1. 74
In diesem Artikel möchte ich die The
se aufstellen, daß wirjene ganz beson
dere Weise des Miteinander-Umge
hens, die als cmpathisch bezeichnet
wird, übcrprüfen und neu bewerten
sollten. Ich glaube, daß wir einem
Element zu wenig Aufmerksamkeit
widmen, das sowohl für das Vcr-
ständnis der Persönlichkeitsdynamik
als auch für die Veränderung von
Persönlichkeit und Verhalten von
3Empathie - eine
unterschätzte Seinsweise
Carl R. Rogers
größter Bedeutung ist. Es ist eines der ,..._____________
delikatesten und zugleich machtvollsten Mittel, die wir besitzen.
Trotz allem, was dazu schon gesagt und geschrieben worden ist, ist es
eine Seinsweisc, die in einer Beziehung nur selten wirklich gelebt
wird. Ich möchte mit meiner eigenen, in bezug auf dieses Thema
etwas zögernden Geschichte beginnen.
Persönliche Unschlüssigkeit
Bei meiner Arbeit als Therapeut habe ich sehr früh entdeckt, daß dem
Klienten einfach zuhören, und zwar sehr aufmerksam, eine ganz
wichtige Art des Helfens ist. Wenn ich mir nicht im klaren war, was
ich aktiv tun sollte, dann hörte ich zu. Es überraschte mich, daß eine
solch passive Art der Interaktion so nützlich sein konnte.
Etwas später lernte ich durch eine Sozialarbeiterin aus der Rankschen
Schule, daß die wirkungsvollste Art von Hilfe diejenige war, darauf zu
achten, welche Gefühle und Emotionen sich in den Worten des
Klienten kundtaten. Ich glaube, daß von ihr die Idee kam, die beste
Antwort eines Therapeuten bestehe darin, diese Gefühle dem Klien
ten zu »reflektieren«, zurückzuspicgcln- ein Wort, das mich im Lauf
derJahre zusammenzucken ließ, das aber zu der Zeit meine Arbeit als
Therapeut verbesserte, und dafür war ich dankbar. Einige Zeit nach
der Begegnung mit dieser Sozialarbeiterin übernahm ich eine volle
Stelle an der Universität, wo ich, mit der Hilfe von Studenten, endlich
eine Ausrüstung zur Aufzeichnung unserer Gespräche beschaffen
konnte. Ich kann unsere Aufr
egung damals kaum beschreiben, als wir
uns um das Gerät drängten, wo wir uns selbst zuhören konnten, und
immer wieder die kritischen Stellen abspielten, an denen das
Gespräch eindeutig danebenging, oder den Augenblick, an dem der
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2. Klient einen großen Schritt nach vorne tat. (Für mich ist dies immer
noch der beste Weg, sich als Therapeut zu vcrvollkommcn.) Eine
Lehre, die wir aus diesen Aufnahmen zogen, war die, daß Gefühle
aufzunehmen und zu »reflektieren« ein höchst komplexer Prozeß ist.
Wir machten die Entdeckung, daß wir genau jene Antwort des
Therapeuten fixieren konnten, die einen Fluß fruchtbarer Gedanken
oberflächlich und nutzlos werden ließ. Genauso konnten wir jene
Bemerkungen ausmachen, die eine langweilige und abschweifende
Rede des Klienten zu einer gezielten Selbsterforschung machten. In
diesem Lernkontext wurde es selbstverständlich, daß die Betonung
nicht mehr so sehr auf der cmpathischcn Eigenschaft des Zuhörens als
vielmehr auf dem Inhalt der therapeutischen Reaktion lag. In glei
chem Maße wurden wir uns der Techniken des Beraters oder Thera
peuten erst richtig bewußt. Wir lernten, bis ins kleinste Detail, Ebbe
und Flut im Verlauf eines jeden Gesprächs zu analysieren, und wir
lernten eine ganze Menge aus dieser mikroskopischen Untersuchung.
Die Folgenjedoch, die sich aus dieser Konzentration auf die Reaktio
nen des Therapeuten ergaben, erschreckten mich. Feindseligkeit war
mir nicht unbekannt, aber diese Reaktionen waren schlimmer. Inner
halb weniger Jahre wurde der ganze Ansatz als »Technik« bekannt.
