1. Vorhandelstransparenz und Unterbrechung des Börsenhandels
Keine moderne Volkswirtschaft kommt ohne einen funktionierenden Kapitalmarkt aus.
Effiziente Kapitalmärkte ermöglichen es kapitalmarktfähigen Unternehmen, zur Deckung
ihres Finanzierungsbedarfs durch Emission von Aktien oder Schuldverschreibungen Gelder
bei Privatanlegern und institutionellen Investoren aufzunehmen, die ihrerseits eine mittel-
oder langfristige Anlage in fungiblen Wertpapieren suchen. Zudem ist auch der Staat selbst an
entwickelten Kapitalmärkten interessiert, um seine Finanzierungsbedürfnisse durch
breitgestreute Emissionen von Anleihen zu befriedigen. Schließlich befördert ein
Kapitalmarkt, der das Vertrauen der Anleger genießt, auch den Erwerb von Aktien und
Schuldverschreibungen zu Zwecken privater Altersversorgung als Ergänzung oder Alternative
zur staatlichen Sozialversicherung.
Eine wesentliche Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren des Kapitalmarkts ist das
Vertrauen der Anleger in einen ordnungsgemäßen Handelsablauf. Der Gesetzgeber festigt
dieses Vertrauen, indem er Regeln für den Wertpapierhandel vorgibt. Diese Regeln sind in
Europa unterschiedlich ausgestaltet, je nachdem um welche Art Handelsplatz es geht. Das
europäische Recht kennt drei Formen von Handelsplätzen: Regulated markets, multilateral
trading facilities [MTF] und systematische Internalisierer. In Europa sind die wichtigsten
Wertpapiermärkte insbesondere für Privatanleger, auch wenn alternative Handelssysteme in
den letzten Jahren erhebliche Marktanteile gewonnen haben, immer noch die traditionellen
Börsen. Diesen Börsen widmen das europäische und das deutsche Kapitalmarktrecht
besondere Aufmerksamkeit. Nach der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente,
abgekürzt: MiFID, ist den regulated markets, die in ihrer Mehrzahl Börsen sind,
beispielsweise die Zulassung von Wertpapieren zum Börsenhandel vorbehalten.
Eine der wesentlichsten Aufgaben der Börse ist es, dafür zu sorgen, daß eine ordnungsgemäße
Bildung des Börsenpreises stattfindet. Eine ordnungsgemäße Preisermittlung unter staatlicher
Aufsicht ist von großer gesamtwirtschaftlicher Bedeutung. Deshalb besteht ein Interesse des
Staates an einer regelmäßigen Veranstaltung des börsenmäßig organisierten
Wertpapierhandels. Dieses öffentliche Interesse läßt die Existenz von Börsen in Deutschland
zur öffentlichen Aufgabe werden. Ein erfahrener deutscher Börsenrechtspraktiker schreibt:
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2. „Börsenpreise sind Preise, die in einem geregelten Verfahren unter staatlicher Aufsicht
zustande kommen. Mit ihnen ist deswegen die Gewährleistung verbunden, dass sie
verfahrensmäßig korrekt ermittelt sind und die jeweilige Marktlage an der Börse nach
definierten Kriterien widerspiegeln. Für das Anlegerpublikum ist damit ein Vertrauensschutz
verbunden. Aufgrund der staatlichen Ü berwachung der Preisbildung kann der Anleger in
erhöhtem Maße davon ausgehen, dass die Preisbildungsregeln laufend eingehalten werden
und dass die Preisfeststellung insbesondere unter Einhaltung des Grundsatzes der
Chancengleichheit der Marktteilnehmer, nach fairen Kriterien und in einem ausreichenden
transparenten Verfahren stattfindet. ... Auf dieser Richtigkeitsgewähr beruht auch die
gesetzliche Anerkennung des Börsenpreises als Berechnungs-, Abrechnungs- und
Bewertungsgrundlage in vielfachen Zusammenhängen.“ Denn der Börsenpreis besitzt nicht
nur für die an der Börse abgeschlossenen Geschäfte, sondern darüber weit hinaus im
gesamten Wirtschafts- und Steuerrecht wesentliche rechtliche Bedeutung. Ein Beispiel: Nach
dem deutschen Wertpapiererwerbs- und Ü bernahmegesetz ist bei der Bestimmung der
angemessenen Gegenleistung, die der Bieter anläßlich eines Ü bernahmeangebotes den
Aktionären der Zielgesellschaft anzubieten hat, der durchschnittliche Börsenkurs der Aktie zu
berücksichtigen.
