Münker, Stefan (2009): Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die sozialen Medien im Web 2.0
1. Münker, Stefan (2009): Emergenz
digitaler Öffentlichkeiten. Die
sozialen Medien im Web 2.0
KO Schlüsseltexte und Theoriendiskurs (Ausgewählte Theorien der Medien- und
Kommunikationswissenschaft)
Referentinnen: Claudia Raith, Melanie Retsch
3. Autor – Stefan Münker (* 1963)
studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Hamburg, Köln und
Berlin
Seit den 1990er Jahren veröffentlicht er Arbeiten über Medienphilosophie
2005-2010 dozierte und habilitierte er in Basel
2010/11 war er Professor für Medienethik an der Universität Regensburg
2012/13 war er Fellow der Alcatel-Lucent-Stiftung an der Universität Stuttgart
gehörte zu den ersten Mitarbeitern der Telepolis
war Redakteur der ZDF-Talkshow „Nachtstudio“
arbeitet heute als Privatdozent am Institut für Musikwissenschaft und
Medienwissenschaft der Humboldt Universität Berlin und ist Teil der Redaktion für
Kultur und Wissenschaft des ZDF
4. Hintergründe zum Text/Relevanz
Fachbuch
2009 im Suhrkamp-Verlag erschienen
in Essay-Form verfasst
Befasst sich mit dem Thema Öffentlichkeit im Web 2.0
„Andere Öffentlichkeiten als digitale wird es dabei auf absehbare Zeit nicht
mehr geben.“
5. Begriff: Emergenz
„Der Begriff der Emergenz beschreibt das Auftreten von Eigenschaften eines Systems, die sich mit einer Betrachtung der Eigenschaften der einzelnen Systembestandteile nicht erklären lassen.“
Stichworte in der Systemwissenschaft sind: Selbstorganisation,
Botton-up-Entwicklungsprinzipien, Konnektionismus, Chaostheorie
„Der Begriff wird nicht nur innerhalb wissenschaftlicher, bzw.
philosophischer Kreise verschieden gedeutet, sondern auch in der
(vor allem englischen) Alltagssprache verwendet. Dort jedoch
synonym für die wesentlich unspezifischeren Begriffe »Auftauchen«,
»Erscheinen« oder »Wachsen«.
Prof. Dipl.Des. Oliver Wrede (2007): Emergenz und Design. Online unter http://wrede.design.fh-aachen.de/artikel/emergenzund-design
6. Emergenz für Kommunikation
brauchbar?
Frage: Ist Emergenz nicht nur für
Biologie
Evolutionstheorie
Darwin
brauchbar?
„Niklas Luhmann hat den Begriff emergenter Kommunikation ausführlich
dargestellt:
»Ähnlich wie Leben und Bewußtsein ist auch Kommunikation eine
emergente Realität, ein Sachverhalt sui generis. Sie kommt zustande
durch eine Synthese von drei verschiedenen Selektionen – nämlich
Selektion einer Information, Selektion einer Mitteilung dieser Information
und selektives Verstehen oder Mißverstehen dieser Mitteilung und ihrer
Information.«“
Prof. Dipl.Des. Oliver Wrede (o.J): Emergenz und Design. Online unter http://wrede.design.fh-aachen.de/artikel/emergenz-unddesign
7. Was soll das WEB 2.0 sein?
Das Web gibt es schon lange und es hat sich kontinuierlich
weiterentwickelt; was soll nun neu am Web 2.0 sein?
„Unter »Web 2.0« versteht man ganz allgemein den Trend, Internetauftritte
so zu gestalten, daß ihre Erscheinungsweise in einem wesentlichen Sinn
durch die Partizipation ihrer Nutzer (mit-)bestimmt wird.“
(Münker (2009): a.a.O., S. 15)
Die Spannweite der Partizipation reicht von
Einfach: Amazon Kommentare, Erfahrungsberichte der Nutzer
bis
Komplex = nutzergeneriert: Wikipedia
und dazu
unterschiedliche Zwischenstufen wie Video-, Foto- und Musikportale,
Blogosphäre und Mikroblogs bis hin zur Nischenökonomie des Long
Tail (= Kleinst-Märkte)
8. Web 2.0: Wachstum oder Sprung?
Wenn ein Sprung vorliegt, was war die Ursache?
