3. Hausmitteilung
18. Juni 2012 Betr.: Titel, Syrien, Barenboim
A us der Arbeit an der Titelgeschichte zog SPIEGEL-Redakteurin Julia Koch
auch persönlichen Nutzen: Kurz nachdem sie ihre Recherchen über Schwan-
gerschaften abgeschlossen hatte, wurde sie zum zweiten Mal Mutter. Einige der
Ärzte und Wissenschaftler, die Koch befragt hatte, hätten sie gern als Probandin
für ihre Studien gewonnen. Ergründen wollen
Experten wie die Hamburger Ärztin Anke Die-
mert, wieweit der Lebenswandel werdender
Mütter darüber bestimmt, ob Nachkommen über-
gewichtig, hyperaktiv oder psychisch krank
werden. Vor allem mütterlicher Stress, so hat es
den Anschein, kann sich negativ auswirken.
Koch weiß allerdings nur zu gut: „Mit Job und
ILONA HABBEN / DER SPIEGEL
Kleinkind nicht gestresst zu sein ist jeden Tag
aufs Neue eine Herausforderung.“ Sie bemühte
sich, den Ratschlägen der Pränatalforscher zu
folgen. Offenbar mit gutem Ergebnis: Sohn Carl
sei „ein gesundes, gelassenes Kind“, sagt die
Koch, Diemert Redakteurin (Seite 120).
Ü ber den Bürgerkrieg in Syrien berichtet SPIEGEL-Reporter Christoph Reuter
seit vorigem Sommer – bisher stets anonym. Er reiste mit Visa ein, die ihn mal
als Agrarexperten, mal als christlichen Pilger auswiesen, und er machte sich, illegal,
über die grüne Grenze eines Nachbarlandes auf den Weg. So wollte er sich und
seine Informanten schützen. Die sind inzwischen untergetaucht oder ums Leben
gekommen. Der Gemüsehändler Ali Mahmud Osman etwa, der Reuter und anderen
Journalisten geholfen hatte, war nach dem Einmarsch der Armee in Homs geblieben
und verhaftet worden. Vor wenigen
Wochen wurde er zu Tode gefoltert.
Der Reporter erlebte Hubschrauber-
angriffe, sah Verwüstungen, furchtbar
VEDAT XHYMSHITI / DER SPIEGEL
zugerichtete Leichen, Rebellen und die
Schabiha-Milizen des Assad-Regimes.
Was die staatliche Propaganda glauben
machen möchte, sah er hingegen nicht:
ausländische Kämpfer oder syrische
Dschihadisten-Gruppen, die einen Got-
Reuter (l.) tesstaat errichten wollen (Seite 82).
Z iemlich erschöpft war Daniel Barenboim, als er die Redakteure Joachim
Kronsbein und Bernhard Zand zum SPIEGEL-Gespräch in seiner Künstler-
garderobe empfing, soeben hatte er im Wiener Musikverein Bruckners 5. Sympho-
nie dirigiert. Barenboim, in Argentinien geboren und in Israel aufgewachsen, sprach
über Musik, vor allem aber über Politik – und kritisierte die Regierung in Jerusalem:
„Wagner verbieten und gleichzeitig deutsche U-Boote kaufen, das ist doch absurd.“
Sein Verhältnis zu Israel ist ein gespaltenes. „Wie wollen Sie Patriot sein in einem
Staat, der seit 45 Jahren fremdes Territorium besetzt?“, fragte Barenboim die
SPIEGEL-Leute. Das Gespräch wurde kurz unterbrochen, als auf dem Handy des
Dirigenten eine SMS einging. Sir Simon Rattle, der Chef der Berliner Philharmo-
niker, hatte im Publikum gesessen und simste seine Begeisterung. Noch nie sei
ihm die Fünfte Bruckners, dieser symphonische „Koloss“, in einer Aufführung „so
verständlich“ geworden (Seite 110).
Im Internet: www.spiegel.de D E R S P I E G E L 2 5 / 2 0 1 2 3
4. In diesem Heft
Titel
Neun Monate, die das Leben
bestimmen – prägende Erfahrungen
im Mutterleib ................................................ 120
Deutschland
Panorama: Klamme Bundesländer gefährden
Fiskalpakt / Ermittler prüfen Verbindung von
Salafisten zur Sauerland-Terrorzelle /
Koalition streitet über Parlamentsrechte
bei Bundeswehreinsätzen ............................... 13
Regierung: Angela Merkels wichtigster
Krisenmanager Ronald Pofalla
ist überfordert ................................................ 18
Europa: SPIEGEL-Gespräch mit CSU-Chef
Horst Seehofer über Volksabstimmungen und
die Euro-Rettung ............................................ 22
SPD: Die Parteiführung will im Wahlkampf
darauf verzichten, die Kanzlerin
als Europa-Politikerin herauszufordern .......... 26 Europäische Spitzenpolitiker Monti, Merkel, Hollande
Hauptstadt: Das Finanzchaos um
Deutschland soll den Euro retten
den Berliner Großflughafen ........................... 28
Grüne: Parteichefin Claudia Roth drängt
Seite 62
FRANCOIS LENOIR / REUTERS
bei einem Wahlsieg ins Kabinett .................... 30
Terrorismus: Akten des Verfassungsschutzes Der Druck auf die Kanzlerin wird größer: Deutschland müsse mit seiner
zeigen die Spur der Neonazis beim finanziellen Macht die Euro-Zone retten, fordern Politiker und Ökono-
Olympia-Attentat 1972 ................................... 32
Justiz: Wie islamische Streitschlichter die men aus aller Welt. Doch die vorgeschlagenen Instrumente taugen nicht.
Scharia in Deutschland anwenden ................. 36
Flüchtlinge: Ghetto oder Integration –
Bürgerproteste gegen Leipziger
Wohnprojekte ................................................ 39
Landwirtschaft: Bei der grünen Gentechnik
riskiert Verbraucherschutzministerin
Ilse Aigner den Konflikt mit der Kanzlerin .... 42
Bildung: Die Reform eines länderübergreifenden
Abiturs bleibt Stückwerk ................................ 46
Merkels Problemfall Seite 18
Affären: Der Klatten-Erpresser sagt erstmals Eigentlich ist Kanzleramtschef Ronald Pofalla der wichtigste Manager
über den mutmaßlichen Drahtzieher aus ....... 50 der Regierung. Doch statt Probleme zu lösen, schafft er ständig
neue. Das Vertrauen zu ihm in der Koalition schwindet zusehends.
Gesellschaft
Szene: Fettsucht bei Tieren / Warum
griechische Inseln schwer verkäuflich sind ..... 52
Eine Meldung und ihre Geschichte –
wie sich ein Schauspieler versehentlich
erhängte ......................................................... 53
Idole: Das wechselvolle Leben von
Schwaches Zeugnis Seite 46
Lothar Matthäus als TV-Doku ........................ 54 Die Zahl der Abiturienten wächst. Aber was ist die Reifeprüfung
Ortstermin: In Berlin erforschen wirklich wert? Die Kultusminister sperren sich gegen ein Zentralabitur
Wissenschaftler, wie Nationalgefühl und verhindern damit einen bundesweiten Leistungsvergleich.
produziert wird ............................................... 59
Wirtschaft
Trends: Schlecker-Gläubiger gehen leer aus /
Siemens-Chef brüskiert Bremen / Schäubles
Pläne für die Finanztransaktionsteuer ............ 60 Maskerade
Finanzpolitik: Endspiel um die deutsche
Kredithaftung ................................................. 62
Die Bankkunden in den Krisenländern
in Danzig Seite 136
ziehen ihr Geld ab ......................................... 64 Der DFB inszeniert für die
Europa: Weltbankpräsident Robert Zoellick Berichterstatter im Trainings-
über das Krisenmanagement von camp der Nationalmann-
Kanzlerin Merkel und die Notwendigkeit schaft in Danzig fast täglich
rascher Reformen in der Euro-Zone ............... 66 eine Pressekonferenz –
Unternehmen: Warum will Evonik eine Kunstwelt der Floskeln
überhaupt an die Börse? ................................ 69
Tourismus: Wie die TUI ihre
und Werbebotschaften.
