1. Thomas Wolf: Dr. Bruno Bourwieg (1865-1944).Lebensweg eines Siegener Landrats
und sein Rücktritt im Jahr 1919.
I. Biogramm.1
Ernst Bruno Bourwieg wurde am 31. Oktober 1865 in Greifenhagen/Pommern geboren.
Er wuchs in einem evangelischen Elternhaus auf. Sein Vater Heinrich August Wilhelm
Bourwieg war Justizrat, Rechtsanwalt und Notar in Stettin. Bourwieg war mit Bothilde
Iebsen, einer Reeder-Tochter aus Apenrade, verheiratet. Aus dieser Ehe ging ein Sohn
hervor. Während über seine Schul- und Universitätszeit noch wenig bekannt ist, sind
seine militärischen Leistungen durch die Verleihung der Orden Roter Adlerorden und
Eisernes Kreuz am weiß-schwarzen Bande sowie die Landwehrdienstauszeichnung
dokumentiert. Seine berufliche Karriere begann er 1886 mit der erfolgreichen Prüfung
zum Gerichts-Referendar. Es folgte noch im selben Jahr die Ernennung zum
Gerichtsreferendar in Stettin. 1889 wechselte er als Regierungsreferendar nach
Schleswig, wo er 1891 zum Assessor ernannt wurde. Von 1892 bis 1896 übernahm er
eine Assessorstelle beim Landratsamt in Gelsenkirchen sowie daran anschließend eine
Tätigkeit beim Regierungspräsidium in Münster.
Seit dem 9. November 1899 stand Dr. Bourwieg zunächst kommissarisch dem Kreis
Siegen als Landrat vor; die endgültige Bestätigung erfolgte am 12. Juni 1900. Ein
Schwerpunkt seiner Arbeit war die Fortentwicklung der Schulen im Kreisgebiet.
Während seiner Amtszeit förderte er als Vorsitzender des Schulkuratoriums die
Entwicklung der Wiesenbauschule, dem Vorläufer der späteren Universität.2 Die
Errichtung der Fachschule für Eisen- und Stahlindustrie fiel gleichfalls in seine Amtszeit.
Ebenso nahm die landwirtschaftliche Winterschule ihre Arbeit auf. Zugleich widmete er
sich der Verbesserung der Infrastruktur des Kreises (z. B. Ausbau der Landstraßen).
Besonders machte er sich um die Kleinbahn Weidenau-Deuz-Irmgarteichen verdient.
1
Die Lebensskizze Bourwiegs fußt überwiegend auf der vorhandenen, nachfolgend aufgeführten Literatur.
Die allgemeinen Angaben zum Lebenslauf Bourwiegs wurden Walter Hubatsch, Grundriss zur deutschen
Verwaltungsgeschichte 1815 – 1945. Bd. 8: Westfalen, Marburg/Lahn 1980, S. 303 (=Hubatsch), und vor allem
Dietrich Wegmann, Die leitenden staatlichen Verwaltungsbeamten der Provinz Westfalen 1815-1918, Münster 1969,
S. 254 (=Wegmann) entnommen.
Die Bedeutung des Landrates für das Siegerland wurde anhand folgender Publikationen erarbeitet: Ermert,
Otto/Heinrich, Rudolf: 150 Jahre Bauwesen in Siegen 1853 – 2003, Siegen 2003, S. 30 (=Ermert/Heinrich),
Güthling, Wilhelm: Die Landräte des Kreises Siegen von 1817 bis 1919, in: Siegerland (47) 1970, S. 35-43
(=Güthling), Häming, Josef: Die Abgeordneten des Westfalenparlaments 1826–1978 (Westfälische Quellen und
Archivverzeichnisse, Bd. 2), Münster 1978, S. 208 (Nr. 186) (=Häming), Irle, Lothar: Siegerländer Persönlichkeiten-
und Geschlechterlexikon, Siegen 1974, S. 44 (=Irle), N.N.: Im Strom bewegter Zeiten. Die Siegener Landräte 1815 –
1945, in: Unser Heimatland, Gesammelte Veröffentlichungen aus der Siegener Zeitung, Siegen 1955, S. 54-56 (=UH
1955), Weber, Georg (Bearb.): Festschrift zur 100-Jahrfeier des Kultur- und Gewerbevereins für den Kreis Siegen,
Siegen 1933, S. 22 (=Weber).
