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MF/1
Heimspiel
Das Magazin von SOS-Kinderdorf #1/2016
Wie durch Sport Integration gelingt
SEITE 10: Österreichische Helden
auf dem Rasen
SEITE 14: Interview mit einem
Ex-Salafisten
SEITE 20: Hass im Netz
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
SALTO hat junge
Flüchtlinge
besucht, die beim
Sport neue Her-
ausforderungen
sowie Freundin-
nen und Freunde
in Österreich
gefunden haben.
Sie heißen Alaba,
Junuzovic, Özcan
und Co – und sind
durch und durch
österreichische
Helden: Im öster-
reichischen Fuß-
ball-Nationalteam
spielen Migranten
der ersten, zwei-
ten und dritten
Generation auf
zentralen Posi-
tionen. „Fußball
bietet die Chance
auf sozialen
Aufstieg“, sagt
ÖFB-Trainer
Rupert Marko.
Im Internet, so
scheint es, fallen
bei Postings zu
Flüchtlingen alle
Hemmungen.
Nicht einmal
vor Kindern und
Jugendlichen
machen die Hass­
poster in den
sozialen Medien
Halt. Ein Blick
hinter das Phäno-
men Hass im Netz
– und mögliche
Gegenstrategien.
Dominic Musa
Schmitz hat die
deutsche Sala-
fistenszene von
innen kennen-
gelernt – und
tourt nun als
Aussteiger durch
Schulen. SALTO
erzählte er, wie er
in den Radikalis-
mus gekippt ist.
Tyma Kraitt,
Tochter eines
Syrers und einer
Irakerin, hat sich
als Autorin und
Journalistin mit
dem Thema Inte-
gration beschäf-
tigt. Für Familien,
die ihre Töchter
in Österreich
nicht in die Schu-
le schicken, dürfe
es keinen Pardon
geben, meint sie.
4
Gemeinsam
dabei sein
ist alles!
10
Neue
Rasen-
Helden
14
Einmal
Salafismus
und zurück
16
Glückssache
Bildung
20
Likes für
den Hass
24
Flucht und
Frauenrollen
Morteza und
Asghar sind
gemeinsam aus
ihrer Heimat ge-
flüchtet. Nun lebt
der eine in einer
WG, der andere
in einem Groß-
quartier – mit
enormen Auswir-
kungen auf ihre
Integration. Eine
Geschichte über
Chancen.
Herausgeber/Medieneigentümer
SOS-Kinderdorf Österreich
Stafflerstr. 10a, 6020 Innsbruck
T:+43 512 580 101
E: salto@sos-kinderdorf.at
Rechtsform
SOS-Kinderdorf Österreich ist ein
gemeinnütziger Verein und Grün-
dungsmitglied des Dachverban-
des SOS-Kinderdorf International.
Vereinsregisternr.: 844967029
Vereinszweck
SOS-Kinderdorf ist ein überpartei-
liches, auf privater Initiative beru-
hendes Sozialwerk zur Betreuung
und Begleitung in Not geratener
Kinder, Jugendlicher und junger
Erwachsener in SOS-Kinder-
dorf-Familien, familienähnlichen
Gemeinschaften und familienstär-
kenden Angeboten.
Für den Inhalt verantwortlich
Nora Deinhammer
Chefredakteurin
Martina Stemmer
Chefin vom Dienst
Andrea Heigl
Redaktion
Susanne Schönmayr, Martina Molih
Art Director
Markus Zahradnik
Corporate Publishing
bettertogether
Kommunikationsagentur
Gestaltung
Schrägstrich
Kommunikationsdesign
Druck
Gedruckt nach der Richtlinie
„Druckerzeugnisse“ des Öster­
reichischen Umweltzeichens,
NP DRUCK, UW-Nr. 808
Das nächste SALTO erscheint
zum Kinderrechtetag am
20. November 2016.
Thema: Werden Buben zu
wenig gefördert?
Haben Sie Anregungen dazu?
Dann schreiben Sie uns an
salto@sos-kinderdorf.at
Dieses Produk
für schadstoffa
Grasl FairPrint
Impressum und Offenlegung nach § 25 Mediengesetz:
2/3
Für einen Salto braucht man Mut. Und die Bereitschaft, die Welt für einen Moment aus
einer anderen Perspektive zu betrachten. Mit dem Ziel, am Ende wieder mit beiden Bei-
nen fest auf dem Boden zu landen. SALTO heißt das neue Magazin von SOS-Kinderdorf.
In der ersten Ausgabe geht es um junge Menschen, die besonders viel Mut und Ent-
schlossenheit aufbringen mussten – um Kinder und Jugendliche, die aus ihrer Heimat
nach Österreich geflüchtet sind, viele von ihnen ohne Eltern. Sie haben Krieg und Terror
erlebt, Menschen sterben gesehen und sind nun auf sich gestellt.
Für SALTO haben eine ganze Reihe namhafter österreichischer Journalistinnen und
Journalisten Beiträge verfasst. Sie gehen den Fragen nach: Wie können wir diese jungen
Menschen in unsere Gesellschaft integrieren? Wie gehen wir mit den unterschiedlichen
Weltanschauungen um, die da aufeinandertreffen? Und wie verhindern wir die Entste-
hung von Parallelgesellschaften?
Dabei wollen wir auch zeigen, dass es oft gar nicht so viel braucht, damit das Mit­
einander gut funktioniert. Manchmal reicht ein rundes Ding aus Leder. Oder die Möglich-
keit, etwas zu lernen. Und es hilft, wenn jene Menschen, die schon lange in Österreich
leben, Zuversicht, Courage und guten Willen zeigen. Wenn auch sie hin und wieder einen
kleinen Salto wagen.
Eine spannende Lektüre wünschen
Christian Moser			 Martina Stemmer
Geschäftsführer SOS-Kinderdorf Österreich		 Chefredakteurin SALTO
	
PS: Wir freuen uns auf Rückmeldungen und Anregungen unter
martina.stemmer@sos-kinderdorf.at
Liebe Leserin, lieber Leser!
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Heimspiel
Das Magazin von SOS-Kinderdorf #1/2016
Wie durch Sport Integration gelingt
SEITE 10: Österreichische Helden
auf dem Rasen
SEITE 14: Interview mit einem
Ex-Salafisten
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Arbeit von SOS-Kinderdorf mit 15 Euro.Als Dankeschön
erhalten Sie die neue Setz-Dich-ein-Stofftasche.
Einfach E-Mail an salto@sos-kinderdorf.at senden!
Ingrid Brodnig ist Medien-
redakteurin von „profil“ und
Buchautorin.
Karl Fluch ist langjähriger
Kulturredakteur bei der
Tageszeitung „Der Standard“.
Christian Hackl ist Fußball-
Experte bei der Tageszei-
tung „Der Standard“.
Nina Horaczek ist Chefre-
porterin beim „Falter“ sowie
Buchautorin.
Anneliese Rohrer ist eine
profunde Politik-Kennerin.
Sie kommentiert, bloggt und
schreibt Bücher.
Anna Thalhammer arbeitet
in der Chronik-Redaktion der
Tageszeitung „Die Presse“.
SOS-Kinderdorf bedankt
sich bei den Autorinnen
und Autoren von SALTO:
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
F
ür die meisten Sportarten gilt: Es braucht nicht viele
Worte, um sie zu betreiben. Egal ob Fußball, Volleyball
oder Ringen, die Regeln sind auf der ganzen Welt die-
selben. Für das gemeinsame Austoben gibt es keine Hürden,
weder sprachliche noch bürokratische. Deshalb ist Sport
ein regelrechter Integrationsmotor. Auf dem Platz sind alle
gleich – das bestätigen auch die Fußballer des österreichi-
schen Nationalteams, in denen Flüchtlinge und Migranten
zweiter und dritter Generation schon seit Langem eine
zentrale Rolle spielen (s. Seiten 10 und 11).
Für das gemeinsame Fußballspiel im Park braucht es
nicht viel, nur ein Paar Schuhe und einen Ball. Sport ver-
bindet, er stellt alle auf dasselbe Stockerl, egal, woher sie
kommen; nur das Talent und das Engagement zählen, nicht
die Sprache oder die Herkunft.
Lektionen fürs Leben
Sport ist außerdem ein ausgezeichneter Lehrer: Teamgeist,
Fairness, Disziplin, Ausdauer und Taktik – das brauchen
Kinder, die sportliche Ziele erreichen wollen. Wer gelernt
hat, nach einer Niederlage wieder aufzustehen und weiterzu-
machen, der hat eine Lektion fürs Leben gelernt.
SALTO hat vier geflüchtete Kinder und Jugendliche beim
Sport begleitet. Für manche, wie den 15-jährigen Schwimmer
Nawid aus Afghanistan, ist der Sport einfach Zeitvertreib
und willkommene Abwechslung. Für Jilan (17) aus Syrien ist
das wöchentliche Volleyballtraining mit einer Mannschaft in
Salzburg der erste regelmäßige Kontakt mit österreichischen
Mädchen, der erste Anknüpfungspunkt im neuen Land.
Ähnlich geht es Judy, elf Jahre und ebenfalls aus Syrien.
Sie trainiert regelmäßig mit dem Mädchen- und Frauen-
fußballverein 23 der Sportunion Wien. Ali Reza (17) aus
Afghanistan hat bereits in seiner Heimat vier Jahre lang das
so genannte Kuschti (Ringen) trainiert. In Österreich fährt
er nun zwei Mal pro Woche nach Wien, wo er unter den
Tribünen des Ernst-Happel-Stadions mit der Union Wien
West trainiert. Er hat in Österreich bereits bei mehreren
Wettkämpfen Medaillen gewonnen.
Gemeinsam
dabei sein ist alles!
Kampf und Konkurrenz – das ist die eine Seite der Medaille beim Sport. Das Miteinander
auf dem Spielfeld, auf der Turnmatte, im Wasser ist aber auch ein Motor für Integration.
SALTO hat junge Flüchtlinge gefragt,was Sport für sie bedeutet.
TEXT: SUSANNE SCHÖNMAYR FOTOS: CHRISTOPHER GLANZL / STEFAN SEELIG
4/5
Kleine Info am Rande
Er hörte leise Schritte hinter sich. Das bedeutete
nichts Gutes.Wer würde ihm schon folgen, spät in der
Nacht und dazu noch in dieser engen Gasse mitten
im übel beleumundeten Hafenviertel?
Judy, 11, Syrien
„Seit mich meine Freundin aus Wien das
erste Mal zum Fußballtraining mitge-
nommen hat, komme ich jede Woche her.
Zu Hause in Syrien habe ich nie Sport
gemacht, aber hier macht es mir großen
Spaß.“
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
6/7
Nawid, 15,Afghanistan
„Ich war auch in Afghanistan oft schwimmen und
mag Kraulen und Brustschwimmen.Am meisten
Spaß macht aber das ins Becken hüpfen. Leider ist
das in den meisten Bädern verboten.“
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
Kleine Info am Rande
Er hörte leise Schritte hinter sich.
Das bedeutete nichts Gutes.Wer
würde ihm schon folgen, spät in
der Nacht und dazu noch in dieser
engen Gasse mitten im übel beleu-
mundeten Hafenviertel?
Jilan, 17, Syrien
„Ich bin in einer Volleyballmannschaft
mit österreichischen und syrischen
Mädchen. Manchmal spielen wir auch
gegen Burschen aus unserem Wohnhaus.“
8/9
Kleine Info am Rande
Er hörte leise Schritte hinter sich. Das bedeutete
nichts Gutes.Wer würde ihm schon folgen, spät in der
Nacht und dazu noch in dieser engen Gasse mitten
im übel beleumundeten Hafenviertel?
Ali Reza, 17,Afghanistan
„Das Ringen ist für mich der beste Sport, denn es gibt
mir Energie zum Leben. Man muss schnell und stark
sein, braucht aber auch die richtige Technik.“
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
Z
latko Junuzovic kann problemlos
darüber sprechen. „Weil ich mich
nicht daran erinnern kann.“ Vier­
einhalb Jahre alt ist der heute 28-Jäh-
rige gewesen, als er mit Papa, Mama
und der älteren Schwester in Kärnten
eingetroffen ist. Die genauen Umstände
der Flucht vor dem Bosnienkrieg kennt
er nicht. „Mein Papa hat ein bisserl
was erzählt, sicher nicht alles, ich
akzeptiere das. Es muss schrecklich
gewesen sein.“
Die Familie Junuzovic lebt in Graz,
der Vater arbeitet in einem Lager. Der
Sohn wohnt in Bremen, er kickt ja für
Werder in der deutschen Bundesliga.
Bis zum 15. Lebensjahr besaß Zlatko
auch die bosnische Staatsbürger-
schaft, er hat sie ohne sentimentale
Gefühle zurückgelegt. „Ich kenne nur
Österreich, ich fühle mich als Österrei-
cher, wurde da sozialisiert, habe hier
den Fußball erlernt.“ Er ist noch nie in
der Heimat seiner Vorfahren gewesen,
Sarajevo kennt er nur aus Erzählungen.
Die Oma und die Tante sind in Bosnien
geblieben, der Kontakt wird regelmä-
ßig gepflegt. „Aber sie besuchen immer
nur uns.“
Junuzovic ist ein der Stützen der
österreichischen Nationalmannschaft
und am Aufschwung unmittelbar betei-
ligt. Seit Jahren. Trotzdem ist er eine
Ausnahme. Denn andere Stützen wie
Aleksandar Dragovic, Marko Arnautovic
(beide serbischer Hintergrund), David
Alaba (Vater aus Nigeria, Mutter von
den Philippinen) oder auch Ramazan
Özcan und Veli Kavlak (beide türkischer
Hintergrund) wurden in Österreich
geboren. In zweiter oder gar dritter
Generation. Wienerischer als Alaba geht
kaum. Zum Weltklassefußballer ist er
bei Bayern München gereift.
„Als Fußballer hast du es leichter“
Dragovic hat als Bub bei der Austria
gekickt. „Ich bin dankbar, eine wunder-
bare Zeit.“ Momentan dient er Dynamo
Kiew. Kommt er nach Wien, „komme
Seit vielen Jahren prägen
Migranten den heimischen
Profi-Fußball. Die meisten
entstammen der zweiten
und dritten Generation,
manche – wie Zlatko
Junuzovic – haben aber
auch selbst eine Flucht
hinter sich.
TEXT: CHRISTIAN HACKL
David Alaba,
Rubin Okotie,
Aleksandar Dragovic,
Marko Arnautovic,
Zlatko Junuzovic,
Ramazan Özcan:
Was wäre das
österreichische
Nationalteam ohne
Migranten?
Fotos:APApicturedesk
Österreichische Helden:
Alaba, Dragovic, Özcan  Co
10/11
ich in meine Heimat und bestelle
Schnitzel.“ Dragovic streitet nicht ab,
dass es Parallelgesellschaften gibt.
„Als Fußballer hast du es sicher leich-
ter. Da geht es um den gemeinsamen
Erfolg. Bist du gut, ist egal, woher du
stammst.“ Auch Arnautovic, Legionär
bei Stoke City, sieht das ähnlich. „Hast
du Talent und machst etwas draus,
schaffst du es, dann spielt die Herkunft
eine untergeordnete Rolle.“ Tormann
Özcan fühlt sich beiden Ländern
zugetan. „Ich mag die Türkei, ich mag
Österreich. Ich kann mit beiden Kultu-
ren etwas anfangen und sehe das als
Bereicherung.“
ÖFB-Präsident Leo Windtner be-
tont zwar nicht dauernd, aber immer,
wenn er danach gefragt wird, „die
integrative Kraft des Fußballs. Integra-
tion wird im Sport vorgelebt. Aber na-
türlich ist es einfacher als in anderen
gesellschaftlichen Bereichen.“ Rupert
Marko ist der Teamchef der österrei-
chischen U19-Auswahl. Er geht davon
ein Vorbild sein, für einen offenen,
solidarischen Umgang eintreten. Wobei
der Sport nicht die Probleme der Welt
lösen kann.“
Karriere im Ausland
Die österreichischen Klubs profitieren
von den Talenten, egal ob mit oder
ohne Migrationshintergrund, nur be-
dingt. Das hat aber mit der Liga zu tun.
Die besten wechseln als Jugendliche
ins Ausland, weil sie dort die größeren
Perspektiven sehen. Sportlich wie
finanziell. Das Nationalteam wird von
dieser Entwicklung eher profitieren, es
besteht jetzt schon nahezu ausschließ-
lich aus Legionären. Zlatko Junuzovic
hat im Vorjahr, als die Flüchtlingswel-
le den Höhepunkt erreichte und die
Grenzen noch offen waren, Klartext
gesprochen: „Man darf nicht weg-
schauen. Es gehört sich für jedes Land,
Menschlichkeit zu zeigen.“ Irgendwann
wird sich Junuzovic Sarajevo anschau-
en: „Wenn ich Zeit habe.“
aus, dass die Zahl der Fußballer mit
Migrationshintergrund weiter steigt,
speziell in den Ballungsräumen, vor
allem in Wien. „Das ist gut so. Fußball
bietet nach wie vor eine Chance auf
ein besseres Leben, auf einen sozi-
alen Aufstieg. Fußball ist und bleibt
ein Sport für die kleinen Leute. Am
Anfang brauchst du nur einen Ball und
Schuhe.“ Teamkapitän Christian Fuchs
schätzt die „Vielfältigkeit im Fußball.
Hier gibt es ein Miteinander, jeder lernt
von jedem. Rassismus hat hier nichts
verloren, es geht um Respekt, ums
Gemeinsame.“
Teamstürmer Marc Janko spielt
momentan in der Schweiz für den
Serienmeister FC Basel. Davor war er
in den Niederlanden, in Portugal, der
Türkei und in Australien beschäftigt.
„Man lernt andere Kulturen kennen,
das erweitert deinen Horizont. Aber
natürlich ist alles einfacher, wenn du
in einer privilegierten Position bist.
Trotzdem musst du als Fußballer
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
Der Wertesalto
Flucht stellt Weltbilder auf den Kopf.Wie kann das Zusammenleben
mit Menschen aus völlig anderen Gesellschaftssystemen funktionieren?
TEXT: MARTINA STEMMER
I
n den ersten Wochen verließ Wa-
siem (*) kaum sein Zimmer. Saß auf
der Kante seines perfekt gemach-
ten Bettes, Rücken durchgestreckt,
Blick geradeaus. Rührte sich nicht
vom Fleck, sprach nur das Nötigste.
