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SPIEGEL: Herr Ruffato, warum haben die
fußballbegeisterten Brasilianer die Lust an
der Weltmeisterschaft verloren?
Ruffato: Fußball ist weiterhin unsere Lei-
denschaft, hinterfragt wird nun aber, ob
wir eine Weltmeisterschaft brauchen. Die
Entscheidung dafür wurde so gefällt, wie
das hier immer der Fall ist: von oben nach
unten, ohne das Volk zu fragen. Und sie
beruhte auf der Illusion, dass wir die siebt-
größte Wirtschaftsmacht der Welt sind –
und damit reich genug, um uns die Welt-
meisterschaft leisten zu können. Aber das
stimmt nicht. Die Tatsache, dass wir die
siebtgrößte Wirtschaftsmacht sind, heißt
nicht, dass wir ein reiches Land sind.
SPIEGEL: Brasilien wurde dafür gefeiert,
dass es gelungen ist, Millionen Menschen
in kurzer Zeit aus bitterster Armut zu ho-
len. War das alles nur eine Illusion?
Ruffato: Tatsächlich hat sich durch Einkom-
menstransfers die Situation der unteren
Mittelklasse verbessert. Heute verdienen
42 Millionen Brasilianer den Mindestlohn
von 350 Dollar. Das bedeutet aber nicht,
dass wir die Menschen aus der Armut ge-
holt haben. Sie wurden lediglich in die
Lage versetzt, mehr Geld auszugeben, für
Fernseher oder Autos. Das hat den Kon-
sum erhöht und die Menschen zu Konsu-
menten gemacht, aber nicht zu Bürgern.
In den Bereichen Gesundheit, Erziehung,
Verkehr und öffentliche Sicherheit hat sich
nichts getan.
SPIEGEL: Ist Ihr eigener Aufstieg nicht ein
Beispiel dafür, dass sich vieles verbessert
hat?
Ruffato: Ich bin eine Ausnahme, kein Bei-
spiel und kein Symbol für das neue Brasi-
lien. Meine Mutter war Analphabetin, mein
Vater halber Analphabet, aber beide wuss-
ten: Die einzige Möglichkeit für ein würdi-
ges Überleben ist Erziehung. Das heißt,
meine ungebildeten Eltern haben mehr ver-
standen als jeder brasilianische Politiker.
Ich hätte eigentlich als Dreher arbeiten sol-
len, aber ich habe weitergemacht, Journa-
lismus studiert, später kam ich zur Literatur.
Das ist aber kein üblicher Werdegang. Von
meinen Kindheitsfreunden sind die aller-
meisten entweder gestorben, weil sie im
Drogengeschäft waren – oder sie haben in
Fabriken geschuftet, waren unglücklich und
wurden Alkoholiker. Für meine Freunde
von damals bin ich ein Außerirdischer. Und
noch etwas: Ich bin mir sicher, wenn ich
Das Gespräch führten die Redakteure Jens Glüsing und
Juliane von Mittelstaedt.
nicht weiß wäre, sondern schwarz, würde
ich jetzt nicht hier sitzen.
SPIEGEL: In welcher Welt fühlen Sie sich zu
Hause, in der Welt Ihrer Kindheit oder der
der Intellektuellen von São Paulo?
Ruffato: Ich fühle mich gar nicht zugehörig,
wie übrigens die meisten Brasilianer. Ich
bin in der Stadt Cataguases geboren und
lebe in São Paulo. Und wo gehöre ich hin?
Nirgends.
SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt, Sie wür-
den jeden Morgen mit der Angst vor dem
Absturz aufwachen. Woran liegt das?
Ruffato: Menschen wie ich, aus der Mittel-
und Unterschicht, leben in ständiger Un-
sicherheit. Anfang der Neunzigerjahre lag
die Inflation hier bei 90 Prozent im Monat.
Das Gefühl ist daher: Heute geht es uns
gut, aber was morgen ist, weiß keiner.
SPIEGEL: Im vergangenen Jahr haben Sie
auf der Frankfurter Buchmesse eine scho-
nungslose Rede gehalten, in der Sie die
dunklen Seiten Brasiliens benannten: Bru-
talität, Homophobie, vor allem aber Ras-
sismus. Ist das friedliche Zusammenleben
von Farbigen und Weißen ein Mythos?