»Die nicht-direktive Therapie«, so sagte man, »ist die Technik, die
Gefühle des Klienten zu reflektieren.« Eine noch schlimmere Karika
tur war folgende: »Bei der nicht-direktiven Therapie wiederholt man
das letzte Wort des Klienten.« Ich war über diese Verzerrungen
unseres Ansatzes so schockiert, daß ich jahrelang fast nichts mehr
über cmpathisches Zuhören sagte, und wenn ich es tat, dann nur, um
die empathische Einstellung zu betonen. Wie man sie in einer Bezie
hung verwirklichen könne, darüber sagte ich nur wenig. Ich disku
tierte lieber die Bedeutung der positiven Zuwendung und der Kon
gruenz des Therapeuten, von denen ich glaubte, daß sie, zusammen
mit der Empathic, den therapeutischen Prozeß begünstigten. Auch sie
wurden allzuoft mißverstanden, aber immerhin nicht so sehr, daß sie
zur Karikatur wurden.
Der aktuelle Bedarf
Im Laufe der Jahre haben sich die Forschungsergebnisse angehäuft,
die den Schluß nahelegen, daß ein großes Maß an Empathie in einer
Beziehung wahrscheinlich der wichtigste, sicher aber einer der wich
tigsten Faktoren ist, welche Veränderung und Lernen bewirken. Und
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deshalb, so glaube ich, ist es für mich an der Zeit, die Karikaturen
und Vcrdrchungen meines Ansatzes in der Vergangenheit zu verges
sen und die Empathie erneut ins Licht zu rücken. Aus noch einem
andern Grund scheint mir dies an der Zeit. In den letzten zehn oder
zwanzig Jahren haben sich in den Vereinigten Staaten viele neue
Therapieansätze durchgesetzt: Gcstalttherapic, Psychodrama, Ur
schrei-Therapie, Bioenergetik, Rational-emotive Therapie, Transak
tionsanalyse sind die bekanntesten, aber es gibt noch mehr. Ihre
Anziehungskraft beruht zum Teil darauf, daß der Therapeut der
Experte ist, der die Situation aktiv und oft dramatisch zum Wohle des
Klienten lenkt. Wenn ich die Zeichen richtig deute, dann ist aber die
Faszination, die von der Lenkung durch einen Experten ausgeht, am
Schwinden. Für einen cxperten-oricntiertcn Ansatz jedoch, für die
Vcrhaltenstherapie, wachsen, so glaube ich, Interesse und Faszina
tion noch weiter. Eine technologische Gesellschaft hat zu ihrem
Entzücken eine Technologie gefunden, mit deren Hilfe das Verhalten
des Menschen sogar ohne sein Wissen oder seine Zustimmung nach
den Vorstellungen des Therapeuten oder der Gesellschaft geformt
werden kann. Aber auch hier stellen nachdenkliche Menschen Fra
gen, da die philosophischen und politischen Implikationen der Ver
haltensänderung immer deutlicher sichtbar werden. Ich habe beob
achtet, daß viele bereit sind, neu zu überdenken, wie man mit anderen
umgehen kann, im Sinne einer selbstgcstcuertcn Veränderung und
unter Betonung der jeweiligen Person und nicht des Experten, und
dies führt mich dazu, von neuem sorgfältig zu überprüfen, was wir
unter Empathie verstehen und was wir darüber wissen. Vielleicht ist
die Zeit inzwischen reif dafür, daß wir ihren wirklichen Wert er
kennen.
Die ursprüngliche Definition
Empathie ist oft definiert worden, und ich selbst habe mehrere
Definitionen gegeben. Vor mehr als zwanzig Jahren habe ich ver
sucht, im Rahmen einer formalen Darstellung meiner Konzepte und
meiner Theorie eine strenge Definition zu geben. Sie lautet folgender
maßen:
»Der Zustand der Empathie oder empathisch sein bedeutet, das
innere Bezugssystem eines anderen genau und mit den entsprechen
den emotionalen Komponenten und Bedeutungen so wahrnehmen,
als ob man die Person selbst wäre, ohne jedoch die >als ob<-Situation
aufzugeben. Das bedeutet, das Verlctztsein oder das Vergnügen des
77
3. anderen so zu empfinden, wie er es empfindet, und deren Ursachcn so
wahrzunehmen, wie er sie wahrnimmt, ohnejedochjemals zu verges
sen, daß wir dies tun, als ob wir verletzt oder vergnügt usw. wären.
