Ride the Storm: Navigating Through Unstable Periods / Katerina Rudko (Belka G...
Medienkompetenz Und Allgemeinbildung
1. MEDIEN & POLITIK
1. Teil: James Bond, Medienpädagogik und Globalisierung
Aus: Texte Nr. 5/2002 -
Sonderheft der Zeitschrift
medien praktisch
Der Beitrag entstand im Rahmen einer
M ed i e n ko m pete nz
Tagung der Gesellschaft für
Medienpädagogik und
Kommunikationsgesellschaft zum
und Allgemeinbildung
Thema "Medienmacht global". Als Überlegungen zur Neuorientierung der Medienpädagogik ausgehend vom
Einstimmung in das komplexe Thema Bond-Film Tomorrow Never Dies
diente der Bond-Film "Tomorrow Never
Dies".
Wolf-Rüdiger Wagner
Wenn es in diesem Beitrag um „Medien- Helden und seinen Gegenspielern High-
macht global" geht, steht „global" hier im Tech-Requisiten aller Art zur Verfügung.
übertragenen Sinn für „umfassend". Es geht Der vielseitige Einsatz von Kommunikati-
um den umfassenden Einfluss der Medien onsmitteln - in der ursprünglichen Bedeu-
auf alle Bereiche unserer Kultur. Wenn von tung von Mitteln zum Transport von Perso-
„Neuorientierung der Medienpädagogik" die nen, Gegenständen und Informationen -
Rede ist, heißt dies nicht, dass die traditio- treibt die Handlung voran, macht die Bond-
nellen Fragestellungen und Aufgaben der Filme zum modernen Abenteuerroman.
Medienpädagogik wegfallen, vielmehr geht Im Film gelingt es dem Medienmogul
es um eine veränderte Perspektive, um eine Carver mit Hilfe eines gestohlenen Chiffrier-
Erweiterung des Blickfeldes. Die Chance für computers das „Global Positioning System"
die Medienpädagogik in der Schule besteht (GPS) einer Fregatte der britischen Marine
darin, die umfassende Bedeutung der Medi- zu stören. Das Schiff dringt so, ohne es zu be-
en für alle Bereiche unserer Gesellschaft her- merken, in chinesische Hoheitsgewässer ein.
auszuarbeiten. Medien- und Kommunikati- Dort wird es von einem Stealth-Schiff der
onswissenschaft sind zentrale Bezugswissen- Carver-Leute versenkt. Da ein Stealth-Schiff
schaften für die Medienpädagogik, Medien- vom Radar nicht geortet werden kann, bahnt
pädagogik als Aufgabe der allgemeinbilden- sich eine militärische Auseinandersetzung
den Schule kann sich jedoch nicht nur über zwischen Großbritannien und China an.
Gegenstände und Themen der Medien- und Für eine herkömmliche medienpädagogi-
Kommunikationswissenschaften konstituie- sche Auseinandersetzung mit dem Film wä-
1
ren, sondern muss sich über den Allgemein- ren der Chiffrier-Computer, GPS und Radar
„Die Hilfsapparate, welche wir
zur Verbesserung oder Verstär-
bildungsauftrag von Schule legitimieren. Die eher nebensächlich, es sei denn, man wollte
kung unserer Sinnesfunktionen Vermittlung von Medienkompetenz wird nur in gesellschaftskritischer Tradition auf die
erfunden haben, sind alle ge- dann als integraler Bestandteil von Allge- bellizistischen Wurzeln der Informations-
baut wie das Sinnesorgan selbst
oder Teile desselben (Brille, pho-
meinbildung akzeptiert werden, wenn es ge- und Kommunikationstechnologien hinwei-
tographische Kamera, Hörrohr lingt, den Blick für die Medien als „kulturre- sen. Es geht hier jedoch nicht um die archäo-
usw.). An diesem Maß gemes- levante und kulturverändernde Instanzen" logische Suche nach den militärischen Wur-
sen, scheinen die Hilfsvorrich-
zu öffnen (KLOOCK 1995, S.57). Der bloße zeln der Computermaus, sondern um eine
tungen für unser Gedächtnis be-
sonders mangelhaft zu sein, Verweis auf die Allgegenwart von Medien in Einordnung dieser High-Tech-Requisiten in
denn unser seelischer Apparat der Lebenswelt von Kindern und Jugendli- die allgemeine Medienentwicklung und -ge-
leistet gerade das, was diese
chen reicht als Begründung letztlich nicht schichte. Dies setzt voraus, dass man mit ei-
nicht können; er ist in unbe-
grenzter Weise aufnahmefähig aus und lässt Medienpädagogik oftmals nur nem übergreifenden Medienbegriff arbeitet,
für immer neue Wahrnehmun- als ein Zugeständnis an Umstände erschei- der nicht schon von der Parzellisierung un-
gen und schafft doch dauerhafte
nen, die man - leider - nicht ändern kann. serer Kultur in akademische Fach- und Spe-
- wenn auch nicht unveränderli-
che - Erinnerungsspuren", in: Diese Argumentation an dem James- zialgebiete ausgeht (vgl. WAGNER 1996).
FREUD 1975, S. 366.
Bond-Film Tomorrow Never Dies zu ent-
wickeln, macht durchaus Sinn. Schaut man Hilfsapparate zur Verbesserung oder
1
sich das Handlungsmuster des Films an, Verstärkung unserer Sinnesfunktionen
Dr. Wolf-Rüdiger Wagner, geb. stößt man auf die klassische Erzählstruktur Da es in der Rahmenhandlung des Füms um
1943, ist Leiter der Projektgruppe
„n-21: Niedersachsen online" im nie- des Abenteuerromans. Statt magischer eine militärische Auseinandersetzung geht,
dersächsischen Kultusministerium. Kräfte und Zauberschwerter stehen dem kommen Radarsysteme immer wieder ins
16 5 TEXTE
2. MEDIEN & POLITIK
Spiel. Bei dem Begriff „Radar" handelt es heißen InfrarotRadiometer, Mikrowellen-
sich um ein englisches Kunstwort aus „radio Scatterometer oder Synthetik-Radar-Senso-
detecting and ranging", gleichbedeutend mit ren. Die Bilder, die sie uns macht, bilden die
„Funkermittlung und Entfernungsmes- Grundlage, auf der wir zu neuen Erkennt
sung". Wichtig für die folgende Argumenta- nissen kommen - über die Beschaffenheit
tion ist die Erklärung, dass die Bedeutung unserer Welt und über die Veränderung in
dieser Technik darin besteht, „daß sie hin- 2
der Umwelt." Die Daten der Satelliten wer-
sichtlich Wetterunabhängigkeit, Genauig- den vielseitig genutzt, u. a. um Waldbestän-
keit und Zuverlässigkeit besser als jede an- de zu kartieren, Ernteerträge vorauszusa-
dere Ortungstechnik für die Erfassung, Ver- gen, den ökologischen Zustand der Meere zu
messung und Verfolgung von Schiffen, Luft- überwachen, Hinweise für Fischfangflotten
und Raumfahrzeugen geeignet ist" (BROCK- zu liefern, Wettvorhersagen zu präzisieren,
HAUS 1992, S.6) Klimaforschung zu betreiben und Rohstoff-
Im Lexikon stößt man beim Thema Ra- vorkommen zu erkunden.
dar auf das Stichwort „Radarastronomie" Zu den Aufgabenfeldern der Medienpäd-
und auf Hinweise zur Bedeutung der Radar- agogik zählt die Auseinandersetzung mit
technik für die Erforschung des Kosmos. den gesellschaftlichen Auswirkungen der
Aus der Mediengeschichte ergibt sich hier ei- Medien. Schon diese knappen Hinweise ma-
ne Verbindung zu dem französischen Natur- chen deutlich, dass die Beschäftigung mit
wissenschaftler und Politiker ARAGO, der bei den satellitengestützten Informationssyste- Daguerreotypie von 1855. Erste
der Vorstellung der Daguerreotypie vor der men hierbei nicht ausgeblendet werden Fotografie der Sonne
Akademie der Wissenschaften im Jahre kann. Auch wenn es um das „Verstehen und
1839 u.a. die Bedeutung der Fotografie für Bewerten" von Medien geht, ergeben sich
die Astronomie hervorhob und als Beispiel neue Aufgaben. Satellitenbilder wirken auf
hierfür die Möglichkeit anführte, Mondkar- den Betrachter wie Farbbilder, haben in
ten fotografisch zu erstellen (KEMP 1980, Wirklichkeit aber einen völlig anderen Sta-
S.53). tus. Um den neuen Status dieser Bilder zu
ARAGO stützte seine hochgespannten wis- verstehen, muss man sich vor Augen führen,
senschaftlichen Erwartungen an das neue dass z.B. die Rohdaten, die der Radarkarte
Medium auf die Erfahrungen mit Teleskop von Deutschland zu Grunde liegen, optisch
und Mikroskop, die „nicht nur bekannte Din- nichts mit einer Karte gemeinsam haben.