Animateure schult .......................................... 70 Dort gibt der Verband auch
MAGICS / ACTION PRESS
zu verstehen, was nicht
Medien gewünscht ist – etwa Fotos
Trends: Schlechtes Zeugnis für das ZDF / von Spielerfrauen wie
Niggemeiers Medienlexikon ........................... 73 Gercke der Khedira-Verlobten
Talkshows: Die ARD rechnet mit ihren Lena Gercke.
Moderatoren ab .............................................. 74
4 D E R S P I E G E L 2 5 / 2 0 1 2
5. Ausland
Panorama: Untersuchungshaft in
Schweden für WikiLeaks-Gründer Assange? /
Übergriffe auf Immigranten in Griechenland ... 80
Syrien: Apokalypse und Zerfall – Reportage
aus der Provinz Aleppo ................................. 82
Die Schuldigen des Massakers von Hula ........ 84
Türkei: Die geistig-kulturelle Wende
von Ministerpräsident Erdogan ...................... 86
Essay: Was prügelnde Politiker über den
Zustand von Gesellschaften verraten ............. 88
Österreich: Maria Fekter, die
forsche Finanzministerin ................................ 90
Ägypten: Scheitert das demokratische
Experiment? ................................................... 92
Nordkorea: Aufgewachsen im Straflager –
die Odyssee des Shin Dong-hyuk ................... 96
Global Village: Zöllner gehen am Flughafen
von Dubai gegen Zauberer vor ..................... 100
KARLHEINZ SCHINDLER / PICTURE ALLIANCE / DPA
Kultur
Szene: Hongkong bekommt die größte
ARD kritisiert Jauch Seite 74 Sammlung chinesischer Gegenwartskunst
der Welt / Ein griechischer Theaterregisseur
Mit einer Flut von Talkshows kämpft das Erste um Zuschauer. Jetzt führt auf Kreta eine Tauschwährung ein ....... 102
hat der Programmbeirat die Plauderrunden hart kritisiert: Die Themen Kunst: Jeff Koons wird in Frankfurt als
Hellenist und Pornograf gefeiert ................... 104
seien nicht originell – und Günther Jauch stelle zu harmlose Fragen. Ethik: Die Autorin Sigrid Falkenstein
beschreibt das Euthanasie-Schicksal
ihrer Tante .................................................... 107
Dirigenten: SPIEGEL-Gespräch mit
Daniel Barenboim über seine Liebe zu
Richard Wagner und die politische
Instrumentalisierung des Holocaust in Israel ... 110
Flucht aus dem Schattenreich Seite 96
Bestseller ..................................................... 113
Propaganda: Der berühmte Kriegsfotograf
James Nachtwey verharmloste den
Shin Dong-hyuk lebte 22 Jahre in einem nordkoreanischen Straflager, wurde syrischen Diktator Assad in einer süßlichen
zur Sklavenarbeit gezwungen und gefoltert. Nun berichtet er von Homestory – warum bloß? ............................ 114
seiner traumatischen Leidensgeschichte: „Ich wurde gehalten wie ein Tier.“ Filmkritik: Madonnas Kostümdrama „W. E.“
über eine königliche Romanze ...................... 116
Wissenschaft · Technik
Prisma: Ungarischer Parlamentarier unterzieht
Neonazis halfen Olympia-Attentätern Seite 32
sich genetischem Rassetest / Flugzeug mit
Elektromotoren ............................................ 118
Umwelt: Ökobekenntnisse in
Der Anschlag auf das israelische Olympia-Team kostete 1972 bei den Spielen Rio, Raubbau im Urwald – Brasiliens
in München neun Geiseln das Leben. Akten des Verfassungsschutzes schizophrene Politik ..................................... 130
zeigen, dass die palästinensischen Terroristen mit Neonazis kooperierten. Der Multimilliardär Richard Branson
über Klimaschutz als Geschäftsmodell ......... 132
Archäologie: Goldfund aus der Bronzezeit
auf einem niedersächsischen Acker .............. 133
König des Sport
Szene: Im Blut des toten Schwimmers
Kitsches Seite 104
Alexander Dale Oen fanden sich Spuren von
13 Schmerzmitteln / EM-Fairnessbarometer: je
mehr Siege, desto weniger Verwarnungen .... 135
Schon in seinen frühen, Euro 2012: Hofstaat unterm
oft pornografischen Werken Mercedes-Stern – das deutsche
schockierte er die Kunst- Trainingscamp in Danzig .............................. 136
welt. Nun hat der Amerika- Mittelfeldstratege Xavi Hernández ist
ner Jeff Koons die Antike die Ordnungsmacht im Team des
und ihren Körperfetischis- Titelverteidigers Spanien .............................. 140
Understatement als Führungsprinzip –
mus für sich entdeckt. In der englische Trainer Roy Hodgson .............. 142
ANNA SCHORI / DER SPIEGEL
einer Frankfurter Doppel-
schau inszeniert sich Koons Briefe ............................................................... 6
als unangreifbarer König Impressum, Leserservice .............................. 144
der bunten Geschmack- Register ........................................................ 146
losigkeit und des genialen Personalien ................................................... 148
Koons
Kitsches. Hohlspiegel / Rückspiegel ............................. 150
Titelbild: Fotos Visum, ARD/dpa
D E R S P I E G E L 2 5 / 2 0 1 2 5
6. Briefe
übertrifft die Leistungen der meisten sei-
ner Vorgänger bei weitem. Innenpolitisch
ist die Gesundheitsreform das bedeutends-
„Könnte es sein, dass die te Projekt der Regierung. Wird sie für ver-
USA aufgrund der fassungskonform erklärt, hat Obama er-
reicht, woran über acht Jahrzehnte hin-
höchst unterschiedlichen weg demokratische wie republikanische
Präsidenten scheiterten: So gut wie jedem
Ideologien nicht Amerikaner eine erschwingliche Kranken-
versicherung zu garantieren.
wirklich zu regieren sind?“ SIMON VAUT, BERLIN
DR. PETER-MICHAEL WILDE, KÖNIGS WUSTERHAUSEN Nie habe ich erwartet, dass Obama übers
(BRANDENBURG) Wasser gehen könnte. Und trotz aller
SPIEGEL-Titel 24/2012 Schwierigkeiten ist er eine Offenbarung
gegenüber George W. Bush. Die destruk-
tiven Manöver der Tea-Party-Anhänger
Nr. 24/2012, Schade. Obamas missglückte sind vor allem Rückzugsgefechte der
Präsidentschaft bisher traditionell herrschenden White
Anglo-Saxon Protestants. Im Laufe dieses
USA, nicht Lummerland Jahrhunderts werden die Minderheiten
von Latinos, Schwarzen und Asiaten zu-
Kompliment – eine hervorragende Ana- sammen die Mehrheit haben und die US-
lyse der US-Wirklichkeit anno 2012! Wie amerikanische Politik bestimmen.
soll es weitergehen im Land der unbe- KARSTEN STREY, HAMBURG
grenzten Möglichkeiten? Wäre Romney
der Präsident, der versöhnt und nicht Sie bedienen gedankenlos die gängigsten
spaltet? Kaum – und deshalb spricht mehr deutschen Klischees über Amerikaner:
SAUL LOEB / AFP
für den erfahrenen Amtsinhaber, der die Waffennarren, fettleibig und unterbelich-
Chance braucht, Anspruch und Wirklich- tet. Den als überhitzten Medienbetrieb
keit zur Deckung zu bringen. gut analysierten Politikprozess beschrei-
HARTMUT VELBINGER, STUTTGART Präsidentenpaar Obama am 20. Januar 2009 ben Sie selbst mit phrasenhaften Aussa-
gen und pauschalen Werturteilen.
Es ist erschütternd zu sehen, wie die nungsvollem „Yes, we can!“ ein gnaden- JACOB SCHROT, BRANDENBURG
stolze Selbstgewissheit der „auserwählten loses „Yes, we can kill“ werden könnte?
