1. Jörg Hahn / Jens Schlesener
Konzeption einer Gehorthese für Querschnittgelähmte
Diese Diplomarbeit wurde am Fachbereich Maschinenbau der Fachhochschule Trier im
Auftrag der Firma Medical Research and Development Patent GmbH & Co. KG im
Zeitraum von Mai 1997 bis Oktober 1997 erstellt.
2. Wir begrüßen Sie zum ersten Kontakt mit der Diplomarbeit „Konzeption einer Gehorthese für
Querschnittgelähmte.
Diese Datei enthält einige Hinweise zur Nutzung der CD-Rom. Die einzelnen Dateien sind
nach den Kapiteln der Diplomarbeit unterteilt:
• kapO enthält die Einführung in die Diplomarbeit
• kap 12 enthält die
Kapitel „1. Einleitungquot; und
Kapitel „2. Medizinische Grundlagenquot;,
• kap3 enthält das
Kapitel „3. Stand der Technik von Hilfsmitteln für Querschnittgelähmtequot;,
• kap4 enthält das
Kapitel „4. Werkstoffe im Orthesenbauquot;,
• kap5 enthält das
Kapitel „5. Ideenfindungquot;,
• kap67 enthält die
Kapitel „6. Detaillösungenquot; und
Kapitel „7. Ausblickquot;,
• danach folgt der „Anhangquot; im Ordner anhang
Desweiteren sind auf dieser CD-Rom die während der Diplomarbeit erarbeiteten catia Model-
Files der Detailkonstruktionen und der Lösungskonzepte gespeichert
Die einzelnen Kapitel lassen sich mit MS-Word 7.0 öffnen.
Die catia Model-Files wurden mit der Version catia 4.1.7 erstellt.
3. Konzeption einer Gehorthese für Ouerschnittgelähmte
Erklärungen
1. Uns ist bekannt, daß die Diplomarbeit als Prüfungsleistung in das
Eigentum des Landes Rheinland - Pfalz übergeht. Hiermit erklären wir
unser Einverständnis, daß die Fachhochschule Trier diese Prüfungs-
leistung von Studenten der Fachhochschule Trier einsehen lassen darf,
und daß sie die Abschlußarbeit unter Nennung unserer Namen als
Urheber veröffentlichen darf.
2. Wir erklären hiermit, daß wir diese Diplomarbeit selbständig verfaßt,
noch nicht anderweitig für andere Prüfungszwecke vorgelegt, keine
anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt sowie
wörtliche und sinngemäße Zitate als solche gekennzeichnet haben.
Trier, den 24.10.97
Jörg Hahn Jens Schlesener
Vorwort
Jörg Hahn & Jens Schlesener
4. Konzeption einer Gehorthese für Querschnittgelähmte
Im April 1997 hat der technische Geschäftsführer Friedrich Schmitt der Trierer Firma
Medical Research and Development Patent GmbH & Co. KG (MRD) uns das Thema
quot;Konzeption einer Gehorthese für Querschnittgelähmtequot; für eine Diplomarbeit vorge-
schlagen. Da wir schon im Wintersemester 1995 / 1996 eine Konstruktionsarbeit aus dem
Bereich der Medizintechnik ausgeführt haben, hatten wir an diesem Thema sofort
Interesse.
An dieser Stelle möchten wir uns bei allen, die uns bei dieser Arbeit unterstützt haben,
bedanken; zuerst bei Herrn Prof. Dr. Ing. Michael Schuth für die Betreuung. Zudem stand
er uns jederzeit mit seinem Rat zur Seite und half uns bei der Bewältigung von Problemen.
Danken möchten wir der Firma MRD für die Aufgabenstellung und die interessanten Ideen
beim Brainstorming. Des weiteren möchten wir uns bei Dr. med. Bremer, Oberarzt in der
Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg, und den Orthopädietechnikern der Klinik
bedanken. In Gesprächen beurteilten sie die einzelnen Lösungsvorschläge und zeigten uns
Möglichkeiten zu Verbesserungen auf, die den Bedürfnissen der Behinderten vollends
gerecht werden. Besonders dankbar sind wir Frank Schäfer, der durch seine offenen
Gespräche und die von ihm geknüpften Kontakte uns vieles über die Bedürfnisse von
Paraplegikern nahe bringen konnte. Auch war sein persönlicher Ehrgeiz und sein
Engagement in dieser Sache immer wieder Ansporn für uns, unsere Arbeit weiter
hartnäckig zu verfolgen. Durch ihn lernten wir auch Claudia Kübert und Gerd Kluth
kennen. Sie vermittelten uns in zahlreichen Gesprächen ein Gespür für die
Bewegungsabläufe beim Gehen von behinderten und gesunden Menschen und
unterstützten uns jederzeit bei orthopädischen Problemen. Abschließend bedanken wir uns
bei den zahlreichen Firmen, die uns Anschauungsmaterial zur Verfügung stellten. Sie sind
namentlich im Anhang aufgeführt.
Inhalt Seite
Jörg Hahn & Jens Schlesener IV
5. Konzeption einer Gehorthese für Querschnittgelähmte
Zusammenfassung _____________________________________________________ Vll
1. Einleitung __________________________________________________________ 1
1.1 Vorstellung der Firma MRD Patent GmbH & Co. KG __________________ 3
1.2 Zeitplanung __________________________________________________ 4
1.3 Zielsetzung ___________________________________________________ 6
1.4 Anforderungsliste: Orthese für Querschnittgelähmte ___________________ 10
2. Medizinische Grundlagen _____________________________________________ 13
2.1 Die Wirbelsäule _______________________________________________ 13
2.2 Das Rückenmark ______________________________________________ 14
2.3 Querschnittlähmung ____________________________________________ 16
2.4 Einstufung nach der Höhe der Rückenmarkschädigung _________________
17
3. Stand der Technik von Hilfsmitteln für Querschnittgelähmte ________________ 19
3.1 Rollstühle ____________________________________________________ 19
3.2 Funktionelle Elektrostimulation und Neuroprothesen (Nerven aus Draht) ___ 20
3.3 Orthesen _____________________________________________________ 21
3.4 Reziproke Gehorthesen _________________________________________ 21
3.4.1 Die quot;LSU Reciprocation-Gait Orthosisquot; _____________________ 23
3.4.2 Die quot;Isozentrische ARGIOquot; ______________________________ 25
3.4.3 Der quot;Parawalkerquot; ______________________________________ 27
4. Werkstoffe im Orthesenbau ___________________________________________ 28
4.1 Polyethylen und Polypropylen ____________________________________ 29
4.2 Carbonfaserverstärkte Kunststoffe _________________________________ 30
4.3 Aluminium ___________________________________________________ 31
4.4 Edelstahl_____________________________________________________ 32
4.5 Titan ________________________________________________________ 32
4.6 Sonstige verwendete Materialien __________________________________ 33
5. Ideenfindung _______________________________________________________ 35
5.1 Problemdarstellung ____________________________________________ 36
Jörg Hahn & Jens Schlesener V
6. Konzeption einer Gehorthese für Querschnittgelähmte
5.2 Lösungsfindung _______________________________________________ 37
Vorstellung der Gesamtlösungen __________________________________ 42
5.3
5.3.1 Details, die alle Lösungen aufweisen ________________________ 42
5.4 Beschreibung der vier Lösungsvorschläge ___________________________ 43
5.4.1 Lösung 1: Gestänge-Hebelarmkombination mit Hydraulikantrieb __ 44
5.4.2 Lösung 2: Anatomische CFK-Schienen mit elektromotorischen
Antrieben _____________________________________________ 47
5.4.3 Lösung 3: Seilzuggesteuerte Orthese mit elektromotorischen
Antrieben _____________________________________________ 52
5.4.4 Lösung 4: Seilzuggesteuerte Orthese mit hydraulischen Antrieben _54
5.5 Vergleich der Lösungen _________________________________________ 60
5.6 Vergleichssystematik ___________________________________________ 65
5.7 Auswertung der Vergleichsystematik _______________________________ 67
6. Detaillösungen ______________________________________________________ 72
6.1 Das Hydrauliksystem ___________________________________________ 72
6.1.1 Experimentelle Ermittlung der notwendigen Längenänderungen __ 76
6.2 Aufnahme der Hydraulikzylinder __________________________________ 77
6.3 Anbindung der Bowdenzüge _____________________________________ 78
6.3.1 Plazierungen der Anbindungen __________________________________ 80
6.4 Führung der Bowdenzüge________________________________________ 81
6.5 Bandagen ____________________________________________________ 81
6.5.1 Individuelle Bandagenanpassung durch Klettverschlüsse _________ 81
7. Ausblick ___________________________________________________________ 84
Anhang ______________________________________________________________ 86
Anhang A: Primärenergieversorgung über einen Druckspeicher _____________ 86
Anhang B: Vorschläge zur Gestaltung der Steuerung bzw. Regelung _________ 87
Jörg Hahn & Jens Schlesener VI
7. ______________________ Konzeption einer Gehorthese für Querschnittgelähmte
Anhang C: Kontakte zu Betroffenen, Medizinern und Krankengymnasten _____
88
Anhang D: Firmen, zu denen im Verlaufe der Arbeit hilfreiche Kontakte
geknüpft wurden _________________________________________ 89
Anhang E: Firmen, deren Produkte in der Diplomarbeit vorgeschlagen wurden _89
Anhang F: Quellenverzeichnis _______________________________________ 90
Anhang G: Diplomanden ___________________________________________ 93
Jörg Hahn & Jens Schlesener VII
8. Konzeption einer Gehorthese für Querschnittgelähmte
Zusammenfassung
Der erste Kontakt eines Studenten mit seiner Diplomarbeit ist die Überschrift des Themas,
danach folgt meist eine kurze Erläuterung. Aufgrund dieser wenigen Informationen wird
entschieden, ob das Thema der Fachrichtung entspricht, in der man später beruflich tätig
sein möchte, und inwiefern das Thema für den jeweiligen Diplomanden genug
Motivations-grundlage bietet, um die Diplomarbeit mit Erfolg abschließen zu können.
Diese Zusammenfassung soll hierfür eine Entscheidungshilfe und Motivationsgrundlage
sein.
Die Trierer Firma MRD Patent GmbH & Co. KG hat das Thema quot;Konzeption einer
Gehorthese für Querschnittgelähmtequot; im April 1997 angeboten und notwendige finanzielle
Mittel zugesagt. Zu Beginn war eine umfangreiche Einarbeitung in die Thematik, speziell
in den medizinischen Themenbereich Querschnittlähmung, erforderlich. Neben der
üblichen Literaturrecherche wurden Kontakte zu Betroffenen, Firmen, Krankengymnasten
und Ärzten geknüpft. In dieser Phase wurden die medizinischen
Grundlagen erarbeitet, der Stand der Technik von reziproken
Gehorthesen festgestellt und eine Vorauswahl an Werkstoffen
getroffen.