ge schärfer sehen ließen, sondern auch völ- Da jede Szene dieser Karte aus Informatio-
lig Unbekanntes der menschlichen Wahr- nen besteht, die ungefähr 100.000 Buchsei-
nehmung zugänglich machten" (BUSCH 1989, ten füllen würden, sind die Rohdaten unmit-
S.209). Aus der Perspektive des Naturwis- telbar nicht auswertbar. Aus ihnen müssen Satellitenfoto
senschaftlers ARAGO handelt es sich bei der in einem aufwändigen Prozessierungverfah-
Fotokamera um ein Mess- und Aufzeich- ren Bilder erzeugt werden. „Satellitenbilder
nungsgerät. Dies ist eine ungewohnte, aber sind wie Schrift und Landkarte chiffrierte
durchaus zutreffende Sichtweise, denn beim Wiedergaben der Wirklichkeit, sie wollen
Fotografieren werden die Lichtstrahlen, die entziffert werden, sie zu lesen, will gelernt
ein Objekt reflektiert, registriert und die Fo- sein" (HASSENPFLUG 1996, S. 5).
tografie „macht das Ergebnis dieses physi- Nicht zuletzt ist es medienpädagogisch
kalischen Meßvorganges in ähnlicher Wiese relevant, dass wir durch Satellitenaufnah-
sichtbar, wie wir das reale Objekt mit unse- men die Erde zum ersten Mal als einen Pla-
rem Auge wahrgenommen hätten" (BOECK- neten im Weltall wahrnehmen konnten. An
MANN 1994, S.60f.). der inzwischen gängigen Metapher vom
„Raumschiff Erde" wird deutlich, dass diese
Die Welt mit anderen Augen sehen Bilder vom „blauen Planeten" tatsächlich un-
In der Anzeige einer High-Tech-Firma wird ser Welt-Bild verändert haben.
die Entwicklung, die seit der Erfindung der
Fotografie auf diesem Gebiet stattgefunden Mittel für einen innigeren Kontakt
hat, unter der Uberschrift „Wir sehen die mit der Außenwelt
Welt mit anderen Augen" wie folgt zusam- Die Bedeutung von Fotografie und Radar ist
mengefasst: darin zu sehen, dass sich mit ihrer Hilfe die
„Das Bild, das der Mensch von der Welt Grenzen der natürlichen Wahrnehmungen
hat, hat viele Lücken. Um es zu vervollstän- hinausschieben lassen. Diese Beschreibung
Anzeige der Deutschen Aeoro-
digen, brauchen wir die Hilfe der Hochtech- entspricht einem anthropologischen Ver- space. In: Zeitmagazin, Nr. 4 1 ,
nologie. Die Augen, mit denen sie sieht, ständnis von Technik, nach welchem Tech- v o m 5. Oktober 1990.
T E X T E 5 17
3. MEDIEN & POLITIK
nik für den Menschen als „Organersatz, Or- Denkt man dabei an die von BERGKS Zeit-
ganentlastung bzw. Organüberbietung" fun- genossen hitzig geführte Diskussion über
giert (GEHLEN 1986, S.95). Aus dieser Per- die Romanlektüre von Frauen, so wird deut-
spektive wird es verständlich, wenn ALEXAN- lich, dass sich die „Horizonterweiterung"
DER VON HUMBOLDT, ein Freund des oben er- durch das Medium Buch nicht nur auf In-
wähnten französischen Naturwissenschaft- formationen über fremde Länder bezieht,
lers ARAGO, die Neuzeit mit der Einführung sondern auch auf alternative, die Tradition
des Fernrohrs beginnen lässt: in Frage stellende Lebensentwürfe.
„Die naturwissenschaftliche Civilisation Folgt man dieser Argumentation kann
der Welt reicht kaum über jene glänzende man zusammenfassend feststellen: Medien
Epoche hinaus, wo in dem Zeitalter von GALI- als „Organersatz, Organentlastung bzw. Or-
Galileis Fernrohr mit einer 30-fa- ganüberbietung" erweitern nicht nur den
LEI, HUYGHENS und FERMAT gleichsam neue
chen Vergrößerung
Organe" geschaffen wurden, neue Mittel, den Kommunikationshorizont, sondern sie ver-
Menschen (beschauend und wissend) in einen stärken und verändern die individuellen und
innigeren Contact mit der Außenwelt zu set- gesellschaftlichen Möglichkeiten zur Kom-
zen, Fernrohr, Thermometer, Barometer, die munikation und Aneignung von Wirklichkeit
Pendeluhr und ein Werkzeug von allgemeine- insgesamt, einschließlich der damit verbun-
rem Gebrauche, der Infinitesimal-Calcul." 3
denen Prozesse der Informationserfassung,
Wer über die hier vorgenommene Aus- Informationsspeicherung, Informationsver-
weitung des Medienbegriffs erstaunt ist, arbeitung und Informationsübermittlung.
muss nur einen Blick in die Gegenwart wer- In der Entwicklung von Medien manifes-
fen: Thermometer und Barometer sind Vor- tiert sich einerseits das Interesse an einer
läufer der diversen Sensoren, Detektoren spezifischen Welt-Anschauung und anderer-
und Messfühler, die heute als Peripherie- seits befördern Medien eine spezifische
geräte den Computer zum Universalmedium Form der Weltaneignung, strukturieren und
machen. Mit der Organmetapher arbeitet organisieren Wahrnehmung.
auch NORBERT WIENER, der Begründer der
Kybernetik. In seinen Überlegungen zur Ver- „Die photographische Platte
gleichbarkeit der Regelung und Nachrich- ist die wahre Netzhaut des Gelehrten" 4
tenübertragung in Lebewesen und Maschi- Vier Namen sind vor allem eng mit der Er-
nen schreibt er über Automaten: findung der Fotografie verbunden: WEDG-
„Die Organe, durch die Eindrücke emp- WOOD, NIEPCE, DAGUERRE und TALBOT. Sie
fangen werden, sind die Äquivalente der wollten oder mussten zeichnen und sie wa-
menschlichen und tierischen Sinnesorgane. ren an der Vervielfältigung von Bildern bzw.
Sie schließen fotoelektrische Zellen und an- an der Automatisierung der Bildherstellung
dere Empfänger für Licht, Radarsysteme, interessiert. Die Vorstellung des neuen tech-
die ihre eigenen kurzen Hertzschen Wellen nischen Verfahrens der Büdherstellung vor
empfangen, pH-Wertmesser, von denen man der Akademie der Wissenschaften in Paris
sagen kann, sie .schmecken', Thermometer, erfolgte jedoch durch den Physiker ARAGO,
Druckmesser verschiedener Arten, Mikrofo- der den Maler PAUL DELACROCHE lediglich
ne und so fort ein" (WIENER 1968, S. 66). um eine zusätzliche Stellungnahme gebeten
Mit WIENER und seinen Ausführungen zu hatte.
Sensoren, Messfühlern und Peripheriegerä- Dies ist kein Zufall. Auch in der Folgezeit
ten wäre auch die Verbindung zu dem „intel- taten sich Künstler eher schwer mit der
ligenten" BMW 750 aus dem Bond-Film her- Einordnung und Bewertung der Fotografie:
gestellt, der nicht nur Hindernisse auf der „Fotografien sind derzeit zu buchstabenge-
Fahrbahn erkennen kann. treu, um mit Kunstwerken konkurrieren zu
Auch die Funktion der „Printmedien" können" (KEMP 1989, S. 119ff.). Für die Na-
wurde immer wieder in der Begrifflichkeit turwissenschaftler des 19. Jahrhunderts
ALEXANDER VON HUMBOLDT: Über
die Mittel, die Ergründung eini- der Organmetapher beschrieben. So schreibt wurde die Fotografie dagegen in ihrer De-
ger Phänomene des tellurischen JOHANN VON BERGK 1799 in seiner Abhand- tailtreue und Unbestechlichkeit zu einem
Magnetismus zu erleichtern. In: lung Die Kunst, Bücher zu lesen: „die Bücher Leitbild. Der Wissenschaftler solle zum
Annalen der Physik und Chemie,
sind deshalb zur Beförderung unserer Mün- „Photographen der Natur" werden, „ohne
Jahrgang 1829, 15. Bd., S.319,
zit. nach: W E I G L 1990, S. 9. digkeit tauglich, weil sie reich an interessan- vorgefaßte Meinung beobachten, auf die Na-
ALBERT LONDE, Direktor des ten und mannichfaltigen Stoffen sind, und tur hören und nach ihrem Diktat schreiben".
photographischen Dienstes der weil sie dem Leser auch eine Kenntnis von Diese Maxime formulierte in der Mitte des
Salpetriere in den 1880er Jah-
ren; zit. nach DIDI-HUBERMAN
dem erschaffen, wohin seine Augen nicht rei- 19. Jahrhunderts CLAUDE BERNARD, einer der
1997, S. 42f. chen, und sein Fuß nicht tritt" (ebd., S. IX). Begründer der experimentellen Medizin.
18 5 TEXTE
4. MEDIEN & POLITIK
Daher waren es Naturwissenschaftler, sung mit dem Zirkel und dem Richtscheyt be-
durch die die technische Entwicklung von schreibt ALBRECHT DÜRER seinen Zeitgenos-
der Fotografie zum Film entscheidend vor- sen, wie durch die Zerlegung eines Bildes in
angetrieben wurde. So entwickelte der Phy- Bildpunkte Perspektive und Proportionen
siologe MAREY, ein Schüler CLAUDE BER- eines Gegenstandes wirklichkeitsgetreu wie-
NARDS, verschiedene Mess- und Registrier- dergegeben werden können. Von DÜRERS Git-
verfahren, u.a. ein Verfahren für fotografi- ternetzen, Zirkeln und Richtscheyten führt
sche Reihenaufnahmen. Hinter dem Inter- ein direkter Weg zu den Pixeln der digitalen
esse an der Technik stand ein methodisches Bildbearbeitung.
Interesse: „Es sind vor allem zwei Hinder- Bei der Vorstellung, dass jeder Körper
nisse, die die Wissenschaft in ihrem Fort- aus einer unendlichen Anzahl von Punkten
schritt hemmen: Das ist zum einen die Un- besteht, die zerlegt und wieder zusammenge-
vollkommenheit unserer Sinne in der Er- setzt werden können, handelt es sich um ein
kenntnis der Wahrheit und zum anderen die Grundprinzip der modernen Technik und
Dürer. Zeichnen mit Gitternetz
Unzulänglichkeit unserer Sprache, die Wissenschaft, das mit dem Computer seine (Ausschnitt)
Wahrheiten, die wir entdeckt haben, auszu- modernste Ausprägung gefunden hat. Die
drücken und weiterzugeben" (MAREY 1878, weitere Durchsetzung dieses Denkprinzips
S. I; Übersetzung d.A.). in allen Lebensbereichen führt in der Neu-
In der Kinematographie wurde die Über- zeit zu dem, was ZUR LIPPE (1983) als „Ras-
legenheit der Fotografie über die Fä- terung der Welt" bezeichnet (ebd., S. 10).
higkeiten des menschlichen Auges weiter-
entwickelt. Durch die Geschwindigkeit des Zugang zum Optisch-Unbewussten
Aufzeichnungsverfahrens konnten Bewegun- durch die Zeitlupe
gen mit einer Genauigkeit und einem De- Für BENJAMIN (1977) bringt die Zeitlupe
tailreichtum festgehalten werden, die vom nicht nur „bekannte Bewegungsmotive zum
natürlichen Blick nicht erreichen werden Vorschein, sondern sie entdeckt in diesen be-
können. ViRiLio (1989) schreibt dazu: „Die kannten ganz unbekannte" (ebd., S. 162).
Welt, die wie ein unbekannter Kontinent Erst die Kamera „mit ihren Hilfsmitteln"
,wiederentdeckt' wurde, erschien endlich in schafft einen Zugang zum „Optisch-Unbe-
,ihrer ganzen Wahrheit'" (ebd., S. 58). wußten". BENJAMIN vergleicht die methodi-
Für WALTER BENJAMIN (1977) ist es nicht schen Leistungen des Films mit der Psycho-
entscheidbar, durch was der Film mehr fes- analyse: „Sie hat Dinge isoliert und zugleich
selt: „durch seinen artistischen Wert oder analysierbar gemacht, die vordem unbe-
durch seine wissenschaftliche Verwertbar- merkt im breiten Strom des Wahrgenomme-
keit". Er vergleicht diese Situation mit dem nen mitschwammen. Der Film hat in der
gemeinsamen Aufschwung von Kunst und ganzen Breite der optischen Merkwelt, und
Wissenschaft in der Renaissance (ebd., nun auch der akustischen, eine ähnliche Ver-
S. 161). Im Zusammenhang mit der Renais- tiefung der Apperzeption zur Folge gehabt"
sance wird häufig von „Entdeckung des Se- (ebd., S. 160f.).
hens" gesprochen. Für die „visuelle Zeiten- MAREY beschäftigte sich, wie viele der
wende" stehen Stichworte wie Teleskop und Personen, deren Name mit der Entwicklung
Fernrohr einerseits und die Entwicklung der der Filmtechnik verbunden ist, vor allem mit
Zentralperspektive. Durch die Zentralper- 5
Bewegungsstudien. Wer über den Gesamt-
spektive wurden u.a. die Grundlagen für die eindruck, den der natürliche Blick liefert, Marey. Bewegungsstudie
modernen technischen Zeichnung, insbeson- hinaus an einer Analyse von Bewegungsab-
dere Bauzeichnungen, und die Kartografie läufen interessiert war, musste zu techni-
gelegt. Zum ersten Mal wurde die Konstruk- schen Hilfsmitteln wie Fotografie bzw. Film
tion in Längen- und Breitengrade unterteü- greifen, durch die ein Ablauf in einzelne Pha-
ter Weltkarten möglich, die wiederum die sen zerlegt und analysiert werden konnte.
Informationsbasis für die Entdeckungsfahr- Hinter diesen Bewegungsstudien stan-
5
Auch bei den meisten, der von
STARL für den Zeitraum 1884 bis
ten europäischer Seefahrer wurden. den anwendungsbezogene Fragen. Eine der 1887 aufgeführten militärischen
Wenn im Bond-Film ein Fingerabdrucks- Verbindungslinien führt zur „Wissenschaftli- Anwendungsgebiete der Moment-
fotografie - erwähnt werden Bal-
canner zum Einsatz kommt, dann ist daran chen Betriebsführung". Im Taylorismus wer-
listik, Artillerie, Pioniere, Flug-
zu erinnern, dass das Scannen bzw. die digi- den Tätigkeiten in ihre Bestandteile zerlegt, wesen, Infanterie, Kavallerie,
tale Bildbearbeitung auf die Entdeckung der ausgemessen und Effizienzkriterien neu zu- Aufklärung - geht es um die
„Atomisierung des Sichtbaren in
Zentralperspektive zu Beginn der Neuzeit sammengesetzt. Bewegungsanalysen sind
seine mit bloßen Augen nicht
zurückgeführt werden kann. In dem 1525 er- dabei eine wesentliche Voraussetzung für die mehr erkennbare(n) Bestandtei-
schienenen Lehrbuch Unterweysimg der Mes- I Fragmentierung und Mechanisierung der le" (STARL 1991, S. 95}.
T E X T E 5 19
5. MEDIEN & POLITIK
Arbeit. Ein komplexer Arbeitsablauf wird in dig der kulturpessimistische Topos vom
seine elementaren Bestandteile zerlegt und „Verlust der Wirklichkeit" ist. In der gängi-
auf die verschiedenen Körperteile des Men- gen Medienkritik und in der Medienpädago-
schen - Hände, Arme oder Beine - verteilt, gik werden Medien häufig als Ersatz für ori-
die Körper als Ganzheit spielt keine Rolle ginäre Erfahrung angesehen. Über den Ver-
mehr (HEINTZ 1993, S. 171). Einer der Pio- lust sinnlicher Erfahrungsmöglichkeiten
niere der Analyse von Bewegungsabläufen kann man sinnvoll diskutieren, wenn man
und Arbeitsprozessen, FRANK B. GILBRETH, dabei nicht außer Acht lässt, dass unsere
setzte Fotografie ein, um ideale Bewegungs- Sinneserfahrungen nicht dazu ausreichen,
abläufe herauszuarbeiten: die Dinge, die mit uns und um uns herum
„Ein gewöhnlicher Photoapparat und ei- passieren, angemessen zu verstehen. Dies
ne Glühlampe waren alles, was er benötigte, trifft für die ökologischen Probleme der Ri-
um den absoluten Verlauf einer Bewegung sikogesellschaft ebenso zu wie für die globa-
Gilbreth. Bewegungsstudie eines
Golfspielers sichtbar zu machen. Er befestigte ein kleines len Auswirkungen ökonomischer und politi-
elektrisches Licht an dem die Bewegung aus- scher Entscheidungen. Wir sind zwangsläu-
führenden Körperteil. Der Bewegungsver- fig auf die „Erfahrungen aus zweiter Hand"
lauf erschien auf der Platte als eine leuch- angewiesen, mit denen uns die Medien als
tende, weiße Kurve. Diesen Apparat nannte „gesellschaftliche Wahrnehmungsorgane"
er ,Bewegungsaufzeichner' - Zyklograph. versorgen (WAGNER 1995).
Die für das Auge in ihrer Form nicht erfass- Medienabstinenz käme dem Rückzug aus
bare Bewegung wird hier für immer festge- dieser Realität gleich, denn die „Reichweite
halten. Die Form der Kurven gibt Einsicht, dieser Erfahrungen zweiter Hand erstreckt
wann ein Zögern, oder Gewohnheiten, die sich um den Erdball und insofern entspricht
besondere Fertigkeit und den automatischen sie auch wirklich dem Aktionsradius tatsäch-
Bewegungsablauf des Arbeiters beeinfluss- licher Großereignisse, denn wir wissen, daß
ten. Mit einem Wort, sie enthüllten die Feh- solche Großereignisse wie Kriege oder Wirt-
6
Auf „Bewegung als Form für lerquellen ebenso wie die Vollkommenheit ei- schaftskrisen erster Ordnung nicht mehr lo-
sich" in Malerei und Literatur ner Handlung" (GIEDION 1982, S. 127). kalisierbar sind und sich bis in unser Haus
geht u.a. GIEDION (1982, S.
Bewegungen werden beobachtet, gemes- hinein auswirken können" (GEHLEN 1993,
133ff.) ein.
7
sen, zergliedert und nach rationalen Ge- S. 135).
„In der Agrarperiode hatte ein
Bauer mit seiner Arbeit die Pro- sichtspunkten wieder zusammengesetzt. Die Medienkompetenz muss daher auf dem
bleme von 80 % der Bevölkerung Medien wie Fotografie und Film hätten bei Strukturwissen über Medien aufbauen. Not-
mitverstanden, aber die unend-
diesen Verfahren gar nicht eingesetzt wer- wendig ist das Aufdecken und Überprüfen
lich komplizierten Gesellschaf-
ten von heute müssen dem Ein- den können, wenn sie im Prinzip nicht selbst der Prinzipien, nach denen „Wirklichkeit" in
zelnen in dem W i e und W o m i t nach diesen Verfahren funktionieren wür- allen gesellschaftlichen und kulturellen Be-
ihres Zusammenspiels ein Rät-
den. Was dem Menschen als Gesamt- reichen einschließlich Wissenschaft und
sel sein, ... W i r müssen daher
über alles, was jenseits unseres eindruck oder geschlossenes Ablaufmuster Technik für uns durch die Medien konstru-
sehr kleinen unmittelbaren Be- in seiner Wahrnehmung entgegentritt, wird iert, inszeniert und interpretiert wird.
rufs- und Erfahrungshorizonts
beim Film oder Fernsehen nach den Bedin- Die weltumspannenden Informations-
liegt, unterrichtet werden, wir
erhalten darüber Informationen gungen des jeweiligen technischen Verfah- und Kommunikationsnetze sind eine Folge
. . . " (GEHLEN 1993, S. 135). rens in einzelne Elemente zerlegt und nach und zugleich ein Motor der Globalisierung.
8
Auf der Website www. nachdem technischen Regeln resynthetisiert (ZUR LIP- Tomorrow Never Dies setzt diesen technologi-
film.de findet sich unter dem PE 1983, S. 12). schen Entwicklungsstand als selbstverständ-
Stichwort „Die Rhetorik der
Überwachung" ein Beitrag zur Wissenschaftlern und Produktionsinge- lich voraus und spielt mit den sich daraus er-
„Angst vor Beobachtung in den nieuren wie MAREY und GILBRETH ging es da- gebenden Möglichkeiten: Im Prinzip ist man
zeitgenössischen Medien". Dort bei nicht um die Bewegung des Objekts, son- überall und jederzeit erreichbar, und im Prin-
wird die These vertreten, dass
„jedes soziopolitisch fundierte
dern vor allem um das Objekt „Bewegung". zip entzieht sich nichts der Beobachtung und
Begreifen des Phänomens der Dies verweist auf Strömungen in Malerei Kontrolle. Die Exotik der Konflikte und
Überwachung unbedingt unter- und Literatur zu Beginn des 20. Jahrhun- Schauplätze im Film verdeckt die Tatsache,
suchen muss, mit welch frap-
panter Geschwindigkeit die Rhe-
derts, in denen die Auseinandersetzung mit dass mediale Überwachung und Kontrolle in-
torik besagter Überwachung in Bewegung zum zentralen Thema wird zwischen zu einem alltäglichen Phänomen
so gut wie allen zeitgenössi- (PAECH 1990). 6
geworden ist, als Thema aber von der Me-
schen Medien Ausbreitung fin-
det, angefangen v o m Kino übers
dienpädagogik weitgehend den Datenschüt-
Fernsehen bis hin zum Cyber- „Wir müssen daher 8
zern überlassen wird. Als Beispiel hierfür
7
space ..." Beispielhaft angeführt über alles unterrichtet werden" sei auf die Videoüberwachung verwiesen:
wird dann eine Reihe von Spiel-
filmen von Die Truman Show
Erweitert man den Blick auf die Medien um „Der Gesellschaft sollte bewusst werden,
über Sliver und Spiel auf Zeit bis ihre Funktion für Naturwissenschaft und daß hunderttausend von Videokameras, von
zu Staatsfeind Nr. 1. Technik, dann zeigt sich sofort, wie fragwür- denen jede einzelne noch so gut rechtlich
20 5 T E X T E
6. MEDIEN & POLITIK
und faktisch begründbar ist, eine Struktur zurichten ist usw. Die Profilaufnahme hatte
schaffen, die Gift für Freiheit und Demokra- immer von rechts zu erfolgen, damit Polizei-
tie sein kann. Deshalb muß die Debatte über beamte bei der Suche nach Kriminellen
Videotechnik im öffentlichen Raum sehr ent- wussten, von welcher Seite sie sich den Ver-
schlossen und grundsätzlich geführt wer- dächtigen zu nähern hatten, um Gesicht und 9
„ A m Anfang des Identifikations-
den." (BÄUMLER 1999, in: www.rewi.huberlin. Fotografie vergleichen zu können. verfahrens, dessen derzeitiger
Standard durch die Bertillon-
de/Datenschutz/DSB/SH/material/themen/vi Die „Bertillonage" als standardisiertes sche Methode gegeben ist, steht
deo/video.htm). anthropometrisches Messverfahren wird we- die Personalbestimmung durch
nige Jahre nach ihrer Einführung durch die Unterschrift. In der Geschichte
dieses Verfahrens stellt die Er-
„Verbrecheralben" - Daktyloskopie, d.h. durch die Erkennung mit
findung der Photographie einen
Fotografie und Kriminalistik 11
Hilfe von Fingerabdrücken, abgelöst. Mit Einschnitt dar. Sie bedeutet für
In der „Exposition" des Films Tomorrow Ne- der Tätererkennung durch Fingerabdrücke die Kriminalistik nicht weniger
als die des Buchdrucks für das
uer Dies tauchen auf den Bildschirmen in der war schon länger experimentiert worden,
Schrifttum bedeutet hat. Die
Kommandozentrale des Britischen Geheim- aber erst FRANCIS GALTON führte den Nach- Photographie ermöglicht zum
dienstes Bilder vom „Flohmarkt der Terro- weis, dass sich Individuen durch Fingerab- ersten Mal, für die Dauer und
eindeutig Spuren von einem
risten" auf. Daraufhin erfolgt die Anweisung drücke eindeutig unterscheiden lassen und
Menschen festzuhalten. Die De-
„Laden sie das Identifikationsprogramm". entwickelt eine praktikables Verfahren zur tektivgeschichte entsteht in dem
Kurz nach der Antwort „Datenvergleich Klassifizierung von Fingerabdrücken. Augenblick, da diese einschnei-
dendste aller Eroberungen über
läuft" sind bereits die ersten beiden Ver- „Die kriminalistischen Diskurse waren
das Inkognito des Menschen ge-
dächtigen identifiziert. ebenso wie ihre Parallelerscheinungen in an- sichert war", in: BENJAMIN 1974,
Am Thema „Identifikationsprogramm" deren Wissenschaften semiotischer Art. Sie S.550.