Nation“ in dieser Identitätskrise als fun- Wenn man sich allerdings die Alternati- Ich habe selbst im Stab eines Kongress-
damentalistischer Reflex fortbesteht und ven auf Seiten der Republikaner ansieht, abgeordneten gearbeitet und kann Ihre
Amerika blind macht für die Option eines könnte man endgültig den Glauben an Einschätzungen nur bestätigen. Die über-
kooperativen, aufgeklärten Handelns. die Fähigkeit der USA verlieren, sich im- parteiliche Kooperation geht gegen null,
ANDREAS HUMMEL, MÜNCHEN mer wieder neu zu erfinden. Eine große nur in sicherheitspolitischen Ausschüssen
Nation zerlegt sich selbst. Schade. gibt es so etwas wie vorsichtige Annähe-
Mit Obama wurde mal wieder eine poli- CHRISTIANE THEISS, HANNOVER rung. Für die übrige politische Arbeit gilt:
tische Perle vor die Säue geschmissen. „Gestern standen wir am Abgrund. Heute
GÜNTER SAUER, GROSS-UMSTADT (HESSEN) Bei den beiden großen US-Parteien, ihren sind wir einen Schritt weiter.“ Das Aus-
Wählern und Anhängern wird nach Ihrer maß des politischen Bankrotts in Ameri-
Ein Problem ist ja: Es sind die USA, um Auffassung die fehlende Moral, die Gier ka und die Zentrifugalkräfte rund um den
die es geht, es ist nicht Lummerland. nach Geld und Macht und die fehlende Dauerwahlkampf sind kaum abzusehen.
ULRICH GRODE, NEUMÜNSTER Charakterstärke fast ausschließlich bei SEBASTIAN BRUNS, KIEL
den Republikanern verortet, während die
Die USA leiden an einer aufgeblähten Demokraten als die Naiven, Getriebenen Es hat sich bisher immer eher Inhumani-
Bürokratie sowohl auf nationaler Ebene und Gutmeinenden dargestellt werden. tät als Humanität durchgesetzt, und so
als auch in vielen Einzelstaaten. Obama ALFONS SIEPERT, LANDSBERG AM LECH wird sich auch die Idee von sozialer Ge-
hat diese Bürokratenklasse wie kaum ein rechtigkeit, wie sie Obama anstrebt, erst
anderer gesteigert, und er will diesen Nach den großen Erwartungen sind viele dann realisieren lassen, wenn sie von ei-
Kurs in einer zweiten Amtszeit fortsetzen enttäuscht von Obamas Amtszeit. Doch ner breiten Mehrheit erkämpft wird.
und mit Steuererhöhungen und noch was der Präsident auf den Weg brachte, JOSEF GEGENFURTNER, SCHWABMÜNCHEN
mehr Staatsverschuldung ernähren.
CHRISTOPHER AREND, FRANKFURT AM MAIN
Wer mit schönen Reden Hoffnungen
Diskutieren Sie im Internet
weckt und Vertrauen gewinnt, dann aber www.spiegel.de/forum und www.facebook.com/DerSpiegel
nicht liefert, braucht sich über enttäuschte
Wähler nicht zu wundern. Und ein vor- ‣ Titel Glück oder Leid – welchen Einfluss hat der
eilig ausgezeichneter Friedensnobelpreis- Verlauf einer Schwangerschaft auf das spätere Leben?
träger, der, wie es heißt, gut damit klar- ‣ Bildung Sollte es ein bundesweites Zentralabitur geben?
kommt, in einem schmutzigen Schatten-
krieg Richter und Henker zugleich zu ‣ Fernsehen Dienen Talkshows der politischen
sein, wird zu einer Karikatur seiner selbst. Meinungsbildung?
Wer hätte gedacht, dass aus Obamas hoff-
6 D E R S P I E G E L 2 5 / 2 0 1 2
7.
8. Briefe
Nr. 23/2012, Hilflose Menschen werden weder die Katastrophen Deutschlands im
von ihren Betreuern ausgebeutet christlichen Abendland noch die Über-
nahme von Fremdwörtern, Zitaten und
Leichtes Opfer zivilisatorischen Errungenschaften der
arabischen Welt begründen die Aussage:
Der Skandal an der Sache ist nicht die „Der Islam gehört auch zu Deutschland“.
Gier der Betreuer, sondern die Tatsache, GERHARD HAASE, QUICKBORN (SCHL.-HOLST.)
dass die Politik nicht bereit ist, eine not-
wendige und anspruchsvolle Arbeit an- Dass Millionen Muslime zu Deutschland
ständig zu honorieren. Die Pauschalie- gehören, wird niemand ernsthaft in Frage
rung ist einzig nur deshalb eingeführt stellen. Daraus aber den Schluss zu zie-
worden, weil es sehr viele Menschen gibt, hen, der Islam als kulturelles Erbe gehöre
für die Angehörige keine Verantwortung
übernehmen wollen und oft auch nicht
können. Das belastet die Justizkassen der
Länder in immer höherem Ausmaß. Infa-
merweise wurde die Reform von der
Politik jedoch so verkauft, als wolle man
Missstände bei der Abrechnung der Be-
treuer einschränken.
HERMANN BREDEHORST
PETRA NUSSBAUM, SCHWETZINGEN (BAD.-WÜRTT.)
Ich empfinde die gesetzliche Betreuung
in vielen Fällen gut, richtig und wichtig.
Sie sollte aber in den Bundesländern ei-
ner einheitlichen Prüfung unterliegen, un- Muslimische Frauen in Berlin
ter die auch Rechtsanwälte fallen müssen,
die den Job zusätzlich übernehmen! zu Deutschland, ist schon abenteuerlich.
ELKE TETZNER, WUPPERTAL In der islamischen Tradition steht das In-
dividuum immer hinter dem Kollektiv
Alte, insbesondere höchstbetagte Men- mit all den bekannten Konsequenzen.
schen sind ein leichtes Opfer von Mani- KLEMENS LUDWIG, TÜBINGEN
pulationen, weil ihre geistige und phy-
sische Gebrechlichkeit fast immer weit Das Abendland ist geprägt von Humanis-
fortgeschritten ist und damit ihre Abhän- mus, Reformation und Aufklärung – da-
gigkeit. Nachdem beide Geschwister er- her auch die Trennung von Religion und
fuhren, dass ich der Haupterbe werden Staat –, Errungenschaften, um die der
sollte, wurden meine 90-jährigen Eltern Westen seit Jahrhunderten gerungen hat,
massiv bearbeitet, so dass ich bei der Be- während sie in der islamischen Welt un-
treuungsvollmacht ausgeschlossen wurde. beachtet blieben. Und mit Verlaub: Dies
Eine Patientenverfügung, die mich als be- feststellen zu dürfen hat nichts mit Islam-
vollmächtigt auswies, wurde versteckt, so feindlichkeit zu tun!
dass ich als Arzt nicht tätig werden konnte. DR. STEFAN HEINLEIN, SAARBRÜCKEN
DR. H. MEYER, ANSCHRIFT DER RED. BEKANNT
Wir im blutgetränkten Herzen Europas
Wir setzen uns seit langem für gesetzliche haben unsere Lektion gelernt. Wir Abend-
Zulassungskriterien für den Betreuerberuf länder diskutieren und wägen ab. Allah
ein. Betreuer sollten nur auf der Basis ei- diskutiert nicht. Sollen wir – wie Back-
ner fundierten Ausbildung zugelassen wer- fische – alles noch mal von vorn durch-
den und bei Fehlverhalten Sanktionen bis machen, Herr Zand?
hin zur Untersagung der Berufsausübung ALEXANDER JANICEK, AUGSBURG
verhängt werden können.
DR. HARALD FRETER, HAMBURG Die Diskussion um die Frage, ob der Is-
BUNDESVERBAND DER BERUFSBETREUER lam zu Deutschland gehört, entscheidet
sich politisch – nicht kulturell – nur daran,
inwiefern der Islam mit den Menschen-
Nr. 23/2012, Kommentar von Bernhard rechten vereinbar ist, was Zand jedoch
Zand: Die Sehnsucht der Muslime mit keinem Wort erwähnt. Und dies ist
der Islam grundsätzlich zweifellos: Den
Allah diskutiert nicht Beweis erbringt täglich die überwältigen-
de Mehrheit der Muslime in Deutschland,
Der pragmatische Herr Gauck hat ver- Europa und den USA, weil sie friedlich
sucht, Christian Wulffs Ausspruch zu kor- und gesetzeskonform lebt. Aber der Islam
rigieren, indem er die erlebte Wirklichkeit birgt aktuell eine Gefahr: Er dient radi-
unserer letzten Jahrhunderte verwertete: kalen Fundamentalisten als Rechtferti-
„Die Muslime, die hier leben, gehören zu gung für Terroranschläge und Politikern
Deutschland“. Da hat er recht. Zand ver- islamischer Länder für Drohungen gegen
sucht, Wulffs Ausspruch als ewige Wahr- andere Staaten.
heit zu beweisen. Da hat er unrecht. Denn SYLVIA MERSCHROTH, DARMSTADT
8 D E R S P I E G E L 2 5 / 2 0 1 2
9.
