4. Erste Auflage 2008
dieser Zusammenstellung
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008
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Satz: Memminger MedienCentrum AG
7. 7
Ursprüngliches Eigentum
Die eine Mutter in der Wohngemeinschaft säugte ihr fünfmonatiges Kind. Die
dreizehnmonatige Tochter der anderen Mutter, sie saßen alle an einem Tisch,
auf dem makrobiotische Kost aufgestellt war, schrie, da sie auf das ruhig an
der Brust der anderen Mutter saugende Mit-Kind sah. Die beiden Brüste der
eigenen Mutter standen zu ihrer Verfügung. Sie brauchte sich nur hinzuwen-
den, der Pullover wurde hochgezogen, und ein Busen fiel ihr quasi in den
Mund. Zum Grundbesitz der Dreizehnmonatigen gehörten aber auch die zwei
Brüste der anderen Frau.
Die Mütter tauschten sich für die Kinder gewöhnlich aus. Miriams, der drei-
zehnmonatigen Tochter, Grundstück reichte, Halbmeter für Halbmeter be-
krabbelt, von Schulter und Brust der einen Mutter bis zur äußeren Brust und
Schulter der anderen, gleich wo sie in dem geräumigen Wohnstall dieser Ge-
meinschaft sich aufhielten.
So kroch Miriam von der Mutter weg, von beiden Müttern mit Spott und Blik-
ken begleitet, griff mit ihren Armen in Richtung des konkurrierenden Babys,
beabsichtigte, es fortzudrängen, weinte und schrie.
Wechseln wir, sagte Anne. Sie gab ihr Fünfmonatiges an die gute Freundin, die
es anlegte. Das Kind ließ sich durch das kurze Hinüberwechseln nicht aus sei-
nem Konzept bringen. Jetzt war auch Miriam froh. Sie konnte sich ihres be-
drohten Grundbesitzes vergewissern und langte, während sie bedächtig
saugte, mit ausgestreckter Hand, ein Zeigefinger im Mund, in die Richtung
der anderen Mutter-Person, dies alles war ganz ihres. Bis ein Seitenblick ihr
den Verrat am anderen Ende ihres Paradieses zeigte: Dort lag das Kleinkind,
wurde von Urmutter angelächelt. Nervös wendete die Dreizehnmonatige sich
zum Gefecht, rückte vom Schoß, ließ sich zu den Beinen der Mutter führen,
wollte die Rechtsordnung wiederherstellen, d. h. das andere Kind aus der
Armbeuge, von der Brust wegstoßen.
Die mütterlichen Freundinnen, weit entfernt, diesen rabiaten Willen zu bre-
chen oder zu manipulieren, was in ihrer Macht gestanden hätte (sie waren
keine königlichen Herren oder Justitiare), ließen allerdings auch nicht ab, das
Fünfmonatige gemeinschaftlich zu befriedigen. Also wechselten sie das Kind
wiederum aus.
Kurze Siegesphase für Miriam. Danach nahm die aufmerksame Miriam die
Fremdbebauung ihres eingezäunten Geländes, ihrer gedachten Vorräte, erneut
wahr, lehnte konsequent die Brust vor ihr ab, sah zur anderen Seite hin, wim-
merte, Rücken am warmen Bauch ihrer größeren Mutter, betastet durch deren
Hand. Eigentlich hätte sie sich so einrichten können für den Nachmittag. Ein
8. 8 Ursprüngliches Eigentum
Spaziergang im Wald stand in Aussicht. Sie konnte aber die fremde Benutzung
ihres Eigentums nicht dulden, mußte unter Hingabe jeder Glückseligkeit zum
Kampf schreiten.
Dieses Leiden ist notwendig, sagte die Mutter Miriams. Ja, antwortete die
Freundin ruhig. Du kannst jetzt gar nichts machen. Das Leiden muß sie aus-
halten.
9. 9
Die Verstopfung des Kriegsbilds
durch Grundstücke und Zäune
Ich kann Ihnen nicht das Eigentum abräumen, antwortete der Minister, nur
damit Sie Ihre Übungen machen können. Der Nato-Oberkommandierende in
seiner frisch gebügelten Feldbluse und der Schirmmütze legte dem Politiker
eine Karte des Bundesgebiets vor. Hier, sagte er, haben Sie eine Landkarte der
BRD, in die alle Privatgrundstücke, die wir als Truppe in Friedenszeiten nicht
betreten dürfen, eingetragen sind, und diese kleinen gelben Tupfen hier sind
unsere Zonen, in denen wir uns aufstellen oder üben dürfen. Das ganze Gebiet
ist durch Grundbesitz so vollgestellt, daß an eine Verteidigung nur im Kriegs-
fall zu denken ist. Da dieser Kriegsfall aber aus wenigen Stunden oder Minuten
besteht und wir die Soldaten erst hier und hier (zeigt auf der Karte die wesent-
lichsten Verteidigungsräume) hineinstellen müßten, damit sie jetzt auf irgend-
welchen, im Kriegsfall selbstverständlich konfiszierten Privatböden richtig
stehen, kann ich Ihnen versichern, daß wir mit gar nichts drohen sollten.
10. 10
»Sinnlichkeit des Habens«.
Die ganze Gerda muß es nicht sein
Er verfügte seit 8 Wochen über eine Errungenschaft. Er hatte eine attraktive
Persönlichkeit, Gerda, in sein Quartier aufgenommen. Oft wunderte er sich
über ihre Vorteile. Ihre Brüste, als er sie kennenlernte, sahen genauso aus wie
die des Titelblattmodells der Quick. Das sprach für »Temperament«. Recht
eindeutig meinte sie, daß er gut rieche, roch auch praktisch an seiner Haut, sei-
nem Mund, seinen Haaren, Ohren, dieser Geruch sei »männlich«. An anderer
Stelle erwähnte sie, daß Männer stinken. Klar war das nicht. Wie sie ihre Klei-
der und Sachen bescheiden in einer Ecke deponierte, so daß in seinen Räumen
keine Unordnung entstand, gefiel ihm.
An sich hatte er keinen Bedarf an einer ganzen Frau dieses Kalibers. Er hätte ja
auch in einem Restaurant nicht 1 Ente, 1 Reh, 1 Gans mit Klößen und Kraut,
sondern nur 1⁄4 Ente, 1 Gänsekeule oder ein Stückchen Brust oder eine Portion
Rehrücken bestellt. An dem Einbringsel Gerda hätten 5-6 Freunde von ihm
mitknabbern können. Er wollte ihr das aber nicht vorschlagen, da er fürchtete,
sie zu beleidigen.
»Ich muß mich am Riemen reißen«, sagte er. Oft wünschte er, sie wäre still,
wenn sie auf ihn einredete.
Er versuchte es mit einer gedanklichen Nothilfe. Er stellte sich intensiv vor, er
wäre allein, überhaupt niemand redete mit ihm seit einem 3⁄4 Jahr, es ist kalt,
zugig, keine Hautwärme in der Nähe, ein Geschlechtsdruck packt ihn, daß er
mit einem Fernglas die Parks durchstreift, ob nicht in der Ferne irgendwelche
Mädchenröcke zu erspähen sind. Das war vorstellbar, wenn auch zu seinen
Lebzeiten nicht vorgekommen. Schlußfolgerung dieser Bestimmungen sollte
sein: Wie glücklich bin ich, diese aparte Erscheinung Gerda jetzt in meiner
Griffweite zu haben.
Während er sich so zu konzentrieren versuchte, redete sie ihn an; was ihn
störte. Er konnte nicht gleichzeitig seinen Appetit anstacheln und ihr zuhö-
ren. Sich etwas, was er hat, dadurch wertvoller zu machen, daß er sich vor-
stellt, daß er es nicht hat, war z. B. möglich bei Eßwaren. Die Vorstellung,
intensiv eingebildet, daß die Brotrationen auf 180 g gesetzt sind, das sind
knapp 11⁄2 Scheiben, oder angesichts eines saftigen Steaks, daß dieses Steak
für einen Soldaten bei Tula im Winter 1941 unerreichbar ist, hatte ihn wie-
derholt zum Mehressen veranlaßt. Er hatte aufgegessen, so als ob das wirk-
lich morgen sonniges Wetter bringt. Selbstverständlich glaubt er nicht an
Kindermärchen. Dagegen in bezug auf Gerda gerät er rasch ins Träumen.
Ihm schien in seiner besonderen Lage eine komplette Vereinsamung verlok-
11. »Sinnlichkeit des Habens«. Die ganze Gerda muß es nicht sein 11
kend. Er konnte ja nur vom Moment her und nicht in den Formen der Vor-
ratsbildung empfinden.