In zahlreichen Gesprächen mit Querschnittgelähmten wurden
ihre Bedürfnisse an die Orthese bestimmt, damit nicht am
Kunden vorbei konstruiert wird. Aus den Bedürfnissen
entstanden zum einen Ideen, die konstruktiv umgesetzt wurden
und zum anderen die Bewertungskriterien und deren
Gewichtung innerhalb einer Konstruktionssystematik. In der
Orthopädischen Universitätsklinik in Heidelberg wurden die
Lösungsansätze mit Medizinern und Orthopädietechnikern
besprochen, kritisiert und verbessert. Die krankengymnastische
Abteilung der Rehabilitationsklinik Burg Landshut in
Bild 1: Virtueller Bernkastei - Kues (RPL) hat uns beraten, in welchen Rahmen
Computer - Dummy
als erste Testperson ein Gehen mit der Gehorthese möglich ist und unsere
Jörg Hahn & Jens Schlesener VIII
9. Konzeption einer Gehorthese für Querschnittgelähmte
Lösungskonzepte in bezug auf die menschliche Anatomie überprüft.
Die Lösungskonzepte wurden als Symboldarstellungen 3-dimensional mit CATIA
gezeichnet. Dazu war es notwendig einen virtuellen Computer - Dummy zu entwickeln, an
den die Orthese angepaßt werden komite. Der in Bild 1 dargestellte Computer - Dummy
weist die wesentlichen physiologischen Merkmale - kräftiger Oberkörper gegenüber
atrophierten Beinen - eines Querschnittgelähmten auf. Eines dieser Lösungskonzepte, das
in Bild 2 dargestellte quot;Seilzuggesteuerte Orthese mit
hydraulischen Antriebenquot; wurde durch eine
Konstruktionssystematik
zur
Detailkonstruktion
ausgewählt. Diese besteht aus einem System von
Bandagen, das zur Einleitung bzw. Abstützung der
Momente und zur Befestigung des Antriebes dient. Der
Antrieb, der der menschlichen Anatomie nachempfunden
ist, besteht aus hydraulischen Linearmotoren, deren
Hubbewegungen über Seilzüge auf die Beine übertragen
werden. Als Steuerung bzw. Regelung wird eine SPS
(Speicherprogrammierbare Steuerung) verwendet. Ihre
Signale wirken auf Ventilblöcke, die die Energie des
Druckmediums an die Antriebe verteilen.
Strenggenommen ist an diesem Punkt das Thema der
Diplomarbeit quot;Konzeption einer Gehorthese für
Querschnittgelähmtequot; ausgefüllt. Als Schnittstelle für
weiterführende Arbeiten wurde jedoch noch eine
Detailrecherche durchgeführt, deren Ergebnisse im Kapitel
quot;Detaillösungenquot; abschließend aufgeführt sind. Außer der
Detailkonstruktion bietet sich für weitere Diplomarbeiten
die Konstruktion der Energieversorgung und die
Entwicklung der Steuerung bzw. Regelung der
Bewegungsabläufe an. Ideen hierzu, die während dieser
Arbeit entstanden sind, sind im Anhang aufgeführt.
Bild 2: Seilzuggesteuerte
11. Einleitung
1. Einleitung
Vor etwa 35 Jahren führte eine Querschnittlähmung in der Regel innerhalb weniger
Wochen oder Monate zum Tode des Betroffenen. Für die wenigen Überlebenden bedingte
eine schwere Schädigung des Rückenmarks in jedem Fall einen lebenslangen Zustand der
Hilflosigkeit und Pflegebedürftigkeit.
Diese Situation hat sich mittlerweile grundlegend geändert. Es ist heute möglich, die
überwiegende Mehrzahl der an Folgen einer schweren Erkrankung oder Verletzung des
Rückenmarks Leidenden am Leben zu erhalten. Allerdings ergibt sich diese Verbesserung
der Überlebenschancen nur unter der Voraussetzung, daß jeder Querschnittgelähmte
sogleich und letztlich für sein ganzes Leben die erforderliche und in erheblichen Umfang
spezialisierte Behandlung erfährt, und daß er selber konsequent die Regeln und
Bedingungen beachtet, die die Behinderung und ihre Folgen von ihm fordern.
In Deutschland sind jährlich etwa 1000 - 1200 Neuerkrankungen oder Verletzungen mit der
Folge einer schweren Schädigung des Rückenmarks und hieraus resultierend einer
Querschnittlähmung zu verzeichnen. Eingeschlossen in diese Zahl sind etwa 300 Kinder,
die mit schweren Fehlbildungen des Rückenmarks und der Wirbelsäule (Spina bifida)
geboren werden. In erster Linie sind Verkehrsunfälle für etwa 60 Prozent aller
traumatischen Rückenmarkschädigungen verantwortlich. Bemerkenswert ist, daß die
Mehrzahl von querschnittgelähmten Verkehrsopfern ihre Schädigung dadurch erleiden, daß
sie aus dem Kraftfahrzeug heraus- oder im Fahrzeugraum umhergeschleudert werden.
Unter mehr als 1000 durch Kraftfahrzeugunfälle querschnittgelähmten Personen hatten
weniger als 10 in einem mit Nackenstützen ausgestatteten Auto einen korrekten
Sicherheitsgurt getragen. In den letzten Jahren hat die Zahl der Querschnittlähmungen
durch Moped- und Motorradunfälle deutlich zugenommen. Zu erwähnen ist schließlich die
Tatsache, daß bei mehr als der Hälfte der durch Verkehrsunfälle verursachten
Querschnittlähmungen dem Alkoholmißbrauch eine mitverursachende Rolle zugeschrieben
werden muß. Des weiteren kommt es nicht selten in Folge von Sport- und Spielunfällen zur
Querschnittlähmung. Als Ursache zu nennen sind hier insbesondere Badeunfälle
(Kopfsprünge in unbekannte Gewässer und Sprünge vom Seitenrand öffentlicher
Jörg Hahn & Jens Schlesener 1
12. ________________________________________________________________ Einleitunfi
Schwimmbäder), Unfälle beim Trampolinturnen, beim Reiten und Skifahren. Von
Querschnittlähmungen als Folge von Unfällen am Arbeitsplatz sind insbesondere Personen
betroffen, die in der Landwirtschaft (Stürze von der Leiter oder vom Baum, Verletzungen
durch Landmaschinen), im Baugewerbe (Stürze von Baugerüsten oder in Baugruben
hinein) und im Untertagebau tätig sind. Neben den keineswegs seltenen häuslichen
Unfällen, von denen vor allem Hausfrauen und ältere Personen betroffen sind, spielen
bedauerlicherweise Selbsttötungs- und Fremdtötungsversuche als Ursachen von
Querschnittlähmungen eine erhebliche Rolle. Eine Querschnittlähmung kann auch durch
Entzündungen des Rückenmarks und der Wirbelsäule, Tumoren oder neurologischen
Systemerkrankungen (Multiple Sklerose) hervorgerufen werden [1].
Querschnittgelähmte sind je nach Krankheitsbild auf Hilfsmittel zur Rehabilitation und zur
Bewältigung des Alltages angewiesen. Die Orthopädietechnik bietet hier eine Vielzahl von
Orthesen an, die den Querschnittgelähmten bezogen auf sein Krankheitsbild in seinem
Umfeld beweglicher machen sollen und seine physische Konstitution erhalten oder sogar
verbessern sollen. Diese Orthesen sind oft schwierig zu handhaben. Das Gehen eines
Querschnittgelähmten mit einem sogenannten reziproken Apparat ist nur sehr begrenzt
möglich. Ein großes Problem hierbei sind die sehr begrenzten Kräfte des Betroffenen,
zumal es sehr schwierig ist, diese Kräfte, in der Regel die Kräfte des Oberkörpers, für eine
Gehorthese zu nutzen. Hier soll, ausgehend von bestehenden Systemen, mit weiterem
technischen Einsatz eine Verbesserung erzielt werden.
Im Rahmen dieser Konstruktion wird das Konzept für den Prototypen einer Gehorthese für
Querschnittgelähmte erstellt. Bei der Konzeption der Orthese wird vom Krankheitsbild
eines einzelnen Querschnittgelähmten, der sich als Versuchsperson angeboten hat,
ausgegangen. Die Orthese muß, wie es in der Orthopädie üblich ist, individuell an den
Betroffenen angepaßt werden. Sie soll durch einen externen Antrieb und eine externe
Energieversorgung den Gang des Querschnittgelähmten unterstützen. Diese Möglichkeiten
werden optional in der Konstruktion berücksichtigt, so daß ein Antrieb einfach adaptiert
werden kann.
Jörg Hahn & Jens Schlesener 2
13. 1.1 Vorstellung der Firma MRD Patent GmbH & Co. KG
Forschung und Entwicklung im medizinisch-technischen Bereich sind die
wesentlichen Arbeitsinhalte des 1995 von Friedrich Schmitt gegründeten
MRD'
Unternehmens Medical Research and Development Patent GmbH & Co.
KG.
Zur Zeit beschäftigt die Firma MRD 11 fest angestellte Mitarbeiter. Neben den fest
angestellten Mitarbeitern unterstützen ständig etwa 20 Fachleute von Hochschulen und
Instituten die Firma MRD. Die MRD Beschäftigten kommen aus den unterschiedlichsten
Berufsfeldern, z.B. Ingenieure für bio-medizinische Technik, Ingenieure für Maschinenbau
oder ein Schreiner. Bei MRD steht die Fähigkeit, Dinge zu durchschauen, im Vordergrund.
Durch die Mischung unterschiedlicher beruflicher Fähigkeiten wird die innovative Arbeit
gefördert.
MRD erzielt mit diesem Konzept beachtliche Erfolge. Derzeit hält die Firma 23 Patente
und belegt damit auf dem rheinland-pfälzischen Patentindex des vergangenen Jahres Platz
zwei hinter der BASF.
MRD hat bisher folgende Produkte von der Patentanmeldung bis zur Marktreife
entwickelt:
• MRD Möbelsystem EVOLUTION (Bild 1 und 2)
• MRD Zytostatika-Sicherheitswerkbank Zyto Safe®
MRD hält unter anderem Patente für folgende Produkte:
• Luftreinigungsanlage
• Anti-Schnarch-Klammer
• Herzklappe
Ein Produktbeispiel ist das Möbelsystem EVOLUTION, ein Einrichtungssystem für
Praxen, Krankenhäuser etc. Es ist ein Modulsystem, bei dem die Knotenstücke, die jeweils
nur so viele Gewindebohrungen aufweisen wie für die Verbindung nötig sind, mit
3
Jörg Hahn & Jens Schlesener
14. Einleitung
Rundrohren verbunden werden (Bild 1.1). Die Flächenwerkstoffe können nach Gefallen
und Verwendungszweck z.B. für Schränke, Schreibtische oder Empfangstresen ausgewählt
werden (Bild 1.2). Die patentierte Konstruktion erlaubt den problemlosen Austausch aller
Teile auch ohne Demontage.
Bild 1.1 :Die Knotenstücke werden mit
Rundrohren verbunden
Bild 1.2: Ein Anwendungsbeispiel
von
1.2 Zeitplanung
FVOT T TTTfYN
Das Hochschulgesetz sieht für eine Diplomarbeit, die reibungslos abläuft, einen Zeitraum
von 26 Wochen vor. Das ist in diesem Fall die Zeit vom 24.04. - 24.10.1997. Die
Verteilung der Arbeitszeit in Wochen veranschaulicht folgender Zeitplan:
Berechnung der Gesamtarbeitsstundenzahl:
• Im oben genannten Zeitraum liegen 124 Arbeitstage.
• Es wird eine durchschnittliche Arbeitszeit von 8 Stunden pro Tag berechnet.