10. Briefe
Nr. 23/2012, Gespräch mit der französi-
FRISO GENTSCH / PICTURE ALLIANCE / DPA
schen Historikerin Elisabeth Roudinesco
über den Niedergang der Psychoanalyse
Zähe Arbeit am Gefühl
Die These, Psychoanalyse sei unwirksam,
ist ebenso oft wiederholt worden und
falsch wie die Vorstellung, sie spiele (bald)
keine Rolle mehr. Die Analyse arbeitet
intensiv und detailliert an der Beziehungs- Kennzeichnung eines Fohlens
und Gefühlsgeschichte ihrer Patienten.
Auch frühe krankmachende Erlebnisse, Nr. 23/2012, Das Brandzeichen für Pferde
ungelöste Konflikte und Verletzungen spaltet die schwarz-gelbe Koalition
werden bei gutem Verlauf nicht nur er-
innert, sondern dosiert in einer haltenden
Beziehung wiedererlebt und, wie wir
Glühendes Eisen
Psychoanalytiker sagen, durchgearbeitet. Es gibt kein Gutachten, das schwerere
Sie verlieren dadurch an Macht. Schmerzen nach dem Heißbrand belegt.
CHRISTOPH FRÜHWEIN, BREMEN Im Gegenteil, der Stress durch das Chip-
pen ist höher, auch muss manchmal noch
Aus der einsichtsvollen intellektuellen Er- sediert werden. Chips können wandern
kenntnis Freuds ist längst ein System der und wurden schon an Stellen wiederge-
Besserwisserei und Manipulation der Psy- funden, die das Pferd durch dadurch ver-
choanalytiker geworden. ursachte Schmerzen unreitbar machten.
STEFAN FINKE, KÖLN Ein Verbot des Heißbrandes wäre ein
nicht wiedergutzumachender Schaden für
Nicht die Länge der Behandlungen und die deutschen Zuchtgebiete und auch ein
die Zurückhaltung des Behandlers lassen Verlust eines Stücks deutscher Kulturge-
die Psychoanalyse unzeitgemäß erschei- schichte.
nen. „Unzeitgemäß“ wirkt das Kernge- VANESSA RÜDEL, FELDE (SCHL.-HOLST.)
schehen: die zähe Arbeit an tiefsitzenden
Gefühlseinstellungen mittels der Refle- Der Schenkelbrand führt zu einer Gewe-
xion der emotionalen Widerstände – bezerstörung mit Narbenbildung. Beim
ohne die Tragik unser Existenz zu über- Heißbrand bei erhöhter Herzfrequenz
spielen. Das ist für Behandler ungewohnt, zerstört das glühende Eisen die Haut der
verunsichernd und anstrengend. Fohlen bis auf die Haarwurzel. Die Wun-
PSYCHOANALYTIKER DR. LUTZ GERO LEKY, KÖLN de löst tagelange Schmerzen aus, was
auch vom Amtsgericht Kehl bestätigt wur-
Die Psychoanalyse am Ende? Im Gegen- de. Deshalb haben die Bundestierärzte-
teil: Es geht erst richtig los. kammer und die Landestierärztekammer
DR. GERT SCHULZ-MALIN, WÜRZBURG Hessen den Brand abgelehnt.
EDGAR GUHDE, DÜSSELDORF
Die Psychoanalyse vom Untergang be-
droht? Gerade wurden in Berlin die In- Das Brandeisen in das Fleisch eines Tieres
ternational Psychoanalytic University zu stemmen ist keine leichte Arbeit, es
und der Dachverband deutschsprachiger ist und bleibt eine brutale Tätigkeit. Tier-
Psychosenpsychotherapie gegründet so- quälerei in brutalster Form. In Namibia
wie die Psychoanalyse für Kinder und ist Tierbrand Alltag, aber viele Farmer
Jugendliche ausgebaut – alles dringend würden sofort Abstand davon nehmen,
notwendige Entwicklungen, die hundert- wenn es eine andere Möglichkeit gäbe,
tausendfaches menschliches Elend ab- Viehdiebstahl zu verfolgen. Da dieser in
bauen – und zwar dort, wo die kognitive Deutschland kein solches Thema ist, fragt
Verhaltenstherapie nichts gebracht hat. man sich, warum dort noch gebrannt wird.
DIPL. PSYCH. RICHARD MARX, MÜNCHEN HANS KRESS, WINDHOEK (NAMIBIA)
Aus der SPIEGEL-Redaktion
Wie findet man Freunde fürs Leben? Und wie
behält man sie? „Dein SPIEGEL“, das Nachrich-
ten-Magazin für Kinder, beschreibt, was echte
Freundschaft ausmacht – und was sie von Face-
book-„Freundschaften“ unterscheidet. Außer-
dem: Jens Weidmann, 44, Präsident der Bun-
desbank, sprach mit den Kinderreportern Dalia,
14, und Sami, 13, über Griechenland und die Finanzkrise. Er erklärt kindgerecht, woher
die Krise kommt und was dagegen getan werden kann. Das Heft erscheint am Dienstag.
10 D E R S P I E G E L 2 5 / 2 0 1 2
11. Nr. 23/2012, Matthias Matussek: Das ma-
schinenhafte Menschenbild der Piraten
Jeder Mensch lernt alles neu
Hätte Matussek etwas mehr gelesen, zum
Beispiel ein Wahlprogramm der Piraten-
partei statt Pamphlete einzelner Aktivis-
ten, wäre dem Publikum sein misanthro-
pisches Gekeife über die „Wohlstandsver-
wahrlosung“ erspart geblieben.
HARTMUT SCHÖNHERR, BRUCHSAAL (BAD.-WÜRTT.)
Wenn Matussek die Hoffnung hatte, dass
„der Netzrevolutionär die Welt retten“
wird, und dann feststellt, dass das Quatsch
ist, können die Piraten nichts dafür. Auch
dass er seine „Hoffnung auf eine Jugend-
revolte im Netz“ albern findet, ist den
Piraten nicht anzulasten. Woher er den
„Traum totaler Herrschaftsfreiheit“ hat,
weiß hoffentlich wenigstens er.
RENATA STILLER, HAMBURG
Sie schreiben: „Das Vertrackte am Traum
totaler Herrschaftsfreiheit ist ja, dass er
in der Praxis Repressionsapparate und
Terror geradezu gebiert.“ Das stimmt.
Wenn Sie dann aber fragen: „Müssen wir
das immer neu lernen?“, dann kann ich
nur sagen, Sie und ich nicht, aber jüngere
Menschen müssen es neu lernen, weil je-
der Mensch alles neu lernen muss.
DR. HERBERT SCHULTZ-GORA, HOFHEIM (HESSEN)
HERMANN BREDEHORST/POLARIS/STUDIO X
Delegierte beim Piraten-Parteitag
Wäre es nicht besser, die Ursache als das
Symptom zu behandeln: Die Undurch-
schaubarkeit krisenhafter Verhältnisse?
FRIEDRICH LANGREUTHER, BERLIN
Jeder Satz trifft ins Schwarze. Hoffentlich
nimmt der angezielte Personenkreis die
Gelegenheit wahr, um sich die eigene Lä-
cherlichkeit vor Augen zu führen.
JÜRGEN WISSNER, HAMBURG
Ich bin kein Piraten-Fan. Doch was Ma-
tussek hier schreibt, ist himmelschreien-
der Unsinn. Es gilt: Wer den ersten Nazi-
Vergleich macht, hat meistens unrecht.