12. 12
»Sagt: Da bin ich wieder,
hergekommen aus weiter Welt.«
Es war unsinnig, schlecht abstrakt, gewissermaßen mit Gewalt die Brücke zur
Arbeiterklasse zu suchen, nur weil Hofmann, unterstützt von H. H. Holz und
Bärmann in der Diskussion am Vorabend in der zentralen Fehlerquelle der Ak-
tionen des Frankfurter SDS »mit dem Stock herumstocherte«. Der sichere Tod
der Bewegung konnte auf zweierlei Art stattfinden: 1. Wenn wir als »Schau-
spieler unserer oder fremder Ideale« antreten, 2. wenn wir, wie Habermas vor-
schlägt, eine Phase »Trocken-Rudern« einlegen, d. h. die Aktionen anhalten
und uns bis an die Zähne mit Vorbereitungen bewaffnen. Seminarform, das ist
der Tod der Bewegung.
Das bedeutete, da ja die fehlende Verbindung der arbeitenden Gruppen zur
Arbeiterklasse beweisbar war, daß ein riskanter Schlag gemacht werden
mußte. Krahl überredete eine starke Gruppe, R., als sein Leibwächter, Knei-
pendurchzüge in Bornheim durchzuführen.
Hier redete er nicht anders, was die Anlehnung an klassische Textstellen,
Fremdworte oder eigentümliche Wendungen von Marx oder der großen Philo-
sophie betrifft, als er im Umkreis des Studentenhauses am Beethovenplatz ge-
sprochen hätte: sehr ruhig. Die Arbeitergenossen sahen auf die Krahlsche
Zunge, seine Körperbewegungen, den Eifer.
Also einerseits: daß er mehr redete als sie oder seine Begleiter. Andererseits:
daß er mit ihnen zu tun haben wollte und schon zu tun hatte. Das mußte an-
dere Gründe haben als betuppen wollen – sonst hätte er sie bestochen, z. B.
»vertrauter« geredet. Die schnellen Reden waren ihnen aber nicht vertraut.
Auch nicht die Sachgebiete, denn Krahl skizzierte in lang hingelegten Anako-
luthen (d. h. abgebrochenen Sätzen) die Verteidigungszonen der NS-konstitu-
ierten Gesellschaft: 1. die Polizeiketten, die auf dem Messegelände zu sehen
sind, 2. die Justiz, die sich einmauert, 3. Werkschutz, Nicht-Öffentlichkeit der
Betriebe, 4. die inneren Wahrnehmungsverbote, die entfremdete Leugnung der
eigenen Erfahrung, dann wäre sie aber durch doppeltes Lügen schon wieder
umkehrbar und zerfiele in Wahrheit. Gleich darauf Biafra, wozu die Analyse
noch fehlt, die örtlichen Verbindungen zwischen Rüsselsheim und den Höch-
ster Betrieben, Beispiele aus Vietnam und aus Paris im Vorjahr, Senghor aus
Senegal, die Situation auf der Buchmesse, sowie in rascher Fahrt: »daß kultur-
revolutionäre Aufklärung Gegensätze aktualisiert, damit sie ausgetragen wer-
den können, damit überhaupt die wesentlichen Konflikte dieser Gesellschaft
wieder begriffen werden können«.
Das war für die Arbeiter-Genossen zunächst »ungewohnt«. Hätten sie aber,
13. »Sagt: Da bin ich wieder, hergekommen aus weiter Welt.« 13
hier in der Kneipe, für 3-4 Stunden, ihre ganze Existenz versammeln oder auch
nur plötzlich handeln können, so wäre es zum Austausch gekommen. Sie nah-
men diesen Mann mit seinem Gefolge als exotisches Tier, ein Zoo-Wesen. Das
gab es also, hatte eventuell mit ihnen etwas zu tun. Das wurde nicht negativ
aufgenommen. Die Schwierigkeit war, daß Krahl sein gesamtes Dasein (mit ei-
niger Gewalt) hierher gezerrt hatte – sie aber konnten nicht mittun, da Teile ih-
res Daseins in Betrieben, Wohnungen (wie gesagt: zum Teil in früheren Zeiten)
versammelt waren, sie hier nur mit Teilkräften saßen. Sie hätten sich so nach
einer Weile in Krahls Wort-Kolonnen gern eingereiht, durch langsames Hin-
und Herüberschütten der Worte sich in den fremden Rhythmus eingepaßt. So
aber mußten sie ihr Erinnerungsvermögen aktivieren, auswendig lernen (dafür
floß es zu schnell), wenn sie das Gesagte (in ihrer Version) in die anderen Pra-
xisbereiche hinüberbringen wollten. Sie hatten insofern, obwohl sie sich mo-
mentan nicht sichtbar anstrengten, während Krahl sich mit äußerster Anstren-
gung plagte (fühlte sich aber auf der Hauptstraße), beträchtliche Mehrarbeit
zu leisten, wenn dies zu einer Kommunikation mit ihnen als Ganzem führen
sollte. Die Informationswege verteilten sich dann über Tage. Sie wollten nicht
jeden Abend so geschubst werden, aber als Ausnahme war es möglich, sagten
sie.
Daraus lernte wiederum Krahl, ebenso einige seiner Mitarbeiter, während es
so aussah, als seien sie mit Draufzureden, sog. Agitation, völlig beschäftigt, re-
gistrierten sie doch auf zweitem, drittem, viertem Gleis. Während R., der auf
das Haupt seines Königs sah, soviel kleiner als er, an »der Diskussion« eigent-
lich nicht teilnahm. Er prüfte nur, aus den Gesichtern der Freunde, welche kri-
tischen Einwände über den Gesprächsverlauf und Krahls Dominanz später im
Gruppengespräch kommen würden.1
Die Treffen in Frankfurt-Nord dauerten nicht ein halbes Jahr, sondern eine
Woche. Die Gewohnheit, zu frühabendlicher Stunde in die Kneipen von Born-
heim zu ziehen, wurde durch Notstandsaktionen, erotische Privaterlebnisse
beschnitten. Es war keine Zeit da. Die Kneipenbesuche verspäteten sich, jetzt
1 Harte Diskussion. Krahl wird gerupft, weil ja dieses »Vorgehen« der Genossen gegenüber
den Arbeiter-Genossen Ausbeutung sein kann. »Die sind die Versuchskaninchen, die von
uns studiert werden, daß wir sie nicht mit Heftzwecken an die Wand annageln, fehlt
noch.« Wolff, der jüngere Bruder, wollte einwenden: Immer eure Hemmungen. Die Genos-
sen duldeten aber keine Abspeisung. Wenn es Ausbeutung war, mußte es unterlassen wer-
den. Aber wie sollen wir dann – oder sie – lernen oder konferieren oder irgend etwas mit-
einander zu tun haben? Nein, die Genossen antworteten rigide: Wenn es Ausbeutung ist,
nicht. Dann definieren wir es eben nicht als Ausbeutung, sondern z. B. als Überbeutung
oder Auseinanderbeutung oder Miteinanderbeutung usf. Offner Hohn. Die Diskussion er-
hitzt sich. Zuletzt nannte Krahl, nur noch von R. und dem jüngeren Wolff unterstützt, die
Mehrheit der Genossen »Hilfsbremser«.
14. 14 »Sagt: Da bin ich wieder, hergekommen aus weiter Welt.«
war die Mehrzahl der Arbeiter-Genossen schon gegangen. Die Studenten-Ge-
nossen, in vergeblichen Aktionen, die auch zum Teil unvorbereitet waren, ver-
schlissen, befanden sich nunmehr ebenfalls in der Lage der Arbeiter-Genossen,
brachten nur Teile ihres Daseins in die Kneipen, andere hingen regressiv in der
Kinderzeit oder an verschiedenen Orten der Stadt (insbesondere Justizge-
bäude Hammelsgasse). Man mußte mit einem großen Schlag versuchen, die
Einheit des Handelns nicht nur zur Arbeiterklasse hin, sondern auch zu sich
selbst als Person herzustellen. Machen Sie das mal als 5,30-m-Hochsprung-
Spezialist, im Sprung den Höhersprung zu erzwingen. Nun zwangen ja nicht
sie, sondern sie, eine Minderheit, wurde gezwungen.
15. 15
Hänschen Albertis verstreute Sinne
Hänschen Alberti war Werkzeugmaschinenbauer. Ein Teil seiner Arbeitskraft,
seines Lernfleißes, steckte in Geräten der Kriegsindustrie 1943/45, z. B.: Erfah-
rung im improvisierten Aufbau nach Zerbombung von Werkshallen. Es war
jeweils so: Besichtigung durch Luftgau, Partei, Werksleitung. Aber im Gefolge
dieser Pulks: Albertis Arbeitstruppe: Metzner, Schäfer, Pfeiffer, Peter Kühne
usw. Berechneten die Besichtiger, wann die Wiederaufnahme der Kugellager-
produktion in Aussicht genommen werden kann, z. B.: in sechs Wochen, dann
war nach Albertis Erfahrung schon nach zwei Wochen etwas zu machen. Das
war seine Bemühung.