Ruffato: Dieser Eindruck, dass es in Brasi-
lien eine friedliche Vermischung der Ras-
sen gebe, ist trügerisch. Die Sklaverei wur-
de hier erst 1888 abgeschafft, und wenn
man sich die Abstammung der heutigen
Brasilianer anschaut, sieht man, dass ihre
männlichen Vorfahren in der Regel euro-
päischer Herkunft sind, ihre weiblichen
Vorfahren aber indigene und afrikanische
Wurzeln haben. Das heißt doch: Die euro-
päischen Männer haben diese Frauen ver-
gewaltigt. Wie soll daraus ein friedliches
Miteinander erwachsen? Der Fußballer Ro-
naldo hat auf die Frage, ob Brasilien ras-
sistisch sei, einmal geantwortet: Ja, es gibt
Rassismus, und als ich noch schwarz war,
habe ich darunter gelitten. Er meinte: Heu-
te sei er nicht mehr schwarz, weil er Geld
hat. Das ist das, was wir soziale „Weißwa-
schung“ nennen. Das heißt aber nicht, dass
77DER SPIEGEL 20/2014
FOTO:PAULOFRIDMAN/DERSPIEGEL
„Wir waren immer gewalttätig“
SPIEGEL-Gespräch Der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato über das Verhältnis von Fußball und
Politik und die Scheinheiligkeit einer Gesellschaft, die sich selbst in ihrer Unzufriedenheit nicht einig ist
Ruffato, 53, ist einer
der bekanntesten Auto-
ren Brasiliens. Sein
Leben klingt wie ein Ro-
man: die Großeltern
arme italienische Ein-
wanderer, die Mutter
Analphabetin, der Vater
Popcornverkäufer. In
seinen Büchern gibt
Ruffato der städtischen
Unterschicht eine Stim-
me, berühmt wurde er
mit seinem auch ins
Deutsche übersetzten
Roman „Es waren viele
Pferde“, der in 69 Sze-
nen einen Tag in São
Paulo erzählt, so atem-
los, brutal und manch-
mal auch poetisch, wie
das Leben dort ist. Ruf-
fato besitzt kein Auto,
kein Handy, keinen Fern-
seher und lebt mit sei-
nen zwei Katzen in ei-
ner bescheidenen Woh-
nung im Westen São
Paulos, in der auch das
Gespräch stattfand.
Titel
die weiße Elite diese Schwarzen auch ak-
zeptiert.
SPIEGEL: Von Pelé heißt es, er sei ein
Schwarzer mit weißer Seele.
Ruffato: Genau, das ist doch der schlimmste
Rassismus, den es gibt!
SPIEGEL: Die Arbeiterpartei wurde gewählt,
weil sie versprochen hatte, diese elitären
Strukturen abzuschaffen. Warum ist Bra-
silien noch immer so ungleich?
Ruffato: Unser politisches System ist ein
Erbe der Militärdiktatur. Um Entscheidun-
gen durchzusetzen, muss man so viele Al-
lianzen schließen, dass es nahezu unmög-
lich ist, das System zu verändern. Die Ar-
beiterpartei hat es am Anfang versucht,
aber inzwischen übernimmt sie die politi-
sche Praxis, die sie früher bekämpft hat,
einschließlich der Korruption.
SPIEGEL: Gilt das auch für Präsidentin Dil-
ma Rousseff, die ja angekündigt hatte, ge-
gen die Korruption vorzugehen?
Ruffato: Wir Brasilianer sind alle korrupt.
Ich selbst bin es, jeder hier ist es. Die so-
ziale Struktur führt dazu, und es macht
keinen Unterschied, ob es um einen Real
geht oder um 100 Millionen. Wir betrügen
bei der Steuererklärung oder wenn wir ei-
nen Strafzettel bekommen. Korruption ist
akzeptiert, viele Menschen glauben sogar,
es sei gar keine Korruption, wenn man den
Staat beklaut. Weil uns der Staat ja auch
beklaut. Gibt es in der Regierung von Dil-
ma Rousseff Korruption? Sicher gibt es die,
wie es sie auch unter Präsident Lula gab
oder während der Militärdiktatur. Unser
gesamtes politisches System ist faul. Und
das Schlimmste ist: Wir Bürger leisten kei-
nen Beitrag, um das zu ändern.
SPIEGEL: Sie haben Brasilien einmal als ein
Land bezeichnet, in dem man „seinem
Nächsten den Rücken zukehrt“. Woher
kommt diese Rücksichtslosigkeit?
