Digitale Medien und ihre Dynamik –
Nutzungsweisen, Kompetenzen und Herausforderungen des Internet
Jan-Hinrik Schmidt
@janschmidt
Wissenschaftlicher Referent
für digitale interaktive Medien
und politische Kommunikation
St. Wendel 11.10.2012
Was wäre, wenn es kein Internet gäbe?
[Zitate aus Gruppendiskussionen mit Jugendlichen in Hamburg und im Emsland]
• „Ich glaube, man würde damit klar kommen. Aber wenn man wüsste, dass es
das mal gab und dann abgeschafft wird, ich glaub, dann würde ich
durchdrehen.
[- Warum? -] Ich müsste dann auf Youtube-Videos und so verzichten, und die
sind schon witzig. Oder Chat und so.“ *Mädchen, 14 Jahre]
• „Bei mir ist es, ich nutze halt das Internet einerseits sehr viel zur
Kommunikation – Messenger läuft bei mir fast 24 Stunden am
Tag, SchülerVZ ist natürlich auch hoch frequentiert. Aber zum Zweiten nutze
ich das auch sehr viel, um mir halt Informationen zu beschaffen, die ich
brauche.“ *Junge, 17 Jahre]
• „Es geht auch ohne Internet, man kann ja auch was machen, was man nicht
im Internet macht. Man kann zum Beispiel Playstation spielen, oder
Nintendo DS, es gibt alles mögliche. Man muss nicht immer in Internet
rennen, sonst is man n Internet-Freak.“ (Mädchen, 13 Jahre)
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Worüber spreche ich?
Das Internet: Verbreitung, Praktiken und Öffentlichkeiten….
… und daraus resultierende (Heraus-)Forderungen
Entgrenzung der Publika und Privatsphäre
Partizipation und Teilhabe
Macht und Machtlosigkeit
Ausblick: Internet als Lern- und Lebenswelt
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Medien und Kommunikationsmodi (ganz grob)
Reichweite
Internet Massen-
kommunikation
(Publizieren)
Versammlungen/
Gruppen- Special Interest /
kommunikation Fachforen
Interpersonale Kommunikation (Konversation)
Distanz/technische
Kopräsenz St. Wendel 5 von 17
Vermittlung
Verbreitung ausgewählter Anwendungen nach Alter
120
Ges.
14-19
100 96
90 88 20-29
87 85
30- 39
80 78 76 75
72 74 40- 49
50- 59
59 61
60 56 54 60+
49
45
39
40
29
24
20 16
11 8
4 5 4 3 2
0
0
Wikipedia Videoportale SNS gesamt Twitter
Erläuterung: Repräsentativ für deutsche Online-Nutzer ab 14 Jahren; Anteil der Befragten, die Angebote zumindest selten nutzen.
Quelle: ARD/ZDF-Onlinestudie 2012; zitiert nach Busemann/Gscheidle 2012, S.381. St. Wendel 6 von 17
Soziale Medien und ihre Praktiken(*)
Identitäts- Selbst- „Wer bin ich?“
management auseinander-
setzung
Beziehungs- Sozial- „Welchen Platz
management auseinander- habe ich in der
setzung Gesellschaft?“
Informations- Sach- „Wie orientiere ich
management auseinander- mich in der Welt?“
setzung
(*) Paus-Hasebrink/Schmidt/Hasebrink 2009; Schmidt 2011 St. Wendel 7 von 17
Ist das Internet real?