lässt sich zeigen, wie kurzsichtig es medien- sammelten, systematisierten und interpre- 10
W i e stark dieser Aufnahmestil
pädagogisch ist, sich ausschließlich an der tierten Zeichen. Die Suche nach der Wahr- im öffentlichen Bewusstsein Ver-
brechen und Kriminalität ver-
Technik im Sinne von Apparaten und Gerä- heit war dabei stets mühsam, nicht nur für bunden ist, zeigte sich im Janu-
ten zu orientieren. Stellt man sich die Frage, den Polizeiapparat, sondern auch für die Jus- ar 2001 an der allgemeinen Em-
welche Rolle die Entwicklung technischer tiz. Die Diskurse über diese Bemühungen le- pörung über ein Plakat der CDU,
auf dem GERHARD SCHRÖDER im
Medien bei der Identifizierung von Personen sen sich oft genug wie Abhandlungen über Stil der Fahndungsfotografien
spielten, ordnen sich computerbasierte Iden- die schmerzhaft begrenzten Möglichkeiten als Rentenbetrüger „an den
tifizierungsprogramme in einen medienge- der natürlichen Sinne, die der Mensch über Pranger" gestellt wurde. Frau
SCHRÖDER-KÖPF sah hierin einen
schichtlichen und kulturellen Kontext ein, Wissenschaft überwinden sollte" (VEC 2001, Aufruf zur Gewalt gegen ihren
beginnt die Geschichte des Computers vor S.l). Mann. In einem Internetbeitrag
der Erfindung des Computers. Als Anthropologe hatte GALTON ebenfalls zu dieser Aktion findet sich der
medienpädagogisch interessante
In europäischen Großstädten begann mit der Fotografie gearbeitet. Ging es BER- Hinweis, dass bis heute zahlrei-
man schon seit der Mitte des 19. Jahrhun- TILLON bei der standardisierten Aufnahme che Bücher über Gegnerlnnnen
derts die Fotografie als erkennungsdienstli- und Vermessung um die eindeutige Identifi- des NS-Regimes mit diesen Bil-
9 dern illustriert sind (vgl. ROLF
ches Instrument einzusetzen. Es entstan- zierung des kriminellen Individuums, setzte
SACHSSE: Aufruf zur Gewalt.
den die ersten „Verbrecheralben". Aber erst GALTON die Fotografie ein, um den „Typus" 24.01.2001; www.heise.de/tp/deu
ALPHONSE BERTILLON, seit 1882 Leiter des po- herauszuarbeiten. Durch die Ubereinander- tsch/'special /auf/4760/1.html).
lizeilichen Erkennungsdienstes in Paris, ent- schichtung von Porträts sollten sich die in- 1 1
In FRITZ LÄNGS Film M - Eine
Stadt sucht einen Mörder wird
wickelte daraus ein effizientes System zur dividuellen Besonderheiten verwischen und
der Brief des Mörders auf Fin-
Personenidentifizierung. gemeinsame Merkmale eines „Typus" her- gerabdrücke untersucht. Wäh-
Das von BERTILLON entwickelte System vortreten. Das naturwissenschaftliche exak- rend der Polizeipräsident mit
dem Minister telefoniert, wird ei-
basierte auf der statistisch belegten Annah- te Medium der Fotografie wurde hier in den
ne Fingerabdruck-Karte einge-
me, dass sich Menschen in ihren körperli- Dienst einer ausgesprochen irrationalen blendet, auf der Fingerabdrücke
chen Abmessungen eindeutig unterscheiden. Weltanschauung gestellt. Es sollte auf die- mit der Lupe untersucht werden.
Das System bestand zum einen aus zwei Auf- sem Weg nicht nur die Vererbbarkeit von Danach sieht man die Groß-
projektion eines Fingerabdrucks,
nahmen des Verdächtigen, einer Aufnahme kriminellen Anlagen anhand von äußerli- in dessen Linien vermessen wer-
10
von vorn und einer Aufnahme im Profil, chen Merkmalen nachgewiesen werden, son- den. Das Vorbild für die Filmfi-
zum anderen aus anthropometrischen Anga- dern es ging auch um die Konstruktion von gur des Kommissars Lohmann
war der Berliner Kriminalkom-
ben. Um die Vergleichbarkeit und standardi- Rassenunterschieden im Sinne von Höher- missar GENNAT, auf den die Mo-
sierte Auswertung der Aufnahmen sicherzu- bzw. Minderwertigkeit. Nach der Enclyclope- dernisierung der kriminalpolizei-
stellen, konstruierte BERTILLON eine spezielle dia Britannica wurde der Begriff Eugenik lichen Arbeitsmethoden wie die
Einrichtung einer Zentralkartei
Apparatur. Der Inhaftierte wurde auf einen 1884 zum ersten Mal von GALTON benutzt. für Verbrechen in der Weimarer
drehbaren Sessel gesetzt und von einer Spe- Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Republik zurückgingen (vgl. HEI-
zialkamera aus einem festgelegten Abstand Medienpädagogik, wenn sie tatsächlich zu ei- KE KLAPDOR: Fritz Längs Film
„M" und die Kriminalistik der
fotografiert. In detaillierten Anweisungen ner kritischen Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik, unter: www.
wurde festgelegt, auf welche Gesichtspartie Rolle von Medien in unserer Gesellschaft helmut-schmitz.net/pw/weimar/
scharf gestellt wird, wie die Beleuchtung ein- beitragen will, ihr Blickfeld erweitern muss. weimarJexte/m/mjreal. html).
T E X T E 5 21
7. MEDIEN & POLITIK
„Die Spur des Täters handelt es sich um eine Spielart des „Cyber-
löste sich in Arithmetik auf" wars". Unter Cyberwar versteht man dabei
Bertillonage oder Daktyloskopie als krimina- elektronische Attacken auf Computernetze
listische Methode fanden ihre administrati- und computergesteuerte Infrastruktur des
ve Ergänzung in der Registratur. „Die Fin- Gegners. Neu an dieser elektronischen
gerabdruckkarte wurde klassifiziert, um sie Kriegsführung ist vor allem, dass jeder zur
in daktyloskopische Registraturen einord- kriegsführenden Partei werden kann: ;
nen zu können. Man untersuchte Bögen, staatliche Stellen ebenso wie Privatpersonen.