Ruffato: Wir haben kein Gemeinschafts-
gefühl, wir sind sehr individualistisch und
egoistisch. Die Hauptursache dafür ist mei-
ner Meinung nach unsere ausbeuterische
Elite. Sie hat den Staat zu ihrem Privat-
eigentum gemacht. Zum Beispiel unsere öf-
fentlichen Universitäten: Sie sind gut, aber
wer besucht sie? Nur die Reichen, die eine
gute Schulbildung haben und die Aufnah-
me schaffen. Und wenn einem Brasilianer
der Aufstieg gelingt, dann übernimmt er
die konservativen Werte der Mittelklasse.
Bei uns gilt: Wer einen Hubschrauber hat,
überholt denjenigen mit dem teuren Auto,
das teure Auto überholt das schlechte Auto,
das schlechte Auto den Motorradfahrer, die-
ser den Radfahrer und der Radfahrer den
Fußgänger. Man schaut nicht zurück, son-
dern immer nur nach oben.
SPIEGEL: Das ist das Gegenteil der Wahr-
nehmung, die viele von Ihrem Volk haben.
Ruffato: Ich glaube, Brasilien wird oft falsch
verstanden. Wir waren immer gewalttätig.
Es hat mit dem Völkermord an den Urein-
wohnern begonnen, es folgten die Sklaverei,
später die Ausbeutung der armen Einwan-
derer. Und praktisch das gesamte 20. Jahr-
hundert lebten wir unter einer Diktatur. Die
Geschichte Brasiliens ist eine Geschichte der
Gewalt. Mich überrascht daher auch die Ge-
walt heute nicht. Wir sind so nett, dass wir
in der Lage sind, eine Frau auf der Straße
zu lynchen, weil wir sie verdächtigen, ein
Kind entführt zu haben. Wir sind so offen-
herzig, dass wir voriges Jahr 368 Homose-
xuelle ermordet haben. Wir sind so friedlich,
dass es Schätzungen zufolge im Jahr etwa
500000 Fälle von häuslicher Gewalt gibt,
aber das wird gar nicht bekannt, weil die
Frauen sich nicht trauen, zur Polizei zu ge-
hen. Ich weiß also nicht, warum wir so ein
herzliches Volk sein sollen. Was wir haben,
ist eine Neigung zur Fröhlichkeit. Trotz un-
seres Elends versuchen wir, fröhlich zu sein.
SPIEGEL: Warum hat in letzter Zeit die Ge-
walt sogar noch zugenommen, obwohl die
Armut gesunken ist und viele Favelas an-
geblich befriedet wurden?
Ruffato: Die Situation hat sich radikal ver-
schlimmert, und meiner Ansicht nach gibt
es dafür verschiedene Gründe. Die sozio-
ökonomischen Unterschiede werden größer,
das ist ein Grund. Und weil der Drogen-
handel nicht richtig bekämpft wird, ist Bra-
silien inzwischen zu einem der wichtigsten
Märkte geworden. Auch ein weiterer As-
pekt ist interessant: In Brasilien sind die Ar-
men, die für die Reichen arbeiten, unsicht-
bar. Wenn ein Armer zum Verbrecher wird,
sieht er den anderen nicht als Menschen,
weil er selbst nicht gesehen wird. Für ihn
ist es egal, ob er 100 Real klaut oder jeman-
den umbringt. Ich glaube, das liegt auch da-
ran, dass der Staat im Alltag abwesend ist.
SPIEGEL: Es gab sehr viele negative Reak-
tionen auf Ihre Rede in Frankfurt. Ihre
Gegner drohten: Wenn Sie Ihr Land nicht
liebten, sollten Sie besser auswandern. Wa-
rum ist Kritik an den Verhältnissen in Bra-
silien so ein Tabu?
Ruffato: Ich glaube, das liegt an unserem
geringen Selbstwertgefühl. Es ist nicht
schön zuzugeben, dass wir ein gewalt-
bereites Volk sind, dass wir Rassisten sind,
Homophobe und Machos. Viel einfacher
ist es, so zu tun, als gäbe es das alles nicht.
Denn dann muss man nichts ändern. Des-
halb reden wir uns ein, dass wir die tollsten
Strände, die schönsten Frauen und den
besten Fußball der Welt haben. Warum
müssen wir um bessere Lebensbedingun-
gen kämpfen, wenn wir all das haben? Wa-
rum müssen wir etwas gegen die Schwu-
lenfeindlichkeit tun, wenn wir die größte
Gay-Parade der Welt feiern? Wir sind zu
allem Überfluss auch noch scheinheilig.