Bei seinem Bemühen, einen marktgerechten Börsenpreis zu gewährleisten, wird der
Gesetzgeber durch die rasant voranschreitende technische Entwicklung im elektronischen
Börsenhandel, der mittlerweile die Bearbeitung von Wertpapierorders „von
Hand“ weitgehend abgelöst hat, immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt. Das sei
an einem Beispiel erläutert: Noch vor wenigen Jahren war der Zugang von Fernmitgliedern
aus anderen Staaten zu einem regulated market (remote membership) ein großes
rechtspolitisches Thema in Europa. Die MiFID ermöglicht solche Fernmitgliedschaften,
indem sie den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) aufträgt sicherzustellen, daß die
Regeln für den Zugang zu einem regulated market auch die Fernteilnahme von
Wertpapierfirmen vorsehen. Außerdem verpflichtet sie die Mitgliedstaaten, regulated markets
aus anderen Mitgliedstaaten zu gestatten, in ihrem Hoheitsgebiet technische Systeme
bereitzuhalten, um Fernmitgliedern den Zugang zu diesen Märkten zu erleichtern. Diese
Errungenschaft besitzt, wie man etwa an der hohen Zahl ausländischer Handelsteilnehmer an
der Frankfurter Wertpapierbörse ablesen kann, auch heute noch große Bedeutung. Sie wird
indes durch das Aufkommen des algorithmischen Handels mehr und mehr in den Hintergrund
gedrängt. Als algorithmischen Handel bezeichnet man die Teilnahme am Börsenhandel ohne
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3. direktes menschliches Eingreifen. Anhand von vordefinierten, quantitativen (mathematischen)
Modellen platzieren Computer Aufträge direkt an der Börse. Ein Algorithmus entscheidet
über den Zeitpunkt und die Stückzahl eines Kauf- oder Verkaufsauftrages. Als Parameter
werden u.a. historische und aktuelle Marktdaten, Preisunterschiede sowie Trends genutzt. Im
fortlaufenden Computerhandel, bei dem die Orderausführung mittlerweile im
Millisekundenbereich geschieht, spielt für den Geschäftserfolg der Marktteilnehmer auch die
Zeit der Ü bermittlung einer Order vom Handelsteilnehmer zu dem Computer, auf dem das
elektronische Handelssystem läuft, eine wichtige Rolle. Da sich die elektronische
Ü bermittlung von Orders nicht über die Lichtgeschwindigkeit hinaus beschleunigen läßt,
können kürzere Zeiten einer Reaktion auf eine sich verändernde Marktlage nur dadurch erzielt
werden, daß der Marktteilnehmer seinen Handelscomputer so nahe wie möglich an die EDV
des elektronischen Börsenhandelssystems heranrückt. Diese Notwendigkeiten lassen für den
algorithmischen Handel eine echte Fernmitgliedschaft unattraktiv werden.
Mit der fortschreitenden Elektronisierung des Wertpapierhandels und mit hiermit
zusammenhängenden, immer ausgeklügelteren Handelsstrategien verbunden gibt es neue
Orderformen wie flash trading und hidden orders, deren Auswirkungen auf den Börsenpreis
einer gründlichen Diskussion bedürfen. Eine hidden order erlaubt die Ü bermittlung einer
Order (generell eine Order mit hohem Volumen), ohne daß deren Orderinformation öffentlich
abrufbar ist. Solche Orderformen, ihre börsenrechtliche Beurteilung sowie die Maßnahmen
der Börse bei marktinadäquaten Ordersituationen wird, nachdem ich im Folgenden die
europarechtlichen und deutschen Gesetzesgrundlagen der Börsenpreisermittlung dargestellt
haben werde, Dr. Roger Müller, Head of legal and tax der Deutsche Börse AG, ausführlich
schildern.