Die sozialen Medien sind kein „virtueller Raum“ oder „Cyberspace“, sondern
– gerade für Jugendliche – selbstverständlicher Teil des Alltags, in dem sie
kommunizieren, sich unterhalten (lassen), lernen und arbeiten
Sie sind auch und gerade deswegen so „real“, weil es dabei
hilft, Anforderungen unserer Gegenwart zu erfüllen:
„vernetzte Individualität“ als Leitbild in mobilen Gesellschaften
Informationsüberfluss als Kontext St. Wendel 8 von 17
Persönliche Öffentlichkeiten (1/2)
Soziale Medien lassen persönliche Öffentlichkeiten entstehen, in denen Nutzer
(a) Informationen nach Kriterien der persönlichen Relevanz auswählen,
[anstatt nach journalistischen Nachrichtenfaktoren]
(b) sich an (intendiertes) Publikum richten, das aus sozialen Kontakten besteht,
[anstatt des verstreuten, unbekannten, unverbundenen Publikums der Massenmedien]
(c) und sich im Kommunikationsmodus des „Konversation Betreibens“ befinden.
*anstatt im Modus des „Publizierens“+
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Persönliche Öffentlichkeiten (2/2)
Trennung zwischen „Sender“- und
„Empfänger“-Rollen der Massenkommu-
nikation löst sich weiter auf; in persön-
licher Öffentlichkeit ist man beides
Persönliche Öffentlichkeiten bestehen
aus „Microcontent“, der aus anderen
Angeboten gelöst („entbündelt“) und
durch soziale Beziehungen gefiltert wird
„Re-Bündelung“ findet nicht in
abgeschlossenen / linearen Produkten
(„Ausgabe“; „Sendung“) statt, sondern
im konstanten Informationsfluss der
„streams“ bzw. „feeds“
Professionell-journalistische Inhalte oder
kommerzielle Botschaften sind genauso
Teil dieser vernetzten Öffentlichkeiten
wie das Persönliche und Private
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(Heraus-)Forderungen an (Medien-)Bildung
Gesellschaftliche Verantwortung bleibt
bestehen, Jugendliche (aber nicht nur
die…) zu einem verantwortungsvollen
und reflektierten Umgang mit der
„Universaltechnologie“ Internet zu
befähigen, z.B. um …
1. … grundlegende Kompetenzen für
den Umgang in vernetzten
Öffentlichkeiten zu lernen;
2. … informationelle Selbstbestimmung
ausüben zu können;
3. … Werkzeuge des Internet nutzen zu
können, um an gesellschaftlichen
Debatten teilzuhaben und sich für
die eigenen Belange und Rechte im
Internet einsetzen zu können
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#1: Neue/Alte Medienkompetenzen
Digitale Medien schaffen Kommunikationsräume, die bestehende Grenzen
zwischen Angeboten, Gattungen und Modi von (massen-)medialer
Kommunikation verschwimmen lassen
Sie erfordern daher eigene Medienkompetenzen, z.B. …
… sich in vernetzten … strategische Kommunikation … situationsgerecht
Öffentlichkeiten erkennen und einordnen, z.B. kommunizieren, d.h.
orientieren, relevante kommerzielle Markenbotschaften Argumente
Informationen filtern und aktiv oder „Fakes“/Fiktives von artikulieren, bewerten und
Informationen und Inhalte Authentischem unterscheiden abwägen sowie Reichweite
bereitstellen sowie bearbeiten können und Folgen abschätzen
können können
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#2: Prekäre informationelle Selbstbestimmung
Merkmale der Kommunikationsarchitektur(*) erschweren inf. Selbstbestimmung
Persistenz Kopierbarkeit Skalierbarkeit Durchsuchbarkeit
Intendiertes Publikum Faktisches Publikum
Adressiertes Publikum Potentielles Publikum
Privacy Paradox: Auch Jugendliche messen Privatsphäre einen hohen Wert bei –
agieren aber in Kommunikationsumgebungen, die die Grenzziehung zwischen
„Privat“ und „Öffentlich“ erschweren
(*) boyd 2008, Schmidt 2012c St. Wendel 13 von 17
#2: Prekäre informationelle Selbstbestimmung (2/2)
„Informationelle Selbstbestimmung“ ist…
1. … normatives Konzept: Bestandteil der verfassungs-
Sollen mäßigen Ordnung (und in Datenschutzregelungen
etc. näher spezifiziert); liegt zudem als zumindest
diffuse Erwartung bei vielen Nutzern vor;
2. … ausgeübte Praxis: Nutzer üben sie (mehr oder
weniger kompetent, reflektiert, evtl. auch
Tun scheiternd) aus, wenn sie sich in den vernetzten
persönlichen Öffentlichkeiten des Social Web
bewegen;
3. … notwendige Kompetenz: das eigenständige
Wahrnehmen des „Rechts auf Privatheit”, die
Können informierte Einwilligung in Datenverarbeitung oder
auch die informationelle Autonomie setzt
Wissensformen und Fertigkeiten voraus.