Schlingen, Wirbel und zusammengesetzte Die ,Waffen' gibt es in Kaufhäusern und bei
Muster und sortierte nach ihnen. Schließ- Telefongesellschaften: ein Rechner, ein Mo-
lich bekam die einzelne Karte ihren Ort in dem, ein Telefonanschluss. Das nötige Werk-
der groß angelegten daktyloskopischen Kar- zeug zum Eindringen in Computer sowie Vi-
ten-Registratur arithmetisch zugewiesen. renbausätze sind im Internet zu finden"
Grundlage war also die Verformelung des (PLUTA 2002).
Fingerabdrucks: Die Spur des Täters löste Die Frage der Sicherheit von Informati-
sich in Arithmetik auf" (VEC 2001, S.92). ons- und Kommunikationstechnologien be-
Erst wenn das „anthropometrische Si- rührt aber auch jeden Einzelnen. Vom De-
gnalement" oder die Klassifizierung eines mokratieverständnis unserer Gesellschaft
Fingerabdrucks in exakte Ziffern umgesetzt her ist IT-Sicherheit als Voraussetzung für
und in einer Registratur - heute würde man das Recht auf informationelle Selbstbestim-
von einer Datenbank sprechen - eingeord- mung ein unverzichtbares Ziel. Globale Da-
net waren, konnte man Signalements und tennetze sind von nationalstaatlichen In-
Die Spur des Täters Fingerabdrücke systematisch vergleichen. stanzen nicht mehr zu kontrollieren. Die
Diese Daten boten aber auch eine Basis für Struktur des Internets macht es daher not-
die internationale Zusammenarbeit der Poli- wendig - stärker als bei den traditionellen
zei in einer Zeit, in der es nur den Telegra- Medien - auf den Selbstschutz der Nutze-
fen als schnelles Kommunikationsmittel gab. rinnen und Nutzer zu setzen.
Mit dem Einsatz biometrischer Metho- Die Vermittlung von Sicherheitsbewusst-
den ist die kriminalistische Personenerken- sein und Sicherheitskompetenz im Umgang
nung in eine neue Phase eingetreten. Bio- mit den Informations- und Kommunikations-
metrische Daten sind fälschungssicher, doch technologien wird damit zu einem wesentli-
verschiebt sich das Sicherheitsproblem da- chen Bestandteil von Medienkompetenz. Das
mit lediglich auf die Ebene der Computersi- bisherige medienpädagogische Aufgabenfeld
cherheit. Biometrische Daten - gleichgültig, „Auswählen und Nutzen von Medienangebo-
ob es sich um Fingerabdrücke oder Iriser- ten" erfährt dadurch eine wesentliche Er-
12
kennung handelt, werden codiert. Falls weiterung, denn Sicherheitsbewusstsein
Kriminelle eine Möglichkeit finden, einen setzt Technikkompetenz voraus. Diese Tech-
Fingerabdruck- oder Iriscode abzufangen, et- nikkompetenz muss sowohl ein informati-
wa bei einer Übermittlung im Internet, so onstechnisches Grundverständnis von Auf-
wäre dies problematischer als der Diebstahl bau und Funktionsweise der Informations-
einer Codekarte oder eines PIN-Codes. In und Kommunikationstechnologien umfassen
diesem Fall müsste der Benutzer einfach als auch die Fähigkeit sich der Datenschutz-
den PIN-Code ändern. Beim Iriscode ist dies techniken zu bedienen (WAGNER 2001).
nicht so einfach, denn wie soll er sich eine Wenn sich das Internet als ein „grenzen-
neue Iris beschaffen? Ist der Code einmal ge- loser und körperloser Sozialraum" (vgl.
stohlen, so ist er für immer verloren und die ROSSNAGEL 1998, S. 63-66) beschreiben
Anwendung dieses biometrischen Merkmals lässt, dann ist dies nur eine Fortschreibung
bietet keinerlei Sicherheit mehr. der Einsicht, dass alle technischen Medien -
vom Buch bis zum Internet - die unmittel-
„Das Postgeheimnis ist bare Einheit von Raum, Zeit und Gesprächs-
ohne Chiffrierung nicht leicht zu wahren" partner in einer jeweils spezifischen Art und
Die Sicherheitsprobleme der Informations- Weise aufheben. Mit jedem neuen Medium
und Kommunikationstechnologien werden stellen sich damit neue Anforderungen an
auch in Tomorrow Never Dies angesprochen das Kommunikationsverhalten. Ein Blick in
12
Unter den zahlreichen Veröf- bzw. bilden sogar den dramatischen Aus- Meyers Konversationslexikon von 1875 liefert
fentlichungen von ALPHONSE
gangspunkt der Handlung. Bei der Störung einerseits einen Hinweis auf Kontinuität die-
BERTILLON findet sich auch eine
aus dem Jahre 1885 zu La cou- des GPS-Systems der britischen Fregatte mit ser Problemstellung, macht andererseits
leur de l'Iris. Hilfe des gestohlenen Chiffriercomputers aber deutlich, wie abhängig die Diskussion
22 5 TEXTE
8. MEDIEN & POLITIK
dieser Frage von den gesellschaftlichen und affirmative Gleichsetzung der technischen
politischen Rahmenbedingungen ist: Entwicklung mit Fortschritt hinaus. Diese
„In neuerer Zeit hat die Chiffrierung ein Entwicklung wirft ebenso medienkritische
ausgedehntes Feld der Anwendung bei Tele- Fragen auf wie die Beschäftigung mit den
grammen und Postkarten gewonnen, da bei Massenmedien. Weiter oben wurde bereits
diesen, welche offen durch viele Hände ge- die Fotografie als Medium rassistischer
hen, ehe sie zum Empfänger gelangen, das Ideologien angesprochen.
Geheimnis, ohne Chiffrierung, nicht leicht Auf den ersten Blick weniger brisant,
zu wahren ist. Die Chiffrierung von Tele- aber medienpädagogisch interessant ist die
grammen ist jetzt gestattet" (ebd., S.408). Entwicklung der psychiatrischen Fotografie,
die zeitlich mit der Entwicklung der Ge-
Ultraschallaufnahme als Startpunkt richtsfotografie und der Kriminalanthropo-
der fotografischen Biografie logie zusammenfällt oder durch sie beein-
Eingangs wurde bereits erwähnt, dass „Or- flusst wird. Die „Verwissenschaftlichung"
tungstechniken" wie Radar eine wichtige von Polizeiarbeit und Psychiatrie sind nur
Rolle für den äußeren Ablauf der Filmhand- zwei Momente einer in der zweiten Hälfte
lung spielen. Zu diesen Ortungstechniken des 19. Jahrhunderts zu beobachtenden Ten-
zählt auch Ultraschall. Die Ultraschall-Echo- denz, die naturwissenschaftliche Exaktheit Ultraschallaufnahme eines
Embryos
lotung bzw. Sonartechnik wurde im Zweiten auf gesellschaftliche und soziale Fragestel-
Weltkrieg von den angelsächsischen Alliier- lungen zu übertragen. Im Folgenden geht es
ten zur Unterwasserortung der deutschen U- um die „Erfindung der Hysterie mit Hilfe
Boote entwickelt. der Fotografie".
In der Medizin wird diese Methode zur Der Neurologe CHARCOT richtete in den
Untersuchung von Körperhöhlen eingesetzt 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Sal-
und 1979 in der Bundesrepublik als diagnos- petriere, einem Hospital für psychisch Kran-
tische Routinemaßnahme während der ke, einen fotografischen Dienst ein. Ihm
Schwangerschaft eingeführt. Ein medien- ging es um objektive Beweise anstelle der bis
pädagogisches Thema ist die Ultraschall-Un- dahin gängigen, nicht überprüfbaren meta-
tersuchungen aber bis heute nicht, obwohl physischen Annahmen über psychische
inzwischen in vielen Fotoalben die Ultra- Krankheiten.
schallaufnahme von Kindern im Fötenstadi- FREUD war 1886 in Paris dabei, als CHAR-
um zu finden sind. Die Ultraschallaufnahme COT mit Hilfe der „Instantan- und Serien-
als Startpunkt der fotografischen Biografie photographie" die vier Phasen des „großen
ist nur ein Indiz dafür, dass sich durch diese hysterischen Anfalls" dokumentierte, die
Technik das Erlebnis der Schwangerschaft, vor der fotografischen Speicherung noch
die Einstellungen zum Embryo und zum niemals in dieser Deutlichkeit beobachtet
werdenden Leben qualitativ verändert ha- worden waren, „erst ihre photographische
13
ben. Man denke nur an die Selektion uner- Vergegenständlichung hat die hysterischen
wünschter weiblicher Föten in einigen Ge- Symptome im buchstäblichen wie im über-
genden dieser Welt, an den Umgang mit Ri- tragenen Sinn reproduzierbar, klassifizier-
sikoschwangerschaften und die Diskussion bar und hierarchisierbar gemacht" (HENKE
über den Schwangerschaftsabbruch (DUDEN u.a. 1997, S.371).