Der Gesetzgeber gewährleistet die Bildung eines marktgerechten und ordnungsgemäßen
Börsenpreises auf mehreren Stufen. Zunächst schafft er dem Anleger die Möglichkeit, sich
mittels fortlaufender Publizität durch Jahres-, Halbjahres- und Quartalsberichte und mittels
der Ad-hoc-Publizität über die Emittenten der börsennotierten Wertpapiere und damit über
mögliche Ertragschancen dieser Papiere zu informieren. Ferner versucht er, durch
Insiderhandels- und Marktmanipulationsverbote eine preisliche Ü bervorteilung der Anleger
zu verhindern. Anleger erwarten indes nicht nur Informationen über den Emittenten sondern
auch über die Marktlage. Diesem Informationsbedürfnis werde ich im zweiten Kapitel meines
Vortrags nachgehen. Wie letztens der plötzliche, noch Tage später unerklärliche Kurssturz des
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4. Dow Jones binnen weniger Minuten um fast 1.000 Punkte bzw. rund 9 % am 6.5.2010, bei
dem zeitweise rund 1 Billion Dollar an Marktkapitalisierung ausgelöscht worden waren, und
die sofort wieder einsetzende Kurserholung gezeigt haben, kommt es indes trotz umfassender
Information der Investoren über die Emittenten und die Marktlage zu Ordereingaben, die
gegebenenfalls die wahre Marktlage – was immer man hierunter verstehen will – nicht
adäquat widerspiegeln. Nun wird das für das Funktionieren des Kapitalmarktes unabdingbare
Vertrauen der Anleger nicht nur durch angemessene Transparenz, sondern auch dadurch
gefördert, daß der Gesetzgeber den Börsen faire Handelsabläufe vorgibt, die zu einer
geordneten Preisbildung führen, welche der wirklichen Marktlage des Börsenhandels
entspricht. Deshalb ist zu fragen, ob und wann es der Börse erlaubt ist, den Börsenhandel
auszusetzen, wenn eine ordnungsmäßige Preisbildung gefährdet ist. Diese Frage werde ich im
dritten Kapitel meines Vortrags behandeln.
Ich beginne nun mit der Vorhandelstransparenz und zwar mit dem Europäischen Recht bei
regulated markets.
Gibt ein Anleger eine Order in den Markt, wird er mangels anderer Anhaltspunkte seine
Preisvorstellungen an der unmittelbar vorangegangenen Börsenpreisfeststellung ausrichten.
Diese Lage des Anlegers wollte der europäische Gesetzgeber verbessern. In Anbetracht des
zweifachen Ziels, die Anleger noch besser zu schützen und gleichzeitig ein reibungsloses
Funktionieren der Wertpapiermärkte zu gewährleisten, hat die EU für Transparenz von
Wertpapiergeschäften gesorgt. Um die Marktteilnehmer in die Lage zu versetzen, jederzeit die
Bedingungen eines von ihnen geplanten Aktiengeschäfts beurteilen zu können, und um die
Effizienz des Kursbildungsprozesses zu steigern, hat die EU allgemeine Regeln über die
Bekanntmachung von Einzelheiten zu aktuellen Möglichkeiten des Handels mit Aktien
festgelegt. Für die regulated markets, also auch für die deutschen Börsen, finden sich diese
Vorhandels-Transparenzvorschriften zunächst in Art. 44 MiFID. Hiernach müssen regulated
markets die aktuellen Geld- und Briefkurse sowie die Tiefe der Handelspositionen zu diesen
Kursen veröffentlichen. Diese Informationen müssen sie der Ö ffentlichkeit zu angemessenen
kaufmännischen Bedingungen und kontinuierlich während der üblichen Geschäftszeiten zur
Verfügung stellen. Die Regulierung der Einzelheiten dieser Vorhandelstransparenz hat die
MiFID einer Durchführungsverordnung überlassen. In den Erwägungsgründen dieser
Verordnung wird hervorgehoben, die Information über das tatsächliche Ausmaß der aktuellen
und potenziellen Geschäfte in Aktien an dem jeweiligen Handelsplatz diene auch dem
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5. Wettbewerb zwischen den Handelsplätzen; außerdem werde hierdurch gewährleistet, daß der
Preisbildungsmechanismus bei bestimmten Aktien nicht durch eine fragmentierte Liquidität
Schaden nehme. Zu diesem Zweck muß jeder regulated market, wenn er beispielsweise ein
Orderbuchhandelssystem basierend auf einer fortlaufenden Auktion betreibt, für die fünf
besten Geld- und Briefkurse für jede Aktie kontinuierlich die aggregierte Zahl der Aufträge
veröffentlichen. Für quotierungsgetriebene Systeme, für Handelssysteme basierend auf
periodischen Auktionen sowie für hybride Systeme gelten ähnliche Vorschriften.