Internet war schon immer Massenmedium, aber zunächst nur um
Information einem größeren Rezipientenkreis zugänglich zu machen
= „bessere Litfaßsäule“ (Münker (2009): a.a.O., S. 16)
Die entscheidende technische Voraussetzung für den Sprung war
die Dynamisierung der Web-Seiten, Stichwort: Ajax
und
die Implementierung offener Schnittstellen, Stichwort API
„Damit wurde das Web beschreibbar. Aus dem Read-only-Netz der
Anfangsphase wurde [...] eine erst in der Ausbildung befindliche Kultur des
Schreibens und Lesens, eine Read/Write-Kultur“(Münker (2009): a.a.O., S. 16/17).
9. Ajax und API
Quelle: Garrett, Jesse James (2005; o.S) Ajax: A New Approach
to Web Applications. Online unter:
http://www.google.de/imgres?
sa=X&biw=1280&bih=642&tbm=isch&tbnid=ndt8UhHIV2emJM:&imgrefurl=http://www.adaptivepath.com/ideas/ajax-new-approach-webapplications&docid=IhTIpL0KxCaSnM&imgurl=http://www.adaptivepath.com/uploads/archive/images/publications/essays/ajaxfig2.png&w=698&h=879&ei=wM6gUYaDJY2B4ASl6IEo&zoom=1&iact=rc&dur=1&page=1&tbnh=144&tbnw=114&start=0&ndsp=18&ved=1t:429,r:0,s:0,i:84&tx=67
&ty=255
Ergänzung durch Verf.
„Der Begriff API ist die Kurzform von "Application-Programming-Interface" –
also einer Schnittstelle für die Programmierung von Anwendungen.[…] APIs
dienen also zum Austausch und der Weiterverarbeitung von Daten und Inhalten
zwischen verschiedenen Webseiten, Programmen und Content-Anbietern, und
ermöglichen so Dritten den Zugang zu vorher verschlossenen Datenpools
und Benutzerkreisen.“ Vertical Media GmbH (o.J; o.S.): Application-Programming-Interface (API). (H.d.V.)
10. Wirklich ein Sprung Web 1.0 zu Web
2.0 ?
Münkert weist darauf hin, dass Tim Berners-Lee (Erfinder des WWW) der
Meinung ist, dass die zentralen Eigenschaften von Web 2.0, nämlich
Internetaktivität und Offenheit das World Wide Web schon immer
auszeichnen. (vgl. Münkert a.a.O., S. 22)
Münkert:
Recht hat Berners-Lee, wenn er aktiven partizipatorischen Gebrauch
für jedermann und für alle offen als „implizites Telos“ (Münkert
a.a.O., S. 22) schon immer gesehen hat.
Unrecht hat nach Ansicht Münkert‘s Berners-Lee, wenn er davon
ausgeht, dass das (reale) Internet schon immer durch diese
Eigenschaften sich ausgezeichnet hätte. Erst jetzt wird es zu einem
Netz gemeinschaftlich produzierender Akteure. (vgl. Münkert a.a.O.,
S. 24
Dieser Gedankengang lässt sich mit folgender Folie belegen. Diese Vielzahl
von Elementen und Kaskaden von Verknüpfungen gab es früher nicht.
12. Was macht nun das Web 2.0 so anders?
Jetzt kann auf soziale Aspekte eingegangen werden
Die Öffentlichkeit ändert sich
Medien = Internet moderieren nicht die öffentliche Diskussion, sondern die
Öffentlichkeit moderiert sich selbst
Im Prinzip ist das im Sinne Habermas gut
Nutzer beziehen nicht nur Information, sondern machen sie selber (z.B.