SPIEGEL: Ein Erbe der Diktatur?
Ruffato: Ja, ganz sicher, die meisten Brasi-
lianer sind in autoritären Systemen aufge-
wachsen. Wir wurden mit Fußtritten erzo-
gen. Wir blicken einander selten auf Au-
genhöhe an, sondern von unten nach oben;
ein Blick von Menschen, die Angst haben.
SPIEGEL: In diesem Jahr jährt sich der Mili-
tärputsch zum 50. Mal, die Diktatur hat
hier länger überlebt als in fast allen ande-
ren Ländern Lateinamerikas. Dennoch
wurde die Vergangenheit kaum aufgear-
beitet. Warum ist das so schwierig?
Ruffato: Wir Brasilianer meiden gern die
Konfrontation. Wenn wir Dinge lösen kön-
nen, indem wir sie verstecken, dann tun
wir das. Die Geschichte, die in der Schule
gelehrt wird, ist eine konfliktscheue Ge-
schichte: eine Erzählung von der Rassen-
demokratie, von einem fröhlichen Volk.
78 DER SPIEGEL 20/2014
Swimmingpool einer Villa in einer Favela in Rio:
„Wir haben noch immer eine verdeckte Diktatur
der politischen und wirtschaftlichen Elite.“
Doch wir haben die Diktatur gar nicht rich-
tig hinter uns gelassen, wir haben noch
immer eine verdeckte Diktatur der poli-
tischen und wirtschaftlichen Elite.
SPIEGEL: Seit einem Jahr gibt es immer wie-
der Proteste unzufriedener Bürger gegen
die Regierung. Ist das der Beginn einer
größeren Bewegung, die das politische Sys-
tem zu Reformen zwingen wird?
Ruffato: Ich mag keine Zukunftsprognosen
erstellen, auch Volkswirte und Meteorolo-
gen liegen ja immer daneben. Sicher ist,
dass die Proteste eine generelle Unzufrie-
denheit zeigen, allerdings sind die Men-
schen aus unterschiedlichen Gründen auf
die Straße gegangen. Die einen forderten
einen stärkeren Staat, andere ein besseres
Bildungssystem. Manche sind unzufrieden,
weil sie jeden Tag drei Stunden zur Arbeit
fahren, manche, weil sie abends nicht das
Haus verlassen können, weil es zu unsicher
ist. Und wieder andere, weil ihre Kinder
in Schulen gehen, in denen sie nichts ler-
nen. Also, Unzufriedenheit gibt es genug.
Was fehlt, sind gemeinsame Ziele.
SPIEGEL: Warum sind die Brasilianer selbst
in ihrer Unzufriedenheit so gespalten?
Ruffato: Weil hier in Brasilien das, was allen
gehört, keinem gehört. Wir kümmern uns
erst, wenn die Probleme uns selbst betref-
fen. Wenn der Nachbar überfallen wurde,
geht mich das nichts an. Wenn ich ein ge-
panzertes Auto habe, kümmern mich
Überfälle nicht. Wenn die Kinder auf der
Straße hungern, ist das nicht mein Pro-
blem, solange meine Kinder zu essen ha-
ben. Wir haben keinen Gemeinsinn.
SPIEGEL: Kann der Fußball der fehlende Kitt
dieser gespaltenen Gesellschaft sein?
Ruffato: Einerseits stimmt es, dass Fußball
Arm und Reich vereint. Aber er ist auch
ein Herrschaftsinstrument, das eingesetzt
wird, um soziale Unterschiede zu über-
decken. Als Brasilien 1970 zum dritten Mal
Weltmeister wurde, waren die Repres-
sionen am schlimmsten. Gegner der Mili-
tärdiktatur wurden gefoltert und er-
mordet.
SPIEGEL: Wird der Fußball auch heute noch
politisch genutzt?
Ruffato: Keine Frage, da hat sich nichts ge-
ändert. Am Anfang hieß es, dass die WM
der Bevölkerung und den Austragungs-
orten zugutekommt, weil in neue Infra-
struktur investiert wird. Jetzt sehen wir:
Es war vor allem eine Gelegenheit für Kor-
ruption. Es werden Stadien gebaut, die kei-
ner braucht, und Steuergelder verschwen-
det. Das ist unsere traurige Realität.
SPIEGEL: Sie sind großer Fußballfan, werden
Sie sich Spiele im Stadion ansehen?
Ruffato: Nein, denn die Eintrittspreise sind
sehr hoch, das kann ich mir nicht leisten.
Deshalb sehen Sie in den Stadien auch
nicht die brasilianische Bevölkerung. Man
konnte das gut beim Endspiel des Con-
fed-Cups beobachten: Das ganze Stadion
war voll mit weißen Zuschauern, die
unserer Nationalelf zuschauten, die vor
allem aus Schwarzen besteht. Das ist die
Metapher für Brasilien: Die Dunkel-
häutigen schwitzen, damit die Elite ihren
Spaß hat.
SPIEGEL: Herr Ruffato, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
79DER SPIEGEL 20/2014
FOTO:AFP
„Wenn ein Armer zum Verbrecher wird, sieht er den anderen nicht als Menschen“

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Heute verdienen 42 Millionen Brasilianer den Mindestlohn von 350 Dollar. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Menschen aus der Armut ge- holt haben. Sie wurden lediglich in die Lage versetzt, mehr Geld auszugeben, für Fernseher oder Autos. Das hat den Kon- sum erhöht und die Menschen zu Konsu- menten gemacht, aber nicht zu Bürgern. In den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Verkehr und öffentliche Sicherheit hat sich nichts getan. SPIEGEL: Ist Ihr eigener Aufstieg nicht ein Beispiel dafür, dass sich vieles verbessert hat? Ruffato: Ich bin eine Ausnahme, kein Bei- spiel und kein Symbol für das neue Brasi- lien. Meine Mutter war Analphabetin, mein Vater halber Analphabet, aber beide wuss- ten: Die einzige Möglichkeit für ein würdi- ges Überleben ist Erziehung. Das heißt, meine ungebildeten Eltern haben mehr ver- standen als jeder brasilianische Politiker. Ich hätte eigentlich als Dreher arbeiten sol- len, aber ich habe weitergemacht, Journa- lismus studiert, später kam ich zur Literatur. Das ist aber kein üblicher Werdegang. Von meinen Kindheitsfreunden sind die aller- meisten entweder gestorben, weil sie im Drogengeschäft waren – oder sie haben in Fabriken geschuftet, waren unglücklich und wurden Alkoholiker. Für meine Freunde von damals bin ich ein Außerirdischer. Und noch etwas: Ich bin mir sicher, wenn ich Das Gespräch führten die Redakteure Jens Glüsing und Juliane von Mittelstaedt. nicht weiß wäre, sondern schwarz, würde ich jetzt nicht hier sitzen. SPIEGEL: In welcher Welt fühlen Sie sich zu Hause, in der Welt Ihrer Kindheit oder der der Intellektuellen von São Paulo? Ruffato: Ich fühle mich gar nicht zugehörig, wie übrigens die meisten Brasilianer. Ich bin in der Stadt Cataguases geboren und lebe in São Paulo. Und wo gehöre ich hin? Nirgends. SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt, Sie wür- den jeden Morgen mit der Angst vor dem Absturz aufwachen. Woran liegt das? Ruffato: Menschen wie ich, aus der Mittel- und Unterschicht, leben in ständiger Un- sicherheit. Anfang der Neunzigerjahre lag die Inflation hier bei 90 Prozent im Monat. Das Gefühl ist daher: Heute geht es uns gut, aber was morgen ist, weiß keiner. SPIEGEL: Im vergangenen Jahr haben Sie auf der Frankfurter Buchmesse eine scho- nungslose Rede gehalten, in der Sie die dunklen Seiten Brasiliens benannten: Bru- talität, Homophobie, vor allem aber Ras- sismus. Ist das friedliche Zusammenleben von Farbigen und Weißen ein Mythos? Ruffato: Dieser Eindruck, dass es in Brasi- lien eine friedliche Vermischung der Ras- sen gebe, ist trügerisch. Die Sklaverei wur- de hier erst 1888 abgeschafft, und wenn man sich die Abstammung der heutigen Brasilianer anschaut, sieht man, dass ihre männlichen Vorfahren in der Regel euro- päischer Herkunft sind, ihre weiblichen Vorfahren