Die Welt um ihn herum – lärmende
Jugendliche, die sich frei durchs Haus
bewegen, gemeinsam lernen, kochen
und ihre Freizeit verbringen – war ihm
völlig fremd. Seine Welt bestand bisher
aus Befehlen. Wasiem hatte bereits
etliche Jahre Militärschule hinter sich.
Er lebte in seiner Heimat Syrien das
Leben eines Soldaten, kannte von klein
auf nichts anderes als Kampf, Gehor-
sam und Misshandlung.
Wasiem ist 16. Seine Flucht aus der
Hölle organisierten seine Eltern. Sie
bezahlten Schlepper dafür, ihren Sohn
nach Europa zu bringen. Er lebt seit
einiger Zeit in einer Wohngruppe für
unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
von SOS-Kinderdorf. Wasiems Chan-
cen, langfristig hier bleiben zu können,
stehen gut. Bis sich der junge Syrer
hierzulande wirklich zu Hause fühlt,
wird es, so schätzen seine Betreuerin-
nen und Betreuer, jedoch Monate, wenn
nicht Jahre dauern. Und er wird dabei
viel Hilfe brauchen. Zu groß ist die Kluft
zwischen alter und neuer Lebenswelt,
als dass sie sich mit einem Aufenthalts-
titel einfach schließen ließe.
So geht es vielen Asylwerberinnen
und Asylwerbern aus Ländern wie
Syrien, Afghanistan oder dem Irak. Was
daheim zum Alltag gehörte, ist in ihrer
neuen Umgebung plötzlich undenkbar.
Dass Kinder zu Soldaten ausgebildet
werden zum Beispiel.
Aha-Erlebnisse
Umdenken ist ein langwieriger Prozess,
der unumgänglich fürs Zusammenle-
ben ist. In Österreich sollen diverse
Wertekurse und Startprogramme
Flüchtlingen näherbringen, wie Land
und Leute ticken. Das Innenministeri-
um stellt zudem einen „Refugee Guide“
Piktogramm aus dem „Refugee-
Guide“ des Innenministeriums:
Mädchen gehen in die Schule und
bestimmen,was sie werden möch-
ten. Für viele Asylsuchende ist das
nicht selbstverständlich.
(*)Namegeändert;alleIllustrationen:www.refugee-guide.at,BundesministeriumfürInneres,LindenauProductionsGmbH;Foto:SOS-Kinderdorf
12/13
bereit, der sich an Neuankömmlinge
richtet. Mittels Piktogrammen werden
Asylwerbern die Dos and Don’ts vor
Augen geführt. Vom Über-die-Stra-
ße-Begleiten älterer Menschen bis zum
Gewaltverbot gegen Frauen und Kinder.
Ist so viel plakative Basisarbeit
wirklich notwendig? Ja, sagt Bernhard
Spiegel. Er leitet das Clearing-house in
Salzburg, eine Wohngruppe für unbe-
gleitete minderjährige Flüchtlinge von
SOS-Kinderdorf. „Diese Bilder sind
gerade für die erste Orientierung sehr
hilfreich und lösen bei unseren neu an-
gekommenen Jugendlichen immer wie-
der Aha-Erlebnisse aus“, sagt Spiegel.
So neu, wie die Wertediskussion
angesichts der Flüchtlingskrise erschei-
ne, sei sie aber gar nicht, so Spiegel
(siehe auch Kasten). „Wir machen
das im Clearing-house seit 15 Jahren.“
Kein Kurs und keine Broschüre der
Welt könnten allerdings das ersetzen,
worum es in der Wertevermittlung
gehe. „Am wichtigsten ist die Vorbild-
wirkung.“
Sinn und Perspektiven
Geflüchtete Kinder und Jugendliche
brauchen – so wie jeder junge Mensch
– Bezugspersonen. Erwachsene, die
sich mit ihnen auseinandersetzen,
als Vorbild zur Verfügung stehen und
Grenzen aufzeigen. Viele minderjährige
Flüchtlinge leben in österreichischen
Großquartieren. Dort fehlt dieser per-
sönliche Kontakt. Und die Möglichkeit,
den Tag sinnvoll zu gestalten (siehe
auch Artikel auf Seite 16).
Integration gelingt, wenn Schutzsu-
chende nicht nur in unserem Land son-
dern mit uns leben – da sind sich sämtli-
che Experten einig. Bernhard Perchinig
von der Uni Wien unterstreicht dabei
die Bedeutung von Arbeit. „Flüchtlinge
dürfen nicht den Rest ihres Lebens in
Billigjobs hängen bleiben – sie brauchen
eine Perspektive.“
Wertekurse alleine, so Perchinig,
könnten wenig bewirken. „Da geht es
mehr um Symbolpolitik als um echte
Integration.“
Wasiem hat jedenfalls schon ein
wenig Vertrauen zu einigen Menschen
in seinem neuen Umfeld gefasst. Er
besucht einen Deutschkurs, nimmt an
gemeinsamen Aktivitäten teil – und
manchmal lächelt er sogar.
Welche Themen beschäftigen
minderjährige Flüchtlinge,
die neu ins Clearing-house
kommen?
Dass Frauen dieselben
Rechte haben wie Männer
ist für viele völlig neu. So-
wohl für Burschen als auch
für Mädchen.
Wie vermittelt man
Gleichberechtigung?
Indem man sie vorlebt – wir
stehen da unter Dauerbeob-
achtung. Die Jugendlichen
schauen ganz genau: Haben
die Betreuerinnen diesel-
ben Befugnisse wie die
Betreuer? Und haben Buben
dieselben Arbeiten im Haus
zu erledigen wie Mädchen?
Und, haben sie?
Ja, selbstverständlich!
Natürlich sträuben sich
manche Jungs anfangs,
wenns ums Putzen geht,
aber nach einer Weile
haben bisher noch alle
mitgemacht.
Welche Rolle spielt
Sexualpädagogik?
Zwei Mal im Jahr gibts ei-
nen Workshop zum Thema
Sexualität bei uns im Haus.
Der ist verpflichtend. Es ist
nicht ganz leicht, dafür ei-
nen Dolmetscher zu finden.
Aber uns ist sehr wichtig,
dass die Jugendlichen infor-
miert sind.
Ist Radikalisierung ein
Thema?
Ich glaube, dass junge Men-
schen mit Fluchterfahrung
da grundsätzlich weniger
gefährdet sind als Jugendli-
che aus Europa. Die, die zu
uns ins Clearing-house kom-
men, wissen jedenfalls ganz
genau, wie brutal Krieg und
Terror sind.
„Wir stehen unter Dauerbeobachtung“
Bernhard Spiegel
leitet das Clearing-
house in Salzburg,
ein Haus für unbe-
gleitete minderjäh-
rige Flüchtlinge von
SOS-Kinderdorf.
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
Herr Schmitz, Sie sind ein gefragter
Interviewpartner, Buchautor, halten
Vorträge an Schulen – warum haben
Sie sich dafür entschieden, Ihre Ge-
schichte so offensiv zu erzählen?
Das hat sich praktisch von selbst
ergeben. 2005 bin ich konver-
tiert; ab 2008 hatte ich meinen
eigenen Youtube-Kanal, auf dem
ich gepredigt habe, wie einige
andere Salafisten in Deutsch-
land auch. Das ist ein extrem
wichtiges Medium, weil man
mit ganz wenig Aufwand vie-
le Menschen erreicht. 2010
hat sich dann mein Leben
sehr stark verändert, ich habe
begonnen, an dieser Ideologie
zu zweifeln, dann habe ich auch
meine Kritik in den Youtube-Vi-
deos geteilt und Fragen beantwor-
tet. Dann kamen die ersten Medien
auf mich zu, und irgendwie hat sich
das verselbstständigt.
An den Schulen halten Sie immer
wieder Vorträge mit Aussteigern aus der
Neonazi-Szene. Hätten Sie damals statt
Muslimen Neonazis kennengelernt –
wären Sie auch ihnen gefolgt?
Nein, sicher nicht. Ich habe Faschis-
mus immer schon verabscheut. Aber
im Grunde wäre es egal gewesen, ob
ein Muslim, ein Zeuge Jehovas oder ein
Scientologe vor meiner Tür gestan-
den wäre. Ich war auf der Suche nach
Antworten, nach Spiritualität, und nach
einer Gemeinschaft, zu der ich dazuge-
hören kann.
Dennoch: Vom Islam zum Salafismus ist
es ein weiter Weg …
Natürlich. Aber ich habe alles über den
Islam von Salafisten gelernt. Sie wirkten
auf mich authentisch, weil sie ihre
Religion 24 Stunden am Tag praktiziert
haben, weil es keine Kompromisse gab.
Salafisten haben auf alles eine Antwort.
Erst später habe ich gelernt, dass die
einfachsten Antworten nicht immer die
besten sind.
Warum ist eine Ideologie für junge
Menschen ansprechend, die so strenge
Regeln vorgibt?
Weil viele nicht wissen, was sie mit ihrer
Freiheit anfangen sollen. Sie sind über-
fordert durch die Fülle an Möglichkei-
ten. Als Salafist musste ich nichts selbst
entscheiden.
Viele Ihrer damaligen Glaubensbrüder
waren Hartz-IV-Empfänger. Inwiefern
spielt der soziale Status bei Radikalisie-
rung eine Rolle?
Es wäre zu einfach, zu sagen, nur
Hartz-IV-Empfänger werden Salafisten.
Natürlich gab es da Menschen mit
Als Salafistmusste ich
 nichts selbst entscheiden.
Dominic Musa Schmitz war tief in der deutschen Salafisten-Szene
verwurzelt. Mittlerweile ist er ausgestiegen – und sucht auf Soci-
al Media und in Schulen Kontakt zu jungen Menschen. SALTO
erzählte er von seinen Erfahrungen.  INTERVIEW: ANDREA HEIGL
Foto:HansScherhaufer
14/15
Bildungslücken, aber auch junge Leute
aus zerbrochenen Familien, Jugend-
liche, die gemobbt wurden, und so
weiter. Das vereint wahrscheinlich die
Neonazis und die Salafisten, sie sagen
diesen Jugendlichen: Bei uns bist du
willkommen. Wenn du dich unserer
Ideologie anschließt, dann nehmen wir
dich so, wie du bist.
Was kann man daraus für die Präventi-
on lernen?
Ich kann nur versuchen, bei jungen
Leuten den richtigen Samen in ihre
Herzen einzupflanzen – damit sie im
entscheidenden Moment nicht in den
Flieger nach Syrien steigen. Bei mir wa-
ren es viele Gedanken und Fragen, bis
ich schließlich den Mut gefasst habe,
mein Weltbild zu überdenken.
War der Weg in den Jihad in Ihrer Zeit
als Salafist auch schon Thema?
Sicher nicht so stark wie heute, das hat
sich mit dem Syrien-Krieg vervielfacht.
Ich habe als 17-, 18-Jähriger mit Pierre
Vogel und anderen Salafisten auf Plät-
zen demonstriert und herumgeschrien.
Heute sagen die Leute: Was bringt das?
Wir müssen in den Jihad ziehen, wir
müssen Löwen sein. Alles ist viel radika-
ler und kompromissloser geworden.
Im Zuge der Flüchtlingsdiskussion
kommt oft das Argument, man wisse
nicht, wer da komme, möglicherweise
gebe es radikales Potenzial. Wie neh-
men Sie das wahr?
In erster Linie kommen Menschen zu
uns, die vor Glaubenskriegern flüch-
ten, die in Sicherheit leben wollen, die
gerade alles riskiert haben, um dem
Krieg zu entkommen. Andererseits
wäre es dumm zu sagen: Unter diesen
hunderttausenden Menschen ist
bestimmt kein einziger mit radikalen
Ideen. Salafisten versuchen schon,
gezielt Flüchtlinge anzuwerben, die
vielleicht in Deutschland nicht das
finden, was sie gesucht haben. Dem
kann man zuvorkommen, indem man
Flüchtlingen rechtzeitig hilft, Deutsch
zu lernen, sich zu integrieren, Fuß zu
fassen.
In nur zehn Jahren haben Sie einen
weiten Weg zurückgelegt – zum
Islam, zum Salafismus und wieder
zurück. Bezeichnen Sie sich heute
als gläubig?
Tja, was heißt das schon? Ich
kann mit dem Bild von Gott
im Islam immer noch viel
anfangen. Religion ist für
mich nach wie vor eine
große Inspiration. Aber
ich hinterfrage alles.
Der Zweifel ist der
Motor meines Den-
kens geworden. Ich
habe Menschen,
die mir Halt geben,
ich brauche keine
Ideologie mehr und
auch keine Schul-
terklopfer. Jedenfalls
habe ich das Gefühl,
dass ich mit 28 Jahren
mehr erlebt habe als so
mancher 50-Jährige.
„Das vereint Neonazis
und Salafisten, sie
sagen Jugendlichen:
Bei uns bist du
willkommen.
“
Dominic Musa
Schmitz spricht viel
mit jungen Men-
schen – „damit sie
im entscheidenden
Moment nicht in den
Flieger nach Syrien
steigen.“
Einmal Extremismus und zurück:
In seinem Buch „Ich war ein Salafist“
(Ullstein-Verlag) beschreibt Dominic
Musa Schmitz seine Erlebnisse im
deutschen Salafisten-Netzwerk, seinen
Weg heraus – und seine persönliche
Wandlung vom islamistischen Youtu-
be-Prediger zum Aufklärer.
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
V
ier Tage die Woche Deutschkurs,
dazu Mathe. Gitarrenstunde,
Volleyballtraining, Fußball im
lokalen Verein und vergangenes Wo-
chenende ein Streetdance-Workshop.
Fein säuberlich hat er seine Termine
auf einen A4-Zettel geschrieben, in eine
Klarsichthülle gesteckt und auf dem
Bücherregal befestigt.
Morteza, den alle hier „Morti“
nennen, ist 17 Jahre alt und Afghane.
Seit November lebt er in einer WG für
Flüchtlingsjugendliche von SOS-Kinder-
dorf in Wiener Neudorf. Die Wohnung
stellt die örtliche Freiwillige Feuer-
wehr zur Verfügung. Dafür helfen die
Burschen jeden Freitag der Feuer-
wehr. Sie wischen das Treppenhaus
auf, saugen die Zimmer, waschen die
Feuerwehrautos. Die Deutschkurse
halten Freiwillige ab und die Gemeinde
half SOS-Kinderdorf, die Burschen in
Sportkursen unterzubringen. So finden
sie leichter österreichische Freunde.
Betreut werden die Jugendlichen von
Mitarbeiterinnen des SOS-Kinderdorfs,
die auch darauf achten, dass sie be-
schäftigt sind.
Morti hat Glück gehabt. Denn es
ist die Ausnahme und nicht die Regel,
dass Jugendliche, die ohne ihre Eltern
nach Österreich geflüchtet sind, etwas
lernen dürfen. Nach dem 15. Geburts-
Zwei Burschen flüchten
gemeinsam nach Europa
und finden sich in Öster-
reich wieder: Der eine wird
in einer WG betreut, kann
lernen, knüpft Kontakte.
Der andere bekommt kaum
Gelegenheit, Fuß zu fas-
sen. Eine Geschichte über
Chancen.
TEXT: NINA HORACZEK
tag hat kein junger Flüchtling mehr
einen gesetzlichen Anspruch auf einen
Schulplatz, eine Ausbildung oder
zumindest einen Deutschkurs. Mehr
als 6.000 unbegleitete minderjähri-
ge Flüchtlinge warten in Österreich
(Stand: Juni 2016) auf den Ausgang
ihres Asylverfahrens. Und nur die
wenigsten dürfen diese Monate und
manchmal auch Jahre so sinnvoll
nützen wie Morti in „seinem“ Feuer-
wehrhaus.
Ungleiche Freunde
Asghar, der gerade in Wiener Neudorf
zu Besuch ist, hat es nicht so gut
erwischt. Seit vier Jahren sind Morti
und Asghar befreundet. Kennengelernt
haben sie sich noch im Iran, in Öster-
reich ist Asghar eine Woche früher
angekommen als sein Freund. Wie so
viele Flüchtlinge war auch Asghar in
Traiskirchen in Niederösterreich. Dann
wurde er in ein Flüchtlings-Zeltlager im
steirischen Admont verlegt und von
dort wiederum in eine Erwachsenen-
unterkunft in einem Vorort von Graz.
Wenn man Asghar fragt, was er den
ganzen Tag tut, sagt er: „Nur schla-
fen“. Seit drei Wochen darf er endlich
Deutsch lernen, sagt der Bursche.
„Aber der Kurs findet nur jeden Freitag
für zwei Stunden statt.“
Wenn Bildung
Glückssache
wird
Fotos:ChristopherGlanzl
16/17
Nach fünf Monaten in Österreich
kann Asghar „Hallo“, „Wie geht‘s“ und
„Auf Wiedersehen“ sagen. Sein Freund
Morti spricht schon fließend Sätze auf
Deutsch, nur bei der Grammatik hakt es
noch und manchmal fällt ihm ein Wort
nicht ein. Die jungen Afghanen in Wie-
ner Neudorf lernen die Sprache nicht
nur fast täglich im Deutschkurs. Durch
ihre vielen Aktivitäten sind sie auch
ständig in Kontakt mit Einheimischen.
Probleme mit der Bürokratie
In Graz hat Asghar noch keinen einzi-
gen Österreicher kennengelernt. „Die
Leute fürchten sich vor uns, weil wir
Asylwerber sind“, sagt er. SOS-Kin-
derdorf hat versucht, auch Asghar in
die Burschen-Wohngemeinschaft in
Wiener Neudorf zu bringen. Der Plan
scheiterte an der Bürokratie. Asghar
ist während seines Asylverfahrens
der Steiermark zugeteilt worden und
Rund 11.000 minderjährige Flüchtlinge leben
derzeit in Österreich. Der Großteil von ihnen
ist zwischen 15 und 18 Jahre alt. Viele leben in
Großquartieren und Heimen – ohne altersgerech-
te Betreuung. Bildungsangebote sind ebenfalls
Mangelware. Pflichtschulklassen dürfen Jugend-
liche über 15 per Gesetz nicht mehr besuchen,
in Gymnasien, Berufsbildenden Höheren Schulen
sowie Berufsschulen entscheiden Direktorinnen
und Direktoren über freie Plätze. Lehrstellen
stehen Asylsuchenden nur in sogenannten
Mängelberufen offen. Was bleibt, sind Deutsch-
kurse an den Volkshochschulen beziehungsweise
auf Initiative von Privatpersonen und Vereinen.
Diese Kurse dauern allerdings oft nur ein paar
Stunden die Woche – sehr wenig im Vergleich
zu 30 Stunden Schule. Hilfsorganisationen sowie
Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter fordern
deshalb zusätzliche Bildungs- und Beschäfti-
gungsmöglichkeiten für junge Flüchtlinge.
Bildungsangebote für junge Flüchtlinge sind Mangelware
darf deshalb nicht in Niederösterreich
wohnen.
Morti hat schon konkrete Pläne:
Jetzt lernt er für den Hauptschulab-
schluss, danach möchte er Matura
machen. So flink, wie er lernt, trauen
ihm seine BetreuerInnen das auch zu.
Asghars Wünsche sind bescheidener:
„Ich würde so gerne Deutsch lernen
und auch in einen Sportkurs gehen
dürfen.“
Gute Bildungs-
angebote für
Flüchtlinge
nach der Pflicht-
schule fehlen.
Oft können sie
nur durch das
Engagement
von Freiwillligen
Deutsch lernen.
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
#lovemyjob
Unter dem Hashtag #lovemyjob findet
man auf der Social-Media-Plattform
Instagram über 6,5 Millionen Bilder. Der
Großteil davon zeigt Mode, Make-up, Rei-
sen, Abenteuer. Junge Menschen streben
nach dem Traumjob, der neben Selbst-
verwirklichung möglicherweise auch
viele Likes für ein quadratisches Foto
bringt. Jungen Asylsuchenden bleibt das
Streben nach dem beruflichen Glück erst
einmal verwehrt. Solange ihr Verfahren
läuft, dürfen sie nur in Ausnahmefällen
arbeiten. Umso wichtiger sind Beschäf-
tigungsprojekte: Sie geben Sinn, stärken
das Selbstbewusstsein – und bereiten ide-
alerweise aufs spätere Berufsleben vor.
SALTO hat vier junge Flüchtlinge gefragt,
was Arbeit für sie bedeutet.
Fawad, 21,
Afghanistan
„Ich bin einfach jeden Tag
immer wieder hergekommen
und habe gefragt, ob ich
hier arbeiten kann, bis es
geklappt hat.“ Sein Chef bei
Kleider Bauer Salzburg lobt
den Lehrling und anerkann-
ten Flüchtling dafür, wie gut
er auf die Kundinnen und
Kunden eingeht: „Fawad ist
sehr charmant!“
TEXT: SUSANNE SCHÖNMAYR FOTOS: CHRISTOPHER GLANZL
18/19
Abdoulkadir, 17, Somalia
„Ich hasse es, Zwiebel zu schneiden, deswegen
übernehme ich lieber die Putzarbeiten in der
Küche. Aber das ist nicht mein wirklicher Job,
eigentlich bin ich Fußballspieler. Mein großes
Vorbild ist Naymar.“ Abdoulkadir hilft im Clea-
ring-house Salzburg jeden Tag in der Küche mit.
Obaidullah, 17,
Afghanistan
„Am meisten Spaß macht es mir, Klei-
der zu nähen. Ich habe in Afghanis-
tan schon vier Jahre lang als Schnei-
der gearbeitet und möchte auch in
Österreich damit weitermachen.“ Als
sich bei dem Arbeitsprojekt „Garten
der Begegnung“ gezeigt hat, dass
viele junge Männer aus Afghanistan
ausgezeichnete Schneider sind, hat
man in Traiskirchen spontan eine
Nähwerkstatt eingerichtet.
Aliasghar, 29,Afghanistan
„Das ist der einzige Platz, wo wir zusammen sind,
etwas machen und glücklich sein können.“ Alias-
ghar hat beim Beschäftigungsprojekt „Garten der
Begegnung“ in Traiskirchen nicht nur bei der Pla-
nung eines Gemeinschaftsgartens mitgearbeitet,
sondern auch innerhalb von sechs Wochen aus
einem Holzblock ein Musikinstrument geschnitzt.
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
D
ie Wut über Flüchtlinge macht
nicht bei Kindern und Jugend-
lichen halt – ganz im Gegenteil.
Selbst harmlose Bilder von minder-
jährigen Asylwerbern bringen manche
Nutzer in Rage. Ein bekanntes Beispiel:
Als im Juli des Vorjahres brütende Hit-
ze herrschte, stellte die Freiwillige Feu-
erwehr Feldkirchen eine Wasserdusche
für Flüchtlinge auf. Ein Foto davon
verbreitete sich im Eiltempo in den
sozialen Medien: Ein kleines Mädchen
stand im kühlen Nass – und strahl-
te. Mehr als 17.000 Likes erhielt das
Bild, aber auch Hasskommentare. Ein
17-jähriger Lehrling kommentierte das
Foto mit den Worten: „Flammenwerfer
währe (sic!) da die bessere Lösung.“
Die Wortmeldung sorgte für Aufsehen:
Der Bursche verlor daraufhin seine
Lehrstelle bei Porsche. Es folgt eine
große Debatte über den adäquaten
Umgang mit gehässigen Postings.
Interessant ist an dem Fall aber
auch, in welcher Härte selbst über
Kinder und Jugendliche online herge-
zogen wird. Das sagt einiges über die
Verrohung der Debatte, speziell auch
Likes
für den Hass
Warum bringen Bilder von Flüchtlingen so viele
Menschen im Netz in Rage? Auf Spurensuche
nach den Emotionen im World Wide Web.
TEXT: INGRID BRODNIG
im Netz, aus. Warum ist das so, dass
Menschen online selbst über Minder-
jährige so verletzend posten?
Es wäre falsch, so zu tun, als
würde das Internet die Ursache für
Rassismus sein, als wäre die Polari-
sierung in der Flüchtlingsdebatte ein
Ergebnis der Digitalisierung. Wohl aber
wirkt das Netz oft wie ein Katalysator,
es treibt viele Bewegungen umso mehr
an. Rüpel und Populisten haben es
im Internet leider oftmals besonders
leicht. Darauf deutet eine Untersu-
chung der Wissenschaftler Daegon
Cho und Alessandro Acquisti aus dem
Jahr 2013 hin. Damals forschten beide
an der Carnegie Mellon University in
den USA und sie analysierten 75.000
Leserkommentare auf südkoreani-
schen Nachrichtenseiten und fanden
heraus: Beinhaltete ein Kommentar
Schimpfworte, dann drückten umso
mehr Nutzer auf „Like“ oder bewerte-
ten das Posting als lesenswert. Wer he-
rumschimpft, erntet also Bestätigung.
Emotion, auch negative Emotion,
wird im Netz mit Aufmerksamkeit
belohnt. Dies liegt nicht zuletzt an
den sogenannten „Echokammern“,
das sind digitale Räume, in denen
Nutzer hauptsächlich Inhalte einge-
blendet bekommen, die ihre Meinung
bekräftigen. Wer Angst vor Flüchtlin-
gen hat, kann die passenden Face-
book-Gruppen aufsuchen – sie heißen
beispielsweise „Islam gehört nicht
zu Österreich“ oder „Alternative für
Österreich“. Von diesen Gruppen be-
kommt man dann permanent Beiträge
eingeblendet, die die eigenen Fürchte
bestätigen und weiter fördern. Wie ein
Echo hallt auch die Angst in diesen
Räumen zurück.
Eigen- versus Fremdgruppe
Aber warum sind manche Menschen
so empathielos? Warum werden alle
Flüchtlinge oft über einen Kamm
geschert? Fragen wie diese kann der
Psychologe Delroy Paulhus von der
University of British Columbia in Van-
couver beantworten, den ich für mein
Buch interviewt habe. Er forscht seit
Jahrzehnten dazu, wann Menschen
dunklere Facetten ihrer Persönlich-
keit zeigen. In der Psychologie gibt es
Fotos:ChristopherGlanzl,KatharinaEbel/HGFD
20/21
das Konzept der „Eigengruppe versus
Fremdgruppe“. Die Eigengruppe ist
jener Menschenkreis, zu dem man sich
deutlich zugehörig fühlt. Die Fremd-
gruppe sind alle anderen. Menschen
können sich mehreren Eigengrup-
pen zugehörig fühlen: Zum Beispiel
anderen Menschen, die aus demselben
Heimatort kommen oder dem örtlichen
Fußballverein und all seinen Anhän-
gern angehören. An sich ist das ganz
normal. „Nun gibt es Situationen, die
sehr starke Gefühle der Eigengruppe
versus einer Fremdgruppe auslösen
können: Vor allem, wenn die Fremd-
gruppe dieselben Ressourcen nutzen
möchte, die bisher der Eigengruppe
zustanden, kann dies heftige Reaktio-
nen auslösen“, sagt Paulhus.
In der Flüchtlingsdebatte lässt sich
diese Dynamik beobachten: Bürger
nehmen Flüchtlinge als Fremdgruppe
wahr, die womöglich einen Job oder
Geld vom Staat bekommt, das sonst
auf die Eigengruppe verteilt werden
würde. Selbst wenn solche Ängste
überzogen sein mögen, rufen sie
Aggressionen hervor. Auch kommt es
dann zum Eindruck der „Fremdgrup-
penhomogenität“: Menschen haben
das Gefühl, die Fremdgruppe sei sehr
homogen – was zu Aussagen führt wie:
„Die Flüchtlinge sind alle gleich.“ Wenn
man alle Asylwerber als potenzielle
Gefahr sieht, inkludiert das letztlich
sogar deren Kinder.
Was lässt sich da tun? Ein Mittel,
diese Aggression zu bekämpfen, ist, sie
zu thematisieren – womöglich sogar
etwas Positives daraus abzuleiten.
Dies macht die britische Hilfskampag-
ne Calais Action. Wenn jemand verlet-
zende Postings auf der Facebook-Seite
der Hilfskampagne hinterlässt, dann
werden die eigenen Fans dazu aufge-
rufen, im Namen dieser Person für
Flüchtlinge zu spenden. #TrollAid
heißt diese Kampagne. Zum Beispiel
schrieb eine anonyme Nutzerin unter
einem Video, in dem Flüchtlingskinder
in Athen spielen: „Die sollten nach
Hause gehen und ihre eigenen Länder
in Ordnung bringen, anstatt wie Angst-
hasen wegzulaufen und zu erwarten,
dass sie von dummen Freiwilligen ver-
hätschelt werden.“ Daraufhin rief die
Kampagne zu Spenden als Reaktion auf
dieses Posting auf. Mehr als 2.300 Euro
In ihrem Buch
„Hass im Netz“
erklärt Ingrid
Brodnig unter
anderem,was
jede und jeder
einzelne gegen
Lügenge-
schichten im
Internet tun
kann.
„Das Netz wirkt oft wie ein Katalysator. Rüpel
und Populisten haben es im Internet leicht.
“
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
Wenn Kinder und Jugendli-
che ohne ihre Eltern flüch-
ten, ist ein Smartphone oft
die einzige Verbindung zur
Familie. Hassan Ali ist mit
16 aus Pakistan geflüchtet.
Im SALTO-Interview erzählt
der heute 21-Jährige, wie
es ihm mit Facebook  Co.
während und nach seiner
Flucht ergangen ist.
Wie wichtig war es für Sie,
ein Smartphone zu haben,
als Sie auf dem Weg nach
Europa waren?
Es war wichtig, telefonisch
erreichbar zu sein. Auf dem
Weg vom Iran in die Türkei
und dann nach Griechen-
land wurde ich von meinem
Vater getrennt. Ich musste
mehrere Monate in Grie-
chenland warten, weil mein
Geld nicht für die Weiter-
reise reichte. Dann endlich
konnte ich wieder mit ihm
telefonieren. Inzwischen
war er zurück im Iran und
konnte mir Geld für die
Weiterreise schicken.
Nutzen Sie Facebook oder
Twitter?
Ich habe erst angefangen,
die sozialen Medien zu
verwenden, als ich die deut-
sche Sprache gelernt hatte.
Was genau verwenden Sie
und wofür?
Ich hatte einen Face-
book-Account. Anfangs fand
ich es toll, weil ich viele
Informationen über Öster-
reich und die Menschen
hier bekam und viel dazuler-
nen konnte. Natürlich habe
ich auch einige Freunde aus
der Heimat auf diesem Weg
wiedergefunden.
Haben Sie Ihr Profil wieder
gelöscht?
Ja, das habe ich. Die vielen
Hass-Postings haben mir
Angst gemacht. Und ich
habe mich davor gefürch-
tet, dass sich meine Mei-
nung über die Menschen
hier verändert. Ich habe
hier überwiegend liebe
und sehr nette Menschen
kennengelernt. Ich glau-
be noch immer, dass die
meisten Österreicherinnen
und Österreicher gute
Menschen sind. Das
soll so bleiben.
Das Gespräch
führte
Martina
Molih.
„Hass-Postings haben mir Angst gemacht“
book-Kommentare. Im Vorjahr gab es
hierzulande 40 Verurteilungen wegen
Verhetzung. Zum Vergleich: 2013 waren
es nur elf gewesen. Wir befinden uns
gerade in einer wichtigen Lernphase:
Es muss immer mehr Menschen klar
werden, dass auch Worte im Internet
die Menschenwürde verletzen, dass
sie dementsprechend Straftaten sein
können.
Dunkle Facetten der Menschheit
Das Internet hat eine besondere Eigen-
schaft: Es bringt die dunkelsten Facet-
ten der Menschheit zum Vorschein,
aber auch ihre schönsten. Gerade
minderjährige Asylwerberinnen und
Asylwerber können online Empa-
thie auslösen. Oft sind es Bilder von
Kindern, die die Dramatik der Situation
verständlich machen.
So wie am 2. September 2015:
Jenem traurigen Tag, an dem der
dreijährige Alan Kurdi tot am Strand
in der Türkei aufgefunden wurde – das
syrische Flüchtlingskind hatte die
gefährliche Bootsreise über das Mittel-
meer nicht überlebt. Sein Foto ging um
die Welt, in nur zwölf Stunden tauchte
es weltweit auf 20 Millionen Bildschir-
men auf, berechneten Wissenschaftler
der Universität in Sheffield. 53.000 Mal
pro Stunde wurde das Bild auf Twitter
geteilt. Das Netz kann eben auch ein
Instrument für Empathie sein. Wir müs-
sen aber lernen, es dementsprechend
einzusetzen.
wurden bisher als Reaktion auf solche
Wortmeldungen gesammelt.
Zweitens ist es auch sinnvoll,
gewisse Tabus zu verteidigen: Etwa
mit dem Strafrecht, das beispiels-
weise verbietet, zu Gewalt gegen
Minderheiten aufzurufen (sogenannte
Verhetzung). Zunehmend wird von
diesem Paragrafen Gebrauch gemacht,
speziell aufgrund aufwiegelnder Face-
Gratis-Handys
für Flüchtlinge?
Falsche Gerüch-
te wie dieses
verbreiten sich
im Internet wie
ein Lauffeuer.
Fotos:iStock,MartinaMolih
22/23
Testen Sie Ihr Wissen
Berichte über die weltweite Flüchtlingsbewegung prägen
seit Monaten die Nachrichten. Doch was davon stimmt –
und welche Fakten stammen aus dem Reich der Mythen?
Testen Sie mit SALTO Ihr Wissen!
1.	Weltweit sind 60 Millionen Men-
schen auf der Flucht, davon 50%
Kinder.Wie viele suchen Zuflucht
in Europa?
a.	 3 von 5
b.	 2 von 5
c.	 1 von 5
2.	In welchen drei Ländern Europas
wurden im Jahr 2015 die meisten
Asylanträge gestellt?
a.	 Deutschland, Ungarn, Österreich
b.	 Deutschland, Ungarn, Schweden
c.	 Deutschland, Ungarn, Italien
3.	Aus welchen drei Ländern stam-
men die meisten Flüchtlinge?
a.	Syrien
b.	Afghanistan
c.	Sudan
d.	Somalia
e.	 Demokratische Republik Kongo
4.	Welche sind die zwei wichtig­sten
Aufnahmeländer von Flüchtlin-
gen?
a.	Pakistan
b.	Deutschland
c.	Türkei
d.	Italien
e.	Griechenland
5.	Seit fünf Jahren beherrscht Krieg
und Terror das alltägliche Leben
in Syrien. Bisher wurden 2500
Schulen zerstört.Wie vielen
Kindern wurde der Schulbesuch
verwehrt?
a.	 0,9 Millionen Kindern
b.	 2,4 Millionen Kindern
c.	 3,5 Millionen Kindern
6.	Wie viele Jugendliche im Alter
zwischen 14 und 18 haben im Jahr
2015 einen Asylantrag in Öster-
reich gestellt?
a.	 7.534
b.	12.820
c.	15.760
7.	Wie viele Asylsuchende sind in
Österreich (Stand: Jänner 2016)
in Grundversorgung?
a.	85.000
b.	65.000
c.	45.000
8.	Wie viel Taschengeld erhält ein
Asylwerber pro Monat?
a.	50€
b.	40€
c.	25€
9.	SOS-Kinderdorf ermöglicht Flücht-
lingen den Schulbesuch.Wie viele
Kinder konnten bisher mit Schul-
taschen, Büchern und Lernutensi-
lien versorgt werden?
a.	10.000
b.	12.000
c.	16.000
10.	Wie viele Menschen kehrten 2014
in ihr Heimatland zurück?
a.	 95.200
b.	102.560
c.	126.800
Auflösung:
1c,2b,3abd,4ac,5b,6a,7a,8b,9c,10c
Setz auch Du
ein Zeichen für
Kinder und
Jugendliche
auf der Flucht:
setzdichein.at
Norbert Pleifer
Intendant
Josef Hader
Kabarettist
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
Der Weg zur
Emanzipation
führt über
die Frauen
Nahostexpertin Tyma
Kraitt floh vor 26 Jahren
aus dem Irak nach Öster-
reich.Aus eigener Erfah-
rung weiß sie,was es für
eine gelungene Integration
braucht – und wie man die
Männer dazu bringt, ein
westlicheres Frauenbild zu
bekommen.
TEXT: ANNA THALHAMMER
Ihre Mutter ist sunnitische Irakerin, ihr
Vater christlicher Syrer, Sie haben eine
österreichische Staatsbürgerschaft. Als
was fühlen Sie sich?
Das kommt darauf an, mit wem ich
es zu tun habe – im Ausland fühle ich
mich sehr als Österreicherin, in Öster-
reich eher als Araberin.
Sie sind als Fünfjährige mit Ihrer Fami-
lie nach Europa geflüchtet. Was waren
die prägendsten Erinnerungen?
Meine Eltern haben versucht, es so
darzustellen, als würden wir Urlaub
machen. Von den politischen Umstän-
den wussten wir als Kinder nichts,
ebensowenig war uns klar, dass wir
nicht mehr in den Irak zurückgehen
würden. Meine Eltern waren privile-
giert: Mein Vater war Ingenieur, meine
Mutter hat als Forschungsassisten-
tin im Industrieministerium im Irak
gearbeitet. Eigentlich wollten wir nach
Schweden, dann sind wir aber in Trais-
kirchen gelandet.
Was hat Ihnen und Ihrer Familie bei der
Integration geholfen?
Wir haben sehr bald Anschluss über
die Pfarre gefunden, wo meine Mutter
in der Küche gearbeitet hat. Ich bin in
Schwechat sehr multikulturell aufge-
wachsen.
Fotos:ChristopherGlanzl
24/25
Gibt es Dinge, die Sie an der aktuellen
Flüchtlingspolitik ärgern?
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen
soll. Da kommen zirka 900.000 syrische
Flüchtlinge nach Europa und wir tun
so, als hätten wir eine unlösbare Krise.
Wenn ich mir Länder wie den Libanon
anschaue oder die Türkei – das ist eine
Krise. Was wir hier haben, wäre bewäl-
tigbar, aus innenpolitischem Kalkül will
man das aber offensichtlich nicht.
Wenn Sie Innenministerin wären, was
würden Sie als Erstes tun?
Das Wichtigste sind flächendeckende
Deutschkurse. Das andere ist soziale
Absicherung. Und die Integration in
den Arbeitsmarkt muss sein, wenn wir
nicht ewig für den Lebensunterhalt der
Menschen bezahlen wollen. Zurzeit
sind die Hürden sehr groß, das betrifft
auch Akademiker.
Es heißt immer, es kommen hauptsäch-
lich junge Männer. Weltweit sind rund
zwei Drittel der Flüchtlinge Frauen und
Kinder. Ist erklärbar, warum sich das
im Flüchtlingsstrom nach Europa nicht
widerspiegelt?
Die Frauen unter den syrischen Flücht-
lingen bleiben oft in Flüchtlingslagern
in den umliegenden Ländern, etwa in
Zaatari in Jordanien. Es kommen des-
wegen in erster Linie Männer, weil es
keine legale Einreisemöglichkeiten gibt
und der Weg an sich sehr gefährlich
ist: Frauen werden Missbrauch und
Gewalt jeglicher Art ausgesetzt. Dazu
kommt, dass viele Frauen in diesen
Ländern nicht schwimmen können
– der Weg über das Mittelmeer wäre
sehr riskant. Junge Männer sind am
ehesten dafür gewappnet, diese Reise
zu überleben.
Der Familiennachzug wurde deutlich
erschwert. Welche Konsequenzen hat
das hinsichtlich der Integration jener,
die schon hier sind?
Wenn es uns ein Anliegen ist, dass
sich diese Menschen hier integrieren,
dann muss es uns auch ein Anliegen
sein, dass wir ihre Familien nachholen.
Das sind Menschen, die kriegstrau-
matisiert sind, panisch Angst um ihre
Frauen und Kinder haben – so kann
man kein halbwegs normales Leben
beginnen. Syrien ist seit 2011 im Krieg,
aber im Irak und in Afghanistan kennt
man mittlerweile seit drei Jahrzehn-
ten nichts anderes mehr. Wir haben
es hier zum Teil mit einer verlorenen
Generation zu tun, teils auch mit sehr
brutalisierten Menschen – wenn wir
uns darum nicht kümmern, wird uns
das große Probleme bereiten.
Frauen in Afghanistan ist es verboten, in
die Schule zu gehen, viele sind Anal-
phabetinnen. Wie soll man hier damit
umgehen?
Die Töchter müssen hier zur Schule ge-
hen – keine Frage, da muss man kom-
promisslos sein und im schlimmsten
Fall auch sanktionieren. Die Kürzung
der Mindestsicherung ist ein wirksa-
mes Druckmittel.
Viele der Frauen sind in sehr patriar-
chalen Systemen groß geworden. Wie
können sie sich emanzipieren – und
umgekehrt: Wie schafft man es, dass
die arabischen Männer ein westliches
Frauenbild akzeptieren und leben?
Ich glaube, dass man ein bisschen dif-
ferenzieren muss. In Syrien etwa gibt
es ein starkes Stadt-Land-Gefälle, die
Frauen, die aus den Städten kommen,
sind um einiges gebildeter und mo-
derner. Ich habe auch die Erfahrung ge-
macht, dass gerade Syrerinnen schnell
das Kopftuch ablegen. Sie haben es
zum Schutz während des Krieges in Sy-
rien getragen, dann auf der Flucht, und
jetzt haben sie das Gefühl, dass es sie
eher hindert. Der Weg zur Emanzipati-
on führt über die Frauen selbst: Indem
sie etwa Ausbildungsmöglichkeiten
haben, vielleicht einen Job finden und
dadurch ökonomisch unabhängiger
werden. Die Männer ihrerseits sollte
man in die Gesellschaft einbinden. In
dem Moment, wo sie sich abschotten,
reproduzieren sie ihre Frauenbilder.
Was halten Sie von Wertekursen?
Wertekurse sind schön und gut, aber
sie sind der oberflächlichste Weg. Kur-
se kann man absitzen. Eine ehrliche
Auseinandersetzung mit den Men-
schen ist sicher anstrengender, weil
zeitintensiv, aber sinnvoller.
Tyma Kraitt wurde 1984 in
Bagdad, Irak, geboren.Als sie
fünf Jahre alt war, flüchtete
die Tochter einer sunnitischen
Irakerin und eines christlichen
Syrers mit ihren Eltern und
ihrer kleinen Schwester vor
politischer Verfolgung nach
Europa. Kraitt studierte Philo-
sophie. Sie veröffentlichte zwei
Bücher zur Situation im Nahen
Osten: Irak. Ein Staat zerfällt.
Syrien: Ein Land im Krieg
„Die Töchter müssen hier zur Schule gehen –
keine Frage, da muss man kompromisslos sein.
“
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
Flucht in
Zahlen
87 Mio. Kinder
unter sieben Jahren kennen
nichts anderes als Konflikte.
50%davon sind
Kinder.
306.000
syrische Kinder
kamen bereits als Flüchtlinge
auf die Welt. 3,7 Millionen Kinder
wurden innerhalb der letzten fünf
Jahre des Syrienkriegs geboren.
60 Mio.
Menschen
sind weltweit auf
der Flucht.
37.000Kinder
durften auf ihrer lebensgefährlichen Reise nach
Europa zumindest für einen Moment wieder Kind sein:
SOS-Kinderdorf richtete auf der Balkanroute mehrere
Kindertagesstätten ein.
300neue Plätze
für Kinder auf der Flucht hat SOS-Kinderdorf Österreich
in den letzten Monaten geschaffen.
100.000 Menschen
hat die Nothilfe von SOS-Kinderdorf in Syrien erreicht.
60.000 Menschen
hat SOS-Kinderdorf in den Transitländern mit Essen,
Kleidung und Hygieneartikeln unterstützt.
SOS-Kinderdorf Flüchtlingshilfe:
26/27
330 Kinder
ertranken in den letzten Monaten
im Mittelmeer.
60% der
Menschen,
€ 5,7 Mio
4 von 5 Flüchtlingen
weltweit leben aktuell in Entwicklungsländern.
Es sind die ärmsten Länder in Afrika und Asien,
die die meisten Flüchtlinge aufnehmen.
350.000
Menschen leben allein im
Flüchtlingslager Dadaab (Kenia)
89.000
Menschen haben 2015 in Österreich
um Asyl angesucht.Jeder zehnte
davon ist minderjährig.
1 Million
Flüchtlinge hat der Libanon
aufgenommen.
4 Millionen Menschen leben in diesem
Land – halb so viele wie in Österreich.
die im Sommer 2015 die Grenze
von Griechenland nach Maze-
donien überquert haben,waren
Frauen und Kinder.Der Anteil
der Kinder hatte sich in wenigen
Monaten verdreifacht.
hat Österreich 2015 dem„Welter-
nährungsprogramm“ der Vereinten
Nationen zur Verfügung gestellt,
knapp mehr als Sierra Leone. 76
Millionen Euro machte die Schweiz
locker, 82 Millionen Schweden.
Quellen: UNHCR, UNICEF, BMI, SOS-Kinderdorf
Foto:WissamBachour,SOS-Kinderdorf
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
Die Kunst hilftKünstlern
Wolfgang Schlögl: „Es ist die gesamte
syrische Gesellschaft auf der Flucht.
Vom Hilfsarbeiter bis zum Universitäts-
professor. Wir konzentrieren uns auf
das Segment, in dem wir uns am besten
auskennen, die Kultur.“
Zwei Mal wurde der Salon veran-
staltet, seine dritte Austragung im Wien
Museum ist in Vorbereitung. Einer der
Teilnehmer des ersten Salons ist der
aus dem Iran geflohene Schauspieler
und Musiker Alireza Daryanavard. Er
ist 22 und anerkannter Flüchtling. In
seiner Heimat spielte er Hauptrollen in
Kinofilmen und TV-Produktionen, ar-
beitete als Fernseh- und Radio-Modera-
tor. Vor zwei Jahren musste er fliehen.
„Wenn man seine Heimat verlassen
muss, ist das schlimm. Man weiß nicht,
wie es weitergeht. Wenn ich zurückbli-
cke, kann ich sagen, ich hab’ mich ganz
Der Name verströmt etwas Altehrwür-
diges: „Salon der Künste“. Das klingt
nach feiner Gesellschaft und edlem
Ambiente. Edel soll es schon sein, aber
ansonsten stellt der Salon der Künste
keine elitären Ansprüche. Im Gegen-
teil. Der Musiker Wolfgang Schlögl, die
Köchin Parvin Razavi und die Medi-
atorin Claudia Prutscher haben die
traditionelle Institution des Salons als
Treffpunkt Gleichgesinnter reanimiert.
Ihr Ziel ist, Flüchtlingen, die in ihren
Herkunftsländern als Künstlerinnen
und Künstler oder Kreative gearbeitet
haben, in ihrer neuen Heimat mit hei-
mischen Kunstschaffenden zusammen­
zubringen. Parvin Razavi: „Kreative
verwenden eine universelle Sprache
und können hier leichter andocken.
Das müssen wir nützen, und das sollte
auch in anderen Bereichen passieren.“
Heimische Kreative organisieren den Salon der Künste. Er bringt geflohene
und österreichische Künstlerinnen und Künstler zusammen. Das integriert,
wird gut ange­nommen und trägt erste Früchte. TEXT: KARL FLUCH
gut zurechtgefunden und gesehen, wo
mein Weg ist. Meine größten Wünsche
sind, dass ich Deutsch lernen und
arbeiten kann.“
Deutsch spricht er schon sehr gut,
gearbeitet hat er schon im Dschungel
Wien. Im Salon hatte er Kontakt mit
Filmemachern wie Mirjam Unger oder
David Schalko. Sie wissen nun, dass
es ihn gibt. Das ist wichtig. Wenn sich
eine Gelegenheit ergibt, ihn einzu-
setzen, werden sie das tun. Was sagt
Der Musiker Wolf-
gang Schlögl ist
einer der Intiato-
ren des „Salon der
Künste“.
28/29
Alireza Daryanavard Menschen, die
sich vor Flüchtlingen fürchten? „Ich
bin zwar nicht hier geboren, aber ich
lebe hier, mein Kind ist hier geboren.
Ich habe Angst vor Krieg oder Terro-
risten. Wie jeder. Das macht uns doch
ähnlicher, als es uns unterschiedlich
macht. Jeder will in Frieden leben. Ich
bin dankbar für den Schutz und die
Aufnahme in diesem Land.“
Langsam Fuß fassen
Ebenfalls vor zwei Jahren nach Öster-
reich geflohen sind Linda Zahra und
Alfoz Tanjour. Sie ist Fotografin, er
Filmemacher. Sie haben zwei Kinder.
Die Familie hat vor dem Bürgerkrieg
in Damaskus gelebt. Keiner von ihnen
konnte sich vorstellen, plötzlich Syrien
verlassen zu müssen. In Österreich
fassen sie langsam Fuß. Ihr wichtigster
Termin ist der Deutschkurs, den sie be-
suchen. Ansonsten arbeiten sie, so gut
es geht. Linda Zahras Arbeiten wurden
schon in drei Ausstellungen gezeigt,
Alfoz hat einen Produzenten für seinen
ersten Spielfilm gefunden, die Vorberei-
tungen laufen.
Alfoz Tanjour: „Unsere Kinder sind
13 und sechs Jahre alt. Sie besuchen
den Kindergarten und die Schule. Wir
lernen mit ihnen. Ich verstehe viel,
aber mich selbst mitzuteilen, ist noch
schwierig. Wir üben im Alltag, ohne Pra-
xis geht nichts.“ Nach Österreich sind
sie gekommen, weil sie in Frieden leben
wollten, eine Zukunft für ihre Kinder
gesucht haben. Die ist ungewiss. Linda
Zahra: „Ich möchte sofort zurückkeh-
ren, aber im Moment sieht es in Syrien
sehr düster aus. Wir haben zwei Kinder,
die nun hier aufwachsen. Was, wenn die
nach Kriegsende gar nicht zurückwol-
len? Wir wissen es nicht.“
Gegen diese Ungewissheit kämpfen
sie mit Arbeit und dem Fleiß, sich hier
ein neues Leben aufzubauen. Das ist
nicht einfach, aber die einzige Chance.
Tanjour: „Syrer sind fleißige Leute, es
geht gegen unsere Einstellung, Almosen­
empfänger zu sein. Wir wollen arbeiten
und uns ein Leben aufbauen. Das hilft
letztlich ja auch der Gemeinschaft. Es
ist schrecklich, Flüchtling zu sein.“
Den Salon nützen die beiden
weiterhin, um in Kontakt mit Öster-
reicherinnen und Österreichern zu
kommen. Das ist auch für den Maler
Muhammad Farouk das Wichtigste. Er
hadert oft mit der Distanziertheit vie-
ler Österreicher im Alltag, im Gespräch
würde sie aber schnell verschwinden.
Deshalb lernt er mit allen Mitteln, auch
via Youtube und Fernsehen. Und in
persönlichen Gesprächen: „Das ist das
Wichtigste. Sprache baut Hürden zwi-
schen den Menschen ab.“ Wie für alle
Flüchtlinge ist die Zukunft eine große
Unbekannte für Farouk. Nur eines weiß
er: „Ich bitte um die Chance, beweisen
zu können, dass ich Teil dieser Gesell-
schaft werden kann.“
Netzwerke aus hiesigen und emigrierten Künst-
lerinnen und Künstlern: Der Salon der Künste mit
ihren Schützlingen und Freunden.
Von der Notschlafstelle
zum Kunstsalon
Die Idee zum Salon ist im Wiener
Kulturzentrum WUK entstanden.
Dort gab es im letzten Sommer
eine Notschlafstelle für Flüchtlin-
ge. Als die WUK-Schule den Platz
wieder für den Unterricht brauchte,
entschlossen sich Wolfgang Schlögl
(Sofa Surfers, I-Wolf), seine Frau
Parvin Razavi (Köchin, Autorin)
und Claudia Prutscher (Israelitische
Kultusgemeinde) in ihrem Bereich
weiterzumachen. Sie gründeten den
Verein Cardamom und Nelke, der
den Salon der Künste veranstaltet
und betreut. Vier Mal im Jahr soll er
stattfinden.
www.cardamomundnelke.com
Fotos:ChristopherGlanzl
SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
I
m Sommer 2015 will Familie Meister ein unbetreutes Flüchtlingskind
bei sich aufnehmen. Ihr erster Gedanke galt der Caritas. Ob dies
möglich wäre? Nein! Der zweite Gedanke galt dem Innenministerium.
Könnte man vielleicht … Nein!
Familie Meister versteht die Welt bis heute nicht. Wie kann es sein,
dass die österreichische Bürokratie nicht einmal den Versuch unternimmt,
Kinder auf der Flucht, die ihre Eltern verloren haben, in hilfsbereiten Fami-
lien unterzubringen? Ihre Reaktion: „Das schreit zum Himmel.“
In dem Jahr, das seither vergangen ist, wurden erste Möglichkeiten
abseits der Massenquartiere geschaffen. Dennoch: Die Geschichte der
Familie Meister ist mehr als die Geschichte einer versäumten Gelegenheit.
Man muss sich nur vorstellen, welche Chancen hier einem verängstigten,
wahrscheinlich traumatisierten Kind genommen wurden – und wie viel
ein Jahr in der Entwicklung eines solchen Kindes bedeutet, wie viel Zeit
sinnlos verstrichen ist. Wahrscheinlich ist es für die Behörden einfach zu
mühsam, auf österreichische Familien verteilte Kinder zu begleiten, sie im
Auge zu behalten, zu überprüfen, ob die Versprechungen auch eingehalten
werden. Da ist es einfacher, die Kinder in Großquartieren zu überwachen.
Bestenfalls. Und wenn dann ein Jugendlicher oder ein Kind verschwinden
sollte, hat man eben etliche Mühe weniger.
Die Geschichte der Familie Meister ist auch eine des Schicksals.
Unbetreute Flüchtlingskinder sind an einer Wegkreuzung angelangt – ohne
die Kraft der Entscheidung zu haben, in welche Richtung sie ihren Lebens-
weg fortsetzen können: Zufall, Glück oder eben Schicksal bedeutet für die
einen Ankunft und Aufnahme in einer Umgebung – sei es in einer Familie
oder in kleinen Wohneinheiten mit intensiver Betreuung –, in der sie geför-
dert und integriert werden können. Andere landen hingegen in Hilflosig-
keit, Abhängigkeit oder auch in den Fängen von Menschenhändlern.