Nun hat der europäische Gesetzgeber gesehen, daß es bestimmte Orders gibt, die wegen ihres
Volumens oder aus anderen Gründen falsche Signale in den Markt senden könnten. Deshalb
hat er es den Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten erlaubt, Geschäfte an regulated markets
von der Vorhandelstransparenz auszunehmen, wenn sie im Vergleich zum marktüblichen
Geschäftsumfang bei der betreffenden Aktie ein großes Volumen aufweisen oder wenn bei
Aufträgen wegen ihrer Art von einer Veröffentlichung vor dem Handel abgesehen werden
kann. Die Einzelheiten sind wieder in der Durchführungsverordnung geregelt. Hiernach liegt
ein Auftrag mit großem Volumen, der ein Absehen von Vorhandelstransparenz erlaubt,
beispielsweise vor, wenn der marktübliche Geschäftsumfang bezogen auf den
durchschnittlichen Tagesumsatz zwischen 1.000.000 € und 25.000.000 € liegt und das
Volumen des Auftrags 250.000 € beträgt. Bei solchen Aufträgen kann übrigens auch eine
verzögerte Nachhandelstransparenz stattfinden.
Die Vorhandelstransparenz bei Aktien ist im deutschen Recht im deutschen Börsengesetz
geregelt. Da die geschilderte Durchführungsverordnung der EU nach Art. 288 des Vertrags
über die Arbeitsweise der Europäischen Union in allen Mitgliedstaaten der EU, also auch in
Deutschland unmittelbar gilt und damit auch ohne weiteres die deutschen Börsen bindet,
waren die dem deutschen Gesetzgeber vorgegebenen Räume zur Ausfüllung des europäischen
Rechts der Handelstransparenz eng. Nach dem Börsengesetz muß die Börse für Aktien, die
zum Handel im regulierten Markt zugelassen oder in den regulierten Markt einbezogen sind,
den Preis des am höchsten limitierten Kaufauftrags und des am niedrigsten limitierten
Verkaufsauftrags und das zu diesen Preisen handelbare Volumen veröffentlichen. Das
deutsche Börsengesetz erlaubt es der Börsenaufsichtsbehörde, die durch die
Durchführungsverordnung eröffneten Spielräume zu nutzen und Ausnahmen von der
Vorhandelstransparenz bei großvolumigen Orders zuzulassen. Wegen der Einzelheiten der
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6. Veröffentlichungspflichten verweist das Börsengesetz auf die Regulierung in der jeweiligen
Börsenordnung, über die Ihnen Herr Dr. Roger Müller berichten wird.
Ich komme nun zur Aussetzung des Börsenhandels.
Wie ich einleitend hervorgehoben habe, bildet die Ordnungsmäßigkeit der Börsenpreisbildung
eine wesentliche Grundlage für das Vertrauen der Anleger und der Marktteilnehmer auf einen
sachgerechten Handelsablauf an den Kapitalmärkten. Deshalb hat der Gesetzgeber Regeln für
eine ordnungsmäßige Börsenpreisfeststellung gesetzt. Der Schwerpunkt dieser Regulierung
liegt im deutschen Börsengesetz. Ein Ziel der europäischen Finanzmarktrichtlinie ist es, die
Effizienz des Kursbildungsprozesses bei Eigenkapitalinstrumenten zu steigern. Die gibt den
regulated markets vor, transparente Regeln und Verfahren für einen fairen und
ordnungsgemäßen Handel festzulegen. Diesen doch recht weit gefassten Rahmen hat das
deutsche Börsengesetz weiter ausgefüllt. Hiernach müssen Börsenpreise ordnungsgemäß
zustande kommen und der wirklichen Marktlage des Börsenhandels entsprechen. Dabei
können auch Preise eines anderen regulated markets oder eines MTF als Referenzpreise
berücksichtigt werden. Die Einzelheiten des Preisfeststellungsprozesses werden in der
Börsenordnung geregelt.
