2. Intro und Beispiel
Gerechtigkeit ist immer auch eine Frage der Ansicht.
Unterschiedliche Sichtweisen führen zu
unterschiedlichen Beurteilungen. Ein kleines Beispiel
soll das verdeutlichen.
Beispiel: Einkommensteuer
2 Männer, beide gleich alt und ledig, beide schuldenfrei
und gesund. Der eine ist Hilfsarbeiter mit einem
Monatsgehalt von 2000 € Brutto, der Andere ein
Studierter mit 5000 € Brutto. Beide sind fest
angestellt. Beide wohnen in der selben Gegend und
führen einen vergleichbaren Lebenswandel.
Vater Staat braucht von beiden zusammen 3000 €
Steuereinnahmen monatlich. Wie können diese gerecht
auf beide verteilt werden?
Folie 2
3. Vorschlag 1: gleiche Bedürfnisse
Der Hilfsarbeiter könnte denken: „Der Studierte und ich sind in
vergleichbaren Lebensumständen, wir haben also auch
vergleichbare Bedürfnisse. Um diese vergleichbar befriedigen zu
können, wäre es doch nur gerecht, wenn wir beide netto das
gleiche Geld zur Verfügung hätten.“
Dies führt zu folgender Rechnung:
Gesamt-Einkommen beider: 7000 €
Bedarf Vater Staat: 3000 €
Verbleibt netto für Beide: 4000 €
Geteilt durch 2: 2000 €
Das heisst auf deutsch: der Studierte bezahlt alle Steuern, der
Hilfsarbeiter zahlt gar nichts, so dass beide gleichviel Netto
haben. Die Abgabenlast ist allerdings etwas einseitig verteilt.
Gerecht???
Folie 3
4. Vorschlag 2: Gleiche Belastung
Der Studierte könnte denken: „Wir haben beide die gleichen
Leistungen von Vater Staat zu erwarten. Wir fahren auf den
gleichen kaputten Strassen, unsere Polizei ist nur da, wenn man
sie nicht braucht, unser beider Renten sind fraglich (je nach
Alter ☺). Für diese gleichen Leistungen sollten wir also auch
gleich viel aufbringen. Beim Bäcker zahle ich auch nicht mehr für
ein Brot als der Hilfsarbeiter.“
Dies führt zu folgender Rechnung:
Bedarf Vater Staat: 3000 €
Geteilt durch 2: 1500 €
Verbleibt für den Hilfsarbeiter: 500 €
Verbleibt für den Studierten: 3500 €
Das heisst auf deutsch: beide bezahlen die gleiche Summe an
Steuern, da sie auch die gleichen Leistungen erhalten. Was dem
Einzelnen übrigbleibt, ist allerdings etwas unterschiedlich.
Gerecht???
Folie 4
5. Vorschlag 3: gleiche Verhältnisse
Ein neutraler Beobachter an der Theke kriegt die Diskussion mit
und sagt: „Trefft Euch in der Mitte: Jeder sollte nach seinen
Möglichkeiten seinen Beitrag zum Allgemeinwohl tragen. Wer
mehr kann, soll auch mehr:“
Dies führt zu folgender Rechnung:
Gesamt-Einkommen beider: 7000 €
Bedarf Vater Staat: 3000 €
Es bleibt dem Hilfsarbeiter: 1143 €
Es bleibt dem Studierten: 2857 €
Nun könnte man meinen, alle wären zufrieden. Gleiche anteilige
Belastung ist irgendwo in der Mitte zwischen zwei Extremen.
Dennoch hat der Studierte sehr viel mehr zur Verfügung als der
Hilfsarbeiter, trotz gleicher Bedürfnisse. Aber der Studierte
zahlt auch mehr, trotz gleicher Leistungen, die er erhält.
Gerecht???
Folie 5
6. Die Realität im deutschen Steuerrecht
Das deutsche Steuerrecht ist eine Kombination aus den
Vorschlägen 1 und 3, mit Verschiebung zugunsten Vorschlag 1.
Aus Vorschlag 1 wird übernommen, dass unter gleichen
Lebensumständen (in Wirklichkeit sogar unabhängig von den
Lebensumständen) auch gleiche Bedürfnisse herrschen. Hieraus
resultiert der Steuerfreibetrag, der für alle gleich ist und
sicherstellt, dass bei entsprechendem Brutto-Einkommen ein
gewisses Mindest-Netto übrigbleibt.
Aus Vorschlag 3 wird übernommen, dass jeder entsprechend
seinen Möglichkeiten einen Beitrag für die Allgemeinheit leistet.
Hieraus resultiert die Einkommensteuer. Allerdings wird nicht
davon ausgegangen, dass vom verbleibenden („zu versteuernden“)
Einkommen prozentual gleich abgezogen wird. Hier schlägt wieder
Vorschlag 1 zu: je höher das Einkommen, desto höher der
prozentuale Anteil der Steuerlast, also eine Bewegung in Richtung
dahin, dass beiden netto vergleichbares Geld verbleibt.
Gerecht???
Folie 6