aber indigene und afrikanische Wurzeln haben. Das heißt doch: Die euro- päischen Männer haben diese Frauen ver- gewaltigt. Wie soll daraus ein friedliches Miteinander erwachsen? Der Fußballer Ro- naldo hat auf die Frage, ob Brasilien ras- sistisch sei, einmal geantwortet: Ja, es gibt Rassismus, und als ich noch schwarz war, habe ich darunter gelitten. Er meinte: Heu- te sei er nicht mehr schwarz, weil er Geld hat. Das ist das, was wir soziale „Weißwa- schung“ nennen. Das heißt aber nicht, dass 77DER SPIEGEL 20/2014 FOTO:PAULOFRIDMAN/DERSPIEGEL „Wir waren immer gewalttätig“ SPIEGEL-Gespräch Der brasilianische Schriftsteller Luiz Ruffato über das Verhältnis von Fußball und Politik und die Scheinheiligkeit einer Gesellschaft, die sich selbst in ihrer Unzufriedenheit nicht einig ist Ruffato, 53, ist einer der bekanntesten Auto- ren Brasiliens. Sein Leben klingt wie ein Ro- man: die Großeltern arme italienische Ein- wanderer, die Mutter Analphabetin, der Vater Popcornverkäufer. In seinen Büchern gibt Ruffato der städtischen Unterschicht eine Stim- me, berühmt wurde er mit seinem auch ins Deutsche übersetzten Roman „Es waren viele Pferde“, der in 69 Sze- nen einen Tag in São Paulo erzählt, so atem- los, brutal und manch- mal auch poetisch, wie das Leben dort ist. Ruf- fato besitzt kein Auto, kein Handy, keinen Fern- seher und lebt mit sei- nen zwei Katzen in ei- ner bescheidenen Woh- nung im Westen São Paulos, in der auch das Gespräch stattfand.
  • 2. Titel die weiße Elite diese Schwarzen auch ak- zeptiert. SPIEGEL: Von Pelé heißt es, er sei ein Schwarzer mit weißer Seele. Ruffato: Genau, das ist doch der schlimmste Rassismus, den es gibt! SPIEGEL: Die Arbeiterpartei wurde gewählt, weil sie versprochen hatte, diese elitären Strukturen abzuschaffen. Warum ist Bra- silien noch immer so ungleich? Ruffato: Unser politisches System ist ein Erbe der Militärdiktatur. Um Entscheidun- gen durchzusetzen, muss man so viele Al- lianzen schließen, dass es nahezu unmög- lich ist, das System zu verändern. Die Ar- beiterpartei hat es am Anfang versucht, aber inzwischen übernimmt sie die politi- sche Praxis, die sie früher bekämpft hat, einschließlich der Korruption. SPIEGEL: Gilt das auch für Präsidentin Dil- ma Rousseff, die ja angekündigt hatte, ge- gen die Korruption vorzugehen? Ruffato: Wir Brasilianer sind alle korrupt. Ich selbst bin es, jeder hier ist es. Die so- ziale Struktur führt dazu, und es macht keinen Unterschied, ob es um einen Real geht oder um 100 Millionen. Wir betrügen bei der Steuererklärung oder wenn wir ei- nen Strafzettel bekommen. Korruption ist akzeptiert, viele Menschen glauben sogar, es sei gar keine Korruption, wenn man den Staat beklaut. Weil uns der Staat ja auch beklaut. Gibt es in der Regierung von Dil- ma Rousseff Korruption? Sicher gibt es die, wie es sie auch unter Präsident Lula gab oder während der Militärdiktatur. Unser gesamtes politisches System ist faul. Und das Schlimmste ist: Wir Bürger leisten kei- nen Beitrag, um das zu ändern. SPIEGEL: Sie haben Brasilien einmal als ein Land bezeichnet, in dem man „seinem Nächsten den Rücken zukehrt“. Woher kommt diese Rücksichtslosigkeit? Ruffato: Wir haben kein Gemeinschafts- gefühl, wir sind sehr individualistisch und egoistisch. Die Hauptursache dafür ist mei- ner Meinung nach unsere ausbeuterische Elite. Sie hat den Staat zu ihrem Privat- eigentum gemacht. Zum Beispiel unsere öf- fentlichen Universitäten: Sie sind gut, aber wer besucht sie? Nur die Reichen, die eine gute Schulbildung haben und die Aufnah- me schaffen. Und wenn einem Brasilianer der Aufstieg