• Die Zeit wird zu 2/3 von beiden Studenten gemeinsam, und zu 1/3 jeweils
einzeln genutzt.
Jörg Hahn & Jens Schlesener 4
15. Einleitung
Daraus ergibt sich die Gesamtstundenzahl:
124 Arbeitstage x 8 Stundei}4,„ x 1.5 * 1300 Stunden
Tag
Stand: Do. 25.09.97
Arbeitsabschnitt Kalenderwoche 1997
Mai Juni Juli August September
2 2
i i 2 2 2 7 8 3 3
2 3 3 4 4
2 3 3 3 3 4 4
3 3
2
6 9
8 0 3 5 7 S
4 3 5 0 3
1 1 4 6 9 1 2
0 2
2
Layout der einzelnen
Kapitel
Recherche
Erarbeiten d. medi-
zinischen Thematik
Auswertung der
Recherche
Gliederung
Konstruktion
Ideenflndung
Detailrecherche
Werkstoffauswahl
Zwischen-
präsentation
CAD
Endgültiges Layout
1 2 1 7 7 7
i 3 4 4 4
3 3 4 4
1 3 3 3 3
3 3
? 7
l 1
2 3 4 7 8 9
9 1 2
2 6 0 3
8 0 1 8 9
5 7
1
0 6
5
Juli
Mai Juni August September
Der Zeitplan beginnt mit einer umfangreichen Recherche, weil die Thematik „Konzeption
einer Gehorthese für Querschnittgelähmtequot; für die Firma MRD und uns eine ganz neue
Herausforderung ist. Daran schließt sich eine Einarbeitungs- und Auswertungsphase an.
Nach 11 Wochen beginnt die Konstruktionsphase mit der Ideenflndung zu konkreten
Lösungsansätzen. In der 19. Woche findet eine Zwischenpräsentation statt. Hier wird mit
Herrn Prof. Dr. M. Schuth und der Firma MRD abgeklärt, welche Lösungsansätze
detailliert werden. Die Konstruktionsphase beinhaltet neben der Werkstoffauswahl und der
Jörg Hahn & Jens Schlesener 5
16. Einleitung
Ausarbeitung mit dem CAD Programm CATIA einige Detailkonstruktionen als
Schnittstelle zu weiterführenden Arbeiten. Bis zum Ende der Konstruktionsphase wird
parallel zu den Ausarbeitungen das Layout der fertigen Kapitel vorgearbeitet. Der Zeitplan
endet mit einem zweiwöchigen Zeitraum, in dem die Diplomarbeit endgültig zu Papier
gebracht wird.
1.3 Zielsetzung
Im Brainstorming werden zu Beginn der Arbeit die Assoziationen aller Beteiligten zum
Thema „Konzeption einer Gehorthese für Querschnittgelähmtequot; festgehalten. Hieraus
ergibt sich der größtmögliche Rahmen des Projektes mit vielen Möglichkeiten, die zwar
denkbar, jedoch in ihrer Vielfalt nicht realisierbar sind. Abgesehen davon, daß in dieser
Diplomarbeit die Konzeption des mechanischen Gestells gefordert ist, wird nachfolgend
stichpunktartig der gesamte Umfang der ersten Ideenfindung dargestellt, um einen
Gesamteindruck über das Ausmaß des Projektes zu gewinnen.
Ideen zur Recherche:
• Literatur
• Internet
• Patentrecherche
• Befragung der Betroffenen; hauptsächlich Paraplegiker (Paraplegie =
Querschnittlähmung bei voller Funktion der Arme)
• Unterstützung durch Paraplegiker Verbände und Vereine
• Unterstützung durch Kliniken und Rehabilitationszentren
• Unterstützung durch Orthopädie-Techniker
• Unterstützung durch Werkstätten der Orthopädietechnik
• Unterstützung durch Hersteller orthopädisch technischer Werkstoffe, Gelenke und
Schienen
Jörg Hahn & Jens Schlesener 6
17. Einleitung
Ideen zu Funktionen:
• Die Orthese soll es dem Querschnittgelähmten ermöglichen, für einen bestimmten
Zeitraum selbständig zu gehen.
• Die Orthese soll die Stützfunktionen aus dem Zusammenspiel von Skelett und
Muskeln eines gesunden Menschen ersetzen.
• Die Othese soll die gleiche Steifigkeit aufweisen wie der menschliche Körper.
• Die Orthese muß mit einem Antrieb und einer Energiequelle versehen werden, um
die fehlende Beinkraft zu ersetzen.
• Die Orthese kann mit einem künstlichen Gleichgewichtssinn versehen werden.
• Die Handhabung der Orthese könnte über ein Bussystem mit einer SPS
(speicherprogrammierbare Steuerung) gesteuert werden.
Ideen zum Aufbau:
• Die Orthese kann aus Schalen, die den Kontakt zum Körper herstellen, und aus
orthopädischen Schienen und Gelenken zusammengesetzt werden.
• Das funktionsfähige menschliche Skelett soll mit seiner Stützfunktion und seinen
Gelenken komplett integriert werden.
• Aufbau als „mechanische Hosequot;: Ein Gestell, in das der Querschnittgelähmte von der
Brust an bis einschließlich der Füße integriert wird.
• Aufbau als „mechanische Shortsquot;: Ein Gestell wie die mechanische Hose, das nur bis
zu den Knien alle Funktionen (z.B. Funktionen zum Antrieb oder zur Unterstützung
des Gleichgewichtes) erfüllt. Weiter abwärts hat die Orthese nur noch Stützfunktion,
und es ist keine Adaption weiterer Funktionen unterhalb der Kniegelenke möglich.
• Aufbau als „mechanische Shortsquot;: Die Orthese endet unterhalb der Kniegelenke. Das
Sprunggelenk wird durch einen orthopädischen Schuh abgestützt. Die Bewegung des
Unterschenkels wird wie bei einer Oberschenkelprothese erzeugt.
• Alle Varianten sollen direkt an die Anatomie des Querschnittgelähmten angepaßt
werden.
• Der Betroffene soll in der Lage sein, die Orthese selbst anzulegen.
• Die Orthese soll über ein System von Schnellverschlüssen einfach in der
Handhabung sein.
Ideen zu Werkstoffen:
Jörg Hahn & Jens Schlesener 7
18. Einleitung
• Alle Werkstoffe müssen nach Möglichkeit äußerst leicht sein, hohe Festigkeit und
hohe Korrosionsbeständigkeit aufweisen. Hier können Werkstoffe, wie sie im
Segelsport verwendet werden, mit ihren äußerst beständigen Eigenschaften und
zusätzlicher Leichtbauweise verwendet werden
• Einzeln angepaßte Schalen können aus modernen Verbundwerkstoffen, wie Carbon-
oder Glasfaser verstärkte Werkstoffe, hergestellt werden.
• Für die Gelenke kann Edelstahl oder Titan verwendet werden.
• Für Stützschienen kann Aluminium oder Titan verwendet werden.
Ideen zum Einsatzort:
• Einsatz innerhalb der eigenen Wohnung: Hier kann evtl. auch während des
Gebrauches eine Aufladung der Energieversorgung stattfinden.
• Einsatz im Freien: Hier muß das Überwinden von schon kleinsten Hindernissen, wie
unebener oder weicher Untergrund berücksichtigt werden.
• Einsatz für Rehabilitationszwecke, also ausschließlich im Rahmen ärztlicher
Behandlung
• Vom Einsatzort ist die Dauer des Einsatzes mitbeeinflußt.
Ideen zur Energieversorgung und Energieübertragung:
• Die Energieversorgung soll am Körper getragen werden. Dazu muß sie leicht sein
und darf keine Gefahr darstellen.
• Es soll keine Energie „verschenktquot; werden. So soll Gewicht gespart werden. Nach
Möglichkeit soll versucht werden, Energie zurück zu gewinnen.
• Nutzung der Wärmeenergie des Körpers über einen Wärmetauscher
• Rückgewinnung von Energie beim Auftreten durch einen „Schuhsohlengeneratorquot;
• Einbeziehen des körpereigenen Biogases in den Energiehaushalt
• Die Leistungsfähigkeit der Arme soll in vollem Umfang genutzt werden.
• Energie aus einem Drucklufttank ist mechanisch einfach zu verteilen.
• Energie durch einen Verbrennungsmotor, der auf dem Rücken getragen werden kann:
Vorteilhaft ist hierbei die hohe Energiedichte der Treibstoffe. Bei der Verwendung
von Wasserstoff fallen sogar störende Abgase weg. Aus dem Modellbau können
hierfür Erfahrungen übernommen werden.
Jörg Hahn & Jens Schlesener 8
19. Einleitung
• Elektrische Energie ist über eine SPS und ein Bussystem einfach zu steuern und am
Körper zu verteilen.
• Elektrische Energie kann auf vielerlei Weise bereitgestellt werden:
a) Durch leistungsfähige Akkus, wie sie bei Heimwerkerwerkzeugen zu finden sind
b) In der eigenen Wohnung ist eine Energieversorgung über ein Oberleitungssystem
wie bei Straßenbahnen denkbar. Hierüber kann während der Nutzung gleichzeitig
ein Akku wieder aufgeladen werden.
c) Im Auto ist das Aufladen eines Akkus über einen Anschluß am
Zigarettenanzünder denkbar.
d) Bei Gebrauch im Freien und bei Sonnenschein kann Energie über eine mit
Solarzellen bestückte Jacke erfolgen.
Beim Brainstorming ist Kritik gegen einen Lösungsansatz nicht zugelassen. Da diese
Auflistung das Ergebnis eines Brainstorming ist, beinhaltet sie nur Vorteile zur Nutzung
der Vorschläge, obwohl bei vielen Vorschlägen sich Kritik insbesondere hinsichtlich der
Realisierbarkeit aufdrängt. Um bei der Arbeit zu einem guten Ergebnis gelangen zu
können, muß also, so gut wie dies im Vorfeld möglich ist, abgewägt werden, welche
Inhalte wirklich realisierbar sind und den Rahmen einer Diplomarbeit sinnvoll ausfüllen.
Nach dieser Abwägung ist das Lastenheft im folgenden Abschnitt entstanden.
1.4 Anforderungsliste: Orthese für Querschnittgelähmte
Jörg Hahn & Jens Schlesener 9
20. E
in Stand:
leitung
F=Forderung, W=Wunsch
03.07.1997
Ander. Anforderungen Verantw.
F/
W
Zweck:
- Hauptproblem: Querschnittlähmung (Paraplegie)
- Gehhilfe für Querschnittgelähmte
F - Stützen des Körpers
- Durch externen Antrieb wird aufrechter Gang ermöglicht
F a) - mit fremder Hilfe
W a) - ohne fremde Hilfe
F a) - in der Ebene
W a) - Treppe
W a) - auf verschiedenem Untergrund
- Erhöhen der Selbständigkeit —> Erhöhen des
Selbstwertgefühls
Stand der Technik:
- Patentrecherche läuft MRD
01.07.97 - Patente über angetriebene Orthesen existieren nicht MRD
Markt:
- siehe Recherche
Zielgruppe:
03.07.97 - Querschnittgelähmte, Reha-Zentren
- Paraplegiker
Anzahl:
- ein Prototyp für Christian Elbeshausen (C.E.) Zus.-
w
Arbeit
mit C.E.