Danach zog er 1946 nach Norddeutschland an die Küste. Ein Automobilwerk
brauchte Zulieferungen, Werkzeuge, dann aber auch eigene Herstellung dieser
Werkzeuge und Zulieferteile. Er entwickelte das tatkräftig. Später wurde das
Werk aus Bankgründen geschlossen, verschrottet. Es waren aber 12 Jahre
(1957!) von Albertis Arbeitskraft in Erfahrungen hier angelegt, wurden in die
Winde zerstreut. Andere Automobilwerke arbeiteten bereits mit standardi-
sierten Werkzeugen oder Bändern. Nichts zu tun für Alberti.
Er bewarb sich bei Messerschmitt-Bölkow-Blohm, und es war ein glücklicher
Umstand, daß hier Werkstattarbeit benötigt wurde. Subtile Einzelfertigung für
Satellitenteile, aber auch klassische Arbeit, z. B. eine besonders sichere Achter-
bahn, für das Oktoberfest – 5 Jahre Alberti, alles Einzelwerke, nichts was die
Standardisierung wegnahm. Doch eines der Projekte lief aus Förderungsgrün-
den aus, Albertis Platz wurde eingespart. Er mußte die 5 Jahre zurücklassen,
wurde im Baumaschinen-Sektor gebraucht, lernte also um. Nunmehr öfter
schon müde.
Er ließ sich überreden, aufzusteigen. Abteilung Öffentlichkeit und Werbung,
konnte hier seine Hände nicht gebrauchen, wohl aber Kenntnisse. Das emp-
fand er als »Entfernung vom Gerät«. Es gehörten Ostreisen dazu. Die Firma
verkaufte wissenschaftlich-technische Kenntnisse in fremde Länder. Wer war
das denn überhaupt hier? Alberti? Oder befindet er sich mit den verlorenen
Zeitstücken irgendwo in der Vergangenheit? Verkauf der Firmen-Kenntnisse
sah Alberti sowieso als Landesverrat2. Zurückgekehrt in die »Heimat«, saß
dort ein Nachfolger, einer seiner »Schüler«.
2 Er begegnet der Technik der Nachrichtendienste. Er ist kontaktfreudig. Bei Überprüfung
einer Montage in einem Balkan-Staat lernt er einen dort einheimischen Kollegen kennen,
der ihm eine junge Frau vermittelt, Vera. Er sieht sie, erinnert sich an etwas. Der Kollege
lädt in seine Wohnung ein, hat seinerseits eine Einheimische mitgebracht. Getränke stehen
auf dem Tisch, Alberti sitzt tief in seinem Sessel, wechselt auf das Sofa.
16. 16 Hänschen Albertis verstreute Sinne
Jetzt Textilforschung in Wuppertal. Aber die Großfirma, die in mehreren Län-
dern Sitze hatte, zu der das technische Institut, an dem er »forschte«, gehörte,
befand sich in einer Unglückssträhne, er übersah das nicht. Was aber hätte er
denn gespart, wenn er auf die Zeitgeschichte noch besser achtete? Er konnte
ja seine Arbeit nur »ausgeben«, nicht »für sich behalten«.
Das Unglück in der Textilmaschinen-Forschung war, daß frühere Konzernlei-
tungen im Überschwang der 50er Jahre ihr Wissen über die seidenähnlichen
Kunststoffprodukte, aus denen rasch Kleiderfetzchen oder Hemden in Massen
hergestellt werden konnten, in noch fernere Gebiete, als es der Baumaschinen-
Sektor tat, veräußerten – Südamerika, Hongkong, Indonesien usf. Sie verlie-
ßen sich auf Qualitätsproduktion, glaubten die Minderware aus der Dritten
Welt nicht fürchten zu müssen. Niemand aber wollte mehr teure Qualitätspro-
dukte. Es war auch nicht sicher, ob die Qualitätsvorstellung mehr als eine Ein-
bildung war. Die Maschinenforschung, an die sich Alberti gewöhnt hatte,
wurde eingestellt.
Er hatte sich aber während der Kämpfe im Betriebsrat bewährt, in die Indu-
striegewerkschaft Chemie – Ortsverwaltung Wuppertal – hineingearbeitet.
Also wurde er Schreibtisch-Unternehmer. Das soll der Könner Hänschen Al-
berti aus dem Jahre 44 sein? Das lag zurück. In manchen Kneipen war’s noch
Alberti. Siegen konnte er so nicht.
Er hatte den Eindruck, seinen dicken Hintern verbergen zu müssen, der sich
nach oben zu »abschottete«. Das schob er aufs Älterwerden. Sicher war, daß
er in diesem Apparat nicht eingespart wurde. Aber er fühlte sich durch die vor-
angegangene Zeit »auseinandergenommen«, als wären es herumliegende
Stücke von Maschinenteilen, die weder zum Maschinentyp A noch zu dem
Modell B oder auch nur halb zu irgend etwas Passendem sich zusammensetzen
»Sitzt unten in Meeresgründen
bei seiner schönen Wasserfee.
Die Jahre kommen und schwinden.«
(Bl. 3 d. A.): »Es kommt, nach Alkoholgenuß, zu einer Orgie.« Was ist eine Orgie? »Über-
mäßiges Streben nach Geschlechtsgenuß.« Alberti konnte aber gar nicht »streben«, da er
nur halb bei Bewußtsein war, eher träumte er.
Tage später legte ihm die Polizei eine Anzeige wegen grober Unzucht vor, als Beweis eine
Reihe von Fotos. Ein Beamter in Zivil droht eine Freiheitsstrafe an, weist darauf hin, daß
dieses »Kompromat« (= kompromittierendes Material) seiner Firma und Ehefrau zugäng-
lich gemacht werde, es sei denn, daß sich Alberti zur »Mitarbeit« verpflichtet. Eine Ehefrau
hatte Alberti nicht. Wie er feststellte, war der »Kollege« plötzlich »verreist«, die Frauen
waren verschwunden. An der Tat-Wohnung hing ein anderes Namensschild.
Umgeben von Erscheinungen, an denen er gerade versucht hatte, zu lernen, sich umzustel-
len (eventuell hätte er in diesem fremden Land seine Heimat aufgeschlagen, brauchbar war
sein Wissen hier), wollte Alberti nicht zum Verräter an seiner Firma werden. Saß also Haft-
zeit ab, bis die Nachrichtendienstler ihr Interesse aufgaben.
17. Hänschen Albertis verstreute Sinne 17
ließen. Er machte Sport. Manchmal mit halbem Herzen, manchmal ergriff es
ihn. Dann bildete sich am Hals und oberen Rücken ein Muskelpaket, das die
Blutzufuhr zum Hirn abschnürte. Ein Unnütziger muß sich sichern. Aber doch
nicht durch Muskeln! Er hätte sich gern darüber ausgestöhnt.
Die Kameraden, mit denen er verbunden war, lagen verstreut, »angeheftet an
Zeiten und Orte«, an denen er seine Arbeitskraft gelassen hatte. Mit einer
Werkzeug-Maschine durfte keiner so umgehen. Die wäre hin. Bloß nicht nach-
geben, sagte er sich.
18. 18
Heiner Müller und »Die Gestalt des Arbeiters«
Herakles, sagt Heiner Müller, verkörpert in den Mythen als erster die »Gestalt
des Arbeiters«. In einer von Göttern auferlegten Verwirrung tötet er »das Lieb-
ste, das er hat«, darunter seine Kinder, seine Frau, zündet das Haus an. Gei-
stesabwesend verhält er sich zerstörerisch »auf entsetzliche Weise«.
Daraufhin verdingt er sich bei dem Tyrannen Eurystheus, der ihn – um Hera-
kles als Arbeiter zu verschrotten, d. h. Nutzen zu ziehen, eigentlich aber: um
ihn zu vernichten – mit zwölf Aufträgen versieht, die sämtlich auf etwas Un-
mögliches gerichtet sind, wie Eurystheus meint. Herakles aber zerteilt diese
Unmöglichkeiten in Einzelschritte, panzert sich gegen Zweifel und Schmerz
und vollbringt diese »Werke«. Er fügt, sagt Heiner Müller, eine uns unbe-
kannte dreizehnte Leistung hinzu.
Es geht um eine ins Unendliche gerichtete, die Gegenstände verändernde Tä-
tigkeit, einschließlich des Tötens und Beseitigens, um die Gestalt einer »leben-
digen Maschine«; zuletzt ist sie gefangen in einem giftgetränkten Netz, das das
Innere verbrennt. Aus Furcht vor Strafe wagt es keiner, dem Befehl des Hera-
kles zu folgen, den Scheiterhaufen anzuzünden, auf den er sich gesetzt hat. Wer
hat sich das, fragt Heiner Müller, ausgedacht, eine Erzählung, die lange vor
der Zeit handelt, in der Prometheus an die Felsen des Kaukasus gekettet
wurde?