Wikipedia)
dadurch entstehen aber auch Fragen des geistigen Eigentums
Medium wird wieder zur ‚Agora‘ = Marktplatz. In Athen sprach z.B. Sokrates
die Leute auf der Agora an = Distanzierung zwischen
Informationsweitergabe/-verarbeitung/-rückkopplung wird wieder geringer
13. Technischer versus sozialer Aspekt
Der „Internetguru“ Howard Rheingold äußerte bereits in 2002:
„Die »Killerapplikationen« der Mobilkommunikations- und
Informationsindustrie von morgen werden nicht Hardwaregeräte oder
Softwareprogramme sein, sondern soziale Praktiken.“
(Rheingold, Howard (2007): Smart Mobs. Die Macht der mobilen Vielen. In: Bruns K., Reichtert R.: Reader Neue Medien. Texte zur
digitalen Kultur und Kommunikation. Bielefeld: Transcript 2/2007, S. 359)
Münkert sieht die entscheidenden Impulse beispielhalft in
Der Weiterentwicklung sozialer Netzwerke
dem ökonomischen Bereich des user-orientierten Online-Business
Wiki‘s
Games
zahlreichen anderen Anwendungen
15. Soziale Netzwerke
Die sozialen Medien entstehen erst durch gemeinsamen Gebrauch.
Münkert: „Digitale Medien determinieren ihren Gebrauch nicht; digitale
Medien entstehen erst durch ihren Gebrauch
Quelle: http://gumpelmaier.net/wp-content/uploads/2010/12/social-media-landscape.jpg
16. Ist diese Entwicklung gut?
Münkert stellt Vorteile/Nachteile gegenüber
Befürworter des Netzes
Gegner des Netzes:
macht dümmer, da keine sinnvolle
Destillation der Info erfolgt
befreit wegen Spielraum der
Interaktion und Kommunikation
Zwang zur Nutzung, da man sonst
isoliert ist
macht klüger wegen Vielzahl
der Informationen
macht sozialer weil es uns mit
anderen verbindet
fragmentiert, da man in
beschränkte Gruppen abtaucht
Münkert: „Eine solche Frage läßt sich natürlich gar nicht beantworten […], was
daran liegt, daß das Potential von Medien immer schon ambivalent ist.“
Er weist als Beispiel darauf hin, dass man Bücher lesen kann, um etwas zu
lernen, und Bücher zu schreiben, um Hass zu sähen.
17. Web 2.0 und Öffentlichkeit (1)
Wer beherrscht die Öffentlichkeit: Massenmedien oder Web 2.0?
Münkert: „Das Spiel ist offen; derzeit freilich gilt noch: der Einfluss der
Massenmedien läßt sich nur schwer überschätzen.“
Hannah Arendt: Der Begriff der Öffentlichkeit bezeichnet die Welt, „[…]
sofern sie uns das Gemeinsame ist.“
(Arendt, H. (1985): Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper. S. 49
Luhmann: „Was wir über unsere Gesellschaft wissen, ja über die Welt, in
der wir leben, wissen wir durch die Massenmedien“
(Luhmann, N. (1996): Die Realität der Moderne. Oplanden: Westdeutscher Verlag. S. 9)
Habermas: „Die politische Öffentlichkeit geht aus der literarischen hervor;
sie vermittelt durch öffentliche Meinung den Staat mit Bedürfnissen der
Gesellschaft“.
(Habermas, J. (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt:
Suhrkamp. S. 86)
Münkert meint:
„In diesem Exklusivitätsanspruch endet die Karriere jenes Komplexes der
Medien, dessen Entstehung gleichursprünglich ist mit der Entstehung der
bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert.“
18. Web 2.0 und Öffentlichkeit (2)
Münkert: Nach Habermas sind für die bürgerliche Öffentlichkeit
4 Kriterien wichtig:
Zugang ist prinzipiell offen
ihre Mitglieder sind einander vollkommen ebenbürtig
die Themenwahl ist gänzlich offen
der Kreis potentieller Teilnehmer ist unabgeschlossen
Habermas ist der Ansicht, dass Massenmedien Öffentlichkeit schädigen, da
sie die Chance zu widersprechen (Rede und Gegenrede: Distanz der
Mündigkeit) nicht, oder nur verzögert gewähren. (Habermas‘ Nähe zur
Kulturkritik von Adorno und Horkheimer ist nicht zu verleugnen )
Münkert stellt sich zurecht die Frage, ob es eine nicht massenmedial
geprägte Öffentlichkeit, jenseits massenmedial konstruierter Realität
gibt.