Produktausführung:
F
- individuelle Anfertigung
F - Gesamtgeometrie wird durch Patienten bestimmt
W
- Gewicht soll der atrophierten Muskelmasse entsprechen
W - Menschlicher Gang, v ca. 0,8 m/s
Kräfte:
- Masse des Körpers
- Trägheitskräfte
- (Druckkräfte nimmt Skelett teilweise auf)
Ander. F/ Anforderungen Verantw.
W
Jörg Hahn & Jens Schlesener 10
21. w - Laufzeit: 2h/Tag über 30 Jahre ~>21900h ->79*10A6
Schritte
w - Steifigkeit soll der des Knochen entsprechen
Energie:
- (gesunder Mensch kann kurzfristig 500W leisten)
- nötige Bewegungsenergie + Verluste der Übertragung
- Energiezufuhr und -Umformung wird nicht im Detail
behandelt
03.07.97 W - Konstruktive Lösung der Energieumformung
Stoff:
- Patient, (Skelett, Muskeln, Sehnen)
- Gerüst (GFK, CFK, AI, Ti, usw.)
Signal:
- Bewegungsbefehle des Patienten zur Regelung
- von der Regelung zur Energiequelle
- von der Energiequelle zu den Antrieben
- von den Antrieben zur Regelung
Sicherheit:
- Einhaltung des Medizinproduktegesetz bzw. Richtlinie
03.07.97 W
93/42 EWG
Ergonomie:
- Bedienung:
a) einmaliger Reiz ruft gespeicherten Bewegungsablauf
auf
b) andauernder Reiz für den Bewegungsablauf
- Form: Anlehnung an natürlichen Körperbau
W
- mit fremder Hilfe anzuziehen
F
- ohne fremde Hilfe anzuziehen
W
- Gleichgewichtserhalt mit Unterarmstützen
03.07.97 F
- Gleichgewichtserhalt ohne Unterarmstützen
03.07.97 W
Fertigung:
- einzeln angefertigte Schalen
- gleichbleibende Teile wie Gelenke usw. sind
Standardteile
Kontrolle:
- Probelauf und Softwareverifikation
Montage:
- nach Anfertigung der Formteile Fertigmontage in der
Werkstatt
Jörg Hahn & Jens Schlesener 11
22. Einleitung
Ander. Anforderungen Verantw.
F/
W
Gebrauch:
F - bis Ende des Lebensdauerzyklus
W - Tod des Patienten, danach recyclen
-Ort:
F a) innerhalb geschlossener Räume
W a) außerhalb geschlossener Räume
Emissionen:
- Lärm (mechanische Geräusche), andere je nach Antrieb
Instandhaltung:
- nach gewisser Stundenzahl Sichtkontrolle der einzelnen
Komponenten
Kosten:
- Entwicklungkosten MRD
- Herstellungskosten u.FH
- Materialkosten
Termine:
F - siehe Zeitplan
Jörg Hahn & Jens Schlesener 12
23. Medizinische Grundlagen
2. Medizinische Grundlagen
In den folgenden vier Abschnitten werden die Wirbelsäule des Menschen und das
Rückenmark beschrieben. Des weiteren wird eine Basis geschaffen, um das Thema
Querschnittlähmung auch medizinisch zu begreifen.
2.1 Die Wirbelsäule
Bild 2.1: Die Wirbelsäule des Menschen (Columna vertebralis) mit Bezeichnung der
einzelnen Abschnitte und Wirbel
In Bild 2.1 ist die Wirbelsäule des Menschen dargestellt. Oben befinden sich die sieben
Halswirbel Cl - C7 (Vertebrae cervicales I -VII). Weiter oben sind keine Wirbelelemente
mehr. Hier mündet das verlängerte Rückenmark (Medulla oblangata) in den
Jörg Hahn & Jens Schlesener 13
24. Medizinische Grundlagen
Schädelknochen und stellt so die Verbindung zum Gehirn her. Unter den Halswirbeln
schließen sich die zwölf Brustwirbel an (Vertebrae thoracicae I - XII). Bei einer
Schädigung (Läsion) des Rückenmarks in diesem Bereich spricht man von einer thoracalen
Lähmung. Unter den Brustwirbeln befinden sich die fünf Lendenwirbel (Vertebrae
lumbales I -V). Bei Läsionen in diesem Bereich spricht man von lumbaler Lähmung. Der
unterste Abschnitt der Wirbelsäule ist das Steißbein (Os sacrum). Die Wirbelelemente sind
hier zu einem Knochen zusammengewachsen. Im Querschnitt der Wirbelsäule ist der
Wirbelkanal (Canalis vertebralis) zu erkennen. In diesem Kanal verläuft das Rückenmark.
Es wird durch die Wirbelsäule vor Verletzungen geschützt und zugleich im flexiblen
Wirbelkanal geführt.
2.2 Das Rückenmark
Das Rückenmark (Medulla spinalis) ist im Bild 2.2 farblich hervorgehoben. Es ist ein
langer dicker Strang von Nervenfasern und Nervenzellen sowie Bindegewebe im
Rückenmarkskanal (Canalis vertebralis) der Wirbelsäule. Es wird in die gleichen
Abschnitte (cervical-, thoracal-, vertebral- und sacral Abschnitt) wie die Wirbelsäule
unterteilt. Die Abschnitte sind im Bild 2.2 gelb, rot, blau und weiß hervorgehoben. Eine
weitere Unterteilung des Rückenmarks - den Wirbeln entsprechend - erfolgt in sogenannte
Rückenmarksegmente. Eine Besonderheit der acht Halsmarksegmente (Segmenta
cervicalia I -VIII) liegt in der Anzahl acht gegenüber den sieben Halswirbeln. Zusammen
mit dem Gehirn bildet das Rückenmark das Zentralnervensystem. Die Verbindung
zwischen Gehirn und Rückenmark ist das verlängerte Mark (Medulla oblangata). Das
Rückenmark erfährt in der Wachstumsphase eine Positionsänderung in Bezug auf die
knöchernen Strukturen. Dies geht anschaulich aus Bild 2.2 hervor. Die einzelnen
Rückenmarksegmente enden auf der Höhe des 2. Lendenwirbels. Ab dem 2. Lendenwirbel
besteht es nur noch aus nervösen Leitungsverbindungen (Cauda equina = Pferdeschwanz).
Die Aufgabe des Rückenmarks besteht einerseits in der Herstellung der nervösen
Leitungsverbindungen zwischen Gehirn und Körperperipherie, andererseits in der Bildung
von Reflexzentren sowie Schaltneuronen zur Koordination einfacher motorischer
Bewegungsabläufe. Jedem Wirbel wird ein Segment des Rückenmarks zugeordnet. Es
Jörg Hahn & Jens Schlesener 14
25. Medizinische Grundlagen
besteht aus weißer und grauer Substanz. Die
weiße Substanz sind die Leitungsbahnen,
die graue Substanz sind Nervenzellen-
ansammlungen. Die beiden Substanzen sind
gegeneinander streng abgetrennt. Im
Rückenmarkquerschnitt, der etwa die Größe
einer kleineren Münze hat, lassen sich die
Leitungsbahnen außerhalb der
schmetterlings-ähnlichen grauen Substanz
leicht erkennen und den verschiedenen
Strängen zuordnen.
Das Rückenmark ist ein wichtiges Zentrum
für Reflexe. Das Durchtrennen des
Rückenmarks hat zur Folge, daß die
unterhalb der Schädigung liegenden
Bereiche ohne nervöse Verbindung mit dem
Gehirn sind. Der Betroffene spürt diese
Körperteile nicht mehr, auch nicht bei
Verletzungen, und kann sie nicht mehr
bewegen. Dieser Zustand nennt sich
Querschnittlähmung (Paraplegie = zwei
symmetrische Gliedmaßen sind betroffen,
Letraplegie = alle vier Gliedmaßen sind von
der Lähmung betroffen)[2, 3,4].
Bild 2.2: Lage des Rückenmarks im Rückenmarkskanal beim Erwachsenen. Ab dem 2.
Lendenwirbel besteht es nur noch aus nervösen Leitungsverbindungen (Cauda
equina) [2].
Jörg Halm & Jens Schlesener 15
26. Medizinische Grundlagen
2.3 Querschnittlähmung
Querschnittlähmungen sind überwiegend Folgen von Schädigungen des Rückenmarks,
mitunter auch Schädigungen von Nervenwurzeln oder von im Wirbelkanal verlaufenden
peripheren Nerven (Cauda equina-Schädigung). Die komplette Querschnittlähmung ist
die vollständige Unterbrechung der Rückenmarkbahnen in Höhe eines oder mehrerer
Segmente. Sie führt zu einer charakteristischen Trias von motorischer, sensibler und
vegetativer Lähmung, d.h.:
• Willkürbewegungen können im gelähmten Körperbereich nicht mehr ausgeführt
werden.
• Die Funktionen der Oberflächensensibilität (Berührungs-, Schmerz-,
Temperaturempfindung) sind vollständig ausgefallen. Gleichzeitig sind die
Empfindungen der Tiefenwahrnehmung (propriozeptive Sensibilität) teilweise
oder vollständig gestört, was heißt, daß die Wahrnehmung für geführte
Bewegungen sowie für Lage und Vibrationsempfindungen verloren sind.
• Daraus resultieren schwere Ausfälle hinsichtlich der Blasen- und
Mastdarmfunktion, der Sexualfunktion, der Regulation des peripheren
Kreislaufs, der Atemfunktion und der Schweißdrüsensekretion.
Als inkomplette Querschnittlähmung bezeichnet man eine partielle Unterbrechung des
Rückenmarks, und daraus resultierende partielle Lähmungen motorischer, sensibler und
vegetativer Funktionen. Weiter wird unterschieden zwischen schlaffer- und spastischer
Querschnittlähmung. Läsionen mit völliger Denervierung in den Bereichen des Hals-,
Brust-, Lenden- oder Sakralmarks können komplette oder inkomplette schlaffe
Querschnittlähmungen verursachen. Schädigungen im Bereich des Brustmarks mit
thorakalen Lähmungsfolgen können ungesteuerte, unwillkürliche Muskelaktivitäten
hervorrufen, die zu kompletten oder inkompletten spastischen Querschnittlähmungen
führen [5, 6].
Jörg Hahn & Jens Schlesener 16
27. Medizinische Grundlagen
2.4 Einstufung nach der Höhe der Rückenmarkschädigung (Läsions-
niveau)
Der Terminus Paraplegie wird einerseits als Sammelbegriff für alle Lähmungen nach
spinaler Läsion benutzt, andererseits werden im engeren Sinne als Paraplegie oder
Paraparese Lähmungen nach Schädigung des Brust- und Lendenmarks, des Conus
medullaris (unterste Segmente des Rückenmaks) und der Cauda equina definiert. Hier sind
die Muskulatur des Rumpfes und der unteren Gliedmaßen sowie deren Sensibilität gestört.
In Abgrenzung hierzu werden unter den Begriffen Tetraplegie oder Tetraparese
Lähmungsbilder verstanden, die aus Halsmarkläsionen resultieren. Zur Definition des
Niveaus einer Querschnittlähmung wird jeweils das letzte intakte Segment angegeben, also
beispielsweise „Paraplegie unterhalb Th9quot; oder „Tetraplegie unterhalb C6quot;. Die
Lagebeziehung zwischen Wirbel und betroffenen Rückenmarkssegment, sowie die sich
daraus ergebenden körperlichen Abhängigkeiten mit den wichtigsten zugehörigen
orthopädischen Versorgungsmaßnahmen werden in Bild 2.3 dargestellt.