Geht dieses >als ob< verloren, dann wird daraus Identifikation«
(Rogers, 1959, S. 210-211. Vgl. auch Rogers, 1957).
Erleben - ein sinnvolles Konstrukt
Für eine aktuelle Definition möchte ich auf Gendlins (1962) Konzept
des Erlebens zurückgreifen. Dieses Konzept hat unser Denken in
vielfältiger Weise bereichert. Es besagt, daß der menschliche Organis
mus durch ständiges Erleben charakterisiert sei, auf welches das
Individuum immer wieder zurückgreifen kann, wenn es die Bedeu
tung seiner Erfahrungen entdecken will. Für Gcndlin richtete sich
Empathic auf die »gefühlte Bedeutung«, die der Klient in diesem
bestimmten Augenblick erfährt; so kann der Therapeut ihm dabei
helfen, sich auf diese Bedeutung zu konzentrieren und sie zu vollem
und unbehindertem Erleben gelangen zu lassen.
Ein Beispiel mag dieses Konczpt und seine Beziehung zur Empathic
deutlicher machen. In einer Encountergruppe hat sich ein Mann auf
sehr vage Art negativ über seinen Vater geäußert. Der Helfer sagt:
»Das hört sich an, als ob Sie sich über ihren Vater ärgern.« Er
antwortet: »Nein, das ist nicht der Fall.« - »Vielleicht sind Sie mit
ihm unzufrieden?« Im Zweifel: »Ja, vielleicht.« - »Oder Sie sind von
ihm enttäuscht.« Und der Mann antwortet sofort: »Genau, das ist es!
Ich bin darüber enttäuscht, daß er nicht stark ist. Ich bin von ihm
enttäuscht, seit ich ein kleiner Jungc war.«
Womit überprüft dieser Mann die Worte, die seinen Zustand bezeich
nen, auf ihre Genauigkeit hin? Gcndlin nimmt an, und ich folge ihm
darin, daß er sie mit dem psycho-physiologischcn Erlcbcnslluß in sich
selbst vergleicht. Dieser Fluß ist wirklich, und der Mensch kann sich
auf ihn beziehen. In diesem Fall entspricht »sich ärgern« keineswegs
der gefühlten Bedeutung; »unzufrieden« kommt der Sache schon
näher, ist aber immer noch nicht richtig; »enttäuscht« paßt genau und
begünstigt den weiteren Erlcbcnsfluß, wie dies oft der Fall ist.
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Eine Definition für uns heute
Vor diesem Hintergrund möchte ich eine Definition der Empathic
versuchen, die mir heute zufriedenstellend erscheint. Ich möchte nicht
mehr von einem »Zustand der Empathic« sprechen, denn ich glaube,
daß es sich hier eher um einen Prozeß als um einen Zustand handelt.
Vielleicht kann ich diese Eigenschaft näher beschreiben.