gelingt, dann übernimmt er die konservativen Werte der Mittelklasse. Bei uns gilt: Wer einen Hubschrauber hat, überholt denjenigen mit dem teuren Auto, das teure Auto überholt das schlechte Auto, das schlechte Auto den Motorradfahrer, die- ser den Radfahrer und der Radfahrer den Fußgänger. Man schaut nicht zurück, son- dern immer nur nach oben. SPIEGEL: Das ist das Gegenteil der Wahr- nehmung, die viele von Ihrem Volk haben. Ruffato: Ich glaube, Brasilien wird oft falsch verstanden. Wir waren immer gewalttätig. Es hat mit dem Völkermord an den Urein- wohnern begonnen, es folgten die Sklaverei, später die Ausbeutung der armen Einwan- derer. Und praktisch das gesamte 20. Jahr- hundert lebten wir unter einer Diktatur. Die Geschichte Brasiliens ist eine Geschichte der Gewalt. Mich überrascht daher auch die Ge- walt heute nicht. Wir sind so nett, dass wir in der Lage sind, eine Frau auf der Straße zu lynchen, weil wir sie verdächtigen, ein Kind entführt zu haben. Wir sind so offen- herzig, dass wir voriges Jahr 368 Homose- xuelle ermordet haben. Wir sind so friedlich, dass es Schätzungen zufolge im Jahr etwa 500000 Fälle von häuslicher Gewalt gibt, aber das wird gar nicht bekannt, weil die Frauen sich nicht trauen, zur Polizei zu ge- hen. Ich weiß also nicht, warum wir so ein herzliches Volk sein sollen. Was wir haben, ist eine Neigung zur Fröhlichkeit. Trotz un- seres Elends versuchen wir, fröhlich zu sein. SPIEGEL: Warum hat in letzter Zeit die Ge- walt sogar noch zugenommen, obwohl die Armut gesunken ist und viele Favelas an- geblich befriedet wurden? Ruffato: Die Situation hat sich radikal ver- schlimmert, und meiner Ansicht nach gibt es dafür verschiedene Gründe. Die sozio- ökonomischen Unterschiede werden größer, das ist ein Grund. Und weil der Drogen- handel nicht richtig bekämpft wird, ist Bra- silien inzwischen zu einem der wichtigsten Märkte geworden. Auch ein weiterer As- pekt ist interessant: In Brasilien sind die Ar- men, die für die Reichen arbeiten, unsicht- bar. Wenn ein Armer zum Verbrecher wird, sieht er den anderen nicht als Menschen, weil er selbst nicht gesehen wird. Für ihn ist es egal, ob er 100 Real klaut oder jeman- den umbringt. Ich glaube, das liegt auch da- ran, dass der Staat im Alltag abwesend ist. SPIEGEL: Es gab sehr viele negative Reak- tionen auf Ihre Rede in Frankfurt. Ihre Gegner drohten: Wenn Sie Ihr Land nicht liebten, sollten Sie besser auswandern. Wa- rum ist Kritik an den Verhältnissen in Bra- silien so ein Tabu? Ruffato: Ich glaube, das liegt an unserem geringen Selbstwertgefühl. Es ist nicht schön zuzugeben, dass wir ein gewalt- bereites Volk sind, dass wir Rassisten sind, Homophobe und Machos. Viel einfacher ist es, so zu tun, als gäbe es das alles nicht. Denn dann muss man nichts ändern. Des- halb reden wir uns ein, dass wir die tollsten Strände, die schönsten Frauen und den besten Fußball der Welt haben. Warum müssen wir um bessere Lebensbedingun- gen kämpfen, wenn wir all das haben? Wa- rum müssen wir etwas gegen die Schwu- lenfeindlichkeit tun, wenn wir die größte Gay-Parade der Welt feiern? Wir sind zu allem Überfluss auch noch scheinheilig. SPIEGEL: Ein Erbe der Diktatur? Ruffato: Ja, ganz sicher, die meisten Brasi- lianer sind in autoritären Systemen aufge- wachsen. Wir wurden mit Fußtritten erzo- gen. Wir blicken einander selten auf Au- genhöhe an, sondern von unten nach oben; ein Blick von Menschen, die Angst haben. SPIEGEL: In diesem Jahr jährt sich der Mili- tärputsch zum 50. Mal, die Diktatur hat hier länger überlebt als in fast allen ande- ren Ländern Lateinamerikas. Dennoch wurde die Vergangenheit kaum aufgear- beitet. Warum ist das so schwierig? Ruffato: Wir Brasilianer meiden gern die Konfrontation. Wenn wir Dinge lösen kön- nen, indem wir sie verstecken, dann tun wir das. Die Geschichte, die in der Schule gelehrt wird, ist eine konfliktscheue Ge- schichte: eine Erzählung von der Rassen- demokratie, von einem fröhlichen Volk. 78 DER SPIEGEL 20/2014 Swimmingpool einer Villa in einer Favela in Rio: „Wir haben noch immer eine verdeckte Diktatur der politischen und wirtschaftlichen Elite.“