Die hier zu konzipierende Gehorthese ist für eine Versorgung von Betroffenen mit
Lähmungen im unteren thoracalen Bereich gedacht.
Jörg Hahn & Jens Schlesener 17
28. Medizinische Grundlagen
Läsion körperliche Abhängigkeiten wichtigste Hilfsmittelversorgung
unter-
halb ____________________________________________________________
Tetraplegie
Grundsätzlich: Beeinträchtigung
der Atmungsmechanik, Blasen-
und Mastdarm lähmung,
________ rollstuhlabhängig ___________________________________________
C3/4 In allen Handhabungen des 1 elektr. Rollstuhl mit speziellen
täglichen Lebens von Hilfe Steuerungshilfen, z.B.
abhängig Kinnsteuerung und 1 mech.
Rollstuhl, Pflegehilfen z.B. Lifter,
____________________________________ elektr. steuerbares Stehgerät ______
C4/5 Vollständig pflegeabhängig, 1 mech. und 1 elektr. Rollstuhl,
Greifen mit passiver Funktionshilfen für die Hand, elektr.
Funktionshand möglich z.B. Schreibmaschine, elektr. steuerbares
Essen und Schreiben mit Stehgerät
________ Hilfsmitteln möglich ________________________________________
C6 Teilweise pflegeabhängig, 1 mech. und 1 elektr. Rollstuhl,
Greifen mit aktiver Funktionshilfen für die Hand, elektr.
Funktionshand, selbständige Schreibmaschine, elektr. steuerbares
Oberkörperpflege Stehgerät, Fahren eines angepaßten
PKW möglich
C7/8 Selbständig bis auf geringe 2 mech. Rollstühle, elektr.
Hilfeleistungen, Gehen mit Schreibmaschine, Zimmerbarren und
Gehapparaten im Barren möglich Gehapparate, Stehgerät, Fahren eines
____________________________________ angepaßten PKW möglich ________
Paraplegie
Grundsätzlich: Blasen- und
Mastdannlähmung,
________ pflegeunabhängig __________________________________________
Thl-9 Beeinträchtigung der 2 mech. Rollstühle, Zimmerbarren
Atmungsmechanik bis Th6, und Gehapparate, PKW
rollstuhlunabhängig, Gehen mit
________ Gehapparaten im Barren _____________________________________
TH11- Teilweise rollstuhlunabhängig, 2 mech. Rollstühle, Zimmerbarren
L2 Gehen und Treppensteigen mit und Gehapparate, PKW
Gehapparaten an
________ Unterarmstützen ___________________________________________
L3/4 Weitgehend 1 mech. Rollstuhl, Gehapparate ohne
rollstuhlunabhängig, Gehen mit Kniesperre und Unterarmstützen,
Gehapparaten ohne Kniesperren PKW
________ an Unterarmstützen _________________________________________
' L5-S1 Rollstuhlunabhängig, Gehen mit Gehstöcke, Peroneusfeder, PKW
________ Peroneusfeder an Gehstöcken _________________________________
S2/3 Weitgehend normale Abrollhilfe
________ Gehfähigkeit ______________________________________________
Bild 2.3: Schematische Darstellung der Lage des Rückenmarks zu den
Wirbelkörpern der Wirbelsäule mit tabellarischer Auflistung der
daraus resultierenden körperlichen Abhängigkeiten und wichtigste
Hilfsmittelversorgung
Jörg Hahn & Jens Schlesener 18
29. ________________________ Stand der Technik von Hilfsmitteln für Querschnittgelähmte
3. Stand der Technik von Hilfsmitteln für Querschnittgelähmte
In den folgenden Kapiteln „Rollstühlequot;, „Funktionelle Elektrostimulationquot; und „Orthesenquot;
wird ein kurzer Überblick gegeben, welche Hilfsmittel Querschnittgelähmten zur
Verfügung stehen, und in welche Richtung die Forschung geht, um die Mobilität der
Betroffenen zu erhöhen. In dem Kapitel „Reziproke Gehorthesenquot; wird der aktuelle
technische Stand von reziproken Gehorthesen wiedergegeben, auf dem diese Diplomarbeit
aufbaut.
3.1 Rollstühle
Die sorgfältige, individuelle Auswahl des Rollstuhls stellt einen wesentlichen Schritt zur
umfassenden Rehabilitation des Querschnittgelähmten dar. Der Rollstuhl ist für den
Paraplegiker wie für den Tetraplegiker nicht, wie mitunter irrtümlich definiert, ein
„Krankenfahrzeugquot;, sondern das wichtigste Hilfsmittel zur Bewältigung eines
entscheidenden Teils der Behinderung, nämlich des Mobilitätsverlustes. Er ist in der Regel
die unverzichtbare Voraussetzung für die aktive Teilnahme am täglichen Leben, am
Berufsleben und am Sport.
Zur Auswahl für den Querschnittgelähmten stehen zur Verfügung:
• mechanisch zu bedienende Rollstühle mit einfacher oder verstärkter Ausführung
der Hinterachse
• mechanisch zu bedienende Rollstühle aus Leichtmetall
• mechanisch zu bedienende Rollstühle mit speziellen Konstruktionsmerkmalen,
die sie für die Sportausübung geeignet machen
• Elektrorollstühle
• Spezialrollstühle mit Aufrichte- oder Lagerungsmechanik
• Transit- und Transportrollstühle zur Bedienung durch Hilfspersonen
Der Rollstuhl muß hinsichtlich der technischen Voraussetzungen den verbliebenen
Restfunktionen des Querschnittgelähmten gerecht werden. Er wird nach Körpergröße,
Hüftbreite und Längenmaßen an Ober- und Unterkörper ausgemessen und gegebenenfalls
Jörg Hahn & Jens Schlesener 19
30. Stand der Technik von Hilfsmitteln für Querschnittgelähmte
angepaßt. Die Auswahl muß also stets individuell erfolgen. Zur gezielten Versorgung des
Querschnittgelähmten eignen sich besonders Rollstühle, deren Grundbestandteile einem
Baukastensystem entsprechen. Sie sollten in ihrem Aufbau und in ihrer Zusammensetzung
auch zu einem späteren Zeitpunkt der Behinderung und der speziellen Situation des
Patienten entsprechend variiert werden können [6].
3.2 Funktionelle Elektrostimulation (FES) und Neuroprothesen (Nerven
aus Draht)
Hier wird durch elektrische Reizung bestimmter Muskelgruppen eines Beines, die der
Paraplegiker jeweils selbst auslöst, eine Schrittbewegung hervorgerufen. Das
Gleichgewicht und die Vorwärtskomponente der Bewegung wird von den Armen mit dem
Oberkörper durch den Einsatz von Armstützen bewirkt [5]. Dennoch ist die FES wie auch
die Neuroprothese ä la CALIES (Computer Aided Locomotion by Implanted Electro-
Stimulation) nicht als Ersatz für den Rollstuhl gedacht. Denn der Gelähmte könnte dann
viele Bewegungen, für die er beide Hände braucht, nicht mehr ausführen. Aus diesem
Grund arbeitet der Physiker Prof. Wolfgang Daunicht vom Neurologischen
Therapiezentrum in Düsseldorf seit ein paar Jahren schon an einer neuen Generation von
Stand-Gang-Prothesen: Eine Schritt-Maschine mit Gleichgewichtsorgan - und ohne
Krücken. Daunicht: „Der Querschnittgelähmte muß sich um nichts mehr kümmern. Ein
neuronales Netz mit künstlichen Reflexen schützt ihn davor, umzufallen, wenn ihn
beispielsweise jemand anrempelt.quot; Weil es zu riskant ist, die automatische
Gleichgewichtssteuerung an einem Menschen auszuprobieren, hat der Physiker einen
virtuellen Paraplegiker mit 180 Körpermuskeln entworfen. „Wenn ich beispielsweise einen
Muskel von dem virtuellen Paraplegiker mit einer Elektrode reize, kann ich genau
beobachten, was dies für eine Bewegung im ganzen Körper auslöstquot;, sagt Daunicht. Aus
solchen virtuellen Leibesübungen im Computer läßt sich berechnen, was passiert, wenn der
Querschnittgelähmte stürzt, und wie das künstliche Gleichgewichtsorgan das verhindern
kann. Damit dies nicht nur Theorie bleibt, hat Daunicht einen Roboter entwickelt. Mit den
aus dem Modell berechneten Algorithmen ist der Roboter „Freddyquot; inzwischen sehr
standfest geworden: Selbst auf einem Bein stehend, kippt er nicht um, wenn man ihn ins
Wanken bringt. Auch an Patienten soll das künstliche Gleichgewichtsorgan mit
Jörg Hahn & Jens Schlesener 20
31. Stand der Technik von Hilfsmitteln für Querschnittgelähmte
Beschleunigungssensoren, die wie in der Natur die Richtung der Schwerkraft ermitteln
können, in ein paar Jahren ausprobiert werden [7]. Stehen und Gehen mit Hilfe von
Elektrostimulatoren - selbst wenn sie nur kurzfristig und für kleine Strecken angewendet
werden - bringt eine ganze Reihe von medizinischen Vorteilen. Neuroprothesen
verhindern, daß Knochen entkalken, Muskeln schwinden oder Druckgeschwüre entstehen.
Sie regen den Kreislaufan und können Spastiken lindern [8].
3.3 Orthesen
Hier sind die Orthesen der Sachgrupppe der Lähmungsorthesen von größter Bedeutung. Sie
werden nach Maß oder Körperformmodell hergestellt und sind funktionsergänzende und
auch funktionsunterstützende, bewegungsbeeinflussende Orthesen für mehrgelenkige
Gliedmaßenbereiche. Die erforderliche Teilfixierung wird mit statisch-starren
Grundelementen der Orthese erreicht [5]. Der Bau einer Lähmungsorthese erfordert in allen
Fällen die Beherrschung der mechanischen, statischen und der dynamischen Grundlagen,
eine reiche Erfahrung und die liebevolle Erfassung des Einzelfalles, zumal jeder Fall
anders liegt. Gerade hier ist die Zusammenarbeit des Arztes und des Mechanikers von
besonderer Notwendigkeit. Einer muß den anderen beraten. Soll ein Stütz- oder Gehapparat
für einen Gelähmten gebaut werden, kommt es zunächst einmal darauf an, ob es sich um
eine sog. schlaffe oder eine spastische (Krampf-) Lähmung handelt. Die
Muskelverhältnisse sind bei beiden Lähmungsformen ganz verschieden. Durch den Ausfall
der Muskeln, welche die Streckung des Hüft- und Kniegelenks bewirken und diese
Gelenke in Streckstellung halten, ist der Mensch nicht mehr imstande, sich mit Sicherheit
beim Gehen und Stehen aufrecht zu halten. Der Lähmungsapparat soll sicheren Stand und
sicheren, bestmöglichen Gang vermitteln [5].
3.4 Reziproke Gehorthesen
Zur Mobilisierung von Querschnittgelähmten mit fehlender muskulärer Hüftgelenk- und
Beinkontrolle kann durch die Anwendung reziproker Gehorthesen eine relativ natürliche
und effiziente Fortbewegung erzielt werden.