Als Kind aber wurde dieser Herakles, Sohn des Zeus und der Alkmene, an die
Brust der schlafenden Muttergöttin Hera gelegt. Entweder weil er des Saugens
müde war und Reste der Milch beim Absetzen verspritzte oder weil die betro-
gene Göttin aus ihrem Schlaf erwachte, den Säugling von ihrer Brust riß und
dadurch Milch verschüttete, entstand der Riesenbogen der Milchstraße, die
wegen dieser Geschichte in der Winternacht ihren Namen trägt.
Die Erforschung des Kerns der Milchstraße ist jedoch ein Arbeitsbereich der
Astronomie. Inge Werdeloff hat vor kurzem auf dem Kongreß der »Gesell-
schaft für Astrophysik« in Aspen/USA in Erfahrung gebracht, daß sich im tie-
fen Inneren der Milchstraße eine GRAVITATIONSFALLE befindet, welche
die kreisenden Spiralarme und die oberhalb des Halo sich formierenden Wol-
ken aus schweren Neutrinos zu ihren Bewegungen veranlaßt. Eine gigantische,
organische Konstruktion, sagt Dr. Inge Werdeloff, und keineswegs eine »Him-
melsmaschine«. Jede mechanische Deutung dieser Himmelsarbeit, sagt sie, sei
abwegig. Sie habe das in kompetenten Vorträgen so gehört.
Aus eigener Forschung weiß Dr. rer. nat. Werdeloff (aber was heißt eigen,
wenn zu einem Forschungsergebnis 100 der seltenen Astronomiegeister zu-
sammenwirken müssen), daß die gewaltigen Gravitationsmassierungen, die
19. Heiner Müller und »Die Gestalt des Arbeiters« 19
wir Gravitationsfalle nennen, weil sie sozusagen als »Geiz des Weltalls« alle
Materie und Energie in sich hineinziehen, wiederum aus Durchlässigkeiten be-
stehen. Die Quantenmechanik beweist das. So zeigt dieser Geiz, sagt Dr. Wer-
deloff, alle Zeichen einer »abstrakten Genußsucht«; aus allen Poren gibt die
Gravitationsfalle Substanz nach außen. So daß immer erneut Universen ent-
stehen müssen, parallele Welten, die gemeinsam die Läßlichkeit der Natur
(Goethe) zeigen. So zeigt das »Weltall als Gestalt des Arbeiters« überhaupt
keine Tendenz, sich von einem Anfang in ein Unendliches oder auf ein Ende
hin zu bewegen, sondern es gliedert sich in Vielfalt und Einfachheit, so daß im-
mer eine Gegenbewegung, eine Gegenwelt die Erscheinung begleitet. Deshalb
trägt der tief frustrierte Herakles die Säulen der Welt auf seinen Schultern, die
doch seit kurzem eingestürzt sein müßten. Und deshalb warten die Toten, die
zur ersten Jahrtausendwende den Einsturz der Welt bei Aachen erwarteten,
immer noch vergeblich. Es ist kein Stillstand, der das Ende der Arbeiten ver-
hindert, die durch unverschuldete Schuld motorisiert wurden.
ich: Das habe ich nicht verstanden.
müller: Es bezieht sich nur auf Herakles als »Gestalt des Arbeiters«.
ich: Denn im Kosmos kann man nicht von Schuld sprechen?
müller: Es sei denn, im Sinne einer Bilanz.
ich: Und die gibt es nicht, weil man Quanten nicht zusammenrechnen kann?
müller: Davon verstehe ich nichts. Wenn du dich aber einmal einer solchen
dunklen Wand, die alles an sich zieht, näherst, einer gewaltigen Schranke
der Dunkelheit, so wirst du einen Blitz sehen, der dem Ungeheuer ent-
weicht. Das ist verboten, aber es geschieht.
ich: Das würde ich aber nicht »sehen«? Weil ich entweder in der Welt der
Gravitationsfalle oder in der Welt des Blitzes beobachte? Niemand sieht
diese Arbeit?
müller: Dann sieht man auch nicht, woran Herakles gesaugt hat und was
ihm die Sinne so verwirrte, daß er »das Liebste, was er hat«, zerstörte.
ich: Nein, beides gleichzeitig sieht man nicht.
müller: Aber man weiß, daß man falsch beobachtet hat, wenn es nur eins
gibt.
20. 20
Neue Zeit
Alle Menschen sind (nach der Revolution) gleich. Aber das Zeitgefühl, in dem
sich ein Mensch bewegt, ist nicht gleich. Genosse Bogdanski brauchte nur die
Wasserhähne, die technischen Intarsien in einem Hotel in Lemberg (Lwow)
anzusehen, um in Sehnsucht zu erstarren. Diese Wasserhähne waren noch von
in Wien ausgebildeten Klempnern oder Zulieferer-Firmen angebracht worden.
Bogdanski wollte hineilen in die nächstgelegene Staatsbibliothek, in ein Stun-
denhotel, wo ein Liebesverhältnis einen Nachmittag und nicht 17 Jahre dau-
ert. Dieses Zeitgefühl ist der Behälter des Lebens und wirkt wie eine Droge.
Bogdanski war von Lemberg weit genug entfernt. Er war verantwortlich für
die Umerziehung verwahrloster Jugendlicher, Mitglieder eingefangener Ju-
gendbanden. Die Partei arbeitet an einer Veränderung des Zeitgefühls. Die Er-
ziehung einzelner Jugendlicher aus Jugendbanden funktioniert noch langsa-
mer, als das Korn wächst.
In einer Lehranalyse des Weisen aus Wien steckte die Beschleunigung von ei-
ner Million Jahren. Die Geschichtszeiten potenzieren einander, wenn sie sich
berühren. So funktioniert die Seele. In den Artikeln der ROTEN FAHNE und
in den Glossen der Leipziger Volkszeitung war die ganze Zeit seit Spartakus
enthalten. Was für ein Flugwesen! Was für ein Drache!
In einem Cafe in Berlin-Mitte reden sich die Genossen heiß über den mittel-
´
deutschen Aufstand. Vorbereitet wurde dieser Aufstand in der Zeit der frühen
industriellen Revolution. Was heißt das? Er ist viel früher vorbereitet in den
Bauernkriegen. Während wir reden, rückt der entscheidende Moment des
Aufstands näher. Minuten der revolutionären Verschwörung entsprachen
zehn Jahren des Lebens zuvor. Gierig, sagt einer, ist die neue Zeit.
Die »verbrecherischen Jugendlichen« liegen in einer Scheune in 200 Meter
Entfernung von der Kate, in der Bogdanski seine Notizen schreibt. Notizen
schreiben verbindet ihn, mangels Telegraf, mit allen Horizonten. Er muß Rus-
sisch nachlernen; an sich müßte er darüber hinaus dialektsicher sprechen kön-
nen. Seine Rotarmisten bewachen das Lager der jungen entwaffneten Bandi-
ten. Sie antworten, wenn er sie in seinem angelernten Russisch anspricht. Es
bleibt, der eigenen Truppe gegenüber, eine Verhörsituation.
Er hat den Eindruck, daß sich die »jugendlichen Verbrecher« überhaupt nicht
ändern. Von Lernen oder Umerziehung kann man nicht sprechen. Sie lernen zu
schauspielern, d. h., sie drücken ihren Willen aus, wenn sie etwas wollen. Da-
gegen spürt er in sich selbst eine Veränderung: Sein Wunsch, von hier wegzu-
kommen, wird unendlich groß. Er möchte eine Aufgabe haben, die sich rasch
und nach den Standards westlicher Städte realisieren läßt. Die Theorie geht
21. Neue Zeit 21
dahin, daß die kollektive Arbeit die jungen Verwahrlosten bessert. Man könne
sie, heißt es (das kann sieben bis zwölf Jahre dauern), zu Sowjetmenschen ma-
chen, vielleicht zu einem besonders vitalen Typ, da ja die verbrecherische Ener-
gie (einige sind Mörder) im materialistischen Sinne eine Zusatzkraft darstellt,
die sich, umgeformt, in Leistung ausdrückt. Wäre nur nicht die unheimliche
ZEITDAUER der Umformung.
22. 22
Sibirische Zeitreserve
In der Zeit, in der der Genosse Andropow, der stets in seiner Gesundheit gefähr-
det, deshalb unbeweglich und nicht reisefreudig war, den KGB führte und sich
auf die Stellung des Generalsekretärs der Partei vorbereitete, gab es in einer der
Hauptabteilungen des russischen Geheimdienstes den kirgisischen Obristen
Lermontow, zu dessen Ahnen heidnische Priester (sibirische Animisten) zähl-
ten. Er legte während der Dienststunden (in einer so riesigen, weltweit orga-
nisierten Behörde rinnen gewaltige Zeitmengen, sie rinnen langsamer als
irgendwo sonst in der Welt vor den Fenstern des hochragenden Betonhauses
dahin) eine Sammlung historischer Skizzen an. Eine Reihe dieser Skizzen be-
faßten sich mit der »Lähmung im entscheidenden Moment«.
Es ist eine seltsame Tatsache, daß die großen Täter der Weltgeschichte oft eine
Lähmung ergreift, und zwar in entscheidenden Momenten. Es wäre doktrinär
zu sagen, sagt Lermontow, daß es keine Götter gibt. Offenbar treten sie als Be-
stärkung oder als Lähmung in Erscheinung. Wollen Sie, fragte Lermontow zu-
hörende Genossen, ernsthaft eine Erkältung dafür verantwortlich machen,
daß Napoleon in Waterloo nicht die Umfassungsschlacht schlägt, die ihm die
Generale anraten und die den sicheren Erfolg garantiert? Wollen Sie die Fehl-
leistung aus einer Erkältung erklären?
Nein, aus dem Unglauben des Kaisers an die eigene Mission, antwortet einer
der gelehrten geheimdienstlichen Assistenten, der sich täglich bildete (sie alle
bildeten sich in diesen Jahren für die Perestroika, deren Kommen sie ahnten,
ohne daß irgendeiner wußte, welche Bezeichnung die neue Freiheit haben
würde).
Das bestreite ich, erwiderte Lermontow. Die Gottheit, die ihn lähmt, ist die-
selbe, die als Blitz zwischen die Trojaner und die Griechen fuhr, Athene, die die
Sinne aller verwirrte. Sie lähmte die Einsicht des Trojaners, der seinen Pfeil auf
Menelaos abschoß; und sie lähmte den Flug jenes Pfeiles, so daß er den Grie-
chen nur leicht verwundete. Der göttliche Eingriff reichte aus, um den kurzen
Frieden zwischen Trojanern und den Griechen zugrunde zu richten. So gezielt
vermögen nur die Götter zu agieren, die in den alltäglichen Kausalnexus des
Lebens eindringen und dort ihre Verheerung anrichten. Wenn Sie so etwas auf
Schnupfenviren oder mangelnden Nachtschlaf zurückführen, erscheint mir
das doktrinär.3
3 Lermontow bezieht sich auf folgenden Vorfall: Nach vergeblicher Belagerung Trojas ha-
ben Griechen und Trojaner einen Waffenstillstand geschlossen. Dies geschah auf Ratschlag
der Mehrheit der Götter. Helena soll an ihren Gatten Menelaos herausgegeben werden. Da
aber sabotiert eine Untergöttin, nämlich Athene, diesen Friedensschluß. Sie gibt durch
23. Sibirische Zeitreserve 23
Das sagen Sie als Materialist?
Genau das sage ich, antwortete Lermontow. Ein Materialist ist nie doktrinär.
Er schließt ohne Grund keine Krafteinwirkung in der Welt als unmöglich aus.
Vor allem dann nicht, wenn sie sich unserer Beobachtung öffnet. Nehmen Sie
die eigentümliche Lähmung Hitlers, seine Blendung (im Moment des Fiaskos
der Front vor Moskau). Im Dezember 1941: »wie schneeblind«. Er erklärt den
USA den Krieg. Das müßte er nach den Verträgen nicht. Er besiegelt das Ende
des Deutschen Reichs. Wie wollen Sie so etwas erklären? Wenn nicht Götter
die Hand führen? Genauso die Lähmung Robespierres im Moment des Ther-
midors. Ebenso die merkwürdige »Erkältung« Trotzkis in der Krise vor Lenins
Tod. Warum fährt er im entscheidenden Moment in den Kaukasus? Es kostet
ihn die Macht. Ich habe hier eine Sammlung von 12 000 markanten Beispielen.
Wollen Sie das in den Wind schlagen?
Ich wundere mich sehr, antwortete der Vorgesetzte von Lermontow, der zu der
Runde hinzugekommen war. Womit beschäftigen Sie sich, Genosse?
Das damals intakte Imperium verfügte über alle Zeitreserven Sibiriens. Und
damit über Gedankenreserven. Ein Panzerschrank des Seelenlebens. In den
Bunkern des KGB sammelten sich akademische Eliten des Landes in lebhafter
Wechselwirkung zu den Eliten der Akademie der Wissenschaften, die in privi-
legierten Zentren an den Flüssen Sibiriens ihre Sitze errichtet hatten.4
An diese Sammlung Lermontows wurde ich (letzter Assistent Gorbatschows)
erinnert, als ich die Lähmung des Präsidenten beobachtete. Sie brach aus nach
der Rückkehr von der Konferenz in Madrid. Wir gingen dort betteln. Nie wie-
der war er der, der er gewesen war. Ein launischer, mittelmeerischer Gott aus
alter Zeit, der seitlich von Athene Troja zugrunde richten half, war in ihn ge-
drungen (wie es Viren, Insektenstiche, Gifte, schwere Enttäuschungen vermö-
gen). So saß er in seiner Kammer, tatenlos. Während die »Buschräuber von
Minsk« ihr Komplott schmiedeten, das Gemeinwesen enteigneten. Hätte er sie
verhaften sollen als Hochverräter? Er besaß die Vollmacht.
göttlichen Druck einem Gefolgsmann des Paris (derzeitigem »Besitzer« der Helena) den
Willen ein, Menelaos durch Pfeilschuß zu töten. Sie mildert diesen göttlichen Einfluß (so
daß Menelaos nur verletzt wird), weil der tückische Pfeil bereits als ZEICHEN ausreicht,
den Waffenstillstand zu zerstören.
4 Akademgorodok bei Nowosibirsk umfaßt 60 000 Planstellen. Der hoch subventionierte
Wissenschaftsort ist global mit den Netzen der internationalen Forschung verbunden; in
Akademgorodok selbst gibt es keine äußerliche Ablenkung. Gerade, daß im Winter ein drei
Meter hoher Hügel die Schlittenfahrt zuläßt. Eine Wanderung nach Norden, Osten, Westen
oder Süden hätte kein benennbares Ziel. Im Herbst Nebelwände, im Winter Schneestarre. Im
Sommer Mangel an Kühlung, keine Zwischenjahreszeiten. Wie die Kargheit eines mittelal-
terlichen Klosters umgibt den Denkenden eine pure Reserve an Lebenszeit.
24. 24 Sibirische Zeitreserve
Oberst Lermontow trugen wir kurz nach der Havarie von Tschernobyl zu
Grabe. Er hatte sich, »von allen Göttern verlassen«, erschossen.
25. 25
Hinweise eines Leiters des Kassenwesens in Stuttgart
Was ist Geld?
Der Leiter der Reichsbank-Hauptstelle Stuttgart hat in München mit dem
Auto 10 Millionen Reichs-Mark in Scheinen abgeholt und davon 1 Million
Mark im amerikanisch besetzten Göppingen abgegeben. Den Rest hat er am 6.
Juni 1945 nach Stuttgart gebracht. Der für die Bankaufsicht zuständige fran-
zösische Kommandant, dessen Agenten ihm das Fehlen einer Million gegen-
über der Münchner Ausgabebescheinigung vorrechneten, klärte den Bank-
präsidenten darüber auf, daß er keine Scheine in Göppingen hätte abgeben
dürfen. Der Bankpräsident erlitt einen Schlaganfall und starb.
Es kam darauf an, sagte der Leiter des Kassenwesens in Stuttgart, der auf diese
Weise seinen Herrn verlor, eine im April 1945 (also als Angelegenheit der
Reichsregierung) angerichtete Fehldisposition auszugleichen. Während sich
ein Zustrom von gedachtem Geld, d. h. Überweisungsaufträge, Verlagerung
von Konten, in und um Stuttgart konzentrierten, gelangte die Masse an Geld-
scheinen aus den Ost- und Nordbereichen des Reichs nur bis München. Soll-
ten wir jetzt, fragt der Leiter des Kassenwesens, auf Zettel zurückgreifen, auf
die wir mit den noch vorhandenen Schreibmaschinen Zahlen hätten tippen
können, die, unter der Autorität unserer Bank, Zahlungsmittel hätten sein
können?
Wir hätten auch Scheine markieren und in sechsfachem Wert ausgeben kön-
nen. In einer Spielkartenfabrik entdeckte ich 900 000 Satz Skat-Karten. Wir
hätten diese ziemlich fälschungssicheren Dokumente in den Geldverkehr ein-
führen können. Die Karten schienen uns aber zu schade, der Rückgriff zu un-
gewöhnlich. Nachträglich bedaure ich die Entscheidung, da sie das Leben mei-
nes Vorgesetzten erhalten hätte.