Die als cmpathisch bezeichnete Art des Umgangs mit anderen hat
verschiedene Seiten. Empathie bedeutet, die private Wahrnehmungs
welt des anderen zu betreten und darin ganz und gar heimisch zu
werden. Sie beinhaltet, injedem Augenblick ein Gespür zu haben für
die sich ändernden gefühlten Bedeutungen in dieser anderen Person,
für Furcht, Wut, Zärtlichkeit, Verwirrung oder was auch immer sie
erlebend empfindet. Empathic bedeutet, zeitweilig das Leben dieser
Person zu leben; sich vorsichtig darin zu bewegen, ohne vorschnell
Urtcilc zu fällen; Bedeutungen zu erahnen, deren sie selbst kaum
gewahr wird; nicht aber, Gefühle aufzudecken versuchen, deren sich
die Person gar nicht bewußt ist, dies wäre zu bedrohlich. Sie schließt
ein, daß man die eigenen Empfindungen über die Welt dieser Person
mitteilt, da man mit frischen und furchtlosen Augen auf Dinge blickt,
vor denen sie sich fürchtet. Sie bedeutet schließlich, die Genauigkeit
eigener Empfindungen häufig mit der anderen Person zusammen zu
überprüfen und sich von ihren Reaktionen leiten zu lassen. Der
Therapeut ist für die Person der vertraute Begleiter in ihrer inneren
Welt. Indem er sie auf die möglichen Bedeutungen in ihrem Erlcbnis
fluß hinweist, hilft er ihr, sich auf einen Bezugspunkt zu konzentrie
ren, die Bedeutungen stärker zu erleben und im Erleben selbst
Fortschritte zu machen.
Mit einem andern Menschen in dieser Weise umzugehen heißt, eigene
Ansichten und Wertvorstellungen beiseite zu lassen, um die Welt des
anderen ohne Vorurteile betreten zu können. In gewisser Weise
bedeutet es, das eigene Selbst beiseite zu legen; dies ist jedoch nur
einer Person möglich, die in sich selbst sicher genug ist und weiß, daß
sie in der möglicherweise seltsamen oder bizarren Welt des anderen
nicht verloren geht und in ihre eigene Welt zurückkehren kann, wann
sie will.
Diese Beschreibung macht vielleicht klar, daß cmpathisch sein eine
komplexe, fordernde, harte, aber zugleich auch subtile und sanfte Art
des Umgangs ist.
79
4. Operationale Definition
Die obige Beschreibung ist wohl kaum eine operationale, für die
Forschung geeignete Definition. Es gibt jedoch solche Definitionen,
und sie werden auch weithin benutzt. Da ist zum Beispiel der
Beziehungs-Fragebogen von Barret-Lcnnard, der von den Bezie
hungspartnern auszufüllen ist und in dem Empathic durch die
benutzten ltcms operational definiert wird. Ich zitiere hier einige
Itcms, abgestuft von der empathischen bis zur nicht-cmpathischcn
Haltung:
Der Therapeut erkennt an, wie ich meine Erfahrung empfinde.
Er versteht das, was ich sage, von einem distanzierten o�jcktivcn
Standpunkt aus.
Er versteht, was ich sage, aber nicht, wie ich fühle.
Barrct-Lennard hatte auch eine besondere begriffliche Definition der
Empathic, auf die er seine ltcms aufbaute. Auch wenn sie sich mit der
oben gegebenen Definition zum Teil überschneidet, unterscheidet sie
sich auch wieder so sehr von ihr, daß es sich lohnt, sie zu zitieren:
»Qualitativ ist es [ das cmpathischc Verstehen ] der aktive Prozeß,
das augenblickliche und sich verändernde Bewußtsein einer anderen
Person kennenlernen ::;u wollen, aus sich herauszugehen, um ihre Mittei
lungen und Bedeutungen zu empfangen und ihre Worte und Zeichen
in erlebte Bedeutung zu übersetzen, die wenigstens jenen Aspekten ihres
Bewußtseins entspricht, die ihr in diesem Augenblick am wichtigsten
sind. Es ist ein Erleben des Bewußtseins >hinter< der äußeren Kommu
nikation eines anderen, ohne daß dabei jemals vergessen wird, daß
dieses Bewußtsein im anderen seinen Ursprung hat und in ihm
weitergeht« (Barrett-Lennarcl, 1962).
