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Hans Poser (TU Berlin)                      5.3.12/11.01.12/Ars inveniendi/Entwerfen Essen 06.doc




Entwerfen als Wissenschaft? Zur Frage einer Ars inveniendi heute


1. Der Wahnsinn hat Methode
Design – der Wahnsinn hat Methode? Gewiss, denn mit ‚Wahnsinn‘ ist Kreativität gemeint,
die unverzichtbar ist, um in neuen Intuitionen Nie-Dagewesenes im Reiche der Ideen und
Möglichkeiten geradeso wie in den zwei oder drei Dimensionen der raumzeitlichen Wirklich-
keit zu erschaffen. Das aber ist ein irrationaler Vorgang, weil er sich nicht auf methodisch-
rationale Flaschen ziehen lässt. Ein Technikwissenschaftler sagte scherzhaft: „Ihr Philosophen
seid doch Meister im Definieren. Definieren Sie mir mal ganz genau, was Kreativität ist, das
Programmieren schaffe ich dann schon.“ Damit ist der Nagel auf den Kopf getroffen; denn
ließe sich Kreativität genau definieren, also auf anderes zurückführen, wäre das Ergebnis
gerade nichts Neues und Kreatives.
‚Methode‘ hingegen ist bei allem Design, allem Entwerfen unverzichtbar – wie sollte es sonst
gelingen, eine Lösungsidee für etwas, für ein gegebenes Problem zu entwickeln. Damit ergibt
sich etwa folgendes Bild:


   Wahnsinn                                                    Methode


   Kreativität                                              Wissenschaft
  – undefinierbar
  – methodisch nicht fassbar                 theoretische Seite          praktische Seite
  – nicht-rational                                kognitiv                   normativ


 geniale Lösung                                           regelhafte Lösung



Dieses Spannungsverhältnis von Kreativität und Methode ist konstitutiv für alle Formen des
Entwerfens, das vom einfachsten Fall der modifizierenden Anwendung bis hin zum radikal
Neuen reicht – sei es nun ein unbekanntes mathematisches Theorem mit Beweis, eine bahn-
brechende naturwissenschaftliche Hypothesenbildung, eine unerwartete Konzeption im Berei-
che der Normen und Werte, eine technologische Novität, eine ungeahnte architektonische
Formensprache oder auch eine erstmalige Designlösung für einen Gebrauchsgegenstand.
2


Wie aber soll beides, Kreativität und Methodik des Entwerfens, zusammengehen können?
Wieso soll es dann eine Wissenschaft des Erfindens, eine Ars inveniendi überhaupt geben
können?
Ars inveniendi, die Kunst des Erfindens – dieser Begriff geht zurück auf Cicero und bezieht
sich dort auf die Rhetorik, genauer: auf das Suchen und Finden von überzeugenden Argu-
menten.1 In der Renaissance erfuhr diese Vorstellung eine Ausweitung zunächst zu einer Ars
combinatoria, die für alle Bereiche des Entwickelns, also auch für neue Wissenschaften ge-
radeso wie für das Entwerfen von Technik, von Maschinen einen Weg ebnen sollte.
Das ist ein faszinierender Gedanke – und manche Zeichnungen Leonardo da Vincis (1452 –
1519) im Codex Madrid muten so an, als folgten sie ihm in immer neuen Differenzierungen
von elementaren Machinenelementen, deren Zusammensetzung jede überhaupt mögliche Ma-
schine hervorzubringen erlaubt. Doch ist eine solche Hoffnung nicht gänzlich abwegig? Wie
soll bloße Kombinatorik zu wirklich durchbrechend Neuem führen? Gibt es nicht genug grau-
enhafte Beispiele, die das widerlegen? Mit Schrecken denkt man an all die auf gleiche Weise
langweiligen neuen Gebäude, die wohl unter Verwendung des selben Computerprogramms in
den letzten Jahren nicht nur in Berlin entstanden sind.
Nun hat Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) – und nicht allein er – schon gegen 1787
in seiner „Anleitung so viel Walzer oder Schleifer mit zwei Würfeln zu componiren so viel man
will ohne musikalisch zu seyn noch etwas von der Composition zu verstehen“ (KV3 Anh.
294d) eine Anweisung geliefert. Am PC lässt sich das heute für jeden auch ohne Würfel erle-
digen – der Zufallsgenerator leistet die Zusammensetzung.2 Da kann ja nur Unsinn heraus-
kommen, mag man denken; doch das Ergebnis klingt tatsächlich nach Mozart – aber verge-
bens sucht man nach einer Melodie, einem Thema, nach einer Struktur, die hinaus ginge über
die ABA-Form des Menuetts, die traditionelle Taktanzahl und eine angedeutete Coda.
Dennoch haben viele Zeitgenossen vor und nach Mozart ähnliche musikalisch-kombinatori-
sche Regelwerke vorgeschlagen. Warum also nicht auch im Bereich der Technik, der Archi-
tektur und des Design? Nötig ist die Auszeichnung von Grundelementen wie etwa die Takte,
dazu Prinzipien der Zusammenfügung, wie sie Mozart in Matrizenform niedergelegt hat; wird
nicht gewürfelt, so bleiben sogar Gestaltungsmöglichkeiten offen. Die Wissenschaft beginnt
darum bei der Freilegung dieser Ausgangsbedingungen. Ob dabei für für den Designer
Brauchbares herauskommen mag, bleibt offen – denn genau der Mozartschen Methode hat
sich Friedensreich Hundertwasser bei seinem Siebdruck Homo Humus come va 10001 Nights,
gedruckt in 10.002 Exemplaren und dank des Zufallsgenerators in jeweils anderen Farb-
zusammenstellungen…




1
    Cicero, De inventione.
2
    Programm unter http://sunsite.univie.ac.at/Mozart/dice/
3


2.   Projekte einer Ars inveniendi: G.W. Leibniz und Chr. Wolff
Der Gedanke, man müsse eine Ars inveniendi für alle Wissenschaften, also auch für die gestal-
tenden Wissenschaften wie die Technik entwickeln, geht auf Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 –
1716) zurück. Er ist überzeugt, die „mater aller inventionen“ in der Ars inveniendi gefunden zu
haben, weil bei einer bloßen Kombinatorik zu viele unsinnige Verknüpfungen entstehen. Er
notiert, die Ars inveniendi sei „die Leitung der Gedanken, jegliche Art unbekannter Wahrheit zu
ermitteln“.3 Es geht also nicht um ein Menuett, sondern um Wahrheit als Grundbedingung aller
Wissenschaftlichkeit. So gibt er 1676 zehn Regeln an, denen die Ars inveniendi zu folgen hat.4 Im
Kern lassen sie sich als Methodenkanon so zusammenfassen:
         Ein gegebenes Problem ist in der Analyse mindestens so weit zu zerlegen, dass sich
         unabhängige Teilprobleme ergeben.
         Diesen Teilproblemen sind bekannte Lösungen in Gestalt wahrer Prinzipien zuzuord-
         nen, die entweder aus der Erfahrung stammen oder aus dem Denken.5
         Für alle diese Teile sind angemessene Zeichen und deren Verknüpfungsregeln zu ent-
         wickeln; dabei soll möglichst eine Abbildung in die Arithmetik gesucht werden.
         Nun folgt eine systematische Synthese, ausgehend von den bereits als wahr erkannten
         Prinzipien, sodass sich eine zutreffende Lösung des Ausgangsproblems ergibt.
         Weitere Zusammensetzungen führen unabhängig vom ursprünglichen Ausgangspunkt
         zu weiteren neuen Erkenntnissen.
Zeichen ist dabei sehr allgemein zu verstehen – es geht nicht um Buchstaben, sondern auch
um Noten der Musik, um bildhafte Zeichen wie Hieroglyphen, um Symbole – entscheidend ist
jedoch, dass sie nicht allein stehen dürfen, sondern nach Regeln miteinander verknüpft sind.

Damit schulden wir Leibniz die Einsicht, dass jede inventio, jeder Entwurf auf drei entschei-
denden Elementen basiert, der Problemanalyse, der zu Neuem führenden Synthese und die
beides allererst ermöglichende Verwendung von Zeichen und deren Verknüpfung; anders
wäre eine rationale Problemlösungsstrategie nicht möglich. Leibnizens mathematischen
ebenso wie seine technologischen Problemlösungen zeigen zugleich, dass hierbei wesentlich
kreative Momente eingehen, von der Entwicklung geeigneter Symbole über fruchtbare Analy-
sen bis zu ideenreichen Synthesen. Mehr noch, entscheidende normative Elemente in bilden
die Leibnizsche Voraussetzung einer Ars inveniendi: Alle menschlichen Erfindungen, Ent-
wicklungen und Entwürfe sollen abzielen auf einer Vervollkommnung des Menschen, der
Gesellschaft, der Welt.
Konkreter wird es bei Christian Wolff (1679 – 1754). Er ergänzt das Leibniz-Modell um die
Forderung nach einer Methode der Variation. Doch um zu bislang Unerkanntem vorstoßen

3
  De Encyclopedia nova conscribenda, A VI.4, N. 81, S. 345.
4
  De la Sagesse, A VI.3, N. 896, S. 670-672.
5
  De Synthesi et Analysi universali seu Arte inveniendi et judicandi, A VI.4, N. 129, S. 543.
4


zu können, bedarf es überdies der Artificia heuristica, also heuristischer Regeln.6 Diese
betreffen bereits die Problemanalyse, weil ein Problem sich nicht wie ein Fahrrad in wohl-
bestimmte Einzelteile zerlegen lässt, sondern im Blick auf die Problemlösung höchst eigen-
ständiger Ansätze bedarf. Seither gehören heuristische Regeln zur Grundausstattung jeder
Problemlösungsstrategie, auch wenn kreative Lösungen mit ihnen nicht zu gewinnen sind.
Jede Entwurfswissenschaft muss hierbei ihre eigenen Regeln und Methoden haben. Regeln
aber sind anders als Naturgesetze nicht wahr oder falsch – sie sind effektive Handlungsan-
weisungen. Auf diese Weise ist eine ganz wesentliche Differenz zwischen Naturwissen-
schaften und Gestaltungswissenschaften eingeführt.
Damit sind wir durchaus den gestaltenden Wissenschaften näher gekommen; denn gerade für
das Bauwesen gibt Wolff der Ars inveniendi folgend Regeln an. Etwas weiteres Neues tritt
hinzu, denn ein Gebäude verlangt die Erfüllung zahlreicher wertender Bedingungen, etwa
sicher zu sein und schön. Doch überzeugt von einer alles durchwaltenden Rationalität glaubt
Wolff, hierfür vernunftgemäße Kriterien angeben zu können. Spätestens an dieser Stelle wird
die Spannung sichtbar, die sich zwischen kreativen neuen Ideen und einer Regelbefolgung
auftut: Kein wie immer geartetes Regelsystem kann die Kreativität ersetzen – darum ist Genie
gefordert.


3. Systematische Heuristik: Johannes Müller
Die sich abzeichnende Schwierigkeit hat im 19. Jahrhundert zu einer großen Breite von Kon-
struktionslehren der neuen Technischen Hochschulen geführt, getragen von dem Gedanken,
es müsse möglich sein, das technische Entwerfen, also Engineering design, auf eine solide
wissenschaftliche Basis zu stellen – denn wie soll es Technikwissenschaften geben können,
wenn das nicht gewährleistet ist? Diese Bemühungen ziehen sich bis in die 60er Jhre des ver-
gangenen Jahrhunderts. Ein besonders charakteristischer Vertreter sei herangezogen, weil er
ausdrücklich die Überzeugung formuliert, das von ihm angegebene methodische Verfahren
lasse sich auf alle Bereiche des Entwerfens ausdehnen. Es handelt sich um Johannes Müller
(1921 – 2008), der sich 1966 mit der methodologischen Untersuchung Operationen und Ver-
fahren des problemlösenden Denkens in der technischen Entwicklungsarbeit in Leipzig habi-
litierte. Nachfolgend vertrat er das Konzept einen Systematischen Heuristik.
Müller stellt seinen Untersuchungen ein Leibnizzitat voran: „Nichts ist wichtiger, als die
Quellen des Erfindens zu sehen, die nach meiner Meinung interessanter sind als die Erfindung
selbst.“ Er ist überzeugt, dass eine „schöpferische Leistung auf der Anwendung von Operato-
ren bzw. Algorithmen basiert, die bei Kenntnis der objektiven Struktur des Problem- und
Sachverhalts […] theoretisch entwickelt werden können.“7 Folgerichtig geht es ihm um die
Freilegung dieser Operationen und Algorithmen, die in Regelschemata verknüpft werden.
Dabei nimmt er als Grundmuster den Regelkreis von Abb. 1 an, der Schritt für Schritt zu

6
    Psychologia empirica, § 469.
7
    Habil.-Schr., Manuskript, Vorwort, S. I.
5


einem komplexen Schema erweitert wird. Dieses soll den gedanklichen Weg des Lösungs-
prozesses nicht im Sinne eines Rezeptes, sondern seiner Struktur erfassen. Er zielt darauf,
einen „rationellen“ Weg der Problematisierung an die Stelle des Herumprobierens zu setzen.
Oder mit Müller: Es geht um „die Verfahren bzw. Algorithmen des konstruierenden Denkens,
das die vom Menschen zu schaffende Wirklichkeit vorwegnimmt“.8



                                   Operatoren O
                                   heuristische Algorithmen A



                                   Methodologie




                                   Operationen
                                         Verfahren
Problem P                                                          Problemauflösung PA

Abb. 1: Johannes Müller, Regelkreis der Methodologie

Alle Schritte Müllers werden in einer quasi-algorithmischen Abfolge vorangetrieben. Zu-
gleich deutet er die Überzeugung an, sein Modell lasse sich „auf alle Bereiche“ anwenden, „in
denen menschliche praktische Tätigkeit zunächst gedanklich vorweggenommen wird“.9 Das
mag fraglos für Bereiche gelten, in denen eine klar zu kennzeichnende und begrenzbare
Sachlage gegeben und das vorliegende Problem scharf umrissen ist. Doch wie steht es um
gänzlich neue, kreative Lösungsideen? Nachträglich mögen sie sich immer in Algorithmen
einfangen lassen – doch so bricht die alte Spannung wieder auf.
Müllers Zugehensweise gehört zu den strukturalistischen und systemtheoretischen Ansätzen,
wie sie für die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts charakteristisch waren.
Ihnen und der Weiterentwicklung bis heute hat Claudia Mareis ein materialreiches Werk
gewidmet, das allerdings weniger der techniktheoretischen Seite gewidmet ist – also dem
englischen technikorientierten konstruktiven engineering design – als vielmehr dem deut-
schen Verständnis von Design in der Nähe des künstlerischen Entwurfs. Ihre Grundthese lau-
tet, diese deutsche Richtung sei sachgerecht als Wissenskultur aufzufassen; deshalb seien
           „Fragen nach den konstitutiven Wissensbeständen des Design ohne die Betrachtung
           von diskursübergreifenden denkhistorischen und soziokulturellen Entwicklungs-
           zusammenhängen sowie [...] ohne vergleichende und praxisnahe Analyse von konkre-




8
    Habil.-Schr., Manuskript, S. 11.
9
    Habil.-Schr., Manuskript, S. 156.
6


        ten gestalterischen Praktiken und materialen Darstellungsformen nicht zu beantwor-
        ten.“10
Claudia Mareis’ Diagnose bezüglich der Wissenskultur ist zutreffend – auch die Ars inveni-
endi und ihre Nachfolger wurden nicht im luftleeren Raum konzipiert: Leibniz und Wolff
wollten die Menschen und die Welt vervollkommnen, die Theorien des 19. Jahrhunderts soll-
ten die Anwendung verbessern, Müller integriert gesellschaftliche Normen, Werte und Forde-
rungen in sein strukturalistisches Konzept und will die ganze Entwicklungsforschung daran
ausrichten. Doch all das enthebt uns nicht der Aufgabe, das Problem des Entwerfens weiter zu
analysieren. Um eine neue Perspektive zu gewinnen, soll deshalb nachfolgend ein anders
gearteter Zugang gewählt werden.


4.   Problemlösen in der Perspektive des Wissens
Auf dem Hintergrund der historischen Skizze lassen sich nun die Elemente eines auf Neues
gerichteten Entwurfs klar zusammentragen: Der Ausgang von einer Problemsituation verlangt
deren Analyse, die zu lösbaren Teilproblemen führt. Die Analyse selbst enthält bereits krea-
tive und heuristische Anteile. Die jeweiligen Lösungen schlagen sich in jeweils fachspezifi-
schen Regeln nieder, die in der Anwendung auf den spezifischen Fall einer Interpretation
bedürfen. Der nächste Schritt besteht in einer Synthese der Teillösungen zu einer Gesamt-
lösungsidee. All dieses geschieht im Rahmen einer wertgebundenen Zielausrichtung. – Diese
Elemente seien nun auf ihre Voraussetzungen beleuchtet.
4.1 Erkenntnisbedingungen
Jede Aufgabe, vor der ein Ingenieur, Architekt oder Designer steht, ist ein Problem, also ein
Fall von Nichtwissen. Das Problem verlangt eine Lösung, mithin im Kleinen wie im Großen
einen Entwurf. Doch wie ist damit umzugehen? Zunächst lässt sich das Nichtwissen in einer
Frage ausdrücken – es ist also nicht inhaltsleer, sondern genauer bestimmbar. Darum kann
Leibniz von einer Problemanalyse ausgehen, die gerichtet ist und zu lösbaren Teilproblemen
führen soll. Doch diese Analyse beruht auf erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die
erfüllt sein müssen:
     1. Theoretische und praktische Vernunft im Sinne Kants, ebenso Lernfähigkeit;
     2. heuristisches Denken im Sinne der Suche nach Lösungsregeln und ihrer Adaption,
     3. teleologisches Denken im Sinne einer Orientierung auf ein Ziel durch ein Denken in
        Mitteln, Zwecken und Funktionen, und
     4. reflektierende Urteilskraft im Sinne des Vermögens, zu einem gegebenen Besonderen
        – die faktische Problemlage – ein Allgemeines – das Lösungsprinzip – zu finden.
Dieses vierte Vermögen beinhaltet zugleich Zieloffenheit – denn das Besondere, also die
gegebene Problemlage, muss gerade nicht zwingend zu einem bestimmten Ziel als Lösung
führen, sondern kann, wie Leibniz das in seinem Verständnis von Synthese hervorhebt,

10
  Claudia Mareis: Design als Wissenskultur. Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960.
Bielefeld: Transcipt 2011, S. 399.
7


durchaus mehrere Lösungen haben. Diese Offenheit ist entscheidend für die Möglichkeit kre-
ativer Lösungen.
4.2 Problemlösungswissen
Vermögen allein reichen nicht aus – sie müssen geübt und mit Inhalten gefüllt werden. Darum
treten konkrete Formen des Wissens hinzu:
   1. Sachverhaltswissen als Wissen um die Ausgangs-Sachlage,
   2. theoretisches Wissen als ein differenziertes Fachwissen,
   3. praktisches Handlungswissen (know how),
   4. Wissen um die jeweiligen Realisierbarkeitsbedingungen und Realisierungsmöglich-
      keiten, und schließlich
   5. normatives Wissen um die zu erfüllenden individuellen und gesellschaftlichen Nor-
      men und Werte einschließlich des Wissens um eine Modifikation der Ziele im Blick
      auf diese Normen und Werte, falls das erforderlich ist.
Das Nichtwissen ist also in einem Raum von Sachverhaltswissen, theoretischem und prakti-
schen Handlungswissen wie schließlich normativem Wissen lokalisiert. Dieses alles macht
das Problemlösungswissen aus, das – anders als Kreativität oder Genialität – erlernbar ist und
deshalb an den Fachhochschulen und Universitäten vermittelt werden kann und muss. Das
aber (und genau hierauf kommt es an) ist zugleich die Voraussetzungen kreativer Lösungen!
Alle diese Vermögen und Wissensformen sind bei jeder menschlichen Handlung gegeben.
Die Besonderheit der Design- und Technikwissenschaften besteht nun darin, dass sie diese
zwar auf der Handlungsebene voraussetzen, jedoch auf der Wissenschaftsebene in Gestalt von
Begriffsverknüpfungen als Theorieelemente in Form von Zeichenverknüpfungen in Allge-
meinheit zu behandeln trachten.
4.3 Möglichkeitsdenken
Doch mit wissen was der Fall ist, praktischem wissen wie, kausalem wissen warum und nor-
mativem wissen wofür ist es nicht getan – um zu einer Lösung zu gelangen müssen diese
Anteile zu etwas jeweils Neuem zusammengeführt werden. Denn alles Entwerfen beginnt im
Raume der Möglichkeiten. Möglichkeiten – das muss nicht etwas sein, das es bereits in der
raumzeitlichen Wirklichkeit gibt, sondern das dem Denken, der Welt der Ideen angehört. Nun
hat sich im Bereich des Möglichkeitsdenkens Entscheidendes gerade in Zusammenhang mit
der Technik gewandelt. Natürlich beruht jede Handlungsentscheidung auf der Vorstellung von
Möglichkeiten und dem Abwägen zwischen ihnen. Das gilt geradeso in jedem Einzelschritt
des Entwerfens. Neu ist jedoch, dass wir heute nicht Technologien für einen bestimmten
Gebrauch konzipieren, sondern für ein weites Spektrum von Möglichkeiten. Backsteine wur-
den im Mittelalter als Formsteine für eine bestimmte zu errichtende Kirche gebrannt – heute
stehen sie als Möglichkeitsangebot im Baustofflager. Doch das ist keineswegs so herausfor-
dernd wie die Entwicklung eines Computers, einer Computersoftware oder gar eine Produkti-
onsstrasse mit Industrierobotern, die beim Modellwechsel einfach umprogrammiert werden:
Was da entwickelt wird, ist eine Möglichkeit für Möglichkeiten, die noch gar nicht fest liegen.
So ist das Denken in iterierten Modalitäten ablesbar nicht nur an jenen virtuellen Welten, in
8


denen das alter ego mit realem Geld virtuelle Gegenstände anschaffen kann, sondern – viel
bedeutsamer – auch in Simulationen der möglichen Folgen einer technologischen, landespla-
nerischen oder Architektur und Design gestaltenden Entscheidung: Der Leibnizsche Gott
wählte unter möglichen Welten des Reichs der Ideen die beste, um sie zu erschaffen. Der
menschliche Schöpfer wählt unter den im Leibnizschen Ideal der Mathematisierung entwor-
fenen möglichen Folgen denjenigen Ablauf, den er für den besten hält. So hat das Entwerfen
selbst einen doppelten modalen Charakter: Möglichkeiten werden virtuell verwirklicht, um
dann eine Entscheidung zu treffen; dabei mag es sich wiederum selbst vielfach um bereitzu-
stellende Möglichkeiten handeln – sei es nun ein neues Transportsystem, ein multifunktiona-
les Gebäude, die Simulation mögliche Entwurfsvarianten oder ein neues Datennetzwerk in
fast virtuellen Clouds. Genau hierin liegt die Besonderheit von Entwerfen als Wissenskultur
heute.


5. Fazit
Grundsätzlich anders als eben beschrieben scheinen die Dinge zu liegen, wenn Kreativität im
Vollsinne des Wortes einbezogen werden soll: Dort versagt jede Methodenlehre – was jede
Wissenschaft jedoch bereit stellen kann und muss, sind die Wissensformen, die das Prob-
lemlösungswissen ausmachen. So sind alle erkenntnistheoretischen Bedingungen geradeso
wie alle Formen des Wissens vorauszusetzen; ebenso hat es den Brückenschlag vom Reich
der Ideen zur Verwirklichung in der raumzeitlichen Wirklichkeit seit Menschengedenken
gegeben – aber ein regelgeleitetes methodisches Vorgehen liegt im Falle der Kreativität
gerade nicht vor, auch wenn die erarbeiteten Voraussetzungen unabdingbar sind. So lässt sich
eine Zusammenführung beider Seiten etwa so skizzieren:


  Wahnsinn                                                 Methode


  Kreativität                                            Wissenschaft
   – undefinierbar
   – methodisch nicht fassbar               theoretische Seite     praktische Seite
   – nicht-rational                              kognitiv              normativ



                                                         methodische Variation
     eingehende    Voraussetzungen:                      heuristische Regeln
                                                         Erkenntnisbedingungen
                                                         Problemlösungswissen
                                                         Möglichkeitsdenken


                Geniale und zugleich regelkonforme Lösung
9


Deshalb ist die Weiterentwicklung dieser Designwissenschaften als Wissenschaften unver-
zichtbar. Zugleich allerdings ist eine Offenheit für Neues die zwingende Voraussetzung: Die
Wissensvermittlung darf also keinesfalls zementierend wirken. Alle Kreativitätsforschung hat
allenfalls aufgezeigt, dass sich eine fruchtbare Atmosphäre in Arbeitsgruppen ebenso als för-
derlich erweisen kann wie brain storming. Schiller hingegen soll sich mehr auf einen faulen-
den Apfel im Schreibpult verlassen haben. Jedenfalls versagt dort jede Methodenlehre.
Wie schon Christian Wolff festhielt, besteht Ingenium – also Kreativität – in der Verknüpfung
von bislang nie zusammengebrachten Möglichkeiten. Ein Genie verbindet entfernte, bislang
nie verbundene Möglichkeiten. Was, wenn man Fußball-Stadion und Spaghetti Bolognese
verbindet? Genau so etwas muss es gewesen sein, das die Baseler Architekten Herzog & de
Meuron zum Pekinger Vogelnest des Olympia-Nationalstadion geführt hat.
Doch gilt es mit Leibniz daran zu erinnern, dass wir die Verantwortung für kreative Lösungen
geradeso wie für heuristisch gewonnene Entwürfe und ihre Folgen tragen. Das wiederum ver-
pflichtet uns, alles Entwerfen in den Dienst der Vervollkommnung zu stellen – um unser aller
Lebenswelt willen.

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Der Wahnsinn hat Methode

  • 1. 1 Hans Poser (TU Berlin) 5.3.12/11.01.12/Ars inveniendi/Entwerfen Essen 06.doc Entwerfen als Wissenschaft? Zur Frage einer Ars inveniendi heute 1. Der Wahnsinn hat Methode Design – der Wahnsinn hat Methode? Gewiss, denn mit ‚Wahnsinn‘ ist Kreativität gemeint, die unverzichtbar ist, um in neuen Intuitionen Nie-Dagewesenes im Reiche der Ideen und Möglichkeiten geradeso wie in den zwei oder drei Dimensionen der raumzeitlichen Wirklich- keit zu erschaffen. Das aber ist ein irrationaler Vorgang, weil er sich nicht auf methodisch- rationale Flaschen ziehen lässt. Ein Technikwissenschaftler sagte scherzhaft: „Ihr Philosophen seid doch Meister im Definieren. Definieren Sie mir mal ganz genau, was Kreativität ist, das Programmieren schaffe ich dann schon.“ Damit ist der Nagel auf den Kopf getroffen; denn ließe sich Kreativität genau definieren, also auf anderes zurückführen, wäre das Ergebnis gerade nichts Neues und Kreatives. ‚Methode‘ hingegen ist bei allem Design, allem Entwerfen unverzichtbar – wie sollte es sonst gelingen, eine Lösungsidee für etwas, für ein gegebenes Problem zu entwickeln. Damit ergibt sich etwa folgendes Bild: Wahnsinn Methode Kreativität Wissenschaft – undefinierbar – methodisch nicht fassbar theoretische Seite praktische Seite – nicht-rational kognitiv normativ geniale Lösung regelhafte Lösung Dieses Spannungsverhältnis von Kreativität und Methode ist konstitutiv für alle Formen des Entwerfens, das vom einfachsten Fall der modifizierenden Anwendung bis hin zum radikal Neuen reicht – sei es nun ein unbekanntes mathematisches Theorem mit Beweis, eine bahn- brechende naturwissenschaftliche Hypothesenbildung, eine unerwartete Konzeption im Berei- che der Normen und Werte, eine technologische Novität, eine ungeahnte architektonische Formensprache oder auch eine erstmalige Designlösung für einen Gebrauchsgegenstand.
  • 2. 2 Wie aber soll beides, Kreativität und Methodik des Entwerfens, zusammengehen können? Wieso soll es dann eine Wissenschaft des Erfindens, eine Ars inveniendi überhaupt geben können? Ars inveniendi, die Kunst des Erfindens – dieser Begriff geht zurück auf Cicero und bezieht sich dort auf die Rhetorik, genauer: auf das Suchen und Finden von überzeugenden Argu- menten.1 In der Renaissance erfuhr diese Vorstellung eine Ausweitung zunächst zu einer Ars combinatoria, die für alle Bereiche des Entwickelns, also auch für neue Wissenschaften ge- radeso wie für das Entwerfen von Technik, von Maschinen einen Weg ebnen sollte. Das ist ein faszinierender Gedanke – und manche Zeichnungen Leonardo da Vincis (1452 – 1519) im Codex Madrid muten so an, als folgten sie ihm in immer neuen Differenzierungen von elementaren Machinenelementen, deren Zusammensetzung jede überhaupt mögliche Ma- schine hervorzubringen erlaubt. Doch ist eine solche Hoffnung nicht gänzlich abwegig? Wie soll bloße Kombinatorik zu wirklich durchbrechend Neuem führen? Gibt es nicht genug grau- enhafte Beispiele, die das widerlegen? Mit Schrecken denkt man an all die auf gleiche Weise langweiligen neuen Gebäude, die wohl unter Verwendung des selben Computerprogramms in den letzten Jahren nicht nur in Berlin entstanden sind. Nun hat Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) – und nicht allein er – schon gegen 1787 in seiner „Anleitung so viel Walzer oder Schleifer mit zwei Würfeln zu componiren so viel man will ohne musikalisch zu seyn noch etwas von der Composition zu verstehen“ (KV3 Anh. 294d) eine Anweisung geliefert. Am PC lässt sich das heute für jeden auch ohne Würfel erle- digen – der Zufallsgenerator leistet die Zusammensetzung.2 Da kann ja nur Unsinn heraus- kommen, mag man denken; doch das Ergebnis klingt tatsächlich nach Mozart – aber verge- bens sucht man nach einer Melodie, einem Thema, nach einer Struktur, die hinaus ginge über die ABA-Form des Menuetts, die traditionelle Taktanzahl und eine angedeutete Coda. Dennoch haben viele Zeitgenossen vor und nach Mozart ähnliche musikalisch-kombinatori- sche Regelwerke vorgeschlagen. Warum also nicht auch im Bereich der Technik, der Archi- tektur und des Design? Nötig ist die Auszeichnung von Grundelementen wie etwa die Takte, dazu Prinzipien der Zusammenfügung, wie sie Mozart in Matrizenform niedergelegt hat; wird nicht gewürfelt, so bleiben sogar Gestaltungsmöglichkeiten offen. Die Wissenschaft beginnt darum bei der Freilegung dieser Ausgangsbedingungen. Ob dabei für für den Designer Brauchbares herauskommen mag, bleibt offen – denn genau der Mozartschen Methode hat sich Friedensreich Hundertwasser bei seinem Siebdruck Homo Humus come va 10001 Nights, gedruckt in 10.002 Exemplaren und dank des Zufallsgenerators in jeweils anderen Farb- zusammenstellungen… 1 Cicero, De inventione. 2 Programm unter http://sunsite.univie.ac.at/Mozart/dice/
  • 3. 3 2. Projekte einer Ars inveniendi: G.W. Leibniz und Chr. Wolff Der Gedanke, man müsse eine Ars inveniendi für alle Wissenschaften, also auch für die gestal- tenden Wissenschaften wie die Technik entwickeln, geht auf Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) zurück. Er ist überzeugt, die „mater aller inventionen“ in der Ars inveniendi gefunden zu haben, weil bei einer bloßen Kombinatorik zu viele unsinnige Verknüpfungen entstehen. Er notiert, die Ars inveniendi sei „die Leitung der Gedanken, jegliche Art unbekannter Wahrheit zu ermitteln“.3 Es geht also nicht um ein Menuett, sondern um Wahrheit als Grundbedingung aller Wissenschaftlichkeit. So gibt er 1676 zehn Regeln an, denen die Ars inveniendi zu folgen hat.4 Im Kern lassen sie sich als Methodenkanon so zusammenfassen: Ein gegebenes Problem ist in der Analyse mindestens so weit zu zerlegen, dass sich unabhängige Teilprobleme ergeben. Diesen Teilproblemen sind bekannte Lösungen in Gestalt wahrer Prinzipien zuzuord- nen, die entweder aus der Erfahrung stammen oder aus dem Denken.5 Für alle diese Teile sind angemessene Zeichen und deren Verknüpfungsregeln zu ent- wickeln; dabei soll möglichst eine Abbildung in die Arithmetik gesucht werden. Nun folgt eine systematische Synthese, ausgehend von den bereits als wahr erkannten Prinzipien, sodass sich eine zutreffende Lösung des Ausgangsproblems ergibt. Weitere Zusammensetzungen führen unabhängig vom ursprünglichen Ausgangspunkt zu weiteren neuen Erkenntnissen. Zeichen ist dabei sehr allgemein zu verstehen – es geht nicht um Buchstaben, sondern auch um Noten der Musik, um bildhafte Zeichen wie Hieroglyphen, um Symbole – entscheidend ist jedoch, dass sie nicht allein stehen dürfen, sondern nach Regeln miteinander verknüpft sind. Damit schulden wir Leibniz die Einsicht, dass jede inventio, jeder Entwurf auf drei entschei- denden Elementen basiert, der Problemanalyse, der zu Neuem führenden Synthese und die beides allererst ermöglichende Verwendung von Zeichen und deren Verknüpfung; anders wäre eine rationale Problemlösungsstrategie nicht möglich. Leibnizens mathematischen ebenso wie seine technologischen Problemlösungen zeigen zugleich, dass hierbei wesentlich kreative Momente eingehen, von der Entwicklung geeigneter Symbole über fruchtbare Analy- sen bis zu ideenreichen Synthesen. Mehr noch, entscheidende normative Elemente in bilden die Leibnizsche Voraussetzung einer Ars inveniendi: Alle menschlichen Erfindungen, Ent- wicklungen und Entwürfe sollen abzielen auf einer Vervollkommnung des Menschen, der Gesellschaft, der Welt. Konkreter wird es bei Christian Wolff (1679 – 1754). Er ergänzt das Leibniz-Modell um die Forderung nach einer Methode der Variation. Doch um zu bislang Unerkanntem vorstoßen 3 De Encyclopedia nova conscribenda, A VI.4, N. 81, S. 345. 4 De la Sagesse, A VI.3, N. 896, S. 670-672. 5 De Synthesi et Analysi universali seu Arte inveniendi et judicandi, A VI.4, N. 129, S. 543.
  • 4. 4 zu können, bedarf es überdies der Artificia heuristica, also heuristischer Regeln.6 Diese betreffen bereits die Problemanalyse, weil ein Problem sich nicht wie ein Fahrrad in wohl- bestimmte Einzelteile zerlegen lässt, sondern im Blick auf die Problemlösung höchst eigen- ständiger Ansätze bedarf. Seither gehören heuristische Regeln zur Grundausstattung jeder Problemlösungsstrategie, auch wenn kreative Lösungen mit ihnen nicht zu gewinnen sind. Jede Entwurfswissenschaft muss hierbei ihre eigenen Regeln und Methoden haben. Regeln aber sind anders als Naturgesetze nicht wahr oder falsch – sie sind effektive Handlungsan- weisungen. Auf diese Weise ist eine ganz wesentliche Differenz zwischen Naturwissen- schaften und Gestaltungswissenschaften eingeführt. Damit sind wir durchaus den gestaltenden Wissenschaften näher gekommen; denn gerade für das Bauwesen gibt Wolff der Ars inveniendi folgend Regeln an. Etwas weiteres Neues tritt hinzu, denn ein Gebäude verlangt die Erfüllung zahlreicher wertender Bedingungen, etwa sicher zu sein und schön. Doch überzeugt von einer alles durchwaltenden Rationalität glaubt Wolff, hierfür vernunftgemäße Kriterien angeben zu können. Spätestens an dieser Stelle wird die Spannung sichtbar, die sich zwischen kreativen neuen Ideen und einer Regelbefolgung auftut: Kein wie immer geartetes Regelsystem kann die Kreativität ersetzen – darum ist Genie gefordert. 3. Systematische Heuristik: Johannes Müller Die sich abzeichnende Schwierigkeit hat im 19. Jahrhundert zu einer großen Breite von Kon- struktionslehren der neuen Technischen Hochschulen geführt, getragen von dem Gedanken, es müsse möglich sein, das technische Entwerfen, also Engineering design, auf eine solide wissenschaftliche Basis zu stellen – denn wie soll es Technikwissenschaften geben können, wenn das nicht gewährleistet ist? Diese Bemühungen ziehen sich bis in die 60er Jhre des ver- gangenen Jahrhunderts. Ein besonders charakteristischer Vertreter sei herangezogen, weil er ausdrücklich die Überzeugung formuliert, das von ihm angegebene methodische Verfahren lasse sich auf alle Bereiche des Entwerfens ausdehnen. Es handelt sich um Johannes Müller (1921 – 2008), der sich 1966 mit der methodologischen Untersuchung Operationen und Ver- fahren des problemlösenden Denkens in der technischen Entwicklungsarbeit in Leipzig habi- litierte. Nachfolgend vertrat er das Konzept einen Systematischen Heuristik. Müller stellt seinen Untersuchungen ein Leibnizzitat voran: „Nichts ist wichtiger, als die Quellen des Erfindens zu sehen, die nach meiner Meinung interessanter sind als die Erfindung selbst.“ Er ist überzeugt, dass eine „schöpferische Leistung auf der Anwendung von Operato- ren bzw. Algorithmen basiert, die bei Kenntnis der objektiven Struktur des Problem- und Sachverhalts […] theoretisch entwickelt werden können.“7 Folgerichtig geht es ihm um die Freilegung dieser Operationen und Algorithmen, die in Regelschemata verknüpft werden. Dabei nimmt er als Grundmuster den Regelkreis von Abb. 1 an, der Schritt für Schritt zu 6 Psychologia empirica, § 469. 7 Habil.-Schr., Manuskript, Vorwort, S. I.
  • 5. 5 einem komplexen Schema erweitert wird. Dieses soll den gedanklichen Weg des Lösungs- prozesses nicht im Sinne eines Rezeptes, sondern seiner Struktur erfassen. Er zielt darauf, einen „rationellen“ Weg der Problematisierung an die Stelle des Herumprobierens zu setzen. Oder mit Müller: Es geht um „die Verfahren bzw. Algorithmen des konstruierenden Denkens, das die vom Menschen zu schaffende Wirklichkeit vorwegnimmt“.8 Operatoren O heuristische Algorithmen A Methodologie Operationen Verfahren Problem P Problemauflösung PA Abb. 1: Johannes Müller, Regelkreis der Methodologie Alle Schritte Müllers werden in einer quasi-algorithmischen Abfolge vorangetrieben. Zu- gleich deutet er die Überzeugung an, sein Modell lasse sich „auf alle Bereiche“ anwenden, „in denen menschliche praktische Tätigkeit zunächst gedanklich vorweggenommen wird“.9 Das mag fraglos für Bereiche gelten, in denen eine klar zu kennzeichnende und begrenzbare Sachlage gegeben und das vorliegende Problem scharf umrissen ist. Doch wie steht es um gänzlich neue, kreative Lösungsideen? Nachträglich mögen sie sich immer in Algorithmen einfangen lassen – doch so bricht die alte Spannung wieder auf. Müllers Zugehensweise gehört zu den strukturalistischen und systemtheoretischen Ansätzen, wie sie für die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts charakteristisch waren. Ihnen und der Weiterentwicklung bis heute hat Claudia Mareis ein materialreiches Werk gewidmet, das allerdings weniger der techniktheoretischen Seite gewidmet ist – also dem englischen technikorientierten konstruktiven engineering design – als vielmehr dem deut- schen Verständnis von Design in der Nähe des künstlerischen Entwurfs. Ihre Grundthese lau- tet, diese deutsche Richtung sei sachgerecht als Wissenskultur aufzufassen; deshalb seien „Fragen nach den konstitutiven Wissensbeständen des Design ohne die Betrachtung von diskursübergreifenden denkhistorischen und soziokulturellen Entwicklungs- zusammenhängen sowie [...] ohne vergleichende und praxisnahe Analyse von konkre- 8 Habil.-Schr., Manuskript, S. 11. 9 Habil.-Schr., Manuskript, S. 156.
  • 6. 6 ten gestalterischen Praktiken und materialen Darstellungsformen nicht zu beantwor- ten.“10 Claudia Mareis’ Diagnose bezüglich der Wissenskultur ist zutreffend – auch die Ars inveni- endi und ihre Nachfolger wurden nicht im luftleeren Raum konzipiert: Leibniz und Wolff wollten die Menschen und die Welt vervollkommnen, die Theorien des 19. Jahrhunderts soll- ten die Anwendung verbessern, Müller integriert gesellschaftliche Normen, Werte und Forde- rungen in sein strukturalistisches Konzept und will die ganze Entwicklungsforschung daran ausrichten. Doch all das enthebt uns nicht der Aufgabe, das Problem des Entwerfens weiter zu analysieren. Um eine neue Perspektive zu gewinnen, soll deshalb nachfolgend ein anders gearteter Zugang gewählt werden. 4. Problemlösen in der Perspektive des Wissens Auf dem Hintergrund der historischen Skizze lassen sich nun die Elemente eines auf Neues gerichteten Entwurfs klar zusammentragen: Der Ausgang von einer Problemsituation verlangt deren Analyse, die zu lösbaren Teilproblemen führt. Die Analyse selbst enthält bereits krea- tive und heuristische Anteile. Die jeweiligen Lösungen schlagen sich in jeweils fachspezifi- schen Regeln nieder, die in der Anwendung auf den spezifischen Fall einer Interpretation bedürfen. Der nächste Schritt besteht in einer Synthese der Teillösungen zu einer Gesamt- lösungsidee. All dieses geschieht im Rahmen einer wertgebundenen Zielausrichtung. – Diese Elemente seien nun auf ihre Voraussetzungen beleuchtet. 4.1 Erkenntnisbedingungen Jede Aufgabe, vor der ein Ingenieur, Architekt oder Designer steht, ist ein Problem, also ein Fall von Nichtwissen. Das Problem verlangt eine Lösung, mithin im Kleinen wie im Großen einen Entwurf. Doch wie ist damit umzugehen? Zunächst lässt sich das Nichtwissen in einer Frage ausdrücken – es ist also nicht inhaltsleer, sondern genauer bestimmbar. Darum kann Leibniz von einer Problemanalyse ausgehen, die gerichtet ist und zu lösbaren Teilproblemen führen soll. Doch diese Analyse beruht auf erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen: 1. Theoretische und praktische Vernunft im Sinne Kants, ebenso Lernfähigkeit; 2. heuristisches Denken im Sinne der Suche nach Lösungsregeln und ihrer Adaption, 3. teleologisches Denken im Sinne einer Orientierung auf ein Ziel durch ein Denken in Mitteln, Zwecken und Funktionen, und 4. reflektierende Urteilskraft im Sinne des Vermögens, zu einem gegebenen Besonderen – die faktische Problemlage – ein Allgemeines – das Lösungsprinzip – zu finden. Dieses vierte Vermögen beinhaltet zugleich Zieloffenheit – denn das Besondere, also die gegebene Problemlage, muss gerade nicht zwingend zu einem bestimmten Ziel als Lösung führen, sondern kann, wie Leibniz das in seinem Verständnis von Synthese hervorhebt, 10 Claudia Mareis: Design als Wissenskultur. Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960. Bielefeld: Transcipt 2011, S. 399.
  • 7. 7 durchaus mehrere Lösungen haben. Diese Offenheit ist entscheidend für die Möglichkeit kre- ativer Lösungen. 4.2 Problemlösungswissen Vermögen allein reichen nicht aus – sie müssen geübt und mit Inhalten gefüllt werden. Darum treten konkrete Formen des Wissens hinzu: 1. Sachverhaltswissen als Wissen um die Ausgangs-Sachlage, 2. theoretisches Wissen als ein differenziertes Fachwissen, 3. praktisches Handlungswissen (know how), 4. Wissen um die jeweiligen Realisierbarkeitsbedingungen und Realisierungsmöglich- keiten, und schließlich 5. normatives Wissen um die zu erfüllenden individuellen und gesellschaftlichen Nor- men und Werte einschließlich des Wissens um eine Modifikation der Ziele im Blick auf diese Normen und Werte, falls das erforderlich ist. Das Nichtwissen ist also in einem Raum von Sachverhaltswissen, theoretischem und prakti- schen Handlungswissen wie schließlich normativem Wissen lokalisiert. Dieses alles macht das Problemlösungswissen aus, das – anders als Kreativität oder Genialität – erlernbar ist und deshalb an den Fachhochschulen und Universitäten vermittelt werden kann und muss. Das aber (und genau hierauf kommt es an) ist zugleich die Voraussetzungen kreativer Lösungen! Alle diese Vermögen und Wissensformen sind bei jeder menschlichen Handlung gegeben. Die Besonderheit der Design- und Technikwissenschaften besteht nun darin, dass sie diese zwar auf der Handlungsebene voraussetzen, jedoch auf der Wissenschaftsebene in Gestalt von Begriffsverknüpfungen als Theorieelemente in Form von Zeichenverknüpfungen in Allge- meinheit zu behandeln trachten. 4.3 Möglichkeitsdenken Doch mit wissen was der Fall ist, praktischem wissen wie, kausalem wissen warum und nor- mativem wissen wofür ist es nicht getan – um zu einer Lösung zu gelangen müssen diese Anteile zu etwas jeweils Neuem zusammengeführt werden. Denn alles Entwerfen beginnt im Raume der Möglichkeiten. Möglichkeiten – das muss nicht etwas sein, das es bereits in der raumzeitlichen Wirklichkeit gibt, sondern das dem Denken, der Welt der Ideen angehört. Nun hat sich im Bereich des Möglichkeitsdenkens Entscheidendes gerade in Zusammenhang mit der Technik gewandelt. Natürlich beruht jede Handlungsentscheidung auf der Vorstellung von Möglichkeiten und dem Abwägen zwischen ihnen. Das gilt geradeso in jedem Einzelschritt des Entwerfens. Neu ist jedoch, dass wir heute nicht Technologien für einen bestimmten Gebrauch konzipieren, sondern für ein weites Spektrum von Möglichkeiten. Backsteine wur- den im Mittelalter als Formsteine für eine bestimmte zu errichtende Kirche gebrannt – heute stehen sie als Möglichkeitsangebot im Baustofflager. Doch das ist keineswegs so herausfor- dernd wie die Entwicklung eines Computers, einer Computersoftware oder gar eine Produkti- onsstrasse mit Industrierobotern, die beim Modellwechsel einfach umprogrammiert werden: Was da entwickelt wird, ist eine Möglichkeit für Möglichkeiten, die noch gar nicht fest liegen. So ist das Denken in iterierten Modalitäten ablesbar nicht nur an jenen virtuellen Welten, in
  • 8. 8 denen das alter ego mit realem Geld virtuelle Gegenstände anschaffen kann, sondern – viel bedeutsamer – auch in Simulationen der möglichen Folgen einer technologischen, landespla- nerischen oder Architektur und Design gestaltenden Entscheidung: Der Leibnizsche Gott wählte unter möglichen Welten des Reichs der Ideen die beste, um sie zu erschaffen. Der menschliche Schöpfer wählt unter den im Leibnizschen Ideal der Mathematisierung entwor- fenen möglichen Folgen denjenigen Ablauf, den er für den besten hält. So hat das Entwerfen selbst einen doppelten modalen Charakter: Möglichkeiten werden virtuell verwirklicht, um dann eine Entscheidung zu treffen; dabei mag es sich wiederum selbst vielfach um bereitzu- stellende Möglichkeiten handeln – sei es nun ein neues Transportsystem, ein multifunktiona- les Gebäude, die Simulation mögliche Entwurfsvarianten oder ein neues Datennetzwerk in fast virtuellen Clouds. Genau hierin liegt die Besonderheit von Entwerfen als Wissenskultur heute. 5. Fazit Grundsätzlich anders als eben beschrieben scheinen die Dinge zu liegen, wenn Kreativität im Vollsinne des Wortes einbezogen werden soll: Dort versagt jede Methodenlehre – was jede Wissenschaft jedoch bereit stellen kann und muss, sind die Wissensformen, die das Prob- lemlösungswissen ausmachen. So sind alle erkenntnistheoretischen Bedingungen geradeso wie alle Formen des Wissens vorauszusetzen; ebenso hat es den Brückenschlag vom Reich der Ideen zur Verwirklichung in der raumzeitlichen Wirklichkeit seit Menschengedenken gegeben – aber ein regelgeleitetes methodisches Vorgehen liegt im Falle der Kreativität gerade nicht vor, auch wenn die erarbeiteten Voraussetzungen unabdingbar sind. So lässt sich eine Zusammenführung beider Seiten etwa so skizzieren: Wahnsinn Methode Kreativität Wissenschaft – undefinierbar – methodisch nicht fassbar theoretische Seite praktische Seite – nicht-rational kognitiv normativ methodische Variation eingehende Voraussetzungen: heuristische Regeln Erkenntnisbedingungen Problemlösungswissen Möglichkeitsdenken Geniale und zugleich regelkonforme Lösung
  • 9. 9 Deshalb ist die Weiterentwicklung dieser Designwissenschaften als Wissenschaften unver- zichtbar. Zugleich allerdings ist eine Offenheit für Neues die zwingende Voraussetzung: Die Wissensvermittlung darf also keinesfalls zementierend wirken. Alle Kreativitätsforschung hat allenfalls aufgezeigt, dass sich eine fruchtbare Atmosphäre in Arbeitsgruppen ebenso als för- derlich erweisen kann wie brain storming. Schiller hingegen soll sich mehr auf einen faulen- den Apfel im Schreibpult verlassen haben. Jedenfalls versagt dort jede Methodenlehre. Wie schon Christian Wolff festhielt, besteht Ingenium – also Kreativität – in der Verknüpfung von bislang nie zusammengebrachten Möglichkeiten. Ein Genie verbindet entfernte, bislang nie verbundene Möglichkeiten. Was, wenn man Fußball-Stadion und Spaghetti Bolognese verbindet? Genau so etwas muss es gewesen sein, das die Baseler Architekten Herzog & de Meuron zum Pekinger Vogelnest des Olympia-Nationalstadion geführt hat. Doch gilt es mit Leibniz daran zu erinnern, dass wir die Verantwortung für kreative Lösungen geradeso wie für heuristisch gewonnene Entwürfe und ihre Folgen tragen. Das wiederum ver- pflichtet uns, alles Entwerfen in den Dienst der Vervollkommnung zu stellen – um unser aller Lebenswelt willen.