Trotz aller Bemühungen des Gesetzgebers, für Regeln zu sorgen, die einen ordnungsmäßigen
Börsenpreis gewährleisten, kommt es nicht selten vor, daß sich die Bildung von
Börsenpreisen abzeichnet, die durch marktinadäquate Umstände beeinflusst sind. In solchen
Fällen besitzen die Börsen weltweit in unterschiedlichem Maße die Befugnis, den
Börsenhandel auszusetzen.
Im Recht der EU ist die Handelsaussetzung durch den regulated market nur in sehr
allgemeiner Form reguliert. Im Titel III der MiFID über regulated markets ist das Recht dieser
Handelsplätze geregelt, den Handel mit einem Finanzinstrument anzusetzen, das den Regeln
des regulated markets nicht mehr entspricht, sofern durch diese Maßnahme die
Anlegerinteressen oder das ordnungsgemäße Funktionieren des Marktes nicht erheblich
geschädigt werden. Diese Bestimmung verleiht den regulated markets freilich nicht die
Befugnis, den Handel in einem bestimmten Instrument wegen marktwidriger Umstände
auszusetzen, weil sie nur auf die Regelkonformität des Finanzinstruments selbst bezogen ist.
Demgegenüber hat die MiFID den zuständigen Behörden, die von den Mitgliedstaaten
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7. benannt werden, das Recht, die Aussetzung des Handels mit einem Finanzinstrument zu
verlangen, ohne jene Einschränkung gegeben. Diese Vorschrift ist im deutschen Börsengesetz
umgesetzt, wonach die Börsenaufsichtsbehörde die Aussetzung des Börsenhandels mit
Finanzinstrumenten anordnet, wenn dies zur Beseitigung von Mißständen erforderlich ist, die
die ordnungsgemäße Durchführung des Handels an der Börse beeinträchtigen können. Neben
dieses Aussetzungsrecht der Börsenaufsichtsbehörde hat das europäische Recht aber auch
eine Aussetzungsbefugnis gestellt, die weiter reicht als diejenige, die die MiFID den regulated
markets verleiht. Nach der Richtlinie über die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen
Börsennotierung können die zuständigen Stellen die Aussetzung der Kursnotiz eines
Wertpapiers aussprechen, wenn der ordnungsgemäße Ablauf des Marktes zeitweilig nicht
gewährleistet ist oder nicht gewährleistet zu sein droht oder wenn der Anlegerschutz dies
erfordert. Diese Bestimmung ist im deutschen Börsengesetz umgesetzt, wonach die
Börsengeschäftsführung den Handel mit Finanzinstrumenten aussetzen kann, wenn ein
ordnungsmäßiger Börsenhandel zeitweilig gefährdet oder wenn dies zum Schutz des
Publikums geboten erscheint.
Welche Umstände die zeitweilige Aussetzung des Börsenhandels rechtfertigen können, wird
international sehr unterschiedlich beurteilt. Während etwa die New York Stock Exchange
nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center vom 11.9.2001, der weltweit
dramatische Kurseinbrüche bewirkte, zunächst geschlossen blieb, lief der Börsenhandel am
Frankfurter Börsenplatz und an den anderen europäischen Börsen weiter. Auch nach
deutschem Börsenrecht ist überaus streitig, in welchen Fällen die gesetzlichen
Voraussetzungen für eine Handelsaussetzung vorliegen. Selbst in Börsenjuristenkreisen gibt
es beispielsweise keine Einigkeit darüber, ob schwere Terroranschläge die Aussetzung des
Börsenhandels gebieten können oder nicht.
Während die Befürworter einer Aussetzung des Börsenhandels am 11.9.2001 meinten, an
diesem Tag habe es schon deshalb keinen geordneten Handel an den Börsen Europas geben
können, weil das wichtigste Finanzzentrum der Welt fast vollständig ausgefallen sei,
verweisen die Gegner einer Handelsaussetzung in derartigen Situationen darauf, daß eine
Notierungsaussetzung die Krisensituation noch verstärken könne, weil die Marktteilnehmer
hierdurch gehindert würden, Risikopositionen über einen geordneten Börsenhandel abzubauen.