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#3: Partizipation und Kontrolle(*)
Mitwirkung an Abernten nutzer-
Konversationen, dem generierter Inhalte und
Bereitstellen und Teilen Verwertung verknüpfter
von Inhalten, etc. Daten
Mitbestimmung über Ausbeuten unentgeltlich
Ausrichtung, Gestaltung erbrachter Arbeit (kreative
oder Moderation der Inhalte erstellen; Pflege
Angebote der Community)
Selbstbestimmung in Einhegen der Nutzer in
eigenen, nicht bzw. kommerzialisierten und
kaum vorstrukturierten nicht demokratisch
Kommunikationsräumen gestalteten Strukturen.
(*) Wagner/Gerlicher/Brüggen 2011; Schmidt 2012a, 2012b St. Wendel 15 von 17
Ausblick: Das Internet als Lern- und Lebenswelt
Soziale Medien verändern das Umfeld, in dem Jugendliche alltägliches
Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement betreiben
Das Internet ist dadurch keine „virtuelle Realität“, sondern Bestandteil lokaler
wie ortsübergreifender Lebenswelten
Dies wirft aber auch eine Reihe von Herausforderungen auf, darunter…
… die Vermittlung von Kompetenzen für eine verantwortungsvolle Teilhabe an
den neuen Kommunikationsräumen
… die Gewährleistung von informationeller Selbstbestimmung
… das Einfordern von Mit- & Selbstbestimmung gegenüber machtvollen Akteuren
Jugendliche sind nicht per se „internetkompetent“, sondern müssen in ihren
Lernprozessen – auch und gerade den selbst-gesteuerten – begleitet werden
Gerade Projekte, in denen die Vermittlung von Fertigkeiten mit Teilhabe-
erfahrungen einhergeht, sind wertvoll – und geeignet, die
Partizipationsverheißung des „Mitmachwebs“ auch einzulösen
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Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Jan-Hinrik Schmidt
Hans-Bredow-Institut
Warburgstr. 8-10, 20354 Hamburg
j.schmidt@hans-bredow-institut.de
www.hans-bredow-institut.de
www.schmidtmitdete.de
www.dasneuenetz.de
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Literatur
– boyd, danah (2008): Taken out of context. American teen sociality in networked
publics. Ph.D. Dissertation an der University of California, Berkeley. Online
verfügbar: http://www.danah.org/papers/TakenOutOfContext.pdf.
– Münker, Stefan (2009): Emergenz digitaler Öffentlichkeiten – Die Sozialen Medien
im Web 2.0. Frankfurt a.M.
– Palfrey, John / Gasser, Urs / Reinhart, Franka / Topalova, Violeta (2008): Generation
Internet: Die Digital Natives. Stuttgart
– Schmidt, Jan (2011): Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Konsequenzen des
Web 2.0. Konstanz.
– Schmidt, Jan/Ingrid Paus-Hasebrink/Uwe Hasebrink (Hrsg.) (2009): Heranwachsen
mit dem Social Web. Berlin.
– Stöcker, Christian (2011): Nerd Attack. München
– Wagner, U. / Gerlicher, P. / Brüggen, N. (2011): Partizipation in und mit dem Social
Web – Herausforderungen für die politische Bildung. München
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