschiedenen sich unterstützenden Elementen).
Konsumwelt
Unsere Konsumgesellschaft mit ihrem ständigen Wunsch nach mehr erinnert an ein Sucht-
verhalten. Der Versuch ein unbewusstes Bedürfnis zu stillen, scheint grenzenlos zu sein.
Sonst müssten die Menschen, die mit zahlreichen Einkaufssäcken beladen aus den Ein-
kaufszentren strömen, wohl glücklicher aussehen. Bedürfnis ist aber nur stillbar, wenn man
Bewusstsein darüber hat.
Gegenargumente:
Tirol ist keine Insel, sondern Teil eines großen Gefüges, das sich dem Wachstum nicht ver-
schließen kann.
Peak-oil – Auch wenn der Förderhöhepunkt in 20-25 Jahren erreicht sein wird (nach ande-
ren Einschätzungen bereits überschritten), kann diese Energiedichte im Moment mit keiner
anderen Ressource ersetzt werden. Um Wachstum zu erhalten braucht es Erdöl.
Historisch betrachtet ermöglicht die fossile Energie seit ca. 200 Jahren die industrielle Revo-
lution und damit den Wohlstandzuwachs, den wir heute genießen.
Der Wachstumszwang ist nicht auf Tiroler Ebene lösbar, muss aber mitgedacht werden.
Gier ist Teil des Menschen (keine einhellige Meinung), evolutionsgeschichtlich gab es immer
Konkurrenz zwischen Menschen und auch in der Natur konkurrieren Tiere (z. B. Raubtiere
fressen Gazellen).
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Lösungsansätze:
Gesellschaft:
Es braucht ein Umdenken, eine Änderung der geistigen Einstellung; Beispielsweise im Städ-
tebau müssen Häuser so konstruiert werden, dass sie auch für andere Zwecke genutzt wer-
den können (Lebenszeit von Häusern beträgt 50 Jahre, oft müssen sie aber nach 10 Jahren
einen anderen Nutzen erfüllen).
• Das BIP ist kein Wohlstandsindikator. Es braucht zusätzliche Indikatoren;
• Die Entwicklung innovativer, alternativer Lebensformen ist notwendig, wie auch eine
Entschleunigung;
• Es braucht eine Work-Life-Balance für das Land Tirol, wobei Lebensraum und
Wirtschaftsraum als gleichwertig zu behandeln sind;
• Jeder Mensch kann das Wachstum einschränken, eine bewusste Entscheidung für
nachhaltigen Konsum treffen;
• Bürgerschaftliches Engagement, Partizipation, Bsp.: „Transition-Town in Lienz“ (siehe
www.transitionnetwork.org) ist Gebot der Stunde, Abwarten bewirkt keine
Veränderung;
• Zeitsparkasse, wo Zeit zur Verfügung gestellt wird sowie Tauschkreise, wo Waren
und Dienstleistungen mit Zeiteinheiten bezahlt werden, könnten in institutionalisierter
Form auch auf Landesebene etabliert werden.
• Kinder und Jugendliche müssen als unsere Zukunft gesehen werden und deren
Entwicklung daher besonders gefördert werden.
Wirtschaft/Politik:
• Konsumzwang: Das Wachstum sollte vom Ressourcenverbrauch entkoppelt werden;
• eine Entkoppelung von Wirtschaft und Politik könnte dem Lobbyismus die Kraft
nehmen und somit unpopuläre politische Entscheidungen ermöglichen;
• die Wirtschaftsförderung sollte noch stärker an ökologische und soziale Kriterien
gebunden sein;
• Politik muss mutig sein um auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen; z.B.: Bahn
und Autobahn können nicht gleichwertig ausgebaut werden;
• ein bedingungsloses Grundentgelt (Grundeinkommen) könnte die Kluft zwischen
reichen und armen Menschen verringern;
• eine Änderung der derzeitigen Spielregeln im Finanzsystem auf nationaler und
internationaler Ebene sollen von der Tiroler Landesregierung eingefordert werden;
• der Handlungsspielraum auf regionaler Ebene soll genützt werden;
• eine stärkere Anbindung der Wirtschaft an soziale Gegebenheiten und
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Anforderungen ist wichtig; die Wirtschaft sollte den Menschen dienen und nicht
umgekehrt;
• Holz und andere nachhaltige Energieinputs sollen als wichtige Zukunftsressource in
Tirol noch mehr genützt werden;
Rückmeldungen:
Im Anschluss an das Forum Nachhaltiges Tirol wurde in Rückmeldungen von mehreren Teil-
nehmerInnen angeregt, die Diskussion zum Thema Wachstum und zur Notwendigkeit von
grundsätzlichen Veränderungen fortzusetzen.
In einem Mail wurde u.a. aus dem aktuellen Bericht zur Lage der Welt 2010 des World
Watch Institutes zitiert1
:
Es erfordert nichts Geringeres als eine umfassende Umwälzung der herrschenden
kulturellen Muster, wenn man den Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation
verhindern will. Diese notwendige Umwälzung würde den „Konsumismus“ – das kul-
turelle Leitbild, das Menschen Sinn, Zufriedenheit und gesellschaftliche Akzeptanz in
dem suchen lässt, was sie konsumieren – ausmustern und zu einem Tabu erklären
und an seine Stelle ein neues kulturelles Rahmenwerk setzen, dessen Kern „Nach-
haltigkei“ wäre.
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Erik Assadourian: Aufstieg und Fall unserer Konsumkultur. in: World Watch Institute: Bericht zur Lage der
Welt 2010
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Anhang:
Das elfte Lederstück
Ein Märchen über unser Geld
Es war einmal ein kleines Dorf im australischen Busch. Dort bezahlten die Menschen alles mit Natura-
lien. An jedem Markttag spazierten sie mit Hühnern, Eiern, Schinkenkeulen und Broten herum und
verhandelten lange miteinander über den Tausch der Güter, die sie brauchten.
In wichtigen Zeiten im Jahr, etwa zur Ernte oder wenn jemand nach einem Unwetter seinen Stall repa-
rieren musste, erinnerten sich die Menschen wieder an die Tradition, einander zu helfen, die sie aus
der alten Heimat mitgebracht hatten. Jeder wusste, wenn er einmal in Schwierigkeiten geraten sollte,
würden die anderen ihm helfen.
An einem Markttag tauchte ein Fremder auf. Er trug glänzende schwarze Schuhe und einen eleganten
weißen Hut und beobachtete das Treiben mit einem überlegenen Lächeln. Beim Anblick eines Far-
mers, der verzweifelt versuchte, die sechs Hühner einzufangen, die er gegen einen großen Schinken
eintauschen sollte, konnte er sich das Lachen nicht verkneifen. »Die armen Leute«, stieß er hervor,
»wie primitiv sie leben.«
Die Frau des Farmers hörte seine Worte und sprach ihn an. »Meinen Sie, Sie kämen mit den Hühnern
besser zurecht?« fragte sie ihn. Mit den Hühnern nicht«, erwiderte der Fremde, »aber es gibt einen
viel besseren Weg, sich den ganzen Ärger zu ersparen.« »Ach ja, und wie soll das gehen?« »Sehen
Sie den Baum dort?« sagte der Fremde. »Ich gehe jetzt dorthin und warte, bis einer von euch mir eine
große Kuhhaut bringt. Dann soll jede Familie zu mir kommen. Ich werde euch den besseren Weg er-
klären.«
Und so geschah es. Er nahm die Kuhhaut, schnitt gleichmäßige runde Stücke davon ab und drückte
auf jedes Stück einen kunstvoll gearbeiteten, hübschen kleinen Stempel. Dann gab er jeder Familie
ein rundes Stück und erklärte, dass es den Wert von einem Huhn habe. »Jetzt könnt ihr mit den Le-
derstücken Handel treiben anstatt mit den widerspenstigen Hühnern.«
Das leuchtete den Farmern ein. Alle waren sehr beeindruckt von dem Mann mit den glänzenden
Schuhen und dem interessanten Hut. »Ach, übrigens«, meinte er noch, nachdem jede Familie ihre
zehn runden Lederstücke entgegengenommen hatte, »in einem Jahr komme ich zurück und sitze wie-
der unter diesem Baum. Ich möchte, dass jeder von euch mir elf Stücke zurückgibt. Das elfte Stück ist
ein Unterpfand der Wertschätzung für die technische Neuerung, die ich in eurem Leben eingeführt
habe.«
»Aber wo soll das elfte Stück denn herkommen?« fragte der Farmer mit den sechs Hühnern. »Das
werdet ihr schon sehen«, erwiderte der Mann und lächelte beruhigend.
Angenommen, die Bevölkerungszahl und die Produktion bleiben im folgenden Jahr genau gleich, was,
glauben Sie, wird geschehen? Bedenken Sie, dass das elfte Lederstück gar nicht abgeschnitten wur-
de. Darum, so lautet die Schlussfolgerung, muss jede elfte Familie ihre gesamten Lederstücke verlie-
ren, auch wenn alle gut wirtschaften, den nur so können die übrigen zehn ihr elftes Stück bekommen.
Als das nächste Mal ein Unwetter die Ernte einer Familie bedrohte, waren die Menschen nicht so
schnell bei der Hand mit dem Angebot, beim Einbringen der Ernte zu helfen. Zwar war es wirklich sehr
viel bequemer, an Markttagen nur die Lederstücke auszutauschen und nicht die Hühner, aber die
neue Sitte hatte die unbeabsichtigte Nebenwirkung, dass sie die traditionelle spontane Hilfsbereit-
schaft im Dorf hemmte. Statt dessen entwickelte das neue Geld einen systembedingten Sog zum
Wettbewerb zwischen allen Beteiligten.
Quelle: Bernard Lietaer: Das Geld der Zukunft
http://www.talentenetztirol.net/1_2_0/a_2_3/Talente-Netz-Tirol-Home-/Das-elfte-Lederstueck.html