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8. Besieht man nun die in Betracht kommenden Gründe für eine Aussetzung des Börsenhandels
näher, geben die insiderrechtlichen Bestimmungen des deutschen Wertpapierhandelsgesetzes
eine erste sichere Leitlinie. Das deutsche Kapitalmarktrecht unterwirft die Marktteilnehmer
einem strafbewehrten Insiderhandelsverbot. Dieses Verbot zielt darauf ab, das Vertrauen der
Anleger als bedeutsamste Voraussetzung für das Funktionieren des Kapitalmarkts zu schützen,
das nach den Vorstellungen des europäischen Rechts durch die Zusicherung gleicher
Marktchancen bei börsennotierten Finanzinstrumenten begründet ist.
Freilich verlässt sich das deutsche Recht nicht auf repressive Mittel zur Erreichung dieses
Ziels. Vielmehr trägt es der Einsicht Rechnung, Insiderhandel lasse sich am besten dadurch
verhindern, daß eine Insiderinformation so zügig wie möglich dem Anlegerpublikum bekannt
gegeben wird. Dem dient die Ad-hoc-Publizität, die den Emittenten verpflichtet,
Insiderinformationen unverzüglich zu veröffentlichen. Vor der Veröffentlichung muß der
Emittent die Information der Geschäftsführung der Börse mitteilen, an der das von ihm
emittierte Finanzinstrument zum Handel zugelassen ist. Nach dem Willen des Gesetzgebers
soll diese Regulierung den Geschäftsführungen der betroffenen Börsen die Möglichkeit
eröffnen, über die Notwendigkeit einer Aussetzung der Preisfeststellung zu entscheiden. Der
Grund für eine Gefährdung der Ordnungsmäßigkeit des Börsenhandels liegt dann
gegebenenfalls darin, daß die Wertpapiergeschäfte auf einem Preisniveau abgeschlossen
werden, das nicht dem in der Insiderinformation verkörperten Informationsniveau entspricht.
Geschützt werden sollen diejenigen Anleger, die in Unkenntnis der kursrelevanten
Insiderinformation Kauf- oder Verkaufsaufträge erteilt haben. Daraus folgt, daß eine wegen
der fehlenden Bekanntheit einer Insiderinformation nicht marktgerechte Orderlage zu den
Gründen zählt, die eine Aussetzung des Börsenhandels zum Schutz des Publikums geboten
erscheinen lassen können. Hieraus läßt sich das allgemeine Prinzip erschließen, daß eine
Aussetzung des Börsenhandels in Betracht zu ziehen ist, wenn wegen einer
Informationsasymmetrie Börsenpreise ermittelt werden würden, in die bestimmte
Informationen noch nicht eingepreist sind – bei denen als nicht von einer geordneten
Preisbildung gesprochen werden kann.
Im Ü brigen tendiert die Börsenrechtsliteratur dahin, die Aussetzungsbefugnis restriktiv zu
handhaben. Gemäß ihrem Anstaltszweck, den Abschluß von Handelsgeschäften in
Wertpapieren zu ermöglichen, kommt eine Notierungsaussetzung nur als ultima ratio in
Betracht. So soll es etwa für eine Aussetzung des Handels nicht hinreichen, wenn der
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9. Börsenhandel illiquide ist, wenn also nur geringe Umsätze in einem Wertpapier erfolgen.
Gleichfalls nicht ausreichen soll es, wenn aufgrund bloßer Gerüchte über
börsenpreisbeeinflussende Ereignisse große Preisschwankungen drohen. Selbst bei
Börsencrashs infolge allgemeiner wirtschaftlicher oder politischer Ereignisse plädieren
Börsenjuristen für eine ununterbrochene Fortführung des Börsenhandels. Die Börse sei eben,
so wird gesagt, zum Handeln da.
Gestatten Sie mir noch einen rechtspolitischen Ausblick.
Die zunehmende technische Optimierung des elektronischen Börsenhandels wirft bislang
unbeantwortete Fragen auf, die mit den unterschiedlichen Facetten des automatisierten
Handels zusammenhängen. Ein erstes Problem ist im Bereich der Vorhandelstransparenz
angesiedelt. In Deutschland wird es als verboten betrachtet, wenn die Börse einem
Hochfrequenzhändler Vorhandelsinformationen gegen ein höheres Entgelt als bei anderen
Handelsteilnehmern Millisekunden früher als diesen Handelsteilnehmern zur Verfügung stellt
(flash trading). Verboten dürfte es aber auch sein, wenn die Börse Hochfrequenzhändlern
solche Vorabinformationen gibt, ohne hierfür ein höheres Entgelt zu verlangen. Denn dann
sind die Angebote den anderen Handelsteilnehmern, anders als es das Börsengesetz
vorschreibt, in diesem Mikrosekundenbereich unzugänglich und sie können sie in diesem
Zeitraum auch nicht annehmen.