Jörg Hahn & Jens Schlesener 21
32. _______________________ Stand der Technik von Hilfsmitteln für Querschnittgelähmte
Die Koppelung der linken mit der rechten Beinorthese über eine Becken-Rumpforthese
ermöglicht durch die Beugung des einen Hüftgelenkes jeweils die Streckung des
gegenseitigen Hüftgelenkes. Die sich daraus ergebende statisch-mechanische Bewegung
beider Beinseiten ergibt den reziproken (wechselseitigen) Gang [5].
Indikationen für eine reziproke Gehorthese:
• Die Füße sollen im Stand in Neutral-Null-Stellung (90° Winkel von Fuß zum
Unterschenkel) auf den Boden aufgesetzt werden können. Geringe Fehlhaltungen
können durch Schuhzurichtungen korrigiert werden.
• Die Kniegelenke dürfen keine nennenswerten Kontrakturen (unter 5°-10°) aufweisen.
• Die Hüftgelenke sollten beweglich und frei von Kontrakturen, Einsteifungen und
Spastizität sein.
• Gute Muskelkraft der oberen Gliedmaßen
• Richtige Motivation
• Unterstützung und Mithilfe durch die Familie
• Realistische Ziele und Erwartungen, da ganz sicher keine Orthese für einen derart
schwerbehinderten Patienten völlige „Normalitätquot; wiederherstellen kann. Die
Benutzung von Gehhilfen ist auch weiterhin erforderlich. Das reziproke Gehen mit
der Orthese ist mit geringer bis mittelmäßiger Geschwindigkeit und mit wenig
Kraftaufwand möglich.
• Wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, können evtl. operative
Korrektureingriffe und eine krankengymnastische Behandlung vor der
Orthesenversorgung in Erwägung gezogen werden.
Kontraindikationen:
• Schwere, nicht korrigierbare Kontrakturen, die einen regelrechten Aufbau der
Orthese unmöglich machen.
• Spastizität oder andere unwillkürliche Muskelaktivitäten, die einen freien und
koordinierten Bewegungsablauf verhindern.
• Übergewicht
• Muskelschwäche der oberen Extremitäten [9, 5]
Jörg Hahn & Jens Schlesener 22
33. Stand der Technik von Hilfsmitteln für Querschnittgelähmte
Behandlungsziel:
Wenn die oben angegebenen Voraussetzungen gegeben sind, kann der Patient
voraussichtlich mit der Orthese aufrecht stehen und bei regelmäßiger täglicher Benutzung
das Entstehen von Kontrakturen verhindern. Erwachsene werden außerhalb ihres
Wohnbereichs trotz der Orthesenversorgung auch weiterhin auf die Benutzung des
Rollstuhls angewiesen sein. Der Patient muß diese Zusammenhänge verstehen, um die
Möglichkeiten und Grenzen der Orthese, gemessen an seinen speziellen Bedürfnissen,
einschätzen zu können [5]. Im folgenden werden verschiedene Systeme reziproker
Gehorthesen vorgestellt.
3.4.1 Die „LSU Reciprocation-Gait Orthosisquot;
Die erste reziproke Gehorthese war die LSU Reciprocation-Gait Orthosis. Sie wurde 1983
von der Louisianna State University in New Orleans vorgestellt und auch dort entwickelt.
Gebaut wird sie von Durr-Fillauer Medical INC. in Chattanooga Tennessee (USA).
Die LSU Gehorthese (Bild 3.1) ergibt sich aus:
• Einer Leichtgewichts-Kunststoffkonstruktion: Die Oberschenkel- und Unterschenkel-
formteile sind aus Polypropylen geformt. Verstärkungen aus Carbonfasereinlagen in
der Sprunggelenkregion wirken versteifend.
• Einem individuell geformten Beckenführungsteil aus Kunststoff unter Einschluß des
Kreuzbeins und des Gesäßes. Das Beckenführungsteil hat eine gewisse Elastizität,
die der Beweglichkeit dient.
• Der Verwendung von Aluminiumschienen mit rückverlagerten Kniegelenken, die mit
einer Fallschloßsperre und Kugel-Feder-Rückhaltung versehen sind. Bei geringer
Beanspruchung z.B. bei Kindern kann oft auf die innenliegenden Knieschienen
verzichtet werden.
Jörg Hahn & Jens Schlesener 23
34. Stand der Technik von Hilfsmitteln für Querschnittgelähmte
• Der mechanischen Koppelung beider Hüftgelenke durch Kabelzüge, die eine
beiderseits
gleichzeitige Beugung oder Streckung der
Hüftgelenke beim Gehen verhindern. Mit der
Beugung des einen Hüftgelenkes wird
gleichzeitig das andere Hüftgelenk gestreckt.
Die Bowdenzüge übertragen dabei die Kräfte
von der einen Orthesenseite auf die andere. Erst
eine Gelenkentsperrung beider mechanischer
Hüftgelenke führt zur gleichzeitigen
Hüftbeugung und damit zur Sitzposition.
Erfahrungen haben gezeigt, daß eine einzelne
Kabelführung für Patienten mit mäßig bis gering
aktivierbaren Hüftbeugemuskeln ausreicht,
jedoch Patienten mit total gelähmten
Hüftbeugern besser
Doppelkabelsystem versorgt werden, um
sowohl die Beugung als auch die Streckung zu
steuern. Neben den oben aufgeführten
Indikationen wurde bei den versorgten Patienten
die Kraft der oberen Extremitäten und die
Motivation eingehend untersucht.
ausgewählten Patienten mußten in der Lage
sein, sich aus dem Sitz für 60 Sekunden mit den
Armen hochzustemmen, ohne zu zittern. Gezielt
mußten sich diese Patienten einem intensiven
Bild3.1:Aufbauder„LSU allgemeinen Konditionstraining hauptsächlich
Reciprocation-Gait Othosisquot;
für die Arme und einer Gehschulung mit
Übungsorthesen an mehreren Tagen pro Woche
über einen Zeitraum von drei bis vier Wochen unterziehen, bevor die LSU Gehorthese
verschrieben wurde. Mit diesem Vorgehen können sich Patienten tatsächlich selbst testen.
Jörg Hahn & Jens Schlesener 24
35. ________________________ Stand der Technik von Hilfsmitteln für Querschnittgelähmte
Diejenigen, die dieses Training als nicht vereinbar mit ihren üblichen Aktivitäten und als
ungerechtfertigt oder unannehmbar empfinden, geben auf oder versäumen Übungsteile.
Nur mit vollständig absolviertem Kurs wird die Motivation als ausreichend eingeschätzt
um die reziproke Gehorthese nutzen zu können [5].
Seit 1
Weiterentwicklung der LSU Gehorthese.
Der Grundaufbau gleicht dem oben
vorgestellten System, außer daß statt der
geschwungen geführten Bowdenzüge
horizontal geführte Bowdenzüge
verwendet werden (Bild 3.2). Diese
Entwicklung soll drei entscheidende
Vorteile haben:
•L
e
i
c
h
tgängigkeit durch verminderte
Reibung
• verbesserte Haltbarkeit durch
verringerten Verschleiß des
Bowdenzugsystems
• einfachere Einstellung der
Hüftflexion und Hüftextension
durch Stellschrauben [10].
Bild 3.2:Die LSU Orthese mit waagerechter Bowdenzugführung
3.4.2 Die „Isozentrische ARGIO®quot;
Die Isozentrische ARGIO® (Bild 3.3) ist eine Gehorthese der Firma Pro Walk in
36. Egelsbach. Im Aufbau ähnelt sie dem oben vorgestellten System der Firma Fillauer bis auf
folgende Details. Die Isozentrische ARGIO® ist ausschließlich für den Gebrauch von
Jörg Hahn & Jens Schlesener 25
37. Stand der Technik von Hilfsmitteln für Querschnittgelähmte
Kindern bestimmt. Die Bewegung des einen Hüftgelenkes wird durch eine nadelgelagerte
Wippmechanik auf das andere Hüftgelenk übertragen. So kann die Bewegungsenergie des
Kindes fast vollständig umgesetzt werden, weil kaum Reibungsenergie verloren geht.
Das starre Rumpfteil, verbunden mit speziellen Hüftgelenken, erlaubt eine laterale
Beinschienenführung (Die innenliegenden Schienen können weggelassen werden.). Die
Hüftgelenke können zum Hinsetzen vom Kind selbst einfach entriegelt werden. Die
Unterschenkelorthesen werden bis zum
Medialen Kondylus (innerer Gelenkhöcker
des Oberschenkelknochens am Kniegelenk)
hochgezogen. Dadurch wird der
Oberschenkel meist gut geführt, so daß
auf die Oberschenkelhülsen verzichtet
werden kann. Durch diese Bauart kann
die Isozentrische ARGIO® auch im
Sitzen angezogen und unter den
Kleidern getragen werden. Die Firma
Pro Walk legt neben den oben
aufgezählten Indikationen besonderen
Wert auf eine Teambetreuung des
Patienten beim Umgang mit ihren
Orthesen. Das Team besteht aus
Therapeuten, Orthopädietechnikern, der
Bild 3.3:Die Isozentrische ARGIO®: Eine
Familie des Patienten und dem
reziproke Gehoerthese für Kinder
von der Firma Pro Walk. Patienten selbst [11].
Gehorthesen mit einer Wippmechanik
werden noch von weiteren Firmen angeboten:
• Wilh. Jul. Teufel GmbH in Stuttgart; „System Isocentricquot;
• Fillauer (deutscher Vertrieb durch Basko Healthcare in Hamburg); „Rocker Bar
Systemquot;
Jörg Hahn & Jens Schlesener 26
38. Stand der Technik von Hilfsmitteln für Querschnittgelähmte
• John + Bamberg in Hannover „Johekaquot;
3.4.3 Der „Parawalkerquot;
Der Parawalker wird von der Firma Pro
Walk hergestellt und vertrieben. Er
unterscheidet sich im Aufbau deutlich
von den bisher vorgestellten reziproken
Gehorthesen (Bild 3.4). Der
Parawalker ist eine Gehorthese für
Erwachsene oder schwergewichtige
Jugendliche. Derzeit ist der Parawalker
die Orthese mit der höchsten seitlichen
Stabilität. Die Bewegung der beiden
Hüftgelenkseiten ist nicht gekoppelt.
Das Hüftgelenk des Parawalkers läßt
nur Bewegungen in der Sagitalebene
(Vorbeugen) zu [11]. Zum Hinsetzen
läßt sich das Hüftgelenk und die
„Schweizer Sperrequot; der Kniegelenke
entriegeln. Eine Feder im Hüftgelenk
erleichtert das Hinstellen aus dem Sitz.
Bild 3.4:Der Parawalker: Eine
reziproke Gehorthese für
Erwachsene
Der Patient verlagert zum Gehen mit der Orthese den Körperschwerpunkt vor seine
Aufstandsfläche. Um nicht umzufallen stützt er sich mit Unterarmstützen nach vorne ab.