RAOUL NUBER, BERLIN
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit
Anschrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elek-
tronisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet:
leserbriefe@spiegel.de
In dieser Ausgabe befindet sich im Mittelbund ein 16-
seitiger Beihefter der Firma Samsonite GmbH, Köln.
D E R S P I E G E L 2 5 / 2 0 1 2 11
12.
13. Panorama Deutschland
JOSE GIRIBAS
Schäuble
VERSCHULDUNG
Bundesländer erpressen Schäuble
Die Bundesregierung sieht sich bei der Ratifizierung des Fis- Ressortchefs die Vorgaben des Fiskalpakts nicht erfüllen kön-
kalpakts einer Front aller 16 Bundesländer gegenüber. Bei nen. Der Vertrag verlangt, dass Deutschland sein strukturelles
den Verhandlungen am vergangenen Donnerstag schlossen Defizit ab 2014 auf 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung be-
sich die unionsregierten Länder zentralen Forderungen von grenzt. Gleichzeitig will der Bund bereits 2014 die deutsche
SPD und Grünen an. Alle verlangen nun zusätzliche Hilfen Schuldenbremse einhalten und sein Haushaltsminus auf 0,35
des Bundes. So müsse Finanzminister Wolf- Prozent reduzieren. Für Länder und Kom-
gang Schäuble (CDU) die Kosten der Ein- „Es ist schon sehr befremd- munen bleibt eine Neuverschuldung in
gliederungshilfe für Behinderte komplett lich, dass die Länder Höhe von 0,15 Prozent. Dieser Wert ent-
übernehmen. Zunächst solle er ab 2013 ein sich ihre europapolitische spricht dann gut vier Milliarden Euro. Nord-
Drittel der jährlich zwölf Milliarden Euro Verantwortung wie auf rhein-Westfalen dürfte danach 2014 nur
schultern – und seinen Anteil dann steigern. dem Basar abkaufen lassen noch Schulden in Höhe von gut 900 Mil-
Darüber hinaus wehren sich die Länder ve- wollen.“ lionen Euro machen, plant aber mit 3,3 Mil-
hement gegen eine raschere Konsolidierung liarden Euro. Auch Hessen, Berlin und
ihrer Haushalte. Sie stützen sich dabei auf Michael Meister Hamburg kalkulieren mit einer weitaus
eine interne Berechnung, nach der viele Unionsfraktionsvize höheren Kreditaufnahme als erlaubt.
SALAFISTEN
Gruppe hatten vor dem Düsseldorfer LINKE
Oberlandesgericht gestanden, Auto-
Terroristen-Sparbuch bombenanschläge auf US-Soldaten
geplant zu haben. Im März 2010 wurde
Gelowicz als Rädelsführer zu zwölf
Harmonie nach Plan
Nach den bundesweiten Durchsuchun- Jahren Haft verurteilt. Nach dem Zerwürfnis zwischen Oskar
gen bei radikal-islamischen Salafisten Lafontaine und Gregor Gysi auf dem
prüfen Ermittler Verbindungen des Göttinger Parteitag der Linken setzen
verbotenen Vereins Millatu Ibrahim zu beide auf ein Stillhalteabkommen bis
einem Mitglied der vor fünf Jahren im zum kommenden Jahr. Lafontaine und
Sauerland aufgeflogenen Terrorzelle. Gysi vereinbarten am vergangenen
In der Solinger Millatu-Ibrahim-Mo- Donnerstag, die heikle Frage der Spit-
JO SCHWARTZ / DER SPIEGEL
schee stellten die Fahnder am vergan- zenkandidatur für die Bundestagswahl
genen Donnerstag eine Geldkassette bis zum Frühjahr 2013 zu vertagen.
mit persönlichen Sachen von Fritz Ge- Damit sollen erneute Kämpfe zwi-
lowicz sicher. Es handelt sich unter an- schen den Flügeln wie bei den Perso-
derem um ein entwertetes Sparbuch naldebatten für den neuen Vorstand in
und Kontoauszüge. Gelowicz und drei den vergangenen Wochen vermieden
weitere Mitglieder der Sauerland- Durchsuchung in Solingen werden.
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14. Panorama
BETREUUNGSGELD
Mit allen Mitteln
Die Koalition hat offenbar dringende
Warnungen ignoriert, als sie vergan-
gene Woche das umstrittene Betreu-
ungsgeld im Eilverfahren in den
SASCHA SCHUERMANN / DAPD
Bundestag einzubringen versuchte
und dabei scheiterte. Bundestags-
präsident Norbert Lammert (CDU)
hatte am Donnerstag im Ältestenrat
gemahnt, Abstimmungen wie über
das Betreuungsgeld nicht durch das
Parlament zu peitschen. Stattdessen Bundeswehrsoldaten in Afghanistan
sollten Union und FDP noch einmal
über das Verfahren „nachdenken“. AU S L A N D S E I N S ÄT Z E
Anlass der Mahnung war die Klage
Weniger Rechte fürs Parlament?
der drei Oppositionsfraktionen, die
Koalition erzwinge eine Entscheidung
vor der Sommerpause. Volker Beck,
Erster Parlamentarischer Geschäfts-
führer der Grünen-Fraktion, hatte In der Koalition ist ein Streit über den Deutschland an einem später beschlos-
zuvor in einer Runde mit seinen Umfang der Parlamentsbeteiligung bei senen Kampfeinsatz anderer Nationen
Kollegen von den anderen Fraktionen Bundeswehreinsätzen ausgebrochen. selbst nicht beteiligt.“ Das Parlament
gedroht, man werde „mit allen Verteidigungsminister Thomas de Mai- müsse aber jederzeit ein Rückholrecht
Mitteln“ eine Abstimmung des Be- zière (CDU) will die Zustimmungs- haben. Im Auswärtigen Amt stößt die-
treuungsgeld-Gesetzes zu verhindern rechte der Abgeordneten ändern, da- se Idee auf wenig Gegenliebe. „Die
suchen. Nun wird die Entscheidung mit die Bundeswehr leichter Aufgaben Bundeswehr ist keine Regierungsar-
erst nach der Sommerpause fallen, mit den Verbündeten absprechen mee, sondern eine Parlamentsarmee“,
sagt CSU-Chef Horst Seehofer. kann. Wenn Deutschland etwa an ei- sagt Bundesaußenminister Guido Wes-
Dagegen regt sich Widerstand. CSU- ner gemeinsam organisierten Luftbe- terwelle (FDP). „Der Parlamentsvor-
Generalsekretär Alexander Dobrindt tankung mitmachen wolle, solle der behalt steht nicht zur Disposition, weil
beispielsweise plädiert für eine Bundestag das bereits grundsätzlich es wichtig ist, dass Auslandseinsätze
Sondersitzung Anfang Juli. Man absegnen, bevor konkrete Einsätze an- der Bundeswehr breit demokratisch
könne sich von der Opposition bei stehen, so de Maizière. „Eine solche getragen, mindestens aber intensiv
einem so zentralen Vorhaben nicht Zustimmung muss auch dann für die und transparent demokratisch disku-
den Zeitplan diktieren lassen, sagt Betankung noch gelten, wenn sich tiert werden.“
Dobrindt.
ENERGIEWENDE
ZITAT
„Teppiche aus Afgha-
Prepaid-Guthaben für
nistan sind über-
Geringverdiener
Die SPD will die Kosten der Energiewen-
haupt nicht zollpflich- de für Geringverdiener und Hartz-IV-
tig. Das habe ich lei- Empfänger abmildern. Bundestagsfrak-
tionsvize Ulrich Kelber fordert unter
der erst von meinem anderem Minikredit-Programme, mit
denen einkommensschwache Haushalte
Anwalt erfahren.“ energieeffiziente Geräte kaufen können.
Zusätzlich will Kelber, dass die Energie-
versorger jedem Haushalt pro Person 500
Entwicklungsminister Dirk Niebel, 49 Kilowattstunden Strom im Jahr zum
(FDP), gegenüber dem Deutschlandradio günstigsten Tarif zur Verfügung stellen.