Auch wenn die Börse die Vorhandelsinformationen an alle Handelsteilnehmer gleichzeitig
elektronisch abgibt, erfahren die Hochfrequenzhändler, wenn sie alle technischen
Möglichkeiten nutzen, insbesondere wenn sie ihre Computer nahe an den Rechner des
Börsenhandelssystems heranrücken, die Orderlage Millisekunden vor den anderen
Handelsteilnehmern. Dann stellt sich die Frage, ob die Information über die Orderlage im
Zeitpunkt der Kenntnisnahme durch den Hochfrequenzhändler eine Information über nicht
öffentlich bekannte Umstände ist, die sich auf ein Insiderpapier bezieht, also eine
Insiderinformation ist, deren Verwendung – beispielsweise durch Annahme von Angeboten –
strafbewehrt verboten ist. Soweit es hierzu schon Stimmen gibt, wird darauf abgestellt, Geld-
und Briefkurse seien keine Umstände, die geeignet seien, im Falle ihres öffentlichen
Bekanntwerdens den Börsenpreis des betreffenden Insiderpapiers „erheblich“ zu beeinflussen.
Außerdem – so wird gesagt – sei es widersprüchlich, von Gesetzes wegen den
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10. Handelsteilnehmer gegen ein Entgelt auf die Information zugreifen zu lassen, um ihm dann
die sofortige Verwendung dieser Information zu verbieten.
Verschiedentlich wird befürchtet, Hochfrequenzhändler könnten ihren technologischen
Vorsprung nutzen, um die Börsenkurse zu manipulieren, indem sie Angebote an die Börse
geben, diese aber sogleich wieder zurücknehmen, um dann auf der Grundlage der durch diese
Orders hervorgerufenen Marktreaktion gewinnbringende Folgeaufträge zu erteilen. Solche
Handelspraktiken gab es – man denke nur an den Fall Citigroup/MTS – auch schon vor dem
Aufkommen des Hochfrequenzhandels. Solche Kauf- oder Verkaufsorders dürften wie in der
deutschen Marktmanipulations-Konkretisierungsverordnung beschrieben geeignet sein,
falsche oder irreführende Signale für das Angebot oder die Nachfrage zu geben oder ein
künstliches Preisniveau herbeizuführen. Deshalb sind sie als Marktpreismanipulation verboten.
Börsenrechtliche Probleme wirft es auf, wenn die Handelsteilnehmer ihre Computerserver so
nahe wie möglich an den Handelscomputer der Börse heranrücken, um den Zulauf der
Informationen über die Orderlage und die Reaktion hierauf zu beschleunigen. Geschieht dies
ohne Zutun der Börse, ist hiergegen freilich börsenrechtlich nichts einzuwenden. Anders
liegen die Dinge indes, wenn die Börsen ausgewählten Handelsteilnehmern die Dienstleistung
anbieten, ihre Computer in die Nähe der Server der Börsen zu stellen (Co-Hosting). Diese
Dienstleistung dürfte ähnlich wie das flash trading gegen das an die Börse gerichtete Gebot
verstoßen, den Handelsteilnehmern – und das heißt: allen Handelsteilnehmern gleichmäßig –
die Orderlage zugänglich und ihnen die Annahme der Angebote möglich zu machen.
Da der Hochfrequenzhandel an manchen Börsen mittlerweile über 40 % der
Handelsaktivitäten ausmacht, weshalb der blitzartige Rückzug der
Hochgeschwindigkeitsbroker aus dem Markt in Crash-Situationen die Kurse noch volatiler
werden lassen kann, ist eine Klärung der vorstehend geschilderten Rechtsfragen dringend
erforderlich. Deshalb hat die EU-Kommission bei dem Ausschuß der europäischen
Wertpapieraufsichtsbehörden im Frühjahr 2010 eine Studie über
Hochfrequenzhandelsstrategien und die von ihnen ausgehenden Risiken für das
ordnungsgemäße Funktionieren der Märkte in Auftrag gegeben.
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