Ein Schritt wird durch das Abheben des Spielbeins eingeleitet. Der Patient drückt sich mit
einer Unterarmgehstütze seitlich ab. Durch den Parawalker neigt sich hierbei die gesamte
Längsachse des Patienten, ohne daß die Hüfte zu einer Seite hin abfällt. Das Spielbein
schwingt unter dem Körperschwerpunkt hindurch nach vorne. Nun muß der Patient mit
Hilfe der Unterarmstützen unter Einsatz des Musculus Latissimus dorsi (großer seitlicher
Jörg Hahn & Jens Schlesener 27
39. _______________________ Stand der Technik von Hilfsmitteln für Querschnittgelähmte
Rückenmuskel) seinen Körperschwerpunkt wieder vor seine Aufstandsfläche bringen und
der nächste Schritt kann durch ein Hochdrücken zur anderen Seite eingeleitet werden.
Jörg Hahn & Jens Schlesener 28
40. Werkstoffe
4. Werkstoffe im Orthesenbau
Für klassische Orthesen werden auch heute noch Metallschienen, gegebenfalls mit frei
beweglichen oder sperrbaren Gelenken, und metallene Bänder als tragende
Rahmenkonstruktion verwendet, ergänzt durch gewalkte Lederhülsen zum sogenannten
Schienen-Hülsen- oder Schienen-Schellen-Apparat: Die Hülse umhüllt formschlüssig einen
längeren Gliedmaßenabschnitt, während die halbzirkuläre Metallschelle, durch ein
Lederband auf der Gegenseite vervollständigt, einen relativ schmalen Teil der jeweiligen
Gliedmaßen - meist in Nachbarschaft zu einem Gelenk - fixiert. Spezielle Druckpelotten
erlauben die gezielte Übertragung dosierter Kräfte auf bestimmte Körperpartien. Zug um
Zug wird jedoch die herkömmliche Leder - Metall - Technik zur Orthesenherstellung
abgelöst von thermoplastischen Kunststoffmaterialien und glas- oder
carbonfaserverstärkten Gießharzen [14].
Ein Hauptziel bei der Herstellung von Orthesen ist, neben den funktionellen Aspekten, eine
Verringerung des Gewichtes und eine Verbesserung der Zuverlässigkeit und der Sicherheit
der einzelnen Bauteile. Edelstahle werden schon seit langem verwendet. Sie entsprechen
den Anforderungen hinsichtlich Festigkeit und Zuverlässigkeit, weisen aber ein
entsprechend hohes Gewicht auf. Oft werden Orthesenkonstruktionen in Stahl-Leder-
Technik deshalb vom Patienten als zu schwer empfunden. Spezifisch leichtere Aluminium
Legierungen, die bei der Herstellung von Beinorthesen zum Einsatz kommen, weisen oft
nicht die erforderliche Bruchsicherheit auf. Neue Generationen von Legierungen eröffnen
zwar neue Möglichkeiten, was das Verhältnis von Gewicht zu Festigkeit betrifft, aber ihre
Verformbarkeit ist eingeschränkt und dadurch die Bruchsicherheit entsprechend gemindert.
Zum Vergleich der Metallwerkstoffe im Orthesenbau dient Tab. 4.1.
Thermoplastische Kunststoffe, wie Polypropylen und ihre Modifikationen haben zur
Lösung einiger Probleme bezüglich Gewicht und Formgebung beigetragen. Auch hat die
Laminattechnik unter Verwendung von Carbonfasern eine starke Weiterentwicklung des
Orthesenbaus bewirkt. Das Problem der Gelenkverbindung mit dem Laminat konnte aber
nur teilweise gelöst werden.
Jörg Hahn & Jens Schlesener 28
41. _____ ________ Werkstoffe
Werkstoffe
Eigenschaften Titan Edelstahl Eisen Aluminium
Dichte in kg/m 4500 7930 7860 2700
Schmelzpunkt in °C 1670 1420 1535 658
Wärmekapazität in kJ/kG*K 0,535 0,490 0,464 0,908
Elastizitätsmodul in N/mm2 110000 194000 204000 71000
8,5 11,0 11,17 22,9
Ausdehnungskoeffizient
bei25°CinlOquot;6/°C
Tab 4.1: Tabelle zum Vergleich der Metall Werkstoffe im Orthesenbau [11, 12, 13]
Titan hat bisher in der Orthopädietechnik vor allem bei Prothesen-Paßteilen Anwendung
gefunden. Der hohe Preis und die schwierige handwerkliche Verarbeitung verhindern aber
bisher die Verbreitung im Orthesenbau. Die guten mechanischen Eigenschaften und das
geringe Gewicht machen es jedoch auch für den Aufgabenbereich des
Orthopädietechnikers interessant.
4.1 Polyethylen und Polypropylen
Dichte Zugfestigkeit G-Modul zulässiger Temp.-
bereich
g/cm3 N/mm2 N/mm2 °C
0,97 30 1000 -120 bis 130
HDPE
ca. 0,9 37 ca.800 bis 130
PP
Tab. 4.2: Eigenschaften von HDPE (High Density PE) und PP
Hauptsächlich finden Polyethylen (PE) und Polypropylen (PP) im Schalenbau
Verwendung. Sie gehören zur Gruppe der Thermoplaste (TP) und sind daher leicht zu
verarbeiten. Bei hinreichender Erwärmung erweichen TP bis zur Fließfähigkeit, sind somit
beliebig sphärisch verformbar und härten bei Abkühlung aus. Dieser Vorgang ist beliebig
wiederholbar, wenn man eine Zersetzung (zu hohe Temperatur) vermeidet. TP sind im
allgemeinen schmelzbar, schweißbar, quellbar und löslich.
Jörg Hahn & Jens Schlesener 29
42. Werkstoffe
PP und HDPE sind kochfest, sterilisierbar und besitzen ähnliche chemische Beständigkeit
und elektrische Eigenschaften.
4.2 Carbonfaserverstärkte Kunststoffe
Mit carbonfaserverstärkten Kunststoffen (CFK) lassen sich besonders konturgetreue
Stützelemente herstellen, die hinsichtlich der Festigkeit mit Stahl und Aluminium zu
vergleichen sind, aber nur ein Fünftel davon wiegen. Die Dehnung von CFK ist
vollelastisch, Ermüdungsbeständigkeit und Vibrationsdämpfung sind hervorragend.
Da in diesem Material die Fasern überwiegen (60 Vol % bis 80 Vol %), sind die
Eigenschaften der Fasern maßgebend. Carbonfasern, sie bestehen zu über 95 % aus reinem
Kohlenstoff, besitzen eine hohe Zugfestigkeit, hohen Elastizitätsmodul, niedriges
spezifisches Gewicht, geringe Bruchdehnung und eine hohe Temperaturbelastbarkeit. Sie
sind chemisch weitgehend inert. Die Festigkeiten übertreffen die der meisten Metalle und
anderer Faserverbundwerkstoffe.
C-Fasertype
IM
Eigenschaften Einheit HAT HM
g/cm3 1,78 1,80 1,79
Dichte
MPA 3400 5400 2350
Zugfestigkeit
GPA 235 290 358
Zug-E-Modul
% 1,4 1,7 0,6
Bruchdehnung
10-6 K-l -0,1 -0,5
Wärmeaus-
dehnungskoeffizient
Tab. 4.3: Übersicht der Eigenschaften verschiedener C-Fasern
CFK ist ein Laminat, das schichtweise aus Kohlenstoffgewebe und einem Kunststoff - der
Matrix - besteht [15]. Eine Eigenheit von CFK, wie auch aller anderen faserverstärkten
Verbundwerkstoffe, besteht darin, daß man ihre Belastbarkeit den vorgesehenen
Bedingungen anpassen kann. Das geschieht durch zweckmäßige Wahl oder Kombination
der Faserorientierungen innerhalb der Matrix. So ergeben bidirektionale Anordungen
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43. Werkstoffe
(0°/90°) gute Festigkeitswerte in zwei (senkrechten) Richtungen. Und noch komplexere,
multidirektionale Anordungen (0° / ± 45° / 90°) wirken in mehreren Richtungen
verstärkend [16].
Im Orthesenbau ist die Matrix meist duroplastisch, d.h. sie besteht aus einem Gießharz, das
nach dem Aushärten nicht erneut plastisch geformt werden kann. Hierin besteht der große
Nachteil des herkömmlichen CFK, da somit ein Nachformen der Teile nur gering sowie die
Anpassung an veränderte anatomische Gegebenheiten nicht möglich ist. Eine Alternative
dazu bietet das carbonfaserverstärkte Halbzeug METCORE. Dieser Werkstoff läßt es zu,
die Form der Stützelemente auch nachträglich den gegebenen anatomischen Verhältnissen
anzupassen. Dies ist möglich, indem die Matrix in einen thermoelastischen Zustand
versetzt wird, damit die Kohlenstoffaserschichten sich gegeneinander verschieben können,
ohne daß es zu einer Ablösung der Matrix von der Faser kommt. Hierbei soll es zu keiner
Beeinträchtigung der Festigkeit und Steifigkeit der Schale kommen.
Verarbeitet werden die METCORE-Zuschnitte, indem sie nach einer Erwärmung an das
Model angeformt und anschließend verklebt werden [17].
4.3 Aluminium
Aluminium findet in der Orthopädietechnik Verwendung beim Bau von orthopädischen
Schienen. Es eignet sich durch sein besonders geringes spezifisches Gewicht von 2700
kg/m bei beachtlichen Festigkeitswerten von 40-180 N/mm je nach Behandlungszustand.
Nachteilig wirkt sich seine geringe Bruchsicherheit aus. Aluminium hat im Vergleich zu
Stahl keine Dauerfestigkeit nach Wöhler. Eine weitere günstige Eigenschaft für die
Orthopädietechnik ist die hervorragende Korrosionsbeständigkeit.
Der geringe Elastizitätsmodul von Aluminium führt bei der Verwendung für
Stützkonstruktionen zu einem wesentlich elastischeren Verhalten, verglichen mit
gleichartigen Konstruktionen aus Stahl. Nachteilig ist auch der thermische
Ausdehnungskoeffizient, der rund das Zweifache von dem des Stahles beträgt.
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44. Werkstoffe
Die breite Nutzung der Vorteile von Aluminium für den technischen Bereich, nämlich
seine geringe Dichte und die große Korrosionsbeständigkeit, wurden erst möglich durch die
Verbesserung der Festigkeitseigenschaften. Hier spielt für die technische Entwicklung der
Aluminiumlegierungen die Entdeckung der Festigkeitssteigerung durch Aushärten eine
überragende Rolle. Die wichtigsten Legierungselemente sind Kupfer, Magnesium und
Silizium.
Durch eine Wärmebehandlung der Aluminiumlegierungen werden die Festigkeitswerte
gesteigert.
4.4 Edelstahl
Edelstahle sind besonders reine (in Bezug auf mechanische Gütewerte und Kerbwirkung
der Einschlüsse) Qualitätsstähle. Qualitätsstähle werden nach ihrem Verwendungszweck
untergliedert, nach dem sie durch Legierungselemente ihre speziellen Eigenschaften
erhalten. Im Bereich Orthopädietechnik werden rostfreie Stähle verwendet. Sie haben einen
Chrom-Legierungsanteil von mindestens 12 Prozent. Die Korrosionsbeständigkeit wird
durch eine besonders glatte, zum Beispiel polierte Oberfläche begünstigt [18].