Welchen Lebensweg könnte ein Flüchtlingskind einschlagen, hätte es
bei der Familie Meister Aufnahme gefunden? Wie würde man dann diese
Geschichte fortschreiben können? Manche werden meinen: Eine sinnlose
Frage angesichts der zehntausenden Schicksale in der Flüchtlingswelle
„verlorener“ Kinder.
Sie haben Unrecht, wenn man Folgendes bedenkt: Der Unterschied
zwischen erfolgreicher Heilung von psychischen wie physischen Wunden
und lebenslanger Entzündung hängt wahrscheinlich davon ab, welches
Mitglied der Bürokratie im Einzelfall eine Entscheidung trifft: Empathisch
oder verärgert über Mehrarbeit; mitfühlend oder ungehalten; schlecht
oder gut gelaunt; rigid oder flexibel; mit weichem oder hartem Herz?
Für viele Vorgänge der letzten Monate werden bürokratische Abläufe
verantwortlich gemacht. Dem ist nicht so. Es kommt stets auf die einzel-
nen Personen an. Entweder jedes Flüchtlingskind wird als Mensch mit
Potenzial oder als lästiges Ärgernis gesehen. Die einen erhalten binnen
kürzester Zeit Klarheit über ihr weiteres Schicksal, die anderen werden
einfach „vergessen“.
Das Ende der Geschichte wird oft von Menschen bestimmt, die diese
gar nicht erzählen wollen. 
Das harte Herz
#Chancen #Bürokratie #Kinder
Anneliese Rohrer
ist als Journalistin
und Autorin in
Wien tätig und
bekannt für
ihre pointierten
Analysen der
heimischen Politik.
Foto:ChristopherGlanzl
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500 Gramm Kaffee
in Kapseln
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*Für 31 Euro im Monat werden Sie SOS-Pate unter
www.sos-kinderdorf.at
ANZINGER|WÜSCHNER|RASP,München.FotoAndreaSeifert

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Salto Webversion 2016-01

  • 1. MF/1 Heimspiel Das Magazin von SOS-Kinderdorf #1/2016 Wie durch Sport Integration gelingt SEITE 10: Österreichische Helden auf dem Rasen SEITE 14: Interview mit einem Ex-Salafisten SEITE 20: Hass im Netz
  • 2. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf SALTO hat junge Flüchtlinge besucht, die beim Sport neue Her- ausforderungen sowie Freundin- nen und Freunde in Österreich gefunden haben. Sie heißen Alaba, Junuzovic, Özcan und Co – und sind durch und durch österreichische Helden: Im öster- reichischen Fuß- ball-Nationalteam spielen Migranten der ersten, zwei- ten und dritten Generation auf zentralen Posi- tionen. „Fußball bietet die Chance auf sozialen Aufstieg“, sagt ÖFB-Trainer Rupert Marko. Im Internet, so scheint es, fallen bei Postings zu Flüchtlingen alle Hemmungen. Nicht einmal vor Kindern und Jugendlichen machen die Hass­ poster in den sozialen Medien Halt. Ein Blick hinter das Phäno- men Hass im Netz – und mögliche Gegenstrategien. Dominic Musa Schmitz hat die deutsche Sala- fistenszene von innen kennen- gelernt – und tourt nun als Aussteiger durch Schulen. SALTO erzählte er, wie er in den Radikalis- mus gekippt ist. Tyma Kraitt, Tochter eines Syrers und einer Irakerin, hat sich als Autorin und Journalistin mit dem Thema Inte- gration beschäf- tigt. Für Familien, die ihre Töchter in Österreich nicht in die Schu- le schicken, dürfe es keinen Pardon geben, meint sie. 4 Gemeinsam dabei sein ist alles! 10 Neue Rasen- Helden 14 Einmal Salafismus und zurück 16 Glückssache Bildung 20 Likes für den Hass 24 Flucht und Frauenrollen Morteza und Asghar sind gemeinsam aus ihrer Heimat ge- flüchtet. Nun lebt der eine in einer WG, der andere in einem Groß- quartier – mit enormen Auswir- kungen auf ihre Integration. Eine Geschichte über Chancen. Herausgeber/Medieneigentümer SOS-Kinderdorf Österreich Stafflerstr. 10a, 6020 Innsbruck T:+43 512 580 101 E: salto@sos-kinderdorf.at Rechtsform SOS-Kinderdorf Österreich ist ein gemeinnütziger Verein und Grün- dungsmitglied des Dachverban- des SOS-Kinderdorf International. Vereinsregisternr.: 844967029 Vereinszweck SOS-Kinderdorf ist ein überpartei- liches, auf privater Initiative beru- hendes Sozialwerk zur Betreuung und Begleitung in Not geratener Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener in SOS-Kinder- dorf-Familien, familienähnlichen Gemeinschaften und familienstär- kenden Angeboten. Für den Inhalt verantwortlich Nora Deinhammer Chefredakteurin Martina Stemmer Chefin vom Dienst Andrea Heigl Redaktion Susanne Schönmayr, Martina Molih Art Director Markus Zahradnik Corporate Publishing bettertogether Kommunikationsagentur Gestaltung Schrägstrich Kommunikationsdesign Druck Gedruckt nach der Richtlinie „Druckerzeugnisse“ des Öster­ reichischen Umweltzeichens, NP DRUCK, UW-Nr. 808 Das nächste SALTO erscheint zum Kinderrechtetag am 20. November 2016. Thema: Werden Buben zu wenig gefördert? Haben Sie Anregungen dazu? Dann schreiben Sie uns an salto@sos-kinderdorf.at Dieses Produk für schadstoffa Grasl FairPrint Impressum und Offenlegung nach § 25 Mediengesetz:
  • 3. 2/3 Für einen Salto braucht man Mut. Und die Bereitschaft, die Welt für einen Moment aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Mit dem Ziel, am Ende wieder mit beiden Bei- nen fest auf dem Boden zu landen. SALTO heißt das neue Magazin von SOS-Kinderdorf. In der ersten Ausgabe geht es um junge Menschen, die besonders viel Mut und Ent- schlossenheit aufbringen mussten – um Kinder und Jugendliche, die aus ihrer Heimat nach Österreich geflüchtet sind, viele von ihnen ohne Eltern. Sie haben Krieg und Terror erlebt, Menschen sterben gesehen und sind nun auf sich gestellt. Für SALTO haben eine ganze Reihe namhafter österreichischer Journalistinnen und Journalisten Beiträge verfasst. Sie gehen den Fragen nach: Wie können wir diese jungen Menschen in unsere Gesellschaft integrieren? Wie gehen wir mit den unterschiedlichen Weltanschauungen um, die da aufeinandertreffen? Und wie verhindern wir die Entste- hung von Parallelgesellschaften? Dabei wollen wir auch zeigen, dass es oft gar nicht so viel braucht, damit das Mit­ einander gut funktioniert. Manchmal reicht ein rundes Ding aus Leder. Oder die Möglich- keit, etwas zu lernen. Und es hilft, wenn jene Menschen, die schon lange in Österreich leben, Zuversicht, Courage und guten Willen zeigen. Wenn auch sie hin und wieder einen kleinen Salto wagen. Eine spannende Lektüre wünschen Christian Moser Martina Stemmer Geschäftsführer SOS-Kinderdorf Österreich Chefredakteurin SALTO PS: Wir freuen uns auf Rückmeldungen und Anregungen unter martina.stemmer@sos-kinderdorf.at Liebe Leserin, lieber Leser! MF/1 Heimspiel Das Magazin von SOS-Kinderdorf #1/2016 Wie durch Sport Integration gelingt SEITE 10: Österreichische Helden auf dem Rasen SEITE 14: Interview mit einem Ex-Salafisten SEITE 20: Hass im Netz Bestellen Sie jetzt Ihr SALTO-Abo und unterstützen Sie die Arbeit von SOS-Kinderdorf mit 15 Euro.Als Dankeschön erhalten Sie die neue Setz-Dich-ein-Stofftasche. Einfach E-Mail an salto@sos-kinderdorf.at senden! Ingrid Brodnig ist Medien- redakteurin von „profil“ und Buchautorin. Karl Fluch ist langjähriger Kulturredakteur bei der Tageszeitung „Der Standard“. Christian Hackl ist Fußball- Experte bei der Tageszei- tung „Der Standard“. Nina Horaczek ist Chefre- porterin beim „Falter“ sowie Buchautorin. Anneliese Rohrer ist eine profunde Politik-Kennerin. Sie kommentiert, bloggt und schreibt Bücher. Anna Thalhammer arbeitet in der Chronik-Redaktion der Tageszeitung „Die Presse“. SOS-Kinderdorf bedankt sich bei den Autorinnen und Autoren von SALTO:
  • 4. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf F ür die meisten Sportarten gilt: Es braucht nicht viele Worte, um sie zu betreiben. Egal ob Fußball, Volleyball oder Ringen, die Regeln sind auf der ganzen Welt die- selben. Für das gemeinsame Austoben gibt es keine Hürden, weder sprachliche noch bürokratische. Deshalb ist Sport ein regelrechter Integrationsmotor. Auf dem Platz sind alle gleich – das bestätigen auch die Fußballer des österreichi- schen Nationalteams, in denen Flüchtlinge und Migranten zweiter und dritter Generation schon seit Langem eine zentrale Rolle spielen (s. Seiten 10 und 11). Für das gemeinsame Fußballspiel im Park braucht es nicht viel, nur ein Paar Schuhe und einen Ball. Sport ver- bindet, er stellt alle auf dasselbe Stockerl, egal, woher sie kommen; nur das Talent und das Engagement zählen, nicht die Sprache oder die Herkunft. Lektionen fürs Leben Sport ist außerdem ein ausgezeichneter Lehrer: Teamgeist, Fairness, Disziplin, Ausdauer und Taktik – das brauchen Kinder, die sportliche Ziele erreichen wollen. Wer gelernt hat, nach einer Niederlage wieder aufzustehen und weiterzu- machen, der hat eine Lektion fürs Leben gelernt. SALTO hat vier geflüchtete Kinder und Jugendliche beim Sport begleitet. Für manche, wie den 15-jährigen Schwimmer Nawid aus Afghanistan, ist der Sport einfach Zeitvertreib und willkommene Abwechslung. Für Jilan (17) aus Syrien ist das wöchentliche Volleyballtraining mit einer Mannschaft in Salzburg der erste regelmäßige Kontakt mit österreichischen Mädchen, der erste Anknüpfungspunkt im neuen Land. Ähnlich geht es Judy, elf Jahre und ebenfalls aus Syrien. Sie trainiert regelmäßig mit dem Mädchen- und Frauen- fußballverein 23 der Sportunion Wien. Ali Reza (17) aus Afghanistan hat bereits in seiner Heimat vier Jahre lang das so genannte Kuschti (Ringen) trainiert. In Österreich fährt er nun zwei Mal pro Woche nach Wien, wo er unter den Tribünen des Ernst-Happel-Stadions mit der Union Wien West trainiert. Er hat in Österreich bereits bei mehreren Wettkämpfen Medaillen gewonnen. Gemeinsam dabei sein ist alles! Kampf und Konkurrenz – das ist die eine Seite der Medaille beim Sport. Das Miteinander auf dem Spielfeld, auf der Turnmatte, im Wasser ist aber auch ein Motor für Integration. SALTO hat junge Flüchtlinge gefragt,was Sport für sie bedeutet. TEXT: SUSANNE SCHÖNMAYR FOTOS: CHRISTOPHER GLANZL / STEFAN SEELIG
  • 5. 4/5 Kleine Info am Rande Er hörte leise Schritte hinter sich. Das bedeutete nichts Gutes.Wer würde ihm schon folgen, spät in der Nacht und dazu noch in dieser engen Gasse mitten im übel beleumundeten Hafenviertel? Judy, 11, Syrien „Seit mich meine Freundin aus Wien das erste Mal zum Fußballtraining mitge- nommen hat, komme ich jede Woche her. Zu Hause in Syrien habe ich nie Sport gemacht, aber hier macht es mir großen Spaß.“
  • 6. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf
  • 7. 6/7 Nawid, 15,Afghanistan „Ich war auch in Afghanistan oft schwimmen und mag Kraulen und Brustschwimmen.Am meisten Spaß macht aber das ins Becken hüpfen. Leider ist das in den meisten Bädern verboten.“
  • 8. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf Kleine Info am Rande Er hörte leise Schritte hinter sich. Das bedeutete nichts Gutes.Wer würde ihm schon folgen, spät in der Nacht und dazu noch in dieser engen Gasse mitten im übel beleu- mundeten Hafenviertel? Jilan, 17, Syrien „Ich bin in einer Volleyballmannschaft mit österreichischen und syrischen Mädchen. Manchmal spielen wir auch gegen Burschen aus unserem Wohnhaus.“
  • 9. 8/9 Kleine Info am Rande Er hörte leise Schritte hinter sich. Das bedeutete nichts Gutes.Wer würde ihm schon folgen, spät in der Nacht und dazu noch in dieser engen Gasse mitten im übel beleumundeten Hafenviertel? Ali Reza, 17,Afghanistan „Das Ringen ist für mich der beste Sport, denn es gibt mir Energie zum Leben. Man muss schnell und stark sein, braucht aber auch die richtige Technik.“
  • 10. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf Z latko Junuzovic kann problemlos darüber sprechen. „Weil ich mich nicht daran erinnern kann.“ Vier­ einhalb Jahre alt ist der heute 28-Jäh- rige gewesen, als er mit Papa, Mama und der älteren Schwester in Kärnten eingetroffen ist. Die genauen Umstände der Flucht vor dem Bosnienkrieg kennt er nicht. „Mein Papa hat ein bisserl was erzählt, sicher nicht alles, ich akzeptiere das. Es muss schrecklich gewesen sein.“ Die Familie Junuzovic lebt in Graz, der Vater arbeitet in einem Lager. Der Sohn wohnt in Bremen, er kickt ja für Werder in der deutschen Bundesliga. Bis zum 15. Lebensjahr besaß Zlatko auch die bosnische Staatsbürger- schaft, er hat sie ohne sentimentale Gefühle zurückgelegt. „Ich kenne nur Österreich, ich fühle mich als Österrei- cher, wurde da sozialisiert, habe hier den Fußball erlernt.“ Er ist noch nie in der Heimat seiner Vorfahren gewesen, Sarajevo kennt er nur aus Erzählungen. Die Oma und die Tante sind in Bosnien geblieben, der Kontakt wird regelmä- ßig gepflegt. „Aber sie besuchen immer nur uns.“ Junuzovic ist ein der Stützen der österreichischen Nationalmannschaft und am Aufschwung unmittelbar betei- ligt. Seit Jahren. Trotzdem ist er eine Ausnahme. Denn andere Stützen wie Aleksandar Dragovic, Marko Arnautovic (beide serbischer Hintergrund), David Alaba (Vater aus Nigeria, Mutter von den Philippinen) oder auch Ramazan Özcan und Veli Kavlak (beide türkischer Hintergrund) wurden in Österreich geboren. In zweiter oder gar dritter Generation. Wienerischer als Alaba geht kaum. Zum Weltklassefußballer ist er bei Bayern München gereift. „Als Fußballer hast du es leichter“ Dragovic hat als Bub bei der Austria gekickt. „Ich bin dankbar, eine wunder- bare Zeit.“ Momentan dient er Dynamo Kiew. Kommt er nach Wien, „komme Seit vielen Jahren prägen Migranten den heimischen Profi-Fußball. Die meisten entstammen der zweiten und dritten Generation, manche – wie Zlatko Junuzovic – haben aber auch selbst eine Flucht hinter sich. TEXT: CHRISTIAN HACKL David Alaba, Rubin Okotie, Aleksandar Dragovic, Marko Arnautovic, Zlatko Junuzovic, Ramazan Özcan: Was wäre das österreichische Nationalteam ohne Migranten? Fotos:APApicturedesk Österreichische Helden: Alaba, Dragovic, Özcan Co
  • 11. 10/11 ich in meine Heimat und bestelle Schnitzel.“ Dragovic streitet nicht ab, dass es Parallelgesellschaften gibt. „Als Fußballer hast du es sicher leich- ter. Da geht es um den gemeinsamen Erfolg. Bist du gut, ist egal, woher du stammst.“ Auch Arnautovic, Legionär bei Stoke City, sieht das ähnlich. „Hast du Talent und machst etwas draus, schaffst du es, dann spielt die Herkunft eine untergeordnete Rolle.“ Tormann Özcan fühlt sich beiden Ländern zugetan. „Ich mag die Türkei, ich mag Österreich. Ich kann mit beiden Kultu- ren etwas anfangen und sehe das als Bereicherung.“ ÖFB-Präsident Leo Windtner be- tont zwar nicht dauernd, aber immer, wenn er danach gefragt wird, „die integrative Kraft des Fußballs. Integra- tion wird im Sport vorgelebt. Aber na- türlich ist es einfacher als in anderen gesellschaftlichen Bereichen.“ Rupert Marko ist der Teamchef der österrei- chischen U19-Auswahl. Er geht davon ein Vorbild sein, für einen offenen, solidarischen Umgang eintreten. Wobei der Sport nicht die Probleme der Welt lösen kann.“ Karriere im Ausland Die österreichischen Klubs profitieren von den Talenten, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund, nur be- dingt. Das hat aber mit der Liga zu tun. Die besten wechseln als Jugendliche ins Ausland, weil sie dort die größeren Perspektiven sehen. Sportlich wie finanziell. Das Nationalteam wird von dieser Entwicklung eher profitieren, es besteht jetzt schon nahezu ausschließ- lich aus Legionären. Zlatko Junuzovic hat im Vorjahr, als die Flüchtlingswel- le den Höhepunkt erreichte und die Grenzen noch offen waren, Klartext gesprochen: „Man darf nicht weg- schauen. Es gehört sich für jedes Land, Menschlichkeit zu zeigen.“ Irgendwann wird sich Junuzovic Sarajevo anschau- en: „Wenn ich Zeit habe.“ aus, dass die Zahl der Fußballer mit Migrationshintergrund weiter steigt, speziell in den Ballungsräumen, vor allem in Wien. „Das ist gut so. Fußball bietet nach wie vor eine Chance auf ein besseres Leben, auf einen sozi- alen Aufstieg. Fußball ist und bleibt ein Sport für die kleinen Leute. Am Anfang brauchst du nur einen Ball und Schuhe.“ Teamkapitän Christian Fuchs schätzt die „Vielfältigkeit im Fußball. Hier gibt es ein Miteinander, jeder lernt von jedem. Rassismus hat hier nichts verloren, es geht um Respekt, ums Gemeinsame.“ Teamstürmer Marc Janko spielt momentan in der Schweiz für den Serienmeister FC Basel. Davor war er in den Niederlanden, in Portugal, der Türkei und in Australien beschäftigt. „Man lernt andere Kulturen kennen, das erweitert deinen Horizont. Aber natürlich ist alles einfacher, wenn du in einer privilegierten Position bist. Trotzdem musst du als Fußballer