Dann gibt es die »Accurate Empathy-Skala« von Truax u. a. (Truax,
1967). Mit ihr können auch kleine Gesprächsteile zuverlässig beurteilt
werden. Wie diese Skala aussieht, mag an der Definition von Stufe l
aufgezeigt werden, die das niedrigste Niveau empathischen Verste
hens darstellt, und von Stufe 8, die ein sehr hohes, wenn auch nicht
das höchste Niveau der Empathie beschreibt. Stufe 1 wird so be
schrieben:
»Der Therapeut scheint selbst die oflcnsichtlichsten Gefühle des
Klienten nicht wahrzunehmen. Seine Reaktionen sind weder der
Stimmung und dem Inhalt der Gefühle des Klienten noch der Stim
mung und dem Inhalt der Aussagen des Klienten angemessen; es gibt
keine bestimmbare Qualität der Empathie und daher auch überhaupt
keine Genauigkeit. Der Therapeut mag gelangweilt und desinteres-
80
siert sein oder aktiv Rat geben, er läßt jedoch nicht spüren, daß er sich
der augenblicklichen Gefühle des Klienten bewußt ist« (Truax, 1967,
s. 556-557).
Stufe 8 wird folgendermaßen definiert: »Der Therapeut interpretiert
genau alle augenblicklichen, vom Klienten eingestandenen Gefühle.
Er deckt auch die tief verborgenen Gefühlsbereiche des Klienten auf
und artikuliert Bedeutungen im Erleben des Klienten, deren sich der
Klient kaum bewußt ist... Er geht Gefühlen und Erfahrungen nach,
die der Klient nur andeutet, und er tut dies mit Fingerspitzengefühl
und Genauigkeit... Was dabei zutage kommt, kann neu sein, ist aber
nicht fremd. Macht der Therapeut auf dieser Stufe Fehler, dann
bringen diese Fehler keinen Mißklang, sondern werden durch den
tastenden Charakter seiner Reaktionen gemildert. Auch hat der The
rapeut ein Gespür für seine Fehler und ändert oder wechselt rasch
seine Reaktionen, wodurch er erkennen läßt, daß er nun klarer
wahrnimmt, worüber gesprochen wird und wonach der Klient in
seinen Erkundungen sucht. Der Therapeut spiegelt Zusammengehö
rigkeitsgefühl mit dem Patienten wider, in einer vorsichtigen Erkun
dung nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Sein Tonfall
spiegelt den Ernst und die Tiefe seines empathischen Verständnisses
wider« (Truax, 1967, S. 566).
An diesen Beispielen habe ich zu zeigen versucht, daß der empathi
sche Prozeß theoretisch, begriffiich, subjektiv und operational defi
niert werden kann. Dennoch haben wir seine Grenzen noch nicht
erreicht.
Eine Definition für Zeitgenossen
Eugene Gendlin u.a. haben sich in einem Nachbarschaftshilfe-Pro
gramm unter der Bezeichnung »Veränderungen« mit den unserem
Lebensstil Entfremdeten und Angehörigen der Gegenkultur befaßt,
die sich von dem Chaos, das wir städtisches Leben nennen, abge
wandt haben. Uns interessiert hier vor allem das »Rap Manual«, mit
dessen Hilfe gewöhnliche Bürger lernen sollen, »wie man dem ande
ren Menschen bei seiner Entwicklung helfen kann«.
Das Handbuch beginnt mit einem Abschnitt über »Uneingeschränk
tes Zuhören«. Ein paar Auszüge mögen einen Eindruck davon vermit
teln:
»Das heißt nicht, die Leute unter Druck setzen... Hören Sie einfach
zu und wiederholen Sie die Gedanken des anderen, einen nach dem
andern, gerade so, wie sie dem anderen in dem Augenblick in den
81
5. Sinn zu kommen scheinen. Mischen Sie nie persönliche Angelegenhei
ten oder Ideen von Ihnen selbst darunter, und unterschieben Sie ihm
nichts, was er nicht ausgedrückt hat... Um zu zeigen, daß Sie ihn
genau verstehen, sagen Sie ein oder zwei Sätze, die genau das
erfassen, was der andere Ihnen gegenüber ausdrücken wollte. Das
kann im allgemeinen mit Ihren eigenen Worte geschehen, aber für die
empfindlichen Punkte sollten Sie die Worte des anderen benutzen«
(Gcndlin und Hcndricks, o.J.).
Auf diese Art und Weise gibt das Handbuch viele detaillierte Vor
schläge, darunter die Überlegung: »Woran merkt man, ob man es
richtig macht?« Dies zeigt ganz klar, daß cmpathischcs Verhalten,
obwohl bