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Länderfokus 1. November 2011
Ungarn: Priorität auf nationalen Interessen
Autor:
Marion Dezenter
Bruttoinlandsprodukt (BIP) wächst 2011 preisbereinigt um 1,6 %, 2012 um 1,3 %
Telefon: 0 69/91 32-28 41
Wirtschaftliche Kennzahlen insgesamt verbessert, v.a. Leistungsbilanz und Defizit
research@helaba.de
Fragwürdiger politischer Kurs mit starker Betonung nationaler Prioritäten
Redaktion: Ungarn bietet derzeit ein zwiespältiges Bild: Einerseits hat das Land die Rezession überwunden
und konnte die jahrelange Problematik des Zwillingsdefizits in den öffentlichen Haushalten sowie
Dr. Stefan Mitropoulos
in der Leistungsbilanz entschärfen. Bei einer Exportquote von über 70 % profitiert Ungarn dabei
von der starken Nachfrage v.a. aus Deutschland. Andererseits bleiben die Wachstumsraten des BIP
auch nach dem ausgeprägten Minus von 2009 (-6,7 %) schwach: 2011 wird die ungarische Wirt-
Herausgeber:
schaft bei europaweit nachlassender Konjunkturdynamik voraussichtlich um real 1,6 % wachsen,
Dr. Gertrud R. Traud 2012 um 1,3 %.
Chefvolkswirt/Leitung Research
Landesbank Hessen-Thüringen Darüber hinaus führt der wirtschaftspolitische Kurs der Regierung, die im Parlament die Zwei-
MAIN TOWER Drittel-Mehrheit hat, aufgrund mangelnder Vorhersehbarkeit immer wieder zu medialer Unruhe
Neue Mainzer Str. 52-58 und Schwankungen an den Kapitalmärkten. Für negative Überraschungen sorgten etwa das äu-
60311 Frankfurt am Main ßerst umstrittene Mediengesetz, die national-konservative Neuausrichtung der ab 2012 geltenden
Telefon: 0 69/91 32-20 24 Verfassung, sektorale Sondersteuern und Eingriffe in das Rentensystem. Zusammen ergibt dies ein
Telefax: 0 69/91 32-22 44 Mosaik, bei dem allenthalben die Stärkung der aktuellen Regierung unter Ministerpräsident Orban
durchscheint. Die angestrebten intensiveren Kontakte zu Ländern wie China und Russland unter-
streichen dies. Einmischung von außen wird vehement abgewehrt, auch wenn Orban versichert,
die Zielvorgaben der EU für die öffentlichen Finanzen einhalten zu wollen.
Kleine Wachstumsschritte Dynamik schwächt sich ab
Reales BIP in % gegenüber Vorjahr Reales BIP in %
5 5
4 4
2011*
2010 gegenüber Vorjahr
4 2012** 4 2 2
0 0
3 3
gegenüber Vorquartal
-2 -2
2 2
-4 -4
1 1 -6 -6
0 0 -8 -8
Polen Tschechien Ungarn Euroland 05 06 07 08 09 10 11
*Schätzung, **Prognose Quellen: EcoWin, Helaba Volkswirtschaft/Research
Quellen: EIU, Helaba Volkswirtschaft/Research
Als Hauptprobleme hat die ungarische Regierung – nicht zu Unrecht angesichts der europäischen
Schuldenkrise – die Staatsverschuldung ausgemacht, die die Handlungsfähigkeit des Souveräns
beeinträchtigt, und die Verschuldung im Ausland, die die Kreditnehmer abhängig macht von der
Währungsentwicklung. Orban hat daher bereits im März den Schulden „den Krieg erklärt“.
Schnelle und dennoch nachhaltige Fortschritte beim Schuldenabbau sind angesichts des schwa-
chen Wachstums und der hohen Arbeitslosigkeit (10,7 % im September) jedoch nicht zu erwarten.
2. Länderfokus: Ungarn
Beim Abbau des Budgetdefizits (2010: 4,2 % des BIP) zeigt sich die Regierung kreativ, die Bud-
getplanungen weisen für 2011 sogar einen leichten Überschuss aus. Allerdings wird der Haushalts-
Überschuss durch
saldo 2011 vorrangig ein Ergebnis von Sondereffekten sein, die zusammen eine Größenordnung
Eingriff in Rentensystem
von netto rund 8 % des BIP erreichen. Dazu zählen Umstellungen im Pensionssystem und sektora-
le Krisensteuern. Die Eingliederung der privaten Rentensäule in das staatliche System ist dabei im
Sinne der Nachhaltigkeit besonders zu kritisieren, denn so werden die Haushaltsprobleme in die
Zukunft verschoben, statt das Alterssicherungssystem auf stabile Füße zu stellen. Bereits 2012 ist
nach dem Auslaufen der genannten Effekte wieder mit einem Defizit zu rechnen. Denn der soge-
nannte Szell-Kalman-Plan vom Frühjahr 2011, der durch strukturelle Reformen das Wachstum
vorantreiben und die öffentliche Verschuldung senken soll, bleibt z.T. wenig konkret.
Dieser Plan setzt v.a. bei den Ausgaben an und enthält Maßnahmen, die 2012 und 2013 insgesamt
zu einer Haushaltskonsolidierung in Höhe von knapp 3 % des BIP führen sollen. Erreicht werden
soll dies etwa durch eine höhere Beschäftigungsquote, die derzeit noch mit rund 60 % insgesamt
und 55 % bei den Frauen eine der niedrigsten in der EU ist. Dazu sollen z.B. die Regelungen zur
Früh- und Berufsunfähigkeitsrente verschärft werden. Der IWF begrüßt den Plan grundsätzlich als
einen Schritt in die richtige Richtung, bemängelt aber die fehlende Konkretisierung in einigen
Bereichen. Steigerungen auf der Einnahmeseite werden laut Plan z.B. erreicht, indem von der
ursprünglich geplanten Reduzierung der Körperschaftsteuer und der Bankensteuer vorerst abgese-
hen wird. Auch die Einführung eines neuen elektronischen Fernstraßen-Mautsystems und die An-
hebung von Verbrauchsteuern sollen für Mehreinnahmen sorgen. Vor den Parlamentswahlen im
April 2014 dürfte die Konsolidierung dann wieder mehr in den Hintergrund rücken.
Haushaltsüberschuss 2011 nicht von Dauer
Defizit und Schuldenstand in % des BIP
10 100
Def izit Schuldenstand
(linke Skala) (rechte Skala)
8 80
6 60
4 40
2 20
0 0
2006 2007 2008 2009 2010 2011* 2012*
-2 -20
*Prognose, 2011: Überschuss
Quellen: EIU, Helaba Volkswirtschaft/Research
Auffällig ist, dass sich manche der Konsolidierungsmaßnahmen vor allem bei ausländischen Un-
ternehmen bemerkbar machen, wie die Sondersteuern für Telekommunikations- und Einzelhan-
Euro auf Eis
delsunternehmen sowie für Banken. Ausgenommen sind allerdings ausländische Unternehmen, die
in Ungarn Arbeitsplätze im Verarbeitenden Gewerbe schaffen, wovon insbesondere die Kfz-
Industrie profitiert. Zu diesem an nationalen Interessen ausgerichteten Kurs passt, dass Ungarn
seine Pläne zur Euro-Einführung auf Eis gelegt hat. Vor 2020 erscheint eine Euro-Einführung
derzeit nicht realistisch.
Allerdings ist die Euro-Euphorie auch bei anderen zentraleuropäischen EU-Ländern inzwischen
spürbar abgekühlt. Dies mag an der Schuldenkrise liegen. Aber auch das Leitzinsniveau in der
Eurozone wäre für einige dieser Länder derzeit viel zu niedrig. Indem sie ihre geldpolitischen
Instrumente autonom nutzen können, ist es für die Länder in der Euro-Warteschleife einfacher, auf
die Inflation und Bewegungen an den Devisenmärkten zu reagieren. So wurde der ungarische
Leitzins von November 2010 bis Januar 2011 um insgesamt 75 Basispunkte angehoben und liegt
seither stabil bei 6 %.
Helaba Volkswirtschaft/Research · 1. November 2011· © Helaba 2
3. Länderfokus: Ungarn
Leitzinsen deutlich über Euroland-Niveau Inflation bleibt hoch
Leitzinsen in % Verbraucherpreise in % gegenüber Vorjahr
12 12 8 8
11 11 7 7
10 10
9 9 6 6
Ungarn Polen
8 8 5 5
7 7 4 4
6 6
3 Ungarn 3
5 Polen 5
4 4 2 2
3 Euroland 3 1 Tschechien 1
2 Tschechien 2
0 0
1 1
0 0 -1 -1
05 06 07 08 09 10 11 Jan Mai Sep Jan Mai Sep Jan Mai Sep Jan Mai
08 09 10 11
Quellen: EcoWin, Helaba Volkswirtschaft/Research Quellen: EcoWin, Helaba Volkswirtschaft/Research
Aus konjunktureller Sicht wäre eine stärker akkommodierende Geldpolitik zu begrüßen, wie der
Ministerpräsident mehr als einmal klar gemacht hat. Mit Zinssenkungen tut sich die Nationalbank
Leitzins:
jedoch schwer. Denn der Inflationsrückgang erfolgt nur zögerlich: Das Zentralbankziel von 3 %
schwieriger Balanceakt
+/- 1 Prozentpunkt wurde bis zum Frühjahr deutlich überschritten, im September lag die Teuerung
noch bei 3,6 %. Hier machen sich die gestiegenen Energie- und Nahrungsmittelpreise bemerkbar.
Und auch die sektoralen Sondersteuern dürften ihre Spur bei der Teuerung hinterlassen. 2012 soll
die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte auf 27 % angehoben werden, was wegen der schwa-
chen Nachfrage jedoch nur bedingt inflationswirksam werden sollte. Eine lockere Geldpolitik
würde aber auch die ohnehin geschwächte Währung zusätzlich belasten und über die Verteuerung
der Auslandskredite die Wirtschaft weiter in Mitleidenschaft ziehen.
Der Zinsabstand zur Eurozone und die Entwicklung des Forint dürften daher weiterhin als Kriteri-
en in die Geldpolitik einfließen. Die Zentralbank betont in ihrem Kommentar zur jüngsten Ent-
scheidung, den Leitzins stabil zu lassen, dass die Aussichten für das BIP-Wachstum sich ver-
schlechtert haben und sie in den nächsten zwei Jahren mit schwachem Wachstum rechnet. Sie hebt
hervor, dass der Verlauf des Inflationsrückgangs unsicher ist, rechnet jedoch im Laufe des nächs-
ten Jahres mit nachlassendem Inflationsdruck. Dies würde den Weg für niedrigere Zinsen ebnen.
Höhere Risikoaufschläge bei Anleihen… …und bei Devisen
Spreads 10j. Staatsanleihen zu Deutschland in Basispunkten Währungen gegenüber dem Euro, Index, 1.1.2010 = 100
1000 1000 112,5 112,5
900 900 110,0 110,0
800 800 107,5 107,5
700 700 105,0 105,0
600 Ungarn 600
102,5 102,5
500 500 Forint
100,0 100,0
400 400
97,5 Zloty 97,5
300 300
Polen 95,0 95,0
200 200
Tschechien Krone
100 100 92,5 92,5
0 0 90,0 90,0
Jan Apr Jul Okt Jan Apr Jul Okt Jan Apr Jul Okt Jan Mrz Mai Jul Sep Nov Jan Mrz Mai Jul Sep
09 10 11 10 11
Quellen: EcoWin, Helaba Volkswirtschaft/Research Quellen: EcoWin, Helaba Volkswirtschaft/Research
Die ungarische Währung ist Ende Oktober 2011 mit rund 300 Forint/Euro wieder ihrem Rekord-
hoch während der Finanzkrise (317 Forint/Euro) nahegekommen. Auf kurze Sicht dürften die
Fortschritte bei den wirtschaftlichen Eckdaten überlagert werden von wiederkehrenden Unsicher-
heiten auf den Finanzmärkten. Im Verlauf von 2012 dürfte die Währung profitieren, wenn die
Pläne zum Abbau von Defizit und Schuldenstand konsequent und nachhaltig umgesetzt werden.
Helaba Volkswirtschaft/Research · 1. November 2011· © Helaba 3
4. Länderfokus: Ungarn
Die derzeitige Schwäche des Forint bringt ein gravierendes Problem mit sich: rund 60 % der Kre-
dite an Privatleute lauten auf Schweizer Franken. Durch den ausgeprägten Höhenflug des Franken
geriet ein Teil der Kreditnehmer in Schwierigkeiten. Während Ende 2010 der Anteil der notlei-
denden Kredite von Unternehmen und Haushalten noch bei 11 bis 12 % lag, hält die Ungarische
Zentralbank bis Ende 2011 einen Anstieg auf 14 bis 15 % für möglich.
Die ungarische Regierung reagierte im September 2011auf diese Entwicklung mit gesetzlichen
Regelungen zulasten der Banken, die Schuldnern die Rückzahlung ihrer Kredite zu einem deutlich
Erleichterungen bei
günstigeren als dem aktuellen Wechselkurs ermöglicht. Der Eingriff in die bestehenden Verträge
Fremdwährungskrediten
durch die Regierung löste international nicht nur heftige Kritik aus. Er hat auch destabilisierende
Effekte auf das Bankensystem, wenn die betroffenen Banken umfangreiche Beträge abschreiben
müssen, und trägt zur Verunsicherung auf den Kapitalmärkten bei. Die Ratingagenturen prüfen die
Herabstufung betroffener ungarischer und ausländischer Banken.
Deutliche Abschwächung gegenüber dem Franken
Währungen gegenüber Euro und Franken, Index, 1.1.2010 = 100
150 150
140 140
gegenüber dem Franken
130 130
120 Forint 120
110 Zloty 110
100 100
90 gegenüber dem Euro 90
Jan Mrz Mai Jul Sep Nov Jan Mrz Mai Jul Sep Nov
10 11
Quellen: EcoWin, Helaba Volkswirtschaft/Research
Insgesamt zeigen damit zwar die Zahlen für Ungarn ein freundlicheres Bild als in den vergangenen
Jahren, etwa bei der Leistungsbilanz, beim Haushaltsdefizit und den internationalen Währungsre-
serven. Die Außenverschuldung gemessen am BIP sinkt leicht, bleibt mit rund 130 % jedoch hoch.
Gleichzeitig werden in Ungarn die Risiken einer überstarken Regierung eklatant. Ungarn läuft hier
Gefahr, ausländische Investoren um den Preis vorübergehender vermeintlicher Vorteile zu verprel-
len.
Wirtschaftsdaten Ungarn
2010 2011s 2012p
Bruttoinlandsprodukt % gg. Vj., real 1,2 1,6 1,3
Die Publikation ist mit größter Sorgfalt
BIP pro Kopf $ 13.040 14.490 15.170
bearbeitet worden. Sie enthält jedoch lediglich
unverbindliche Analysen und Prognosen zu Bevölkerung Mio. 10,0 10,0 10,0
den gegenwärtigen und zukünftigen Markt-
Arbeitslosenrate % 11,2 11,0 10,5
verhältnissen. Die Angaben beruhen auf
Quellen, die wir für zuverlässig halten, für Budgetsaldo % des BIP -4,2 1,3 -3,5
deren Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktua-
lität wir aber keine Gewähr übernehmen kön-
Inflationsrate % 4,9 3,7 4,0
nen. Sämtliche in dieser Publikation getroffe- Leistungsbilanzsaldo % des BIP 2,3 1,3 1,0
nen Angaben dienen der Information. Sie
dürfen nicht als Angebot oder Empfehlung für Quellen: EIU, Helaba Volkswirtschaft/Research
Anlageentscheidungen verstanden werden.
Helaba Volkswirtschaft/Research · 1. November 2011· © Helaba 4