Kultur zur Affäre um sein vom Bundes- Intelligente Stromzähler in jeder Woh-
nachrichtendienst eingeflogenes Mit- nung sollen außerdem dafür sorgen, dass
bringsel aus Afghanistan. Laut einer EU- „eine begrenzte Strommenge pro Stunde
zur absoluten Grundversorgung“ zur Ver-
THOMAS IMO
Bestimmung dürfen arme Länder wie
Afghanistan alle Waren außer Waffen fügung steht. Diese Stromzähler könnten
zollfrei nach Europa ausführen. mit einem Prepaid-Guthaben ausgerüstet
werden.
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15. Deutschland
SPORTWETTEN
„Angemessener Anteil“
Die Sportverbände fürchten um eine Sportbund (DOSB) und vom Deut-
verlässliche Finanzierung des Breiten- schen Fußball-Bund haben die Minis-
sports in Deutschland. Die Minister- terpräsidenten den Verbänden ledig-
präsidenten der Bundesländer haben lich einen „angemessenen Anteil“ in
Forderungen abgelehnt, künftig ein Aussicht gestellt. Dessen Höhe könne
Drittel der Einnahmen aus einer Wett- jedes Bundesland selbst festlegen.
steuer zur Unterstützung des allgemei- DOSB-Generaldirektor Michael
nen Sports einzusetzen. Hintergrund Vesper kritisiert, es dürfe nicht sein,
ist die geplante Liberalisierung bei dass die Finanzierung des Breiten-
Sportwetten, in deren Rahmen private sports von der Kreativität des je-
Anbieter Konzessionen erhalten kön- weiligen Finanzministers abhänge.
nen und Steuern entrichten müssen. Deshalb müssten nun die Landes-
Nach einem Treffen mit den Präsiden- parlamente klare Regelungen verab-
ten vom Deutschen Olympischen schieden.
V E R FA S S U N G S S C H U T Z
Drei Szenarien einer Reform
Verfassungsschutzbehörden streiten Präsident des Niedersächsischen Ver-
über Konsequenzen aus der erfolg- fassungsschutzes, Hans-Werner War-
losen Suche nach den untergetauchten gel, während einer Veranstaltung in
Mitgliedern der rechtsextremen der bayerischen Landesvertretung in
Zwickauer Terrorzelle. Anlass ist ein Berlin. Die Länder würden „tagtäglich
als vertraulich eingestufter Bericht aktuelle Analysen und Lagebilder mit
vom 4. Mai, den das Bundesamt für unmittelbarem örtlichem und regio-
Verfassungsschutz (BfV) an die Bund- nalem Bezug benötigen, die das BfV
Länder-Kommission um den ehema- nicht liefern könnte“. Ein alternativer
ligen Berliner Innensenator Ehrhart Vorschlag des BfV sieht ebenfalls eine
Körting geschickt hat. In dem Papier deutliche Aufwertung der Kölner
stellt das BfV drei Szenarien für eine Zentrale vor. Demnach würde sie eine
grundlegende Reform vor. Umstritten ähnliche Funktion übernehmen wie
ist vor allem der erste Vorschlag, wo- auf der polizeilichen Ebene das Bun-
nach die Landesämter künftig nur deskriminalamt. Im Einvernehmen
noch Informationen sammeln sollen, mit den Ländern soll Köln danach
die dann in der Kölner BfV-Zentrale einzelne Fälle an sich ziehen können
ausgewertet würden. In den Landes- und bei bestimmten Themen feder-
ämtern stößt die Idee auf massiven führend agieren. Die Analyse und
Widerspruch. In einer vertraulichen Auswertung bliebe aber in den Län-
Besprechung widersetzten sich sämt- dern. Die dritte Variante sieht nur ge-
liche süddeutsche Bundesländer. Von ringe Änderungen der gegenwärtigen
„praktischem Unsinn“ sprach der Regelung vor.
GETTY IMAGES
Zwickauer Terroristen 2004
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16. Deutschland Panorama
Neue Eliten SPONSORING
Verträge zeigen
Wohin die Gelder der
Exzellenzinitiative fließen
Kiel
Elite-Unis Die Grünen wollen künftig Zahlungen
Abgelehnte Elite-Anträge von Sponsoren nur noch annehmen,
Hamburg wenn die Geldgeber mit einer Veröf-
Exzellenzcluster Oldenburg fentlichung der Verträge einverstan-
Berlin den sind. Dabei geht es zum Beispiel
Graduiertenschulen
Bremen FU um Firmenstände auf Parteitagen.
Hochschulübergreifende „Transparenz ist das beste Mittel gegen
Projekte HU
Hannover
Verdächtigungen, Sponsoring wäre
TU verdeckte Parteienfinanzierung“, sagt
Bielefeld
Bundesschatzmeister Benedikt Mayer.
Münster
Göttingen Standmieten und Anzeigengebühren
Bochum müssen, anders als Spenden, nicht de-
Dresden tailliert an den Bundestag gemeldet
Düsseldorf werden. Der Grünen-Bundesvorstand
Köln Jena will mit seinem Beschluss auch den
Gießen Chemnitz Druck auf die anderen Parteien erhö-
Bonn hen, „endlich Regelungen zum Spon-
Aachen
Frankfurt Bam- soring in das Parteiengesetz aufzuneh-
Mainz
berg men“.
Richtgrößen für die Bayreuth
Darm- Würz-
einzelnen Förderlinien, stadt
Jahressummen burg Erlangen-Nürnberg
Mannheim
Graduiertenschulen Regensburg
Saarbrücken Heidelberg
1,2 bis 3 Mio. €
Karlsruhe Stuttgart
Exzellenzcluster München
JAKOB STUDNAR / DAPD
3,6 bis 9,6 Mio. € Tübingen
LMU
Ulm
Elite-Unis TU
Konstanz
durchschnittlich 13 Mio. €
Freiburg
Quellen:
Wissenschaftsrat, DFG Grünen-Parteitag
SPIEGEL: Die Regierung will eine Kies- von der internationalen Bonität
N O R D R H E I N -W E S T FA L E N
abgabe erheben und Gebühren für die Deutschlands. Wenn der Bund aber
„Reichlich viel Justiz erhöhen, genügt das?
Färber: Viel wird das nicht ausmachen.
mit „Deutschlandbonds“ auch explizit
für die Schulden der Bundesländer
Verträumtes“ Andere Deckungsvorschläge fallen in
den Zuständigkeitsbereich der Bundes-
regierung, da enthält der Koalitions-
haftet, besteht das Risiko, dass die Ra-
tings schnell abgesenkt werden. Dann
steigen die Zinssätze für alle. Das ist
Gisela Färber, 57, Pro- vertrag reichlich viel Verträumtes. derzeit nicht berechenbar und aus
fessorin für Volkswirt- SPIEGEL: Zum Beispiel? meiner Sicht hochriskant.
schaftslehre und Fi- Färber: Die Wiedereinführung der Ver- SPIEGEL: Finden Sie nichts Positives in
nanzwissenschaft an mögensteuer und die Erhöhung der dem Koalitionsvertrag?
der Universität Spey- Erbschaftsteuer. Ich sehe nicht, wie Färber: Doch, es gibt einige richtige
KROHNFOTO.DE
er, über die Spar-Ver- man die Probleme gleicher Bewertun- Ansätze. Es wird ausdrücklich auf das
sprechen der neuen gen für verschiedene Vermögensarten Risiko von steigenden Zinsen für die-
Landesregierung in lösen will. Die in Wahlkämpfen so po- ses hochverschuldete Land hingewie-
Düsseldorf puläre Vermögensteuer bringt einen sen. Auch der Finanzierungsvorbehalt
enormen bürokratischen Aufwand mit für alle neuen Ausgaben ist vernünf-
SPIEGEL: Sie haben als Sachverständige sich, und ich habe ernsthafte Zweifel, tig. Ebenso die Umstellung von Förde-
den letzten Haushaltsentwurf der dass sie vor dem Bundesverfassungsge- rungen auf Darlehen, was die Bayern
NRW-Regierung kritisiert. Wie beurtei- richt überhaupt Bestand haben würde. übrigens schon seit den achtziger Jah-
len Sie jetzt den demonstrativen Wil- SPIEGEL: Die neue NRW-Regierung for- ren so machen. Das sind Instrumente,
len der Koalition zum Sparen? dert gemeinsame Anleihen von Bund aus denen ein Finanzminister etwas
Färber: Die neue Regierung hat sich mit und Ländern. Lässt sich damit im machen kann. Er muss dies alles aber
dem ausgeglichenen Haushalt bis 2020 Haushalt sparen? in ein mittel- bis langfristiges Haus-
ein anspruchsvolles Ziel gesetzt. Wie Färber: Ich fürchte, dass ist eher kontra- haltskonzept umsetzen. Daran werden
sie dahin kommen will, verrät der Ko- produktiv. Im Moment profitieren er und die ganze Landesregierung zu
alitionsvertrag allerdings nicht. auch die hochverschuldeten Länder messen sein.