Ich muß in diesem Zusammenhang erläutern, wieso Geld nichts mit den Schei-
nen der Reichsbank zu tun hat. Das tatsächlich umlaufende Geld ist der gute
Wille in Stuttgart und Umgebung, notdürftig ergänzt durch dort noch herum-
liegende Wertstücke in Reichs- und Privatbesitz. Es ist die Vorstellung, daß un-
ser »zerstörtes« Gemeinwesen, da es zu jeder Zeit unterhalb der Zerstörung
und Besetzung existierte, notfalls auf sich selbst und seine inneren Werte einen
Tauschverkehr stützen kann. Dies kann so lange geschehen, als eine hinrei-
chende Zahl von Menschen die Vertretungsmacht der Banken für diesen selber
schwer faßbaren »guten Willen im Werte des Gemeinwesens« anerkennt. So
lange sind wir in der Lage, aufgrund irgendwelcher Zettel, Marken, Blech-
26. 26 Hinweise eines Leiters des Kassenwesens in Stuttgart
stücke, Eisenstangen, sofern die fälschungssicher sind und Ziffern aufnehmen
können, einen Geldwert darzustellen. Wir können auch Walnüsse, Schrauben
einer bestimmten unverwechselbaren Fertigung oder Nickelspangen zu Geld
deklarieren, immer vorausgesetzt, daß wir vergleichbare Zahlstücke nicht of-
fen irgendwo herumliegen lassen, so daß der Erwerb dieser Recheneinheiten
nicht durch Finden, sondern durch Austausch von Leistungen zu gefestigtem
guten Willen gemacht werden kann. Gras also ist kein Geldmittel, da überall
abzurupfen, auch nicht Wasser, wohl aber schweres Wasser, da nicht überall
erhältlich, usf.
Dieser grundsätzlichen Erwägung folgte mein Vorgesetzter, obwohl ich sie
ihm vortrug, nicht, da er eine Lücke im Denken der Besatzungsmacht erspäht
zu haben glaubte: Auf den Scheinen, die jedoch nur in München erhältlich wa-
ren, war »Reichs-Mark« nicht überdruckt, und in irgendeiner Weise gedachte
mein Chef, Dr. Schirrmeister, den Reichsgedanken und den Geldgedanken da-
durch in Verbindung zu halten, daß er auf seiner Extratour mit seinem privat
geretteten PKW Vorräte an Geldscheinen aus München nach Stuttgart
schaffte. Er hing an dem Grundgedanken der Renten-Mark, die eine Schatzan-
weisung auf sämtliche deutschen Grundstücke aus dem Jahre 1923 darstellte,
ohne zu berücksichtigen, daß diese Grundstücke gerade durch die Zerstörung
der Städte einen erhöhten Wert erhalten, da jetzt nicht alte Gebäude diesen
Grund blockierten, sondern, für den Fachmann deutlich absehbar, auf dem
Grundriß des alten Eigentums eine prächtige deutsche Fülle von Modernitäten
errichtet werden konnte. Einfacher gesagt: Das Geld war eigentlich mehr wert,
nur dachte niemand daran. Soweit der Gedanke meines toten Chefs. Er wollte
die Besatzungsmächte betuppen, indem er die traditionellen Scheine im Ver-
kehr hielt.
Ich erwiderte ihm, daß in Deutschland auf Reichsgebiet produzierte Eisenstan-
gen, die sich querlöten ließen, so daß entfernt der Eindruck eines Eisernen Kreu-
zes entstand, ein noch besseres Zeichen für den Fortbestand des Reichsgedan-
kens sein könnten, dieses Geld zudem auf Grund der natürlichen Schwere und
Kompaktheit – für die Besatzungsmächte nicht lesbar – von sich aus den Gedan-
ken transportierte. Wir hatten ein Lager von 16 Millionen Kurzstangen greif-
bar, die wir mit erhitzten Hammerstempeln noch hätten stempeln können; es
war möglich, auf der Unterseite eine Karte Deutschlands in den Grenzen von
1937 aufzustempeln. Dieses viel bessere Geld hielt mein Präsident nicht für an-
nehmbar, da dann jede Bezirksbank auf die Idee kommen konnte, jeweils ein
anderes deutsches Geld in Umlauf zu setzen. Er sagte: Lieber Scherer, ebenso-
gut könnten Sie auch Kühe, Schafe oder Schweine stempeln, und ungestem-
pelte Schweine wären kein Geld. Dieses Geld bewege sich dann von selbst, und
das widerspräche dem Geldbegriff. So fuhr er los in seinen Tod.
27. Hinweise eines Leiters des Kassenwesens in Stuttgart 27
Noch kurz vor seinem Ableben fühlte er sich glücklich darüber, daß die ameri-
kanische Besatzungsbehörde (Göppingen) ihm eine Million Mark in seinen
subversiven Scheinen abzunehmen bereit war und so, unfreiwillig, den Wert
des Reichs verbreitete. Er hätte ihnen gern auch zwei Millionen Reichs-Mark
in Scheinen angedreht, mehr als zehn Millionen in Scheinen paßten aber nicht
in sein Auto. Die Scheine hatten den Wert einer Propaganda-Broschüre. Man
versteht es, wenn man berücksichtigt, daß eine Bank nach Ansicht meines
Chefs der Werthortung dient, und dies bezieht sich nicht auf Geld, für das ich
etwas kaufe oder das ich spare, sondern auf ein jedes Wertstück, das sich zen-
tral verwaltet. So ist der Gedanke des Dienstes zentralisierter guter Wille. Die
Menschen zahlen ihren Reichsglauben ein und erhalten in Teilstücken Aktio-
nen des Gemeinwesens zurück. So sind sie fähig, gemeinsam zu handeln, also
das Gegenteil dessen zu tun, was die Besatzungsmächte durch Zerstückelung
des Reichs bewirken wollten.
Der elegante französische Offizier, ein Oberstleutnant der Fremdenlegion, ließ
das Büro meines erschöpften Chefs durch eine Wache besetzen. Mein Chef
war die Nacht durchgefahren, wollte sich auf der Couch seines Chefzimmers
einige Stündchen niederlegen und das Blut, das ihm in die Beine gerutscht war,
wieder bis zur Stirn heben.
Sie haben eine Million an eine fremde Macht ausgeliefert und somit meinem
Befehlsbereich entzogen, eröffnete der Oberstleutnant das Verhör.
– Wieso an eine fremde Macht?
– An den Kommandanten der Streitkräfte der Vereinigten Staaten in Göppin-
gen. Diese Summe ist von Ihnen persönlich zurückzuerstatten.
Mein Chef hielt dem entgegen, daß es ganz gleich sei, ob er für zehn Millionen
Reichs-Mark Anweisungen oder für neun Millionen Mark Anrechtsscheine
auf Wert und Produkt von Stuttgart und Umgebung, also dieses französisch
kontrollierten Befehlsbereichs, herangebracht hätte, da in jedem Fall die Zahl
dieser Symbol-Scheine den objektiven Wert des besetzten Bereichs nicht ver-
mehre. Das verstand der französische Offizier nicht.
Sie sehen, sagte mein Chef, die Mark-Scheine nur unter dem Gesichtspunkt
des Wegnehmens.
Das ist eine Ehrverletzung, erwiderte der Offizier. Ich habe nicht die Absicht,
auch nur einen dieser Scheine zu stehlen. Ich verhafte Sie.
Ich sagte, erwiderte mein Chef, wegnehmen, nicht stehlen. Sie können ja
Scheine für Ihre Regierung beschlagnahmen. Dies aber hätte keinen wirkli-
chen Wert.
Wieso ist das Geld, fragte, im Moment besänftigt, der Offizier zurück, unter
28. 28 Hinweise eines Leiters des Kassenwesens in Stuttgart
dem Gesichtspunkt, daß einer es wegnimmt, also stiehlt, etwas Wirkliches, un-
ter dem Gesichtspunkt, daß einer es zirkulieren läßt oder beschlagnahmt, aber
nichts Wirkliches? Es ist ein Anrechts-Schein auf ein Gesamtprodukt. Geld hat
einen Zeiger, der nach außen zeigt.
Der Offizier besah einen neuen Schein (noch unter der Reichsregierung ge-
druckt).
– Ich sehe keine Zeiger.
– Das ist aber die Wirkung des Geldes.
– Sie haben einen Knall!
– Ich habe keinen Knall, sondern Finanzwissenschaften studiert.
Mein verstorbener Chef ist einer der herausragenden Geldwerttheoretiker
unserer Reichsbank. Er hatte Kopf und Fingerspitzen voll analytischer Vor-
stellungen davon, was im Bank- und Geldwesen in Wahrheit geschieht. Er
verachtete den Offizier (nicht als Mensch, sondern als Fachmann), dessen Bil-
dungsmangel offensichtlich war. Rechnete einer es aus, so bestand sein Macht-
verhältnis aus zwei Unteroffizieren und acht Soldaten. Mein Chef verachtete
auch die armseligen Theoriegebäude der französischen Merkantilisten des
17. Jahrhunderts. Sie hätten keine Tiefe, da ihnen der Reichsgedanke fehlte.
Der Franzose wiederum hielt Schirrmeister für einen Nationalisten, der mit
der amerikanischen Besatzungsmacht konspiriert hatte.
Nehmen Sie, nehmen Sie, rief mein Chef mit puterrotem Kopf (das Blut
schwappte auf Grund der Erregung von den Beinen in den Kopf, weil die Ver-
rechnung versagte), greifen Sie sich ein oder zwei Millionen von diesen Schei-
nen, wir halten denselben Geldverkehr mit den restlichen sieben Millionen
Mark in Scheinen im gleichen Fluß wie mit neun, nur dürfen Sie Ihre zwei Mil-
lionen nicht in Umlauf bringen. Sie müssen sie horten.
– Ich beabsichtige nicht, Geld zu horten.
– Sie haben hier acht Soldaten. Die können mühelos zwei Millionen in Schei-
nen tragen. Stehlen Sie es für sich oder Ihre Regierung, nur bringen Sie es
nicht in Umlauf.
Der französische Offizier hielt meinen erregten Chef für unverständig, durch
die gehetzte Autofahrt überreizt. Er ging davon aus, daß durch Aushändigung
von einer Million Mark in Scheinen die konkurrierende Besatzungsmacht in
Göppingen einen Vorteil in den Händen hätte. Er wollte sich ja nicht persön-
lich Geldvorteile beschaffen, sondern die Interessen seines Befehlsbereichs
wahren.
29. Hinweise eines Leiters des Kassenwesens in Stuttgart 29
Der Schlaganfall des Chefs: Er sackte auf seinem Sitz zusammen, die rechte
Gesichtshälfte bewegungslos, eine Minute später, während die französischen
Soldaten ihn aufzurichten versuchten, der Offizier schickte nach Sanitätern,
befiel ihn ein weiterer Schlagfluß, der ihn tötete. Ich deute diesen Tod als einen
abrupten Zusammenbruch des Zahlungsverkehrs, wie er in einem älter ge-
wordenen Körper stattfindet. Zellen, Blutkreislauf, Hirn, innere Organe, wie
sie sich in einer geordneten Zusammenfassung zunächst (nach der Nachtfahrt
und der Aufregung, zehn Millionen Reichs-Mark in Scheinen überfallfrei
durch das besetzte Gebiet zu schmuggeln) im Chefsessel gruppierten, verstän-
digen sich durch winzige Signale innerhalb von Tausendstel von Sekunden,
vergewissern sich ihrer wechselseitigen Übereinstimmung. Viele Ärzte überse-
hen dies, nicht aber der Bankfachmann.
Persönlich bin ich der Meinung – Teilstück meiner geldwerttheoretischen
Überzeugung –, daß Kalium-Ionen, wie sie durch Bananen in den Körper ge-
langen, diese Verständigung ermöglichen. Es findet also, ähnlich wie in einem
Geldverkehr durch Vorzeigen von Geldstücken und -scheinen (so wie deren
Wechsel in Kleingeld usf.) eine partikulare und zugleich vollständige »funkeri-
sche« Resonanz statt. Person, Körper und Geist machen ein Gesuch, auf
Grund dessen sie zueinander finden, ähnlich übrigens wie Insektenvölker,
weshalb wir das im Kassenwesen summieren nennen.
Nun hat ein Mensch eine bestimmte Währung seiner Signale. Sie war, da mein
Chef die letzte Banane im Jahr 1938 zu sich genommen hatte, unzulänglich be-
vorratet. Er hatte zwar Nachschub an Scheinen für den Stuttgarter Bezirk her-
angeschafft, aber dabei die letzten Reserven seiner innerkörperlichen Signal-
Scheine aufgeopfert, ähnlich starrsinnig wie gegenüber den Bargeld-Ersätzen,
die ich ihm vorgeschlagen hatte. Man kann nämlich durch einfache Wäh-
rungsreform die gewöhnlichen körperlichen Wertmarken der inneren Verstän-
digung durch ganz andere ersetzen, da alle zellulären Transaktionen ähnlich
lernfähig sind, nehme ich an, wie die Stuttgarter Bevölkerung. Irritiert durch
die Konkurrenz zwischen Machtverkehr (2 Unteroffiziere und 8 Soldaten in
seinem Chefzimmer) und Geldverkehr (»wird jetzt in Reichsbank-Noten oder
in Form von Bajonetten gezählt?«) war der Chef, der in letzter Minute den sel-
tenen Fall eines Bankrotts durch Mangel an Scheinen in seinem Körperinneren
spürte, einer Art erregtem Selbstzweifel verfallen; auf Grund eines inneren
Starrseins oder organischen Konservatismus brach die Verständigung (wir
sprechen von Organermüdung) für einen Augenblick zusammen: mit tödli-
chem Ausgang.
Es ist also unrichtig, den französischen Besatzungsoffizier für diesen Tod ver-
antwortlich zu machen, wie es Stuttgarter Bekanntenkreise taten. Dieser
Oberstleutnant hatte weder die Macht, den Tod meines Chefs zu bewirken
30. 30 Hinweise eines Leiters des Kassenwesens in Stuttgart
noch ihn zu verhindern. Ein Kollaps entsteht nicht aus der Drohung mit Ver-
haftung oder wegen der drohenden persönlichen Haftung für eine Million
Reichs-Mark, wenn beides nur durch Vorzeigen von Bajonetten erzwungen
wird. Vielmehr ist mein Chef sein eigener Gegner gewesen, insofern, als er auf
Reichs-Mark-Scheine vertraute, allen Übergängen auf bessere Geldsorten da-
gegen mißtraute, bis in das Körpergeld hinein. Dr. med. Schikkele, dem ich
diesen geldwerttheoretischen Gedanken zu dem tragischen Todesfall vortrug,
hielt ihn für medizinisch unzutreffend. Nun hat er dieses Gebiet auch nicht
studiert.
31. 31
Kälte ist keine Energie
Kälte ist keine Energie und kann deshalb auch nicht zurückgestrahlt wer-
den . . . Das war interessanter, als sie gedacht hatte, denn sie war hier nur her-
eingeschneit, weil es für den Englisch-Kurs der Volkshochschule, ein Stock-
werk tiefer, zu spät war. Sie hatte die S-Bahn um eine Viertelminute verpaßt,
10 Sekunden früher, und sie hätte sich noch durch die automatische Tür hin-
eingezwängt. Dann wollte sie nicht durch die Tür hinter dem Vortragenden in
den Unterrichtssaal eintreten und (auf englisch oder deutsch?) eine Entschul-
digung murmeln, sich zu einen Platz durchzwängen, alle Augen auf sich ge-
richtet, auf ihr Gesäß, ihren Hals. Deshalb war sie panikartig ein Stockwerk
höher in den Saal 109 geeilt, der frontal zum Vortragenden betreten werden
kann. Sie saß unauffällig auf einem der Plätze neben der Tür und dachte hin-
sichtlich der Kälte, welche nicht die Kraft hat zurückzustrahlen, ja überhaupt
keine Kraft, sondern ein Zustand ist, an das Unvermögen Achims, zu bemer-
ken, wann sie ihm kalt oder erhitzt gegenüberstand. Er war nicht in der Lage,
irgend etwas, was er empfing, zurückzustrahlen.
In Florenz aber, in einem der lebendigsten Jahrhunderte der Stadt, bauten Ge-
lehrte (Rhetoriker) vor dem Herzog, einem der Medici-Bankiers, eine Reihe
von Geräten auf: einen Eisblock (wie Achim, müde), verbunden mit einem
Spiegel; der Strahl oder die Reflexion des Eises sollte eine heiße Suppe in einem
Topf kühlen. Dieses Experiment (an einem Frühlingstag) gelang nicht sofort
eindeutig, da die Suppe an der Luft auch ohne Einwirkung der Eisstrahlen
kühlte. Irgendwie wurde dann aber bewiesen, daß Eis nicht strahlt, während
ein neben dem Eisblock befestigtes Licht (als Wärmequelle), auf komplizierte
Weise gespiegelt, nicht mechanisch, Pünktchen für Pünktchen, aber doch, wie
man heute weiß, in Intervallen an bestimmten erogenen Stellen der Materie die
Kraft, die in ihm steckt, weitergibt, bis nichts mehr übrig ist. Es wurde eine
schöne Dreiviertelstunde, für den Kurs hatte Gerda nicht bezahlt. Sie be-
schloß, sich von Achim dringlich zu trennen, führte den Beschluß am Abend
aber nicht aus, weil sie noch in Eile war.
32. 32
Abb.: Sanitätshund im Winterkrieg. Er
kommt aus Modena. Mit Schlitten.
Die Heimat liegt da, wo meine Produktionsstätte ist,
wo meine Arbeit liegt
Am 6. Dezember 1941 stand die 1. Kompanie des Infanterie-Regiments 284,
96. Infanterie-Division, bei Tichwin. Sie ließ sich dann zurücktreiben bis zu
den Wolchow-Sümpfen. Am 21. Dezember 1941 wurden einige besonders be-
währte Unterführer und Mannschaften ausgewählt, die zum Weihnachtsur-
laub in die Heimat fahren durften.