Stahl hat ein sehr hohes spezifisches Gewicht von 7900 kg/m3 und kann daher nur begrenzt
beim Bau von Orthesen verwendet werden. Durch seine extrem hohen Festigkeits- und
Steifigkeitswerte bietet sich Stahl zur Verwendung bei kritischen Bauteilen - wie zum
Beispiel bei Gelenken - an, ist aber aus dem gleichen Grund auch schwierig zu bearbeiten.
So stellt zum Beispiel die Firma Otto Bock einzelne Gelenke aus Edelstahl her, die zum
Einbetten in Verbundfaserwerkstoff oder zur Anbindung an Aluminiumschienen gedacht
sind.
4.5 Titan
Der Werkstoff Titan eröffnet neue Anwendungsmöglichkeiten bei Orthesen. Er stellt eine
dritte Möglichkeit dar, die zwischen den traditionellen Versorgungen mit Stahl-Aluminium
Orthesen und den neueren Orthesen aus Faserverbundwerkstoffen liegt.
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45. Werkstoffe
Titan hat ein spezifisches Gewicht von 4500 kg/m3, das heißt, es ist 40 Prozent leichter als
Edelstahl, mit ähnlichen Leistungsmerkmalen. Bei industriell gefertigten Paßteilen aus
Titan können die traditionellen Montagetechniken beibehalten und dabei das Gewicht der
Orthesenkonstruktion entscheidend reduziert werden. Ein Vergleich von
Titankonstruktionen mit Faserverbundkonstruktionen ergibt, daß Titankonstruktionen ca.
10-15 Prozent schwerer sind, wenn die Orthesen in Faserverbundtechnik mit einem
leistungsfähigen Verfahren hergestellt sind. Die normale Acryl-Laminattechnik ergibt
ungefähr die gleiche Gewichtssituation wie bei Titanschienen.
Der Vorteil von Titan gegenüber den Verbundwerkstoffen liegt jedoch in der Möglichkeit,
bei Anproben und über die gesamte Lebensdauer der Orthese hinweg, Nachpassungen
vorzunehmen, ohne daß sich dies nachteilig auf die Struktur und die Festigkeit der Orthese
auswirkt. Ebenso eignen sich Titanorthesen besonders für die Versorgung von Kindern, da
hier das geringe Gewicht, die leichte Veränderbarkeit der Bauteile sowie die
Reparaturfreundlichkeit von größter Wichtigkeit sind.
Gelenkelemente aus Titan sind des weiteren bestens geeignet für die Einbettung in
Faserverbundwerkstoffe, da es sich im Gegensatz zu Aluminium mit allen
Verbundwerkstoffen verträgt [19].
4.6 Sonstige verwendete Materialien
Die Art der Innenverkleidung und Befestigungsriemen richtet sich nach den Wünschen
bzw. Bedürfnissen (bei Allergien) des Patienten und besteht aus Baumwolle, Leder oder
verschiedenen Kunststoffen.
Die Firma 3M Medica in Borken stellt verschiedene Arten von individuell anpaßbaren
Kunststoffschienen zur Abstützung und Entlastung aller Gliedmaßen her. Der Werkstoff ist
ein Glasfaser-Trägermaterial, daß mit einem wasseraktivierbaren Polyurethanharz getränkt
ist. Nach kurzem Einweichen in Wasser härtet das Harz innerhalb einer halben Stunde
vollkommen aus. Das ausgehärtete Material ist sehr leicht und atmungsaktiv, weil es mit
Jörg Hahn & Jens Schlesener 33
46. Werkstoffe
Poren durchsetzt ist. Für die Verwendung zur Stabilisation kritischer Punkte der
Gehorthese bieten sich insbesondere folgende zwei Produkte an:
• „3M Softcastquot;: Läßt sich paßgenau an den Körper anmodelieren und ist nach
dem Aushärten unter Krafteinwirkung noch begrenzt biegsam, findet aber immer
zur Ausgangsform zurück. Durch das Einmodelieren einer Schiene lassen sich
gewünschte Bereiche vollkommen stabilisieren.
• „3M Scotchcastquot;: Dieser Werkstoff wird hauptsächlich als Ersatz für
herkömmlichen Gips verwendet. Er bietet genügend Stabilität, um ihn als
Schiene zur vollkommenen Stabilisation in das Softcast Material
einzumodelieren.
Vor dem Anmodelieren wird nur ein dünner Unterziehstrumpf über die entsprechende
Extremität gezogen. Er verbleibt als Polsterung in der Schiene und kann Schweiß
aufnehmen. Durch die genaue Paßform lassen sich Druckstellen vermeiden. Zum Softcast
Material werden Schnallen, Bänder und Knöpfe, wie sie zum Verschließen von
Rucksäcken üblich sind, angeboten. Diese lassen sich als Schnellverschlüsse direkt an die
Schiene montieren.
Die Firma 3M Medica gibt gerne weitere Informationen unter der Kontaktadresse im
Anhang.
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47. Ideenfindung
5. Ideenfindung
Im Vordergrund der Konstruktion und Herstellung von Orthesen steht die generelle Frage:
Welche Aufgabe soll die Orthese erfüllen und wie können die medizinischen
Anforderungen mechanisch umgesetzt werden?
Zur Lösung dieser Probleme empfiehlt es sich, den wissenschaftlichen Weg einzuschlagen,
den Dingen auf den Grund zu gehen, damit eine bestmögliche Abstimmung der
mechanischen Orthesenelemente in ihrer Wirkungsweise auf den menschlichen Körper
erfolgen kann. Dies geschieht zweckmäßigerweise durch eine Eingrenzung des
Aufgabengebietes mittles folgender Fragen:
• Welchem Zweck dient die Orthese?
• Welche Gelenke werden mit einbezogen?
• Wieviel Kraft brauchen wir?
• Welche Hebelwirkung machen wir uns zunutze?
• Wie lange soll die Orthese verwendet werden?
• Aufweiche Oberfläche wirken wir ein?
• Gegen welche Reaktionen arbeiten wir?
• Gibt es krankheitsspezifische Warnsignale?
Der oben aufgeführte Fragenkatalog kann als logischer Leitfaden bei der Rezeptierung und
Fertigung herangezogen werden [5].
Dieser Leitfaden aus dem Standardwerk der Orthopädietechnik dient zur ersten
Sensibilisierung für die Problematik der Konzeption der Gehorthese.
Jörg Hahn & Jens Schlesener 35
48. Ideenfindung
5.1 Problemdarstellung
An sich ist die Konstruktion ein rein technisches Problem. Die Orthese ist so zu gestalten,
daß die Funktion sichergestellt ist, das Design ansprechend und funktional ist und somit
der Markt die Orthese akzeptiert. Das beinhaltet unter anderem ein geringes Gewicht, die
einfache Handhabung und andere Punkte, die später als Bewertungskriterien unter Punkt
5.5 noch aufgeführt werden. Zusätzlich zu den technischen Problemen der Konstruktion
müssen jedoch auch in einem sehr hohen Maß die Eigenarten der menschlichen Anatomie
erkannt bzw. das Fehlen von Funktionen berücksichtigt werden. Plausibel wird dies beim
Betrachten der Muskulatur. Durch das Fehlen ihrer Funktion treten gleich mehrere
medizinische Probleme auf. Zunächst führt und hält die Muskulatur die Gelenke in ihrer
Position und ermöglicht somit einen exakten Bewegungsablauf innerhalb des Gelenkes.
Fehlt nun diese Führung, kommt es zu unkontrollierten Bewegungen des Gelenkes, was zu
einem enormen Verschleiß führt. Somit geben die Gelenke nur vor, wo man eine Kraft
bzw. Bewegung einleiten kann. Ferner sorgt die Muskulatur mit Hilfe der Venenklappen
für eine gute Blutzirkulation im ganzen Körper. Durch die Erschlaffung des
Muskelgewebes ist die Funktion der Venenklappen stark beeinträchtigt bzw. nicht mehr
vorhanden. Hieraus folgt eine unzureichende Blutzirkulation in den betroffenen
Extremitäten, da die Pumpfunktion des Herzens allein zum Transport des Blutes aus den
Beinen nicht ausreicht und somit die Gefahr besteht, daß sich Blut in den Beinen sammelt.
Die unzureichende Blutzirkulation wiederum bewirkt eine sehr hohe Empfindlichkeit
gegenüber der Bildung von Druckstellen. Im Vergleich mit einer intakten Muskulatur, wo
eine punktuelle Druckbelastung auf das Gewebe einen blauen Fleck erzeugt, der nach 3-4
Tagen wieder verheilt ist, bildet sich im schlaffen Gewebe eine Druckstelle, die entweder
einer Operation zur Entfernung bedarf, oder erst nach mehr als 6 Monaten verheilt und das
auch nur bei dauernder Pflege. Denn durch die mangelnde Durchblutung ist der Körper
nicht in der Lage sich selbst zu regenerieren.
Des weiteren bedingt die mangelnde Blutzirkulation eine Unterversorgung der Knochen
mit Mineralien, was zu einer Art Osteoporose im Knochen führt. Die Knochenfestigkeit
Jörg Hahn & Jens Schlesener 36
49. Ideenfindung
sinkt auf ca. 50 % der eines gesunden Knochens, so daß ein Stoß, der vor der Lähmung nur
zu einem blauen Fleck geführt hätte, einen Trümmerbruch bewirkt.
Man kann schon jetzt erkennen, daß ein Großteil der Führungsfunktion deshalb von der
Orthese übernommen werden muß. Die Muskulatur, die ohne Funktion schlaff am
Knochen hängt, ein Orthopäde vergleicht sie mit einem lose gebundenen Sack voll Sand,
bedeutet dadurch zusätzliches Gewicht, das auch noch geführt und eingebettet werden
muß.
Daneben tritt auch öfters eine trophische Störung auf, das heißt das vegetative
Nervensystem, das für die Spannung der Haut, der Gefäße und der Lymphgefäße
verantwortlich ist, ist geschädigt. Diese Schädigung führt zu Hautdurchblutungsstörungen,
übermäßiger Schweißsekretbildung und zu einer zusätzlichen Wasseraufnahme des
Körpers.
Als weiteres Problem taucht die Spastik auf, unter der man die unkontrollierte und
willkürliche Bewegung von Muskeln und dadurch der Gliedmaßen versteht. Diese
Bewegungen gilt es sanft mit der Orthese zu unterdrücken bzw. zu mindern, da die Spastik
ein hohes Verletzungspotential wie Prellungen und Knochenbrüche für die Person birgt.
Hier muß versucht werden, bei der Beschaffenheit der Orthese einen Mittelweg zu finden,
damit nicht andererseits die Orthese zu einer Verletzung führt. Das nächste Problem ist der
besondere Aufbau des Kniegelenkes. Das Gelenk besitzt nur im gestreckten Zustand eine
seitliche Stabilität. Das heißt ein Kniegelenk hat im gebeugten Zustand mehr Freiheitsgrade
als im gestreckten Zustand. Aus diesem Grund benötigt es starke seitliche Ersatzführungen,
die nur Bewegungen in der Sagitalebene zulassen. Ferner führt das Kniegelenk keine reine
Rotationsbewegung aus, sondern eine Überlagerung aus Rotation- und Scherbewegung.
Dieser komplizierte Bewegungsablauf muß zusätzlich bei der Krafteinleitung beachtet
werden.
5.2 Lösungsfindung
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