Die Vorgänge, die zum Rücktritt Bourwiegs führten, schildern einerseits Detlef Wetzel und Hartwig Durt,
Bekämpft. Verschwiegen. Zerschlagen. Gewerkschaften und ihre Kämpfe im Siegerland bis 1933. Beiträge zur
Geschichte der Siegerländer Arbeiterbewegung, Siegen 1989, S. 126-129, 159-160 (=Wetzel/Durt), andererseits
wurden die in der Sammlung. Personalia des Stadtarchivs Siegen zu Bourwieg dokumentierten Artikel der Siegener
Zeitung (Jg. 97 Nr. 243 v. 16.10.1919, Jg. 97 Nr. 246 v. 20.10.1919, Jg. 97 Nr. 254 v. 29.10.1919, Jg. 97 Nr. 256
vom 31.10.1919, Jg. 97 Nr. 257 v. 01.11.1919, Jg. 97 Nr. 258 v. 03.11.1919, Jg. 97 Nr. 300 v. 23.12.1919)
ausgewertet.
Dem Stadtarchiv Kiel verdanke ich durch die freundliche Mitteilung vom 25.02.2004, den Hinweis auf die
Todesanzeige Bourwiegs in der Kieler Zeitung v. 29.02.1944
2
Siehe Ermert/Heinrich, S. 30
2. Als Bauherr des Landratsamtes in der Siegener Koblenzer Straße blieb sein Wirken bis
in die siebziger Jahre im Siegener Stadtbild sichtbar.3 Ferner griff er an entscheidender
Stelle, als Vorsitzender des Siegener Kultur- und Gewerbevereins, in das wirtschaftliche
Geschehen der Region ein.4 Politisch vertrat er das Siegerland von 1905 bis 1919 als
Vertreter der nationalliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) für den Wahlkreis Siegen
im Westfälischen Provinziallandtag.5
Im Kreis Siegen „scheiterte" er an der schwierigen Lebensmittelversorgung nach dem
Ersten Weltkrieg. Es war ihm nicht gelungen, die Einordnung des Kreises durch das
zuständige Reichsministerium als "landwirtschaftlicher Kreis“ zu korrigieren. Nur
dadurch wären aber weitere Lebensmittelzuteilungen in dieser Notzeit zu erreichen
gewesen. Georg Weber kolportierte, dass die falsche Berliner Einschätzung auf dem
Namen einer Getreidesorte, dem „Siegerländer Rotweizen“, beruhte.6 Am 14. Juni 1919
war es in Siegen zu einer größeren Demonstration der gewerkschaftlich organisierten
Arbeiterschaft gekommen. In der Kritik standen vor allem die Preisprüfungsstelle, die
den überhöhten Preisen für Lebensmitteln nicht Herr wurde, sowie die Verwaltungen,
deren Vorgehensweise bei Lebensmittelverteilungen kritisiert wurden. Tumultartige
Szenen spielten sich während eines eilig anberaumten Gespräches zwischen Bourwieg
und zwei Arbeiterführern ab. Die Proteste der Arbeiterschaft dauerten bis in den Herbst
des Jahres an. Ständige Versorgungsengpässe sowie der Erhöhung der
Lebensmittelpreise verschärften die Situation.7 Am 14. Oktober 1919 kam es auf
Einladung der örtlichen, christlichen Gewerkschaften zu einer Versammlung, an der
Vertreter der Arbeiterausschüsse der größeren Industriebetriebe, der Zentrumspartei,
der Deutschnationalen Volkspartei und der Deutschen Volkspartei teilnahmen. Ein
Antrag von Seiten der Arbeitnehmerschaft, den Landrat zum Rücktritt zu bewegen,
wurde abgelehnt, vielmehr wünschte die Versammlung eine baldige Kreistagssitzung,
um die bedrohlichen Situation, die die unzufriedenen Arbeiter offensichtlich darstellten,
zu beraten. Drei Vertreter der Versammlung - Gewerkschaftssekretär Haas,
Amtsgerichtsrat Schneider und Oberlehrer Dr. Kruse - wurden bestimmt, dem Landrat
diesen Beschluss zu überbringen. Am Abend des 15. Oktober 1919 kam es zu dem
Gespräch zwischen dem Landrat und den drei Versammlungsvertretern. Bourwieg
selbst aber hatte offensichtlich bereits seit langem über einen Rücktritt nachgedacht, so
dass er den Versammlungsvertretern offenkundig ein wenig überraschend seinen
Rücktritt zum 1. November 1919 erklärte. So jedenfalls schilderten Kruse und Schneider
das Geschehen am 1. November 1919 in der Siegener Zeitung. Bourwieg selbst hat die
Situation anders wahrgenommen, wie er selbst in der Siegener Zeitung vom 3.