1991, S.88f.). Aus heutiger Sicht ergibt sich dagegen,
Wenn Medienpädagogik kritisches Be- dass diese fotografischen Bilder nicht die
wusstsein dafür schaffen will, wie Medien Wirklichkeit an sich wiedergeben, sondern Albert Londe (1858-1917), Foto-
unser „Weltbild" prägen und unsere Wahr- „Krankheits-Bilder", wie sie im Rahmen kul- graf der Salpetriere, Aufnahme
einer Hysteriekranken
nehmung von Wirklichkeit beeinflussen, wä- tureller Verhaltensmuster in der sozialen In-
re es wichtig, diesen hier nur angerissenen teraktion zwischen Patientinnen und Ärzten
Fragen nachzugehen. Dies wäre bestimmt produziert wurden. Die damals festgehalte-
ebenso wichtig wie die Beschäftigung mit nen Krankheitsphänomene verschwanden
dem Einfluss von Werbung oder Soap Ope- mit dem kulturellen Kontext, in dem ihre 13
„Ein ganz anderer Zugang zur
ras. Präsentation einen Sinn ergab (DIDI-HUBER- Bewertung der Technik und ih-
rer Geschichte fragt nicht da-
MANN 1997, S. 8).
nach, was Technik tut, sondern
Erfindung der Hysterie Dieser kulturelle Kontext verweist wie- nach dem, was eine neue Tech-
mit Hilfe der Fotografie derum auf die Medien, nämlich auf „ 150 Jah- nik sagt, welche Vorstellungsfor-
men, Wahrnehmungsstile und
Die Beschäftigung mit dem Einfluss der Me- re Romankultur und weibliche Lektürege-
Befindlichkeiten sie durch ihre
dientechnik auf unser naturwissenschaft- wohnheiten", die zur Organisation dieses Existenz und Anwendung ver-
lich-technisches Weltbild läuft nicht auf eine Krankheits-Bilds beigetragen haben: „Durch mittelt" (DUDEN 1991, S. 91).
T E X T E 5 23
9. MEDIEN & POLITIK
das Medium der Arzt-Patienten-Beziehung bereiche ergreift. Der Film als Kunst der
zirkuliert die pathologische Semiotik der Montage, mit Raum- und Zeitsprüngen, mit
Dichter, Theologen, Philosophen und Medizi- der Auflösung der Zentralperspektive und
ner. Denn eines steht fest: Die Poesie der der Darstellung von Bewegung wird als Me-
hysterischen Zeichen und Zeichenkombina- dium der Großstadt erlebt.
tion, die Rhetorik der besessenen Leiber, die
Ornamente des Begehrens, die Choreogra- „Blickbildende und blicknormierende
phie der unterdrückten Wünsche - sie ent- Funktion" von Weltbildern und Techniken
stammen der Literatur und Ikonographie Wie die „Erfindung der Hysterie" mit Hilfe
14
des Abendlandes" (SCHNEIDER 1985, S.883). der Fotografie zeigt, heben technische Medi-
en nicht die soziale und kulturelle Steuerung
„Nervosität" und Hektik der Großstadt der Wahrnehmung auf. Dies zeigt sich schon
Da die Hysterie und Nervosität von den Zeit- an der Auseinandersetzung über GALILEIS
genossen miteinander in Verbindung ge- Entdeckungen, die den Beginn der Neuzeit
bracht wurden, ergeben sich noch weitere markieren.
Bezüge zur medientechnischen Entwick- 1610 veröffentlichte GALILEI seine Schrift
lung. Mit dem Anwachsen der Großstädte Die Sternenbotschaft, in der er die Ent-
taucht in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- deckung der Jupitermonde beschrieb, die
hunderts ein neues Krankheitsbild auf, das dem damaligen aristotelischen Weltbild wi-
Georges Didi-Huberman: mit den Begriffen „Nervosität" bzw. „Neu- dersprachen. Die Beobachtungen hatte er
Erfindung der Hysterie rasthenie" umschrieben wird. Man spricht mit Hilfe eines Fernrohrs durchgeführt. Mit
von einem „nervösen Zeitalter" und der „be- diesem methodischen Vorgehen stellte er die
ginnenden ,Entnerverung' ganzer Völker- bis dahin geltenden Vorstellungen über Er-
schaften" (ERB 1893, S. 12). Neben der Hek- kenntnisgewinnung grundsätzlich in Frage.
tik der Großstadt ist aus Sicht zeitgenössi- GALILEIS Widersacher werden im geschicht-
scher Kritiker die „Nervosität" ursächlich lichen Rückblick zumeist schlicht als Igno-
auf die rasante Entwicklung der Kommuni- ranten abgestempelt, die vergeblich versuch-
kationsmittel - also der Verkehrsmittel und ten den wissenschaftlichen Fortschritt auf-
der Medien - zurückzuführen: zuhalten. Erhellender wäre es an diesem im
„Durch den ins Ungemessene gesteiger- wahrsten Sinne des Wortes epochemachen-
ten Verkehr, durch die weltumspannenden den Wissenschaftsstreit zu untersuchen, wie
Drahtnetze des Telegraphen und Telephons Annahmen und Weltbilder die Wahrneh-
haben sich die Verhältnisse in Handel und mung beeinflussen. GALILEIS Widersacher
Wandel total verändert: alles geht in Hast konnten die neuen Sterne nicht wahrneh-
und Aufregung vor sich, die Nacht wird zum men, weil sie aus Gründen der kosmischen
Reisen, der Tag für die Geschäfte benützt, Harmonie an der Zahl von sieben Planeten
selbst die Erholungsreisen' werden zu Stra- festhalten mussten.
pazen für das Nervensystem [...] die moder- Auf vergleichbare Phänomene stieß der
ne Literatur beschäftigt sich vorwiegend mit polnische Arzt und Bakteriologe LUDWIK
den bedenklichsten Problemen, die alle Lei- FLECK in der neuzeitlichen Medizin. Wie er
denschaften aufwühlen, die Sinnlichkeit und an historischen Fallstudien zeigte, ergeben
14
Die Beschäftigung mit d e m Phä- Genußsucht, die Verachtung aller ethischen sich z.B. bakteriologische Untersuchungsbe-
n o m e n der Hysterie findet um Grundsätze und aller Ideale fördern; sie funde nicht automatisch beim Blick durch
die Jahrhundertwende ihren
Niederschlag in den Medien. Zu
bringt pathologische Gestalten, psychopa- das Mikroskop. Um im Abstrich unter dem
denken wäre hier einerseits an thisch-sexuelle, revolutionäre und andere Mikroskop den keulenförmigen Bazillus der
den hysterisch überspannten Probleme vor den Geist des Lesers; unser Diphtérie zu erkennen, ist Vorwissen nötig,
Frauenkörper als Ornament des
Jugendstils oder an die Frauen-
Ohr wird von einer in großen Dosen verab- zu dem auch ein Krankheitsbegriff zählt, in
figuren in den Stücken von reichten, aufdringlichen und lärmenden Mu- dem Infektion eine Rolle spielt. Wissen-
FRANK WEDEKIND und HUGO VON sik erregt und überreizt, die Theater neh- schaftler einer Fachdisziplin gehören nach
HOFMANNSTHAL.