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17.
18. Deutschland
REGIERUNG
Der Grabenkrieger
Angela Merkels Kanzleramtschef Ronald Pofalla ist überfordert. Während die
Kanzlerin immer mehr Aufgaben an sich zieht, verschreckt ihr Chefmanager
mit seiner rauen Art die Koalition und stolpert von einem Fehler zum nächsten.
Amtschef Pofalla, Kanzlerin Merkel: Er ließ sich nie dazu hinreißen, schlecht über die Chefin zu reden
A
uf zwei Menschen lässt Ronald zum Fiskalpakt. Und nach dem Rauswurf Fast jede Spitzenkraft der Regierung
Pofalla nichts kommen: auf seine Norbert Röttgens wird deutlich dass die hat inzwischen eine Geschichte über
Chefin Angela Merkel – und auf Verantwortung für die verkorkste Ener- Pofalla zu erzählen. Selbst die eigenen
sich selbst. Kaum etwas liebt der Chef giewende auch in der Regierungszentrale Leute vertrauen kaum noch auf das Wort
des Bundeskanzleramts so sehr wie ein liegt. des Kanzleramtschefs, auch das macht
kräftiges Eigenlob. Parteifreunde erleben Noch nie in der Geschichte der Repu- die Arbeit im schwarz-gelben Bündnis so
ihn als einen Mann, der mit sich im Rei- blik stand das Kanzleramt vor größeren schwierig. „Wenn man Pofalla die Hand
nen ist. In seiner Welt ist Pofalla nicht Aufgaben, Merkel zieht immer mehr gibt, muss man hinterher schauen, ob sie
nur ein brillanter Manager der Regie- Kompetenzen an sich, von ihren Entschei- noch dran ist“, sagt ein wichtiger Minister
rungszentrale, sondern auch der Stratege, dungen hängt nicht nur das Schicksal des der Union.
der den Plan für Merkels Sieg bei der Euro ab, sondern auch die Frage, ob die Das Regierungsbündnis mag noch so
Bundestagswahl im kommenden Jahr Industrienation Deutschland in ein paar zerstritten sein, bei einem Punkt lässt sich
schmiedet. Jahren noch zu halbwegs bezahlbaren ganz schnell Einigkeit herstellen – dass
Es gehört zu den großen Talenten Preisen Strom produzieren kann. Pofalla eine Fehlbesetzung ist. „Wir ha-
Pofallas, Kritik an sich und seiner Arbeit Merkel aber hat einen Chefmanager, ben keine Probleme mit den Inhalten un-
auszublenden. Denn in Wahrheit läuft der Probleme selten löst und häufig neue serer Politik, sondern mit den Abläufen
nur wenig rund im Kanzleramt, der Ma- schafft. Die Kanzlerin hat Pofalla vor und dem Management“, sagte CSU-Chef
nager der Regierung ist mit seinen Auf- allem deshalb geholt, weil er bedingungs- Horst Seehofer jüngst im Kreis der Uni-
gaben überfordert. Während ganz Europa los loyal ist. Nun fragen sich viele in der onsministerpräsidenten.
wegen der Euro-Krise nach Berlin blickt, Koalition, ob diese Qualifikation aus- Der Chef BK sitzt an der zentralen
verstolpert Pofalla die Verhandlungen reicht. Stelle der Regierung, alle Vorhaben wan-
18 D E R S P I E G E L 2 5 / 2 0 1 2
19. einer Zweidrittelmehrheit durch Bundes-
tag und Bundesrat bringen kann.
Die Opposition wiederum braucht das
Ja zur Finanztransaktionsteuer, damit sie
dem Vorwurf begegnen kann, sie folge
Merkels Sparpolitik blind. Eigentlich
waren sich Pofalla und die Opposition
schnell über die Grundzüge der Finanz-
transaktionsteuer einig. Für die Union ist
sie hilfreich, weil sie das Ja der SPD zum
Fiskalpakt in greifbare Nähe rückt. Die
SPD wiederum kann behaupten, sie habe
Merkel ein großes Zugeständnis abge-
trotzt.
Dass die neue Steuer bis zur Wahl im
September 2013 nicht kommen würde,
war allen Beteiligten klar, aber darüber
sollte der Mantel des Schweigens gelegt
werden. Dann aber plauderte Pofalla all-
zu offensiv über die Finte, er wollte wie-
der einmal zeigen, wie clever er die SPD
übertölpelt hatte. Das Problem war nur,
dass die Sätze Pofallas schnell den Weg
in die Öffentlichkeit fanden (SPIEGEL
24/2012).
Sofort meldeten sich zornige Opposi-
tionspolitiker zu Wort. Thomas Opper-
mann, der Parlamentarische Geschäfts-
führer der SPD im Bundestag, klagte über
die „parteitaktischen Winkelzüge“ des
Kanzleramtschefs. Doch die Erregung
war nur Theater.
In Wahrheit freuten sich SPD und Grü-
ne über Pofallas Fauxpas, seine Worte
waren willkommener Anlass, die Preise
für die Verhandlungen über den Fiskal-
pakt in die Höhe zu treiben. „Ich bin nie-
mandem so dankbar wie Herrn Pofalla“,
lästert der SPD-Finanzexperte Carsten
Sieling.
Die Klagen über Pofalla sind so alt wie
die schwarz-gelbe Regierung. Normaler-
weise ist es die Aufgabe des Kanzleramts-
HC PLAMBECK
chefs, als ehrlicher Makler der Regierung
zu arbeiten. Sein Vorgänger Thomas de
Maizière beherrschte diese Aufgabe per-
fekt.
Zu Zeiten der Großen Koalition führte
dern über seinen Schreibtisch. Er muss wie Kohls Waldemar Schreckenberger de Maizière für Merkel die Regierungs-
sich um die Detailarbeit kümmern, damit oder Merkels Pofalla. zentrale, seine beamtenhafte Nüchtern-
die Chefin nicht den Blick für die großen Natürlich ist der Kanzleramtschef auch heit kühlte selbst die Gemüter notori-
Linien verliert. Es ist seine Aufgabe, immer ein dankbarer Sündenbock. Im scher Quertreiber wie Seehofer oder Sig-
Kompromisse zu schmieden. Sein Büro Gegensatz zu den übrigen Ministern kann mar Gabriel. „De Maizière machte das
im siebten Stock des Kanzleramts müsste er sich nicht mit Interviews und Talk- effektiv – und vor allem geräuschlos“,
eine Art Ausnüchterungszelle für die show-Auftritten gegen Kritik wehren. sagt ein CDU-Ministerpräsident. „Davon
Streithansel der Koalition sein. Und wenn etwas gut läuft, kassieren an- kann heute keine Rede mehr sein.“
Erfolgreiche Kanzleramtschefs zeich- dere das Lob. Er muss stumm bleiben. Pofalla kommt aus der Welt des partei-
nen sich dadurch aus, dass sie still ihre Zudem würde es schon magische Kräfte politischen Grabenkriegs, vier Jahre lang
Arbeit verrichteten. Wer erinnert sich erfordern, in Merkels Koalition des Zanks diente er als CDU-Generalsekretär, und
noch an den braven Friedrich Bohl, der den Geist der Harmonie zu zaubern. in dieser Zeit hat er es sich zur Gewohn-
für Helmut Kohl das Alltagsgeschäft ver- Das Problem ist nur, dass Pofallas Ge- heit gemacht, auch kleinste Gelände-
sah, als dieser schon damit beschäftigt schick selten dazu ausreicht, auch nur gewinne zu großen Siegen seiner Partei
war, nach dem Mantel der Geschichte zu kleine Kompromisse zu schmieden. In hochzujubeln. Das Bild des triumphieren-
greifen? Ins Licht treten Kanzleramts- den vergangenen Tagen sollte er im Auf- den Parteipolitikers Pofalla hat sich so
chefs nur, wenn sie die nächste Karriere- trag der Kanzlerin einen Konsens mit eingebrannt, dass ihm niemand mehr die
stufe erklimmen, Frank-Walter Steinmei- SPD und Grünen über den Fiskalpakt und Rolle des neutralen Sachwalters der Re-
er ist so ein Fall und Wolfgang Schäuble. die Finanztransaktionsteuer verhandeln. gierung abnimmt.