  • 3. Doch wir haben die Diktatur gar nicht rich- tig hinter uns gelassen, wir haben noch immer eine verdeckte Diktatur der poli- tischen und wirtschaftlichen Elite. SPIEGEL: Seit einem Jahr gibt es immer wie- der Proteste unzufriedener Bürger gegen die Regierung. Ist das der Beginn einer größeren Bewegung, die das politische Sys- tem zu Reformen zwingen wird? Ruffato: Ich mag keine Zukunftsprognosen erstellen, auch Volkswirte und Meteorolo- gen liegen ja immer daneben. Sicher ist, dass die Proteste eine generelle Unzufrie- denheit zeigen, allerdings sind die Men- schen aus unterschiedlichen Gründen auf die Straße gegangen. Die einen forderten einen stärkeren Staat, andere ein besseres Bildungssystem. Manche sind unzufrieden, weil sie jeden Tag drei Stunden zur Arbeit fahren, manche, weil sie abends nicht das Haus verlassen können, weil es zu unsicher ist. Und wieder andere, weil ihre Kinder in Schulen gehen, in denen sie nichts ler- nen. Also, Unzufriedenheit gibt es genug. Was fehlt, sind gemeinsame Ziele. SPIEGEL: Warum sind die Brasilianer selbst in ihrer Unzufriedenheit so gespalten? Ruffato: Weil hier in Brasilien das, was allen gehört, keinem gehört. Wir kümmern uns erst, wenn die Probleme uns selbst betref- fen. Wenn der Nachbar überfallen wurde, geht mich das nichts an. Wenn ich ein ge- panzertes Auto habe, kümmern mich Überfälle nicht. Wenn die Kinder auf der Straße hungern, ist das nicht mein Pro- blem, solange meine Kinder zu essen ha- ben. Wir haben keinen Gemeinsinn. SPIEGEL: Kann der Fußball der fehlende Kitt dieser gespaltenen Gesellschaft sein? Ruffato: Einerseits stimmt es, dass Fußball Arm und Reich vereint. Aber er ist auch ein Herrschaftsinstrument, das eingesetzt wird, um soziale Unterschiede zu über- decken. Als Brasilien 1970 zum dritten Mal Weltmeister wurde, waren die Repres- sionen am schlimmsten. Gegner der Mili- tärdiktatur wurden gefoltert und er- mordet. SPIEGEL: Wird der Fußball auch heute noch politisch genutzt? Ruffato: Keine Frage, da hat sich nichts ge- ändert. Am Anfang hieß es, dass die WM der Bevölkerung und den Austragungs- orten zugutekommt, weil in neue Infra- struktur investiert wird. Jetzt sehen wir: Es war vor allem eine Gelegenheit für Kor- ruption. Es werden Stadien gebaut, die kei- ner braucht, und Steuergelder verschwen- det. Das ist unsere traurige Realität. SPIEGEL: Sie sind großer Fußballfan, werden Sie sich Spiele im Stadion ansehen? Ruffato: Nein, denn die Eintrittspreise sind sehr hoch, das kann ich mir nicht leisten. Deshalb sehen Sie in den Stadien auch nicht die brasilianische Bevölkerung. Man konnte das gut beim Endspiel des Con- fed-Cups beobachten: Das ganze Stadion war voll mit weißen Zuschauern, die unserer Nationalelf zuschauten, die vor allem aus Schwarzen besteht. Das ist die Metapher für Brasilien: Die Dunkel- häutigen schwitzen, damit die Elite ihren Spaß hat. SPIEGEL: Herr Ruffato, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 79DER SPIEGEL 20/2014 FOTO:AFP „Wenn ein Armer zum Verbrecher wird, sieht er den anderen nicht als Menschen“