15
men alle Sinne mit ihren aufregenden Dar- FLECK einem „Denkkollektiv" an. Dieses
„Definieren wir ,Denkkollektiv'
als Gemeinschaft der Menschen,
stellungen gefangen ..." ( ebd., S.20). Denkkollektiv schafft die gemeinsame
die im Gedankenaustausch oder Das Ineinandergreifen von Großstadt- Grundlage, auf der forschende und lehrende
in gedanklicher Wechselwirkung Wissenschaft ausgeübt wird. Diese gemein-
und Medienkritik ist nicht verwunderlich,
stehen, so besitzen wir in ihm
den Träger / geschichtlicher weil die Beschleunigung des allgemeinen Le- samen Grundlagen - vor allem auch die dar-
Entwicklung eines Denkgebie- bensrhythmus an den Medien am deutlichs- in implizit enthaltenen Annahmen - be-
tes, eines bestimmten Wissens- zeichnet FLECK als „Denkstil" An anderer
ten hervortritt. Die Medien fungieren sozusa-
bestandes und Kulturstandes, al- 15
so eines besonderen Denkstiles", gen als Taktgeber und Schrittmacher dieses Stelle definiert FLECK „Denkstil" „als ge-
in: FLECK 1 9 8 0 , S. 54ff. Beschleunigungsprozesses, der alle Lebens- richtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem
24 5 TEXTE
10. gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des FREUD, SIGMUND (1975): Notiz über den Wunderblock
Wahrgenommenen" (FLECK 1980, S. 130). (1925). In: ders.: Studienausgabe, Bd. III. Psychologie
des Unbewußten. Hrsg. v. ALEXANDER MITSCHERLICH /
Während FLECK zeigt, dass ein modernes ANGELA RICHARDS / JAMES STRACHEY. Frankfurt a.M.
technisches Instrument wie das Mikroskop GEHLEN, ARNOLD (1986): Anthropologische und sozialpsy-
die soziale Dimension der Wahrnehmung chologische Untersuchungen. Reinbek
nicht außer Kraft setzt, lässt sich ebenfalls GlEDlON, SIGFRIED (1982): Die Herrschaft der Mechanisie-
rung. Frankfurt a.M.
am Beispiel der Medizingeschichte die
HASSENPFLUG, WOLFGANG (1996): Satellitenbilder im Erd-
„blickbildende" und „blicknormierende" kundeunterricht. In: Geographie Heute, 1996, Heft 137
Funktion von Drucktechniken wie Kupfer- HEINTZ, BETTINA (1993): Die Herrschaft der Regel. Zur
und Holzstich nachweisen. Aus der Ge- Grundlagengeschichte des Computers. Frankfurt a.M./
New York
schichte der Anatomie kann man lernen,
HENKE, SIVIA / MARTIN STINGELIN / HUBERT THÜRING
dass sich das Körperinnere dem Blick nicht (1997): Hysterie - Theater der Epoche. Nachwort. In: DI-
so klar strukturiert darstellt, wie es unseren DI-HUBERMANN 1997, a.a.O., S. 3 5 9 - 3 8 3
durch Abbildungen in Biologiebüchern und KEMP, WOLFGANG (1980): Theorie der Fotografie 1839 -
Lexika normierte Vorstellungen erscheinen 1912, Bd. 1. München
KEMPF, WOLFGANG (1989): Die Revolutionierung der Medien:
mag: Anatomische Zeichnung von
Panorama, Diorama, Fotografie. In: DIFF (Hrsg.): Funk-
„Erst die Druckgraphik ermöglichte na- kolleg Moderne Kunst. Studienbegleitbrief 1. Wein- Leonardo da Vinci
turwissenschaftliche Beschreibung, die Kri- heim/Basel, S. 9 5 - 1 2 7
KLOOCK, DANIELA (1995): Von der Schrift- zur Bild(schirm)
tik solcher Mitteilung und die schrittweise
kultur. Berlin
Annäherung der Darstellung an das Objekt. LIPPE, RUDOLF ZUR (1983): Der Körper - erstes Werkzeug der
Der Druck von Zeichnung auf dafür behan- Kulturen. Katalog zur Ausstellung des Instituts für
deltes Holzblöcken, Kupferplatten oder Stei- praktische Anthropologie. Oldenburg
nen ist nicht nur eine optische, sondern MAREY, ETIENNE JULES (1878): La méthode graphique dans
les sciences expérimentales et particulièrement en physio-
auch eine blickbildende Technik" (DUDEN logie et en médecine. Paris
1991, S. 46). PAECH, JOACHIM (1990): Bilder von Bewegung - bewegte Bil-
Die „blickbildende und blicknormierende der. In: DIFF (Hrsg.): Funkkolleg Moderne Kunst. Studi-
enbegleitbrief 5. Weinheim/Basel, S. 11-54
Funktion" durchzieht also alle kulturellen
PLUTA, WERNER (2002): Krieg ohne Schauplatz. In: bild der
Segmente, lässt sich in der Anatomie eben- Wissenschaft, 2002, Heft 3, S . 9 - 9 5
so nachweisen wie in der Landschafts- und ROSSNAGEL, ALEXANDER (1998): Sozialraum Internet. In:
Naturwahrnehmung oder Politik - und Spektrum der Wissenschaft, 1998, Dossier 1: Die Welt
im Internet, S. 6 3 - 6 6
müsste damit auch in allen diesen Bereichen
SCHNEIDER, MANFRED (1985): Hysterie als Gesamtkunstwerk.
zum Gegenstand kritischer medienpädagogi- Aufstieg und Verfall einer Semiotik der Weiblichkeit.
scher Auseinandersetzung und Aufklärung In: Merkur, 39. Jg., 1985, S. 8 7 9 - 8 9 5
werden: „Es gibt kein anderes Sehen als das STARL, TIMM (1991): Im Prisma des Fortschritts. Zur Foto-
Sinn-Sehen und keine anderen Abbilder als grafie des 19. Jahrhunderts. Marburg
VEC, MILOS (2001): Die Spur des Täters. Bertillonage, Dak-
die Sinn-Bilder" (FLECK 1980, S. 186f.).
tyloskopie und Jodogramm: Fortschritte und Verspre-
chen der naturwissenschaftlichen Kriminalistik um
Literatur 1900. In: Juridikum 2001, Heft 2, S. 8 9 - 9 4
BENJAMIN, WALTER (1974): Das Paris des Second Empire bei VIRILIO, PAUL (1989): Die Sehmaschine. Berlin
Baudelaire. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, 2. 1. WAGNER, WOLF-RÜDIGER (1995): Gegen das „Postman-Syn-
Aufl., Frankfurt a.M. drom"! Keine Medienpädagogik ohne den kompetenten
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ner technischen Reproduzierbarkeit. In: ders.: Illuminati- praktisch, 1995, Heft 4 , S . 4 - 1 0
onen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt a.M., S. 1 3 6 - WAGNER, WOLF-RÜDIGER (1996): Ein umfassendes Medien-
169 verständnis. Voraussetzungen für die Integration von
BERGK, JOHANN ADAM (1799): Die Kunst, Bücher zu lesen. Medienerziehung und Informationstechnischer Bil-
Jena dung. In: Log in, 1996, Heft 3, S. 10-14
BOECKMANN, KLAUS (1994): Unser Weltbild aus Zeichen. Zur WAGNER, WOLF-RÜDIGER (1999): Kulturtechnik Multimedia.
Theorie der Kommunikationsmedien. W i e n Die Technikignoranz der Medienpädagogik. In: medien
BROCKHAUS ENZYKLOPÄDIE (1992), Bd. 18., 19. völlig neube- praktisch, 1999, Heft 4, S. 14-19
arb. Aufl. Mannheim Wagner, Wolf-Rüdiger (2001): Datenschutz - Selbstschutz -
BUSCH, BERND (1989): Belichtete Welt. Eine Wahrneh- Medienkompetenz. W i e viel informationstechnisches
mungsgeschichte der Fotografie. M ü n c h e n / W i e n Grundbildung braucht der kompetente Mediennutzer?
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DIDI-HUBERMANN, GEORGES (1997): Erfindung der Hysterie.
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DUDEN, BARBARA (1991): Der Frauenleib als öffentlicher Ort:
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vom Missbrauch des Begriffs Leben. Hamburg/Zürich
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ERB, WILHELM (1893): lieber die wachsende Nervosität un-
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FLECK, LUDWIG (1980): Entstehung und Entwicklung einer
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vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a.M.
T E X T E 5 25