19. Web 2.0 und Öffentlichkeit (3)
Von Internet-Euphorikern wie Barlow wird gejubelt, dass die
Beschränkungen der physikalischen Welt im Cyberspace nicht gelten und
die Welt überall sei und nicht nur da, wo Körper leben.
Jean Baudrillard sieht das als Gefahr, die mediale Virtualisierung ziele
„auf die Auslöschung des Wirklichen durch sein Double.“
(Baudrillard, J. (1995): Illusion, Desillusion, Ästhetik. In: Igelhaut/Rötzer/Schweeger: Illusion und Simulation. Begegnungen mit der
Realität. Ostfildern: Cantz. S. 92)
Münkert stellt fest, dass weder die utopischen Visionen der InternetEuphoriker, noch die apokalyptischen Szenarien der Kritiker eingetroffen
sind.
20. Web 2.0 und Öffentlichkeit (4)
Münkert stellt schließlich fest:
„Das Internet hat das technische Potential für eine demokratische,
partizipative Mediennutzung […]“, was seiner Meinung nach sogar
Habermas vorsichtig anerkenne:
Habermas im Jahr 2008:
„Das World Wide Web scheint freilich mit der Internetkommunikation die
Schwächen des anonymen und asymmetrischen Charakters der
Massenkommunikation auszugleichen, indem es den Wiedereinzug
interaktiver und deliberativer Elemente in einen unreglementierten
Austausch zwischen Partnern zuläßt, die virtuell, aber auf gleicher
Augenhöhe miteinander kommunizieren.“
(Habermas, J. (2008): Hat die Demokratie noch eine epistmische Dimension? Empirische Forschung und normative Theorie, in: ders.: Ach
Europa. Kleine Politische Schriften XI, Frankfurt/Main: Suhrkamp. S. 161)
21. Web 2.0 und Öffentlichkeit (5)
Münkert resümiert:
das Internet
ändert die Strukturen unserer Öffentlichkeit
es ändert die Funktionsweisen politischer und gesellschaftlicher
Kommunikationsprozesse
es macht institutionelle Grenzen durchlässiger und
macht Entscheidungsprozesse transparenter
ist anders als die Massenmedien interaktiv und wird auch so
genutzt
„Und eines ist sicher: Andere Öffentlichkeiten als digitale wird
es dabei auf absehbare Zeit nicht mehr geben.“
22. …und wie geht es weiter…
Oliver Wrede:
„Durch Emergenz entstehende Eigenschaften lassen sich nicht auf die
Eigenschaften der Teile reduzieren.
Darüber hinaus sind sie nicht vorhersehbar,
sie müssen zudem eine neue genuine neue Qualität auf einer höheren
Ebene darstellen.
Diese Eigenschaften höherer Ordnung müssen auf die tieferliegenden
Ebenen Einfluss haben, andernfalls wäre der emergente Zusammenhang
bedeutungslos.“
Das bedeutet, die Netzöffentlichkeit ändert sich durch das Netz und das
hat Rückwirkungen auf die technischen Elemente, die sich ändern und
damit wieder die Öffentlichkeit ändern.
(Wrede, Oliver (2003): Emergenz und Design. <online unter http://wrede.design.fh-aachen.de/artikel/emergenz-und-design)
23. Kritik der Referentinnen
Text wiederholt sich des Öfteren
Nicht sehr wissenschaftlich/ einfache Sprache
Umgangssprachlich
Kein Vorwissen nötig
Langatmig
Wen möchte Münker mit seinem Buch erreichen?