  • 12. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf Der Wertesalto Flucht stellt Weltbilder auf den Kopf.Wie kann das Zusammenleben mit Menschen aus völlig anderen Gesellschaftssystemen funktionieren? TEXT: MARTINA STEMMER I n den ersten Wochen verließ Wa- siem (*) kaum sein Zimmer. Saß auf der Kante seines perfekt gemach- ten Bettes, Rücken durchgestreckt, Blick geradeaus. Rührte sich nicht vom Fleck, sprach nur das Nötigste. Die Welt um ihn herum – lärmende Jugendliche, die sich frei durchs Haus bewegen, gemeinsam lernen, kochen und ihre Freizeit verbringen – war ihm völlig fremd. Seine Welt bestand bisher aus Befehlen. Wasiem hatte bereits etliche Jahre Militärschule hinter sich. Er lebte in seiner Heimat Syrien das Leben eines Soldaten, kannte von klein auf nichts anderes als Kampf, Gehor- sam und Misshandlung. Wasiem ist 16. Seine Flucht aus der Hölle organisierten seine Eltern. Sie bezahlten Schlepper dafür, ihren Sohn nach Europa zu bringen. Er lebt seit einiger Zeit in einer Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge von SOS-Kinderdorf. Wasiems Chan- cen, langfristig hier bleiben zu können, stehen gut. Bis sich der junge Syrer hierzulande wirklich zu Hause fühlt, wird es, so schätzen seine Betreuerin- nen und Betreuer, jedoch Monate, wenn nicht Jahre dauern. Und er wird dabei viel Hilfe brauchen. Zu groß ist die Kluft zwischen alter und neuer Lebenswelt, als dass sie sich mit einem Aufenthalts- titel einfach schließen ließe. So geht es vielen Asylwerberinnen und Asylwerbern aus Ländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak. Was daheim zum Alltag gehörte, ist in ihrer neuen Umgebung plötzlich undenkbar. Dass Kinder zu Soldaten ausgebildet werden zum Beispiel. Aha-Erlebnisse Umdenken ist ein langwieriger Prozess, der unumgänglich fürs Zusammenle- ben ist. In Österreich sollen diverse Wertekurse und Startprogramme Flüchtlingen näherbringen, wie Land und Leute ticken. Das Innenministeri- um stellt zudem einen „Refugee Guide“ Piktogramm aus dem „Refugee- Guide“ des Innenministeriums: Mädchen gehen in die Schule und bestimmen,was sie werden möch- ten. Für viele Asylsuchende ist das nicht selbstverständlich. (*)Namegeändert;alleIllustrationen:www.refugee-guide.at,BundesministeriumfürInneres,LindenauProductionsGmbH;Foto:SOS-Kinderdorf
  • 13. 12/13 bereit, der sich an Neuankömmlinge richtet. Mittels Piktogrammen werden Asylwerbern die Dos and Don’ts vor Augen geführt. Vom Über-die-Stra- ße-Begleiten älterer Menschen bis zum Gewaltverbot gegen Frauen und Kinder. Ist so viel plakative Basisarbeit wirklich notwendig? Ja, sagt Bernhard Spiegel. Er leitet das Clearing-house in Salzburg, eine Wohngruppe für unbe- gleitete minderjährige Flüchtlinge von SOS-Kinderdorf. „Diese Bilder sind gerade für die erste Orientierung sehr hilfreich und lösen bei unseren neu an- gekommenen Jugendlichen immer wie- der Aha-Erlebnisse aus“, sagt Spiegel. So neu, wie die Wertediskussion angesichts der Flüchtlingskrise erschei- ne, sei sie aber gar nicht, so Spiegel (siehe auch Kasten). „Wir machen das im Clearing-house seit 15 Jahren.“ Kein Kurs und keine Broschüre der Welt könnten allerdings das ersetzen, worum es in der Wertevermittlung gehe. „Am wichtigsten ist die Vorbild- wirkung.“ Sinn und Perspektiven Geflüchtete Kinder und Jugendliche brauchen – so wie jeder junge Mensch – Bezugspersonen. Erwachsene, die sich mit ihnen auseinandersetzen, als Vorbild zur Verfügung stehen und Grenzen aufzeigen. Viele minderjährige Flüchtlinge leben in österreichischen Großquartieren. Dort fehlt dieser per- sönliche Kontakt. Und die Möglichkeit, den Tag sinnvoll zu gestalten (siehe auch Artikel auf Seite 16). Integration gelingt, wenn Schutzsu- chende nicht nur in unserem Land son- dern mit uns leben – da sind sich sämtli- che Experten einig. Bernhard Perchinig von der Uni Wien unterstreicht dabei die Bedeutung von Arbeit. „Flüchtlinge dürfen nicht den Rest ihres Lebens in Billigjobs hängen bleiben – sie brauchen eine Perspektive.“ Wertekurse alleine, so Perchinig, könnten wenig bewirken. „Da geht es mehr um Symbolpolitik als um echte Integration.“ Wasiem hat jedenfalls schon ein wenig Vertrauen zu einigen Menschen in seinem neuen Umfeld gefasst. Er besucht einen Deutschkurs, nimmt an gemeinsamen Aktivitäten teil – und manchmal lächelt er sogar. Welche Themen beschäftigen minderjährige Flüchtlinge, die neu ins Clearing-house kommen? Dass Frauen dieselben Rechte haben wie Männer ist für viele völlig neu. So- wohl für Burschen als auch für Mädchen. Wie vermittelt man Gleichberechtigung? Indem man sie vorlebt – wir stehen da unter Dauerbeob- achtung. Die Jugendlichen schauen ganz genau: Haben die Betreuerinnen diesel- ben Befugnisse wie die Betreuer? Und haben Buben dieselben Arbeiten im Haus zu erledigen wie Mädchen? Und, haben sie? Ja, selbstverständlich! Natürlich sträuben sich manche Jungs anfangs, wenns ums Putzen geht, aber nach einer Weile haben bisher noch alle mitgemacht. Welche Rolle spielt Sexualpädagogik? Zwei Mal im Jahr gibts ei- nen Workshop zum Thema Sexualität bei uns im Haus. Der ist verpflichtend. Es ist nicht ganz leicht, dafür ei- nen Dolmetscher zu finden. Aber uns ist sehr wichtig, dass die Jugendlichen infor- miert sind. Ist Radikalisierung ein Thema? Ich glaube, dass junge Men- schen mit Fluchterfahrung da grundsätzlich weniger gefährdet sind als Jugendli- che aus Europa. Die, die zu uns ins Clearing-house kom- men, wissen jedenfalls ganz genau, wie brutal Krieg und Terror sind. „Wir stehen unter Dauerbeobachtung“ Bernhard Spiegel leitet das Clearing- house in Salzburg, ein Haus für unbe- gleitete minderjäh- rige Flüchtlinge von SOS-Kinderdorf.
  • 14. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf Herr Schmitz, Sie sind ein gefragter Interviewpartner, Buchautor, halten Vorträge an Schulen – warum haben Sie sich dafür entschieden, Ihre Ge- schichte so offensiv zu erzählen? Das hat sich praktisch von selbst ergeben. 2005 bin ich konver- tiert; ab 2008 hatte ich meinen eigenen Youtube-Kanal, auf dem ich gepredigt habe, wie einige andere Salafisten in Deutsch- land auch. Das ist ein extrem wichtiges Medium, weil man mit ganz wenig Aufwand vie- le Menschen erreicht. 2010 hat sich dann mein Leben sehr stark verändert, ich habe begonnen, an dieser Ideologie zu zweifeln, dann habe ich auch meine Kritik in den Youtube-Vi- deos geteilt und Fragen beantwor- tet. Dann kamen die ersten Medien auf mich zu, und irgendwie hat sich das verselbstständigt. An den Schulen halten Sie immer wieder Vorträge mit Aussteigern aus der Neonazi-Szene. Hätten Sie damals statt Muslimen Neonazis kennengelernt – wären Sie auch ihnen gefolgt? Nein, sicher nicht. Ich habe Faschis- mus immer schon verabscheut. Aber im Grunde wäre es egal gewesen, ob ein Muslim, ein Zeuge Jehovas oder ein Scientologe vor meiner Tür gestan- den wäre. Ich war auf der Suche nach Antworten, nach Spiritualität, und nach einer Gemeinschaft, zu der ich dazuge- hören kann. Dennoch: Vom Islam zum Salafismus ist es ein weiter Weg … Natürlich. Aber ich habe alles über den Islam von Salafisten gelernt. Sie wirkten auf mich authentisch, weil sie ihre Religion 24 Stunden am Tag praktiziert haben, weil es keine Kompromisse gab. Salafisten haben auf alles eine Antwort. Erst später habe ich gelernt, dass die einfachsten Antworten nicht immer die besten sind. Warum ist eine Ideologie für junge Menschen ansprechend, die so strenge Regeln vorgibt? Weil viele nicht wissen, was sie mit ihrer Freiheit anfangen sollen. Sie sind über- fordert durch die Fülle an Möglichkei- ten. Als Salafist musste ich nichts selbst entscheiden. Viele Ihrer damaligen Glaubensbrüder waren Hartz-IV-Empfänger. Inwiefern spielt der soziale Status bei Radikalisie- rung eine Rolle? Es wäre zu einfach, zu sagen, nur Hartz-IV-Empfänger werden Salafisten. Natürlich gab es da Menschen mit Als Salafistmusste ich nichts selbst entscheiden. Dominic Musa Schmitz war tief in der deutschen Salafisten-Szene verwurzelt. Mittlerweile ist er ausgestiegen – und sucht auf Soci- al Media und in Schulen Kontakt zu jungen Menschen. SALTO erzählte er von seinen Erfahrungen. INTERVIEW: ANDREA HEIGL Foto:HansScherhaufer
  • 15. 14/15 Bildungslücken, aber auch junge Leute aus zerbrochenen Familien, Jugend- liche, die gemobbt wurden, und so weiter. Das vereint wahrscheinlich die Neonazis und die Salafisten, sie sagen diesen Jugendlichen: Bei uns bist du willkommen. Wenn du dich unserer Ideologie anschließt, dann nehmen wir dich so, wie du bist. Was kann man daraus für die Präventi- on lernen? Ich kann nur versuchen, bei jungen Leuten den richtigen Samen in ihre Herzen einzupflanzen – damit sie im entscheidenden Moment nicht in den Flieger nach Syrien steigen. Bei mir wa- ren es viele Gedanken und Fragen, bis ich schließlich den Mut gefasst habe, mein Weltbild zu überdenken. War der Weg in den Jihad in Ihrer Zeit als Salafist auch schon Thema? Sicher nicht so stark wie heute, das hat sich mit dem Syrien-Krieg vervielfacht. Ich habe als 17-, 18-Jähriger mit Pierre Vogel und anderen Salafisten auf Plät- zen demonstriert und herumgeschrien. Heute sagen die Leute: Was bringt das? Wir müssen in den Jihad ziehen, wir müssen Löwen sein. Alles ist viel radika- ler und kompromissloser geworden. Im Zuge der Flüchtlingsdiskussion kommt oft das Argument, man wisse nicht, wer da komme, möglicherweise gebe es radikales Potenzial. Wie neh- men Sie das wahr? In erster Linie kommen Menschen zu uns, die vor Glaubenskriegern flüch- ten, die in Sicherheit leben wollen, die gerade alles riskiert haben, um dem Krieg zu entkommen. Andererseits wäre es dumm zu sagen: Unter diesen hunderttausenden Menschen ist bestimmt kein einziger mit radikalen Ideen. Salafisten versuchen schon, gezielt Flüchtlinge anzuwerben, die vielleicht in Deutschland nicht das finden, was sie gesucht haben. Dem kann man zuvorkommen, indem man Flüchtlingen rechtzeitig hilft, Deutsch zu lernen, sich zu integrieren, Fuß zu fassen. In nur zehn Jahren haben Sie einen weiten Weg zurückgelegt – zum Islam, zum Salafismus und wieder zurück. Bezeichnen Sie sich heute als gläubig? Tja, was heißt das schon? Ich kann mit dem Bild von Gott im Islam immer noch viel anfangen. Religion ist für mich nach wie vor eine große Inspiration. Aber ich hinterfrage alles. Der Zweifel ist der Motor meines Den- kens geworden. Ich habe Menschen, die mir Halt geben, ich brauche keine Ideologie mehr und auch keine Schul- terklopfer. Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass ich mit 28 Jahren mehr erlebt habe als so mancher 50-Jährige. „Das vereint Neonazis und Salafisten, sie sagen Jugendlichen: Bei uns bist du willkommen. “ Dominic Musa Schmitz spricht viel mit jungen Men- schen – „damit sie im entscheidenden Moment nicht in den Flieger nach Syrien steigen.“ Einmal Extremismus und zurück: In seinem Buch „Ich war ein Salafist“ (Ullstein-Verlag) beschreibt Dominic Musa Schmitz seine Erlebnisse im deutschen Salafisten-Netzwerk, seinen Weg heraus – und seine persönliche Wandlung vom islamistischen Youtu- be-Prediger zum Aufklärer.
  • 16. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf V ier Tage die Woche Deutschkurs, dazu Mathe. Gitarrenstunde, Volleyballtraining, Fußball im lokalen Verein und vergangenes Wo- chenende ein Streetdance-Workshop. Fein säuberlich hat er seine Termine auf einen A4-Zettel geschrieben, in eine Klarsichthülle gesteckt und auf dem Bücherregal befestigt. Morteza, den alle hier „Morti“ nennen, ist 17 Jahre alt und Afghane. Seit November lebt er in einer WG für Flüchtlingsjugendliche von SOS-Kinder- dorf in Wiener Neudorf. Die Wohnung stellt die örtliche Freiwillige Feuer- wehr zur Verfügung. Dafür helfen die Burschen jeden Freitag der Feuer- wehr. Sie wischen das Treppenhaus auf, saugen die Zimmer, waschen die Feuerwehrautos. Die Deutschkurse halten Freiwillige ab und die Gemeinde half SOS-Kinderdorf, die Burschen in Sportkursen unterzubringen. So finden sie leichter österreichische Freunde. Betreut werden die Jugendlichen von Mitarbeiterinnen des SOS-Kinderdorfs, die auch darauf achten, dass sie be- schäftigt sind. Morti hat Glück gehabt. Denn es ist die Ausnahme und nicht die Regel, dass Jugendliche, die ohne ihre Eltern nach Österreich geflüchtet sind, etwas lernen dürfen. Nach dem 15. Geburts- Zwei Burschen flüchten gemeinsam nach Europa und finden sich in Öster- reich wieder: Der eine wird in einer WG betreut, kann lernen, knüpft Kontakte. Der andere bekommt kaum Gelegenheit, Fuß zu fas- sen. Eine Geschichte über Chancen. TEXT: NINA HORACZEK tag hat kein junger Flüchtling mehr einen gesetzlichen Anspruch auf einen Schulplatz, eine Ausbildung oder zumindest einen Deutschkurs. Mehr als 6.000 unbegleitete minderjähri- ge Flüchtlinge warten in Österreich (Stand: Juni 2016) auf den Ausgang ihres Asylverfahrens. Und nur die wenigsten dürfen diese Monate und manchmal auch Jahre so sinnvoll nützen wie Morti in „seinem“ Feuer- wehrhaus. Ungleiche Freunde Asghar, der gerade in Wiener Neudorf zu Besuch ist, hat es nicht so gut erwischt. Seit vier Jahren sind Morti und Asghar befreundet. Kennengelernt haben sie sich noch im Iran, in Öster- reich ist Asghar eine Woche früher angekommen als sein Freund. Wie so viele Flüchtlinge war auch Asghar in Traiskirchen in Niederösterreich. Dann wurde er in ein Flüchtlings-Zeltlager im steirischen Admont verlegt und von dort wiederum in eine Erwachsenen- unterkunft in einem Vorort von Graz. Wenn man Asghar fragt, was er den ganzen Tag tut, sagt er: „Nur schla- fen“. Seit drei Wochen darf er endlich Deutsch lernen, sagt der Bursche. „Aber der Kurs findet nur jeden Freitag für zwei Stunden statt.“ Wenn Bildung Glückssache wird Fotos:ChristopherGlanzl
  • 17. 16/17 Nach fünf Monaten in Österreich kann Asghar „Hallo“, „Wie geht‘s“ und „Auf Wiedersehen“ sagen. Sein Freund Morti spricht schon fließend Sätze auf Deutsch, nur bei der Grammatik hakt es noch und manchmal fällt ihm ein Wort nicht ein. Die jungen Afghanen in Wie- ner Neudorf lernen die Sprache nicht nur fast täglich im Deutschkurs. Durch ihre vielen Aktivitäten sind sie auch ständig in Kontakt mit Einheimischen. Probleme mit der Bürokratie In Graz hat Asghar noch keinen einzi- gen Österreicher kennengelernt. „Die Leute fürchten sich vor uns, weil wir Asylwerber sind“, sagt er. SOS-Kin- derdorf hat versucht, auch Asghar in die Burschen-Wohngemeinschaft in Wiener Neudorf zu bringen. Der Plan scheiterte an der Bürokratie. Asghar ist während seines Asylverfahrens der Steiermark zugeteilt worden und Rund 11.000 minderjährige Flüchtlinge leben derzeit in Österreich. Der Großteil von ihnen ist zwischen 15 und 18 Jahre alt. Viele leben in Großquartieren und Heimen – ohne altersgerech- te Betreuung. Bildungsangebote sind ebenfalls Mangelware. Pflichtschulklassen dürfen Jugend- liche über 15 per Gesetz nicht mehr besuchen, in Gymnasien, Berufsbildenden Höheren Schulen sowie Berufsschulen entscheiden Direktorinnen und Direktoren über freie Plätze. Lehrstellen stehen Asylsuchenden nur in sogenannten Mängelberufen offen. Was bleibt, sind Deutsch- kurse an den Volkshochschulen beziehungsweise auf Initiative von Privatpersonen und Vereinen. Diese Kurse dauern allerdings oft nur ein paar Stunden die Woche – sehr wenig im Vergleich zu 30 Stunden Schule. Hilfsorganisationen sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter fordern deshalb zusätzliche Bildungs- und Beschäfti- gungsmöglichkeiten für junge Flüchtlinge. Bildungsangebote für junge Flüchtlinge sind Mangelware darf deshalb nicht in Niederösterreich wohnen. Morti hat schon konkrete Pläne: Jetzt lernt er für den Hauptschulab- schluss, danach möchte er Matura machen. So flink, wie er lernt, trauen ihm seine BetreuerInnen das auch zu. Asghars Wünsche sind bescheidener: „Ich würde so gerne Deutsch lernen und auch in einen Sportkurs gehen dürfen.“ Gute Bildungs- angebote für Flüchtlinge nach der Pflicht- schule fehlen. Oft können sie nur durch das Engagement von Freiwillligen Deutsch lernen.