Oder sie erregen Aufmerksamkeit, wenn Die Regierung benötigt die Zustimmung Dazu kommt, dass er nie gelernt hat,
sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind der Opposition, weil sie den Pakt nur mit komplizierten Verhandlungen Struktur
D E R S P I E G E L 2 5 / 2 0 1 2 19
20. Deutschland
land wurden bessere Konditionen für gro-
ße Solarparks zugesichert.
Nur einen hatte Pofalla vergessen: Ber-
lins CDU-Chef Frank Henkel. Der regiert
in der Hauptstadt zusammen mit dem
SPD-Mann Klaus Wowereit, und weil es
anderen Ländern gelang, kurz vor der
entscheidenden Abstimmung den Ber-
liner Senat auf ihre Seite zu ziehen,
scheiterte am 11. Mai das ganze Gesetz
zur Kürzung der Solarförderung im
Bundesrat.
Das war nicht nur für die Regierung
eine Blamage, denn die Solarförderung
kostet die Verbraucher jeden Tag 20 Mil-
lionen Euro. Auch Röttgen hatte den
JULIAN STRATENSCHULTE / DAPD
Schaden, denn die Schlappe in der Län-
derkammer ereilte ihn zwei Tage vor der
Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen.
In der Vergangenheit hatte Merkel
immer einen Mann, der die Defizite ihres
Kanzleramtschefs ausglich. Wenn sich
Umweltminister Altmaier: Dem Saarländer fehlt die Zeit, den Ausputzer zu spielen Pofalla mit seinem aufbrausenden Tem-
perament wieder einmal verrannt hatte,
und Richtung zu geben. Bei den Gesprä- es gewohnt ist, dass eine ganze Staats- bekam Peter Altmaier einen Wink von
chen zum Fiskalpakt offenbarte sich die- kanzlei ihm zuarbeitet, konnte es kaum Merkels Leuten, die Dinge doch diskret
ser Makel in aller Schärfe. Die Kunst des fassen. in die Hand zu nehmen.
Kanzleramtschefs besteht darin, die Welt Der Kanzleramtschef rühmt sich zwar Der gemütliche Saarländer ist das Ge-
der Politik mit der Welt der Verwaltung gern seines strategischen Weitblicks, doch genbild zu Pofalla, ihm würde es nie ein-
in Einklang zu bringen. Es ist kein Zufall, mit der Realität hat das wenig zu tun. Bei fallen, einen renitenten Abgeordneten
dass auf dem Posten Leute wie de Mai- den Verhandlungen zum Fiskalpakt un- wie Wolfgang Bosbach mit den Worten
zière und Steinmeier erfolgreich waren, terschätzte er beispielsweise den Wider- abzubügeln: „Ich kann deine Fresse nicht
die zuvor lange im Beamtenapparat ge- stand der Länder. mehr sehen.“ Der Satz Pofallas machte
dient hatten. Der Vertrag verpflichtet Deutschland, auch deshalb so schnell die Runde, weil
Pofalla aber hatte nie eine Verwaltung die öffentlichen Haushalte deutlich fast jeder in der Koalition schon einmal
von innen erlebt, als er den Posten im schneller in Ordnung zu bringen, als es selbst erlebt hat, wie der Kanzleramtschef
Kanzleramt übernahm. Das Kind eines die Schuldenbremse vorschreibt. Dass aus der Haut fährt.
Fabrikarbeiters und einer Putzfrau hat viele Bundesländer angesichts leerer Kas- Als Parlamentarischer Geschäftsführer
sich auf dem zweiten Bildungsweg nach sen nicht bereit sein würden, den Vertrag der Unionsfraktion hatte Altmaier noch
oben gearbeitet. Er studierte erst Sozial- ohne Gegenleistung im Bundesrat pas- Zeit, den Ausputzer für Pofalla zu spie-
pädagogik und anschließend Jura. 1990 sieren zu lassen, war jedem klar. Nur len. Nun ist er ins Umweltministerium
zog er in den Bundestag ein und gehörte Pofalla nicht. Beim Termin der Unions- eingerückt, und da hat er alle Hände voll
bald zu einer Gruppe junger Abgeordne- ministerpräsidenten mit der Kanzlerin am damit zu tun, die Energiewende wieder
ter, die unter dem Muff der späten Kohl- vergangenen Donnerstagabend ergriff auf das richtige Gleis zu setzen. Zwar hat
Jahre litt und die sich später um Merkel Pofalla entgeistert das Wort: Er hätte gern Pofalla noch Eckart von Klaeden an sei-
scharte. Er ist ein lupenreiner Parteipoli- früher gewusst, dass alle Länder mehr ner Seite, der ihm zur Not aushelfen
tiker. Geld vom Bund wollten. Die Minister- könnte. Aber den Staatsminister mit dem
Jüngstes Opfer von Pofallas Überfor- präsidenten wunderten sich. Hatte nicht Bubengesicht nennen alle nur „Ecki“,
derung war Seehofer. Am Sonntag vor Hessens Ministerpräsident Volker Bouf- und damit ist alles über seine Autorität
einer Woche war der CSU-Chef mit den fier schon vor Wochen im CDU-Präsidi- gesagt.
Unionsregierungschefs bei Finanzminis- um auf die knappe Finanzlage der Länder Natürlich könnte Merkel Pofalla aus-
ter Schäuble, es ging um den Fiskalpakt. hingewiesen? wechseln. Dass sie die nötige Härte be-
Später wurde er dazu bestimmt, die Er- Was Pofalla fehlt, ist das Gespür für sitzt, auch Männer vor die Tür zu setzen,
gebnisse mit dem rheinland-pfälzischen das entscheidende Detail, und so wachsen die ihren Aufstieg begleiteten, hat die
Ministerpräsidenten Kurt Beck von der sich kleine Fehler schnell zu einem poli- Kanzlerin eben erst bewiesen. Aber im
SPD-Seite zu besprechen. tischen Debakel aus. Seit dem rüden Gegensatz zu Röttgen ließ sich Pofalla
Doch als Seehofer zwei Tage später mit Rauswurf von Umweltminister Röttgen nie dazu hinreißen, schlecht über die
Beck telefonierte, musste er feststellen, hat sich die Lesart eingebürgert, dass Chefin zu reden, und das, obwohl sie
dass der Kollege von der SPD viel besser allein der unglückliche Minister die Ver- nicht immer sanft mit ihrem Kanzleramts-
informiert war als er selbst. Zwischen- antwortung für die verkorkste Energie- chef umging.
zeitlich hatten die Länderfinanzminister wende trägt. Dabei hatte Pofalla das Pro- Als vor einiger Zeit eine Runde bei
mit Bundesfinanzminister Wolfgang jekt selbst ein Jahr lang schleifen lassen. Pofalla am späten Abend mit einem
Schäuble getagt. Und eine weitere Ar- Als er sich dann im Frühjahr in die Ver- halbgaren Kompromiss auseinanderging,
beitsgruppe von Parlamentariern aller handlungen um die dringend notwendige klappte Pofalla seine Akten zu und
Parteien hatte sich mit Pofalla getroffen. Kappung der Solarförderung einschaltete, seufzte: „Jetzt muss ich mich dafür auch
Beck war von allen Seiten ausführlich wollte er mit Zugeständnissen an alle Sei- noch von der Kanzlerin beschimpfen
informiert worden, Seehofer jedoch nicht. ten den Widerstand der Länder brechen. lassen.“
Pofalla hatte es versäumt, ihn auf den Dem Osten versprach er eine sanftere SVEN BÖLL, MARKUS DETTMER,
neuesten Stand zu bringen. Seehofer, der Kürzung der Subventionen, dem Saar- PETER MÜLLER, RENÉ PFISTER
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