Obergefreiter Eilers fuhr 3 Tage und Nächte zu seiner Garnisonsstadt; einen
weiteren halben Tag wurde er in der Quarantänestation an der Grenze zum
Reichsgebiet aufgehalten. Um 17 Uhr an Heiligabend traf er bei seiner Familie
ein, seiner hochschwangeren Frau Elisabeth, deren Eltern, einigen Vettern und
Schwägerinnen. Es wurde Kaffee, Likör, Kuchen gereicht. Die Kinder wurden
um 18 Uhr beschenkt und eine Stunde später ins Bett gebracht. Nachbarn er-
schienen. Eilers aß Fisch, Kotelett, Wurst, Nachtisch. Es wurde Wein ausgege-
ben. Um 2 Uhr lag er mit seiner Frau im Bett, das ihm ungewohnt war. Er
schwitzte unter dem Federbett. Er bemühte sich, vorsichtig zu sein, den Zustand
seiner Elisabeth zu berücksichtigen. »Es hatte alles keinen richtigen Zweck.«
Am nächsten Tag folgte ein Frühschoppen im »Hacker« mit Skatrunde. Eilers
schlief um 17 Uhr ein und wachte erst am 2. Feiertag um 14 Uhr wieder auf.
Frühstück im Bett. Ein Spaziergang, um den Körper zu »entschlacken«.
Es gehen die Tage bis zum 2. Januar rasch hin. Dem Sinn dieser Freizeit ist
33. Die Heimat liegt da, wo meine Produktionsstätte ist, wo meine Arbeit liegt 33
nicht recht beizukommen. Der Körper stabilisiert sich nicht, wenn eine Fest-
runde auf die andere folgt, keine Werktage. Das Leben in diesem kleinen Ort
hat für Individuen keinen Sinn. Das fällt einem Frontkämpfer auf, der doch für
sein momentanes Verhalten an der Front jeweils Zwecke angeben kann, so wie
der Gegner nach Zwecken vorgeht, die sich an der Vereitelung unserer Zwecke
messen. Einen halben Tag lang, 29. Dezember, arbeitet sich Eilers einmal
gründlich aus, indem er für den Schrotthändler Kraux einen Holzverschlag
zimmert, in den dieser Vorräte einschließen kann. Eilers erhält dafür 2 Dauer-
würste und ein Fläschchen, das er zur Front mitnehmen will, so wie er von der
Front ein besonderes Urlaubspaket mit Freßsachen nach Hause brachte. Faßt
man es zusammen, so hat er je ein Paket einmal hin- und hertransportiert.
Am 2. Januar Abschied auf dem Bahnhof. »Komm gut wieder. Schreib öfters.
Wir sorgen uns sonst so sehr. Denn man tau. Mein lieber Junge.« Die hoch-
schwangere Elisabeth, die in der ganzen Zeit, nach Eilers’ Eindruck, oft ge-
träumt hat, »ich habe sie eigentlich nur beim Brüten gestört«, hängt an Eilers
Hals und weint. Eilers küßt sie und steigt ein.
Mit 1700 anderen Rückurlaubern fährt er 3 Tage und Nächte. Als der 4. Tag
graut, liegt draußen metertief Schnee, »dehnen sich Felder und Wälder, glit-
zern zugefrorene Sümpfe, geht eine leuchtend rote Sonne am Horizont auf, 40°
unter Null«. Dies liest er in einem Kriegsheft. Ein Blick nach draußen lehrt,
daß dies ungefähr zutrifft. Die Rückkehrer »liegen im Skat«. In den Abteilen
herrscht »Bullenhitze«.
Nach einstündiger Fahrt in einem LKW, von den Bahngleisen fort, die mit der
Heimat verbinden, dann ein Fußmarsch von 2 Stunden, ist Eilers wieder unter
seinen Leuten. Die taktischen Zeichen an den Wegesstrecken, die Ortsschilder
sind ihm bekannt. Endlich die heimatliche Stellung, an der er selbst im Dezem-
ber gebaut hat und die sie bei seiner Abfahrt etwa 6 Tage besetzt hielten.
Eilers liefert die 2 Würste und die Flasche an die Kameraden ab. Sie sitzen ge-
meinsam am Bolleröfchen. Wenig später Alarm. Sowjetische Truppen greifen
über ein offenes Schneefeld an. Das war Unsinn, weil sie so in das flankierende
MG-Feuer der schräg seitlich vorgestaffelten Nachbarkompanie gerieten. Was
bezwecken sie mit diesem Angriff? fragt Gefreiter Berger. Eilers hat keine Zeit,
sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Er gibt seine Feuerbefehle und bemüht
sich, im rechten Augenblick Deckung zu nehmen. Der Angriff wird zweckmä-
ßig und kooperativ abgewehrt.
Meine Heimat ist da, würde Eilers sagen, wenn er überhaupt darüber reden
würde, wo ich den persönlichen Eindruck habe, daß alles Sinn und Zweck hat
und die Zusammenarbeit klappt. Das kann ich vom gewesenen Weihnachts-
fest nicht sagen. Dagegen muß ich es hinsichtlich der Stellung, die wir hier »um
jeden Preis« halten, behaupten. Ich hätte sonst überhaupt nichts übrig.
34. 34 Die Heimat liegt da, wo meine Produktionsstätte ist, wo meine Arbeit liegt
Nirgendwo an der deutschen Ostfront wurden die Divisionen so durcheinan-
dergeworfen wie jetzt am Wolchow. Vereinzelung aber bedeutet, verschlissen
zu werden. Pausenlos wurden Telefongespräche aus Dringlichkeitsgründen
unterbrochen. Hiergegen arbeitete die Produktionsgruppe Eilers nach Sinn
und Zweck an.
35. 35
»Ad unum omnes«
Ad unum omnes! sagte Studiendirektor Hauptmann a. D. Haul, unter Bezug-
nahme auf Bellum Gallicum, S. 312. Dort wird von zwei umzingelten Legionen
berichtet, die von Galliern niedergemacht wurden. Zweifelhaft bleibt, erör-
terte Haul, ob hier Cäsar noch 1 Soldat übrigblieb, der nämlich die Unglücks-
nachricht überbrachte, oder ob sie alle, d. h. mit Ausschluß eines einzelnen,
d. h. mit keinem überlebten und sozusagen nur gefunden wurden, wie sie dage-
legen haben. Dies läßt sich aus dem Text nicht schlüssig entnehmen. Wörtlich
heißt, schreibt Haul, »ad unum omnes«: »bis auf einen alle«. Heißt das, ein-
schließlich dieses letzten einen alle? Oder war die Zählung ungenau und einer
blieb ungezählt? Haul – der einer war, Individuum – konnte sich eigentlich
überhaupt nur einen vorstellen, über dessen Tod er trauern würde, dann aber,
wenn dieser Trauerfall im Felde einträte, wäre er eben schon als Zeuge nicht
mehr da, um zu trauern. Insofern interessierte ihn die genaue Übersetzung
sehr, so als wäre dies seine Chance, unter der er in den Kriegsdienst eintreten
würde, daß ad unum omnes nicht das Verlöschen aller wäre, sondern aller ex-
klusive eines Boten der Unglücksnachricht, z. B. eines Altphilologen, der noch
in Worte fassen könnte, was geschehen war; wenn auch im Grunde des Her-
zens trauerlos, weil selber unbetroffen, und insofern nicht der rechte Bote oder
Wortemacher. Die Schüler der Obersekunda wußten schon, wann Anzeichen
darauf deuteten, daß Haul auf sein Thema zurückkäme: Alle ohne den einzel-
nen einen – als die hoffentlich korrekte Übersetzung der Zweifelsstelle, noch
Honig saugend aus dem Unfall aller übrigen. Zu dem Stichwort »Bis zum letz-
ten Mann und zur letzten Patrone in St. kämpfen« sagte der Major i. G. v. Zit-
zewitz: Mein Führer, die Soldaten in St. können gar nicht bis zur letzten Pa-
trone kämpfen, da sie diese nicht mehr haben.
36. 36
Quellenverzeichnis
Die in dieser Auswahl abgedruckten Geschichten sind den folgenden im Suhr-
kamp Verlag erschienenen Büchern von Alexander Kluge entnommen (dem
Doppelpunkt nach der Quellenangabe folgt die Seitenzahl des Textbeginns in
der vorliegenden Zusammenstellung):
Chronik der Gefühle, Band I: Basisgeschichten, Frankfurt am Main 2000: 18,
20, 22, 25, 31, 32, 35, 36.
Chronik der Gefühle, Band II: Lebensläufe, Frankfurt am Main 2000: 7, 9, 10,
12, 15.