  • 18. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf #lovemyjob Unter dem Hashtag #lovemyjob findet man auf der Social-Media-Plattform Instagram über 6,5 Millionen Bilder. Der Großteil davon zeigt Mode, Make-up, Rei- sen, Abenteuer. Junge Menschen streben nach dem Traumjob, der neben Selbst- verwirklichung möglicherweise auch viele Likes für ein quadratisches Foto bringt. Jungen Asylsuchenden bleibt das Streben nach dem beruflichen Glück erst einmal verwehrt. Solange ihr Verfahren läuft, dürfen sie nur in Ausnahmefällen arbeiten. Umso wichtiger sind Beschäf- tigungsprojekte: Sie geben Sinn, stärken das Selbstbewusstsein – und bereiten ide- alerweise aufs spätere Berufsleben vor. SALTO hat vier junge Flüchtlinge gefragt, was Arbeit für sie bedeutet. Fawad, 21, Afghanistan „Ich bin einfach jeden Tag immer wieder hergekommen und habe gefragt, ob ich hier arbeiten kann, bis es geklappt hat.“ Sein Chef bei Kleider Bauer Salzburg lobt den Lehrling und anerkann- ten Flüchtling dafür, wie gut er auf die Kundinnen und Kunden eingeht: „Fawad ist sehr charmant!“ TEXT: SUSANNE SCHÖNMAYR FOTOS: CHRISTOPHER GLANZL
  • 19. 18/19 Abdoulkadir, 17, Somalia „Ich hasse es, Zwiebel zu schneiden, deswegen übernehme ich lieber die Putzarbeiten in der Küche. Aber das ist nicht mein wirklicher Job, eigentlich bin ich Fußballspieler. Mein großes Vorbild ist Naymar.“ Abdoulkadir hilft im Clea- ring-house Salzburg jeden Tag in der Küche mit. Obaidullah, 17, Afghanistan „Am meisten Spaß macht es mir, Klei- der zu nähen. Ich habe in Afghanis- tan schon vier Jahre lang als Schnei- der gearbeitet und möchte auch in Österreich damit weitermachen.“ Als sich bei dem Arbeitsprojekt „Garten der Begegnung“ gezeigt hat, dass viele junge Männer aus Afghanistan ausgezeichnete Schneider sind, hat man in Traiskirchen spontan eine Nähwerkstatt eingerichtet. Aliasghar, 29,Afghanistan „Das ist der einzige Platz, wo wir zusammen sind, etwas machen und glücklich sein können.“ Alias- ghar hat beim Beschäftigungsprojekt „Garten der Begegnung“ in Traiskirchen nicht nur bei der Pla- nung eines Gemeinschaftsgartens mitgearbeitet, sondern auch innerhalb von sechs Wochen aus einem Holzblock ein Musikinstrument geschnitzt.
  • 20. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf D ie Wut über Flüchtlinge macht nicht bei Kindern und Jugend- lichen halt – ganz im Gegenteil. Selbst harmlose Bilder von minder- jährigen Asylwerbern bringen manche Nutzer in Rage. Ein bekanntes Beispiel: Als im Juli des Vorjahres brütende Hit- ze herrschte, stellte die Freiwillige Feu- erwehr Feldkirchen eine Wasserdusche für Flüchtlinge auf. Ein Foto davon verbreitete sich im Eiltempo in den sozialen Medien: Ein kleines Mädchen stand im kühlen Nass – und strahl- te. Mehr als 17.000 Likes erhielt das Bild, aber auch Hasskommentare. Ein 17-jähriger Lehrling kommentierte das Foto mit den Worten: „Flammenwerfer währe (sic!) da die bessere Lösung.“ Die Wortmeldung sorgte für Aufsehen: Der Bursche verlor daraufhin seine Lehrstelle bei Porsche. Es folgt eine große Debatte über den adäquaten Umgang mit gehässigen Postings. Interessant ist an dem Fall aber auch, in welcher Härte selbst über Kinder und Jugendliche online herge- zogen wird. Das sagt einiges über die Verrohung der Debatte, speziell auch Likes für den Hass Warum bringen Bilder von Flüchtlingen so viele Menschen im Netz in Rage? Auf Spurensuche nach den Emotionen im World Wide Web. TEXT: INGRID BRODNIG im Netz, aus. Warum ist das so, dass Menschen online selbst über Minder- jährige so verletzend posten? Es wäre falsch, so zu tun, als würde das Internet die Ursache für Rassismus sein, als wäre die Polari- sierung in der Flüchtlingsdebatte ein Ergebnis der Digitalisierung. Wohl aber wirkt das Netz oft wie ein Katalysator, es treibt viele Bewegungen umso mehr an. Rüpel und Populisten haben es im Internet leider oftmals besonders leicht. Darauf deutet eine Untersu- chung der Wissenschaftler Daegon Cho und Alessandro Acquisti aus dem Jahr 2013 hin. Damals forschten beide an der Carnegie Mellon University in den USA und sie analysierten 75.000 Leserkommentare auf südkoreani- schen Nachrichtenseiten und fanden heraus: Beinhaltete ein Kommentar Schimpfworte, dann drückten umso mehr Nutzer auf „Like“ oder bewerte- ten das Posting als lesenswert. Wer he- rumschimpft, erntet also Bestätigung. Emotion, auch negative Emotion, wird im Netz mit Aufmerksamkeit belohnt. Dies liegt nicht zuletzt an den sogenannten „Echokammern“, das sind digitale Räume, in denen Nutzer hauptsächlich Inhalte einge- blendet bekommen, die ihre Meinung bekräftigen. Wer Angst vor Flüchtlin- gen hat, kann die passenden Face- book-Gruppen aufsuchen – sie heißen beispielsweise „Islam gehört nicht zu Österreich“ oder „Alternative für Österreich“. Von diesen Gruppen be- kommt man dann permanent Beiträge eingeblendet, die die eigenen Fürchte bestätigen und weiter fördern. Wie ein Echo hallt auch die Angst in diesen Räumen zurück. Eigen- versus Fremdgruppe Aber warum sind manche Menschen so empathielos? Warum werden alle Flüchtlinge oft über einen Kamm geschert? Fragen wie diese kann der Psychologe Delroy Paulhus von der University of British Columbia in Van- couver beantworten, den ich für mein Buch interviewt habe. Er forscht seit Jahrzehnten dazu, wann Menschen dunklere Facetten ihrer Persönlich- keit zeigen. In der Psychologie gibt es Fotos:ChristopherGlanzl,KatharinaEbel/HGFD
  • 21. 20/21 das Konzept der „Eigengruppe versus Fremdgruppe“. Die Eigengruppe ist jener Menschenkreis, zu dem man sich deutlich zugehörig fühlt. Die Fremd- gruppe sind alle anderen. Menschen können sich mehreren Eigengrup- pen zugehörig fühlen: Zum Beispiel anderen Menschen, die aus demselben Heimatort kommen oder dem örtlichen Fußballverein und all seinen Anhän- gern angehören. An sich ist das ganz normal. „Nun gibt es Situationen, die sehr starke Gefühle der Eigengruppe versus einer Fremdgruppe auslösen können: Vor allem, wenn die Fremd- gruppe dieselben Ressourcen nutzen möchte, die bisher der Eigengruppe zustanden, kann dies heftige Reaktio- nen auslösen“, sagt Paulhus. In der Flüchtlingsdebatte lässt sich diese Dynamik beobachten: Bürger nehmen Flüchtlinge als Fremdgruppe wahr, die womöglich einen Job oder Geld vom Staat bekommt, das sonst auf die Eigengruppe verteilt werden würde. Selbst wenn solche Ängste überzogen sein mögen, rufen sie Aggressionen hervor. Auch kommt es dann zum Eindruck der „Fremdgrup- penhomogenität“: Menschen haben das Gefühl, die Fremdgruppe sei sehr homogen – was zu Aussagen führt wie: „Die Flüchtlinge sind alle gleich.“ Wenn man alle Asylwerber als potenzielle Gefahr sieht, inkludiert das letztlich sogar deren Kinder. Was lässt sich da tun? Ein Mittel, diese Aggression zu bekämpfen, ist, sie zu thematisieren – womöglich sogar etwas Positives daraus abzuleiten. Dies macht die britische Hilfskampag- ne Calais Action. Wenn jemand verlet- zende Postings auf der Facebook-Seite der Hilfskampagne hinterlässt, dann werden die eigenen Fans dazu aufge- rufen, im Namen dieser Person für Flüchtlinge zu spenden. #TrollAid heißt diese Kampagne. Zum Beispiel schrieb eine anonyme Nutzerin unter einem Video, in dem Flüchtlingskinder in Athen spielen: „Die sollten nach Hause gehen und ihre eigenen Länder in Ordnung bringen, anstatt wie Angst- hasen wegzulaufen und zu erwarten, dass sie von dummen Freiwilligen ver- hätschelt werden.“ Daraufhin rief die Kampagne zu Spenden als Reaktion auf dieses Posting auf. Mehr als 2.300 Euro In ihrem Buch „Hass im Netz“ erklärt Ingrid Brodnig unter anderem,was jede und jeder einzelne gegen Lügenge- schichten im Internet tun kann. „Das Netz wirkt oft wie ein Katalysator. Rüpel und Populisten haben es im Internet leicht. “
  • 22. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf Wenn Kinder und Jugendli- che ohne ihre Eltern flüch- ten, ist ein Smartphone oft die einzige Verbindung zur Familie. Hassan Ali ist mit 16 aus Pakistan geflüchtet. Im SALTO-Interview erzählt der heute 21-Jährige, wie es ihm mit Facebook Co. während und nach seiner Flucht ergangen ist. Wie wichtig war es für Sie, ein Smartphone zu haben, als Sie auf dem Weg nach Europa waren? Es war wichtig, telefonisch erreichbar zu sein. Auf dem Weg vom Iran in die Türkei und dann nach Griechen- land wurde ich von meinem Vater getrennt. Ich musste mehrere Monate in Grie- chenland warten, weil mein Geld nicht für die Weiter- reise reichte. Dann endlich konnte ich wieder mit ihm telefonieren. Inzwischen war er zurück im Iran und konnte mir Geld für die Weiterreise schicken. Nutzen Sie Facebook oder Twitter? Ich habe erst angefangen, die sozialen Medien zu verwenden, als ich die deut- sche Sprache gelernt hatte. Was genau verwenden Sie und wofür? Ich hatte einen Face- book-Account. Anfangs fand ich es toll, weil ich viele Informationen über Öster- reich und die Menschen hier bekam und viel dazuler- nen konnte. Natürlich habe ich auch einige Freunde aus der Heimat auf diesem Weg wiedergefunden. Haben Sie Ihr Profil wieder gelöscht? Ja, das habe ich. Die vielen Hass-Postings haben mir Angst gemacht. Und ich habe mich davor gefürch- tet, dass sich meine Mei- nung über die Menschen hier verändert. Ich habe hier überwiegend liebe und sehr nette Menschen kennengelernt. Ich glau- be noch immer, dass die meisten Österreicherinnen und Österreicher gute Menschen sind. Das soll so bleiben. Das Gespräch führte Martina Molih. „Hass-Postings haben mir Angst gemacht“ book-Kommentare. Im Vorjahr gab es hierzulande 40 Verurteilungen wegen Verhetzung. Zum Vergleich: 2013 waren es nur elf gewesen. Wir befinden uns gerade in einer wichtigen Lernphase: Es muss immer mehr Menschen klar werden, dass auch Worte im Internet die Menschenwürde verletzen, dass sie dementsprechend Straftaten sein können. Dunkle Facetten der Menschheit Das Internet hat eine besondere Eigen- schaft: Es bringt die dunkelsten Facet- ten der Menschheit zum Vorschein, aber auch ihre schönsten. Gerade minderjährige Asylwerberinnen und Asylwerber können online Empa- thie auslösen. Oft sind es Bilder von Kindern, die die Dramatik der Situation verständlich machen. So wie am 2. September 2015: Jenem traurigen Tag, an dem der dreijährige Alan Kurdi tot am Strand in der Türkei aufgefunden wurde – das syrische Flüchtlingskind hatte die gefährliche Bootsreise über das Mittel- meer nicht überlebt. Sein Foto ging um die Welt, in nur zwölf Stunden tauchte es weltweit auf 20 Millionen Bildschir- men auf, berechneten Wissenschaftler der Universität in Sheffield. 53.000 Mal pro Stunde wurde das Bild auf Twitter geteilt. Das Netz kann eben auch ein Instrument für Empathie sein. Wir müs- sen aber lernen, es dementsprechend einzusetzen. wurden bisher als Reaktion auf solche Wortmeldungen gesammelt. Zweitens ist es auch sinnvoll, gewisse Tabus zu verteidigen: Etwa mit dem Strafrecht, das beispiels- weise verbietet, zu Gewalt gegen Minderheiten aufzurufen (sogenannte Verhetzung). Zunehmend wird von diesem Paragrafen Gebrauch gemacht, speziell aufgrund aufwiegelnder Face- Gratis-Handys für Flüchtlinge? Falsche Gerüch- te wie dieses verbreiten sich im Internet wie ein Lauffeuer. Fotos:iStock,MartinaMolih
  • 23. 22/23 Testen Sie Ihr Wissen Berichte über die weltweite Flüchtlingsbewegung prägen seit Monaten die Nachrichten. Doch was davon stimmt – und welche Fakten stammen aus dem Reich der Mythen? Testen Sie mit SALTO Ihr Wissen! 1. Weltweit sind 60 Millionen Men- schen auf der Flucht, davon 50% Kinder.Wie viele suchen Zuflucht in Europa? a. 3 von 5 b. 2 von 5 c. 1 von 5 2. In welchen drei Ländern Europas wurden im Jahr 2015 die meisten Asylanträge gestellt? a. Deutschland, Ungarn, Österreich b. Deutschland, Ungarn, Schweden c. Deutschland, Ungarn, Italien 3. Aus welchen drei Ländern stam- men die meisten Flüchtlinge? a. Syrien b. Afghanistan c. Sudan d. Somalia e. Demokratische Republik Kongo 4. Welche sind die zwei wichtig­sten Aufnahmeländer von Flüchtlin- gen? a. Pakistan b. Deutschland c. Türkei d. Italien e. Griechenland 5. Seit fünf Jahren beherrscht Krieg und Terror das alltägliche Leben in Syrien. Bisher wurden 2500 Schulen zerstört.Wie vielen Kindern wurde der Schulbesuch verwehrt? a. 0,9 Millionen Kindern b. 2,4 Millionen Kindern c. 3,5 Millionen Kindern 6. Wie viele Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 haben im Jahr 2015 einen Asylantrag in Öster- reich gestellt? a. 7.534 b. 12.820 c. 15.760 7. Wie viele Asylsuchende sind in Österreich (Stand: Jänner 2016) in Grundversorgung? a. 85.000 b. 65.000 c. 45.000 8. Wie viel Taschengeld erhält ein Asylwerber pro Monat? a. 50€ b. 40€ c. 25€ 9. SOS-Kinderdorf ermöglicht Flücht- lingen den Schulbesuch.Wie viele Kinder konnten bisher mit Schul- taschen, Büchern und Lernutensi- lien versorgt werden? a. 10.000 b. 12.000 c. 16.000 10. Wie viele Menschen kehrten 2014 in ihr Heimatland zurück? a. 95.200 b. 102.560 c. 126.800 Auflösung: 1c,2b,3abd,4ac,5b,6a,7a,8b,9c,10c Setz auch Du ein Zeichen für Kinder und Jugendliche auf der Flucht: setzdichein.at Norbert Pleifer Intendant Josef Hader Kabarettist
  • 24. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf Der Weg zur Emanzipation führt über die Frauen Nahostexpertin Tyma Kraitt floh vor 26 Jahren aus dem Irak nach Öster- reich.Aus eigener Erfah- rung weiß sie,was es für eine gelungene Integration braucht – und wie man die Männer dazu bringt, ein westlicheres Frauenbild zu bekommen. TEXT: ANNA THALHAMMER Ihre Mutter ist sunnitische Irakerin, ihr Vater christlicher Syrer, Sie haben eine österreichische Staatsbürgerschaft. Als was fühlen Sie sich? Das kommt darauf an, mit wem ich es zu tun habe – im Ausland fühle ich mich sehr als Österreicherin, in Öster- reich eher als Araberin. Sie sind als Fünfjährige mit Ihrer Fami- lie nach Europa geflüchtet. Was waren die prägendsten Erinnerungen? Meine Eltern haben versucht, es so darzustellen, als würden wir Urlaub machen. Von den politischen Umstän- den wussten wir als Kinder nichts, ebensowenig war uns klar, dass wir nicht mehr in den Irak zurückgehen würden. Meine Eltern waren privile- giert: Mein Vater war Ingenieur, meine Mutter hat als Forschungsassisten- tin im Industrieministerium im Irak gearbeitet. Eigentlich wollten wir nach Schweden, dann sind wir aber in Trais- kirchen gelandet. Was hat Ihnen und Ihrer Familie bei der Integration geholfen? Wir haben sehr bald Anschluss über die Pfarre gefunden, wo meine Mutter in der Küche gearbeitet hat. Ich bin in Schwechat sehr multikulturell aufge- wachsen. Fotos:ChristopherGlanzl