November 1919 schildert, hätten ihn die quasi halbherzig abgelehnte Aufforderung zum
Rücktritt und die gleichzeitige Betonung des bedrohlichen Unmutes in der Arbeiterschaft
sowie den allenfalls marginal erwähnten Beschluss zur Einberufung einer klärenden
Kreistagssitzung veranlasst, seinen für das Frühjahr 1920 geplanten Rücktritt
vorzuziehen. Seinen Rücktritt gab Bruno Bourwieg am 16. Oktober 1919 öffentlich
bekannt. In einer Kreistagssitzung vom 28. Oktober 1919 wurde dieser Entschluss des
Landrates mit Bedauern zur Kenntnis genommen. Am 29. Dezember 1919 bestand für
3
siehe Güthling, S. 40-43 und UH 1955, S. 54-56
4
siehe Weber S. 22
5
siehe Häming S. 208
6
siehe Weber, S. 22
7
siehe Wetzel/Durt, S. 126-127
3. die Siegerländer noch die Möglichkeit von ihrem ehemaligen Landrat im Weinsaal der
„Erholung“ Abschied zu nehmen.8 Dr. Bruno Bourwieg war der erste und einzige
preußische Landrat des Siegerlandes, der von seinem Amt zurückgetreten war.
Die Versetzung an das Landesfleischamt Berlin als stellvertretender Leiter im Rang
eines Geheimen Regierungsrates zum 1. Januar 1920 ist von Bourwieg möglicherweise
auch als Karrierestopp angesehen worden. Bereits zum 1. April 1920 beantragte er die
Versetzung in den Ruhestand.9
Am 21. März 1921 zog Bourwieg mit seiner Familie von Berlin-Schöneberg nach Kiel.
Dort lebte er wohl zurückgezogen bis zu seinem Tod. Vor sechzig Jahren, am 25.
Februar 1944, starb Dr. Bruno Bourwieg in Kiel im Alter von 78 Jahren. Seine
sterblichen Überreste wurden eingeäschert.10
II. Forschungslage.
Folgende Forschungsdesiderate gilt es noch zu benennen, um eine umfassendere
Biographie Bourwiegs zu erstellen. Den beruflichen Werdegang gilt es anhand der
vorhandenen Überlieferung in der Münsteraner Abteilung des Landesarchivs Nordrhein
Westfalen (Reg. Arnsberg 19453 [I Pr. Nr. 48] Nachweisungen von Landräten, die sich
zu einer Beförderung bzw. Beschäftigung bei Regierungen oder Ministerien eignen 1878
– 1920, Reg. Arnsberg 458 [I Pr. Nr. 77] Nachweisung der persönlichen dienstlichen
Verhältnisse der Beamten der Regierung und der Landräte aus dem Regierungsbezirk
Arnsberg Bd. 3. 1882 – 1895). Zu diesem Zweck sollte auch ein einschlägiger
Aktenband des preußischen Innenministeriums (Rep. 77 Nr. 4435) des Geheimen
Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz herangezogen werden.
Über seine Siegener Zeit werden die Bestände Kreis Siegen, Landratsamt und
Kreisausschuss des Landesarchivs NW, Abt. Staatsarchiv Münster und die im
Kreisarchiv Siegen-Wittgenstein aufbewahrten Protokollbände des Kreistages und des
Kreisausschusses Aufschluss geben.
Lohnenswert ist auch die Beschäftigung mit den politischen Aktivitäten Bourwiegs im
westfälischen Provinziallandtag. Sowohl der Bestand im Staatsarchiv Münster enthält
entsprechende Akten (B 1273, 1[3]49 – 1351) als auch das Archiv des
Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in Münster (Best. 130/66: Mitglieder des
Provinziallandtages 1901 - 1920 [ohne weitere biographische Angaben, von
Todesanzeigen abgesehen]; Best. 102/74 – 89: Sitzungen des Provinziallandtages 1905
- 1919 [Vorlagen, Niederschriften]; Best. 102/169: Landtagsabgeordnete 1899-1926).
Ob Darpes Geschichte des Landkreises Gelsenkirchen aus dem Jahr 1907 für
Bourwiegs Gelsenkirchener Zeit Informationen enthält, harrt der Überprüfung.
gedruckt in Siegener Beiträge. Jahrbuch für regionale Geschichte, Siegen 2004, S. 203-
206
8
Siegener Zeitung vom 23.12.1919
9
siehe Hubatsch, S. 303, Irle, S. 44 und Wegmann, S. 254
10
Frdl. Mitteilung des StadtA Kiel v. 25.02.2004, Kieler Zeitung v. 29.02.1944