  • 25. 24/25 Gibt es Dinge, die Sie an der aktuellen Flüchtlingspolitik ärgern? Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Da kommen zirka 900.000 syrische Flüchtlinge nach Europa und wir tun so, als hätten wir eine unlösbare Krise. Wenn ich mir Länder wie den Libanon anschaue oder die Türkei – das ist eine Krise. Was wir hier haben, wäre bewäl- tigbar, aus innenpolitischem Kalkül will man das aber offensichtlich nicht. Wenn Sie Innenministerin wären, was würden Sie als Erstes tun? Das Wichtigste sind flächendeckende Deutschkurse. Das andere ist soziale Absicherung. Und die Integration in den Arbeitsmarkt muss sein, wenn wir nicht ewig für den Lebensunterhalt der Menschen bezahlen wollen. Zurzeit sind die Hürden sehr groß, das betrifft auch Akademiker. Es heißt immer, es kommen hauptsäch- lich junge Männer. Weltweit sind rund zwei Drittel der Flüchtlinge Frauen und Kinder. Ist erklärbar, warum sich das im Flüchtlingsstrom nach Europa nicht widerspiegelt? Die Frauen unter den syrischen Flücht- lingen bleiben oft in Flüchtlingslagern in den umliegenden Ländern, etwa in Zaatari in Jordanien. Es kommen des- wegen in erster Linie Männer, weil es keine legale Einreisemöglichkeiten gibt und der Weg an sich sehr gefährlich ist: Frauen werden Missbrauch und Gewalt jeglicher Art ausgesetzt. Dazu kommt, dass viele Frauen in diesen Ländern nicht schwimmen können – der Weg über das Mittelmeer wäre sehr riskant. Junge Männer sind am ehesten dafür gewappnet, diese Reise zu überleben. Der Familiennachzug wurde deutlich erschwert. Welche Konsequenzen hat das hinsichtlich der Integration jener, die schon hier sind? Wenn es uns ein Anliegen ist, dass sich diese Menschen hier integrieren, dann muss es uns auch ein Anliegen sein, dass wir ihre Familien nachholen. Das sind Menschen, die kriegstrau- matisiert sind, panisch Angst um ihre Frauen und Kinder haben – so kann man kein halbwegs normales Leben beginnen. Syrien ist seit 2011 im Krieg, aber im Irak und in Afghanistan kennt man mittlerweile seit drei Jahrzehn- ten nichts anderes mehr. Wir haben es hier zum Teil mit einer verlorenen Generation zu tun, teils auch mit sehr brutalisierten Menschen – wenn wir uns darum nicht kümmern, wird uns das große Probleme bereiten. Frauen in Afghanistan ist es verboten, in die Schule zu gehen, viele sind Anal- phabetinnen. Wie soll man hier damit umgehen? Die Töchter müssen hier zur Schule ge- hen – keine Frage, da muss man kom- promisslos sein und im schlimmsten Fall auch sanktionieren. Die Kürzung der Mindestsicherung ist ein wirksa- mes Druckmittel. Viele der Frauen sind in sehr patriar- chalen Systemen groß geworden. Wie können sie sich emanzipieren – und umgekehrt: Wie schafft man es, dass die arabischen Männer ein westliches Frauenbild akzeptieren und leben? Ich glaube, dass man ein bisschen dif- ferenzieren muss. In Syrien etwa gibt es ein starkes Stadt-Land-Gefälle, die Frauen, die aus den Städten kommen, sind um einiges gebildeter und mo- derner. Ich habe auch die Erfahrung ge- macht, dass gerade Syrerinnen schnell das Kopftuch ablegen. Sie haben es zum Schutz während des Krieges in Sy- rien getragen, dann auf der Flucht, und jetzt haben sie das Gefühl, dass es sie eher hindert. Der Weg zur Emanzipati- on führt über die Frauen selbst: Indem sie etwa Ausbildungsmöglichkeiten haben, vielleicht einen Job finden und dadurch ökonomisch unabhängiger werden. Die Männer ihrerseits sollte man in die Gesellschaft einbinden. In dem Moment, wo sie sich abschotten, reproduzieren sie ihre Frauenbilder. Was halten Sie von Wertekursen? Wertekurse sind schön und gut, aber sie sind der oberflächlichste Weg. Kur- se kann man absitzen. Eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Men- schen ist sicher anstrengender, weil zeitintensiv, aber sinnvoller. Tyma Kraitt wurde 1984 in Bagdad, Irak, geboren.Als sie fünf Jahre alt war, flüchtete die Tochter einer sunnitischen Irakerin und eines christlichen Syrers mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester vor politischer Verfolgung nach Europa. Kraitt studierte Philo- sophie. Sie veröffentlichte zwei Bücher zur Situation im Nahen Osten: Irak. Ein Staat zerfällt. Syrien: Ein Land im Krieg „Die Töchter müssen hier zur Schule gehen – keine Frage, da muss man kompromisslos sein. “
  • 26. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf Flucht in Zahlen 87 Mio. Kinder unter sieben Jahren kennen nichts anderes als Konflikte. 50%davon sind Kinder. 306.000 syrische Kinder kamen bereits als Flüchtlinge auf die Welt. 3,7 Millionen Kinder wurden innerhalb der letzten fünf Jahre des Syrienkriegs geboren. 60 Mio. Menschen sind weltweit auf der Flucht. 37.000Kinder durften auf ihrer lebensgefährlichen Reise nach Europa zumindest für einen Moment wieder Kind sein: SOS-Kinderdorf richtete auf der Balkanroute mehrere Kindertagesstätten ein. 300neue Plätze für Kinder auf der Flucht hat SOS-Kinderdorf Österreich in den letzten Monaten geschaffen. 100.000 Menschen hat die Nothilfe von SOS-Kinderdorf in Syrien erreicht. 60.000 Menschen hat SOS-Kinderdorf in den Transitländern mit Essen, Kleidung und Hygieneartikeln unterstützt. SOS-Kinderdorf Flüchtlingshilfe:
  • 27. 26/27 330 Kinder ertranken in den letzten Monaten im Mittelmeer. 60% der Menschen, € 5,7 Mio 4 von 5 Flüchtlingen weltweit leben aktuell in Entwicklungsländern. Es sind die ärmsten Länder in Afrika und Asien, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen. 350.000 Menschen leben allein im Flüchtlingslager Dadaab (Kenia) 89.000 Menschen haben 2015 in Österreich um Asyl angesucht.Jeder zehnte davon ist minderjährig. 1 Million Flüchtlinge hat der Libanon aufgenommen. 4 Millionen Menschen leben in diesem Land – halb so viele wie in Österreich. die im Sommer 2015 die Grenze von Griechenland nach Maze- donien überquert haben,waren Frauen und Kinder.Der Anteil der Kinder hatte sich in wenigen Monaten verdreifacht. hat Österreich 2015 dem„Welter- nährungsprogramm“ der Vereinten Nationen zur Verfügung gestellt, knapp mehr als Sierra Leone. 76 Millionen Euro machte die Schweiz locker, 82 Millionen Schweden. Quellen: UNHCR, UNICEF, BMI, SOS-Kinderdorf Foto:WissamBachour,SOS-Kinderdorf
  • 28. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf Die Kunst hilftKünstlern Wolfgang Schlögl: „Es ist die gesamte syrische Gesellschaft auf der Flucht. Vom Hilfsarbeiter bis zum Universitäts- professor. Wir konzentrieren uns auf das Segment, in dem wir uns am besten auskennen, die Kultur.“ Zwei Mal wurde der Salon veran- staltet, seine dritte Austragung im Wien Museum ist in Vorbereitung. Einer der Teilnehmer des ersten Salons ist der aus dem Iran geflohene Schauspieler und Musiker Alireza Daryanavard. Er ist 22 und anerkannter Flüchtling. In seiner Heimat spielte er Hauptrollen in Kinofilmen und TV-Produktionen, ar- beitete als Fernseh- und Radio-Modera- tor. Vor zwei Jahren musste er fliehen. „Wenn man seine Heimat verlassen muss, ist das schlimm. Man weiß nicht, wie es weitergeht. Wenn ich zurückbli- cke, kann ich sagen, ich hab’ mich ganz Der Name verströmt etwas Altehrwür- diges: „Salon der Künste“. Das klingt nach feiner Gesellschaft und edlem Ambiente. Edel soll es schon sein, aber ansonsten stellt der Salon der Künste keine elitären Ansprüche. Im Gegen- teil. Der Musiker Wolfgang Schlögl, die Köchin Parvin Razavi und die Medi- atorin Claudia Prutscher haben die traditionelle Institution des Salons als Treffpunkt Gleichgesinnter reanimiert. Ihr Ziel ist, Flüchtlingen, die in ihren Herkunftsländern als Künstlerinnen und Künstler oder Kreative gearbeitet haben, in ihrer neuen Heimat mit hei- mischen Kunstschaffenden zusammen­ zubringen. Parvin Razavi: „Kreative verwenden eine universelle Sprache und können hier leichter andocken. Das müssen wir nützen, und das sollte auch in anderen Bereichen passieren.“ Heimische Kreative organisieren den Salon der Künste. Er bringt geflohene und österreichische Künstlerinnen und Künstler zusammen. Das integriert, wird gut ange­nommen und trägt erste Früchte. TEXT: KARL FLUCH gut zurechtgefunden und gesehen, wo mein Weg ist. Meine größten Wünsche sind, dass ich Deutsch lernen und arbeiten kann.“ Deutsch spricht er schon sehr gut, gearbeitet hat er schon im Dschungel Wien. Im Salon hatte er Kontakt mit Filmemachern wie Mirjam Unger oder David Schalko. Sie wissen nun, dass es ihn gibt. Das ist wichtig. Wenn sich eine Gelegenheit ergibt, ihn einzu- setzen, werden sie das tun. Was sagt Der Musiker Wolf- gang Schlögl ist einer der Intiato- ren des „Salon der Künste“.
  • 29. 28/29 Alireza Daryanavard Menschen, die sich vor Flüchtlingen fürchten? „Ich bin zwar nicht hier geboren, aber ich lebe hier, mein Kind ist hier geboren. Ich habe Angst vor Krieg oder Terro- risten. Wie jeder. Das macht uns doch ähnlicher, als es uns unterschiedlich macht. Jeder will in Frieden leben. Ich bin dankbar für den Schutz und die Aufnahme in diesem Land.“ Langsam Fuß fassen Ebenfalls vor zwei Jahren nach Öster- reich geflohen sind Linda Zahra und Alfoz Tanjour. Sie ist Fotografin, er Filmemacher. Sie haben zwei Kinder. Die Familie hat vor dem Bürgerkrieg in Damaskus gelebt. Keiner von ihnen konnte sich vorstellen, plötzlich Syrien verlassen zu müssen. In Österreich fassen sie langsam Fuß. Ihr wichtigster Termin ist der Deutschkurs, den sie be- suchen. Ansonsten arbeiten sie, so gut es geht. Linda Zahras Arbeiten wurden schon in drei Ausstellungen gezeigt, Alfoz hat einen Produzenten für seinen ersten Spielfilm gefunden, die Vorberei- tungen laufen. Alfoz Tanjour: „Unsere Kinder sind 13 und sechs Jahre alt. Sie besuchen den Kindergarten und die Schule. Wir lernen mit ihnen. Ich verstehe viel, aber mich selbst mitzuteilen, ist noch schwierig. Wir üben im Alltag, ohne Pra- xis geht nichts.“ Nach Österreich sind sie gekommen, weil sie in Frieden leben wollten, eine Zukunft für ihre Kinder gesucht haben. Die ist ungewiss. Linda Zahra: „Ich möchte sofort zurückkeh- ren, aber im Moment sieht es in Syrien sehr düster aus. Wir haben zwei Kinder, die nun hier aufwachsen. Was, wenn die nach Kriegsende gar nicht zurückwol- len? Wir wissen es nicht.“ Gegen diese Ungewissheit kämpfen sie mit Arbeit und dem Fleiß, sich hier ein neues Leben aufzubauen. Das ist nicht einfach, aber die einzige Chance. Tanjour: „Syrer sind fleißige Leute, es geht gegen unsere Einstellung, Almosen­ empfänger zu sein. Wir wollen arbeiten und uns ein Leben aufbauen. Das hilft letztlich ja auch der Gemeinschaft. Es ist schrecklich, Flüchtling zu sein.“ Den Salon nützen die beiden weiterhin, um in Kontakt mit Öster- reicherinnen und Österreichern zu kommen. Das ist auch für den Maler Muhammad Farouk das Wichtigste. Er hadert oft mit der Distanziertheit vie- ler Österreicher im Alltag, im Gespräch würde sie aber schnell verschwinden. Deshalb lernt er mit allen Mitteln, auch via Youtube und Fernsehen. Und in persönlichen Gesprächen: „Das ist das Wichtigste. Sprache baut Hürden zwi- schen den Menschen ab.“ Wie für alle Flüchtlinge ist die Zukunft eine große Unbekannte für Farouk. Nur eines weiß er: „Ich bitte um die Chance, beweisen zu können, dass ich Teil dieser Gesell- schaft werden kann.“ Netzwerke aus hiesigen und emigrierten Künst- lerinnen und Künstlern: Der Salon der Künste mit ihren Schützlingen und Freunden. Von der Notschlafstelle zum Kunstsalon Die Idee zum Salon ist im Wiener Kulturzentrum WUK entstanden. Dort gab es im letzten Sommer eine Notschlafstelle für Flüchtlin- ge. Als die WUK-Schule den Platz wieder für den Unterricht brauchte, entschlossen sich Wolfgang Schlögl (Sofa Surfers, I-Wolf), seine Frau Parvin Razavi (Köchin, Autorin) und Claudia Prutscher (Israelitische Kultusgemeinde) in ihrem Bereich weiterzumachen. Sie gründeten den Verein Cardamom und Nelke, der den Salon der Künste veranstaltet und betreut. Vier Mal im Jahr soll er stattfinden. www.cardamomundnelke.com Fotos:ChristopherGlanzl
  • 30. SALTO – das Magazin von SOS-Kinderdorf I m Sommer 2015 will Familie Meister ein unbetreutes Flüchtlingskind bei sich aufnehmen. Ihr erster Gedanke galt der Caritas. Ob dies möglich wäre? Nein! Der zweite Gedanke galt dem Innenministerium. Könnte man vielleicht … Nein! Familie Meister versteht die Welt bis heute nicht. Wie kann es sein, dass die österreichische Bürokratie nicht einmal den Versuch unternimmt, Kinder auf der Flucht, die ihre Eltern verloren haben, in hilfsbereiten Fami- lien unterzubringen? Ihre Reaktion: „Das schreit zum Himmel.“ In dem Jahr, das seither vergangen ist, wurden erste Möglichkeiten abseits der Massenquartiere geschaffen. Dennoch: Die Geschichte der Familie Meister ist mehr als die Geschichte einer versäumten Gelegenheit. Man muss sich nur vorstellen, welche Chancen hier einem verängstigten, wahrscheinlich traumatisierten Kind genommen wurden – und wie viel ein Jahr in der Entwicklung eines solchen Kindes bedeutet, wie viel Zeit sinnlos verstrichen ist. Wahrscheinlich ist es für die Behörden einfach zu mühsam, auf österreichische Familien verteilte Kinder zu begleiten, sie im Auge zu behalten, zu überprüfen, ob die Versprechungen auch eingehalten werden. Da ist es einfacher, die Kinder in Großquartieren zu überwachen. Bestenfalls. Und wenn dann ein Jugendlicher oder ein Kind verschwinden sollte, hat man eben etliche Mühe weniger. Die Geschichte der Familie Meister ist auch eine des Schicksals. Unbetreute Flüchtlingskinder sind an einer Wegkreuzung angelangt – ohne die Kraft der Entscheidung zu haben, in welche Richtung sie ihren Lebens- weg fortsetzen können: Zufall, Glück oder eben Schicksal bedeutet für die einen Ankunft und Aufnahme in einer Umgebung – sei es in einer Familie oder in kleinen Wohneinheiten mit intensiver Betreuung –, in der sie geför- dert und integriert werden können. Andere landen hingegen in Hilflosig- keit, Abhängigkeit oder auch in den Fängen von Menschenhändlern. Welchen Lebensweg könnte ein Flüchtlingskind einschlagen, hätte es bei der Familie Meister Aufnahme gefunden? Wie würde man dann diese Geschichte fortschreiben können? Manche werden meinen: Eine sinnlose Frage angesichts der zehntausenden Schicksale in der Flüchtlingswelle „verlorener“ Kinder. Sie haben Unrecht, wenn man Folgendes bedenkt: Der Unterschied zwischen erfolgreicher Heilung von psychischen wie physischen Wunden und lebenslanger Entzündung hängt wahrscheinlich davon ab, welches Mitglied der Bürokratie im Einzelfall eine Entscheidung trifft: Empathisch oder verärgert über Mehrarbeit; mitfühlend oder ungehalten; schlecht oder gut gelaunt; rigid oder flexibel; mit weichem oder hartem Herz? Für viele Vorgänge der letzten Monate werden bürokratische Abläufe verantwortlich gemacht. Dem ist nicht so. Es kommt stets auf die einzel- nen Personen an. Entweder jedes Flüchtlingskind wird als Mensch mit Potenzial oder als lästiges Ärgernis gesehen. Die einen erhalten binnen kürzester Zeit Klarheit über ihr weiteres Schicksal, die anderen werden einfach „vergessen“. Das Ende der Geschichte wird oft von Menschen bestimmt, die diese gar nicht erzählen wollen. Das harte Herz #Chancen #Bürokratie #Kinder Anneliese Rohrer ist als Journalistin und Autorin in Wien tätig und bekannt für ihre pointierten Analysen der heimischen Politik. Foto:ChristopherGlanzl
  • 31. 30/31
  • 32. Euro kosten 500 Gramm Kaffee in Kapseln 31 *Für 31 Euro im Monat werden Sie SOS-Pate unter www.sos-kinderdorf.at ANZINGER|WÜSCHNER|RASP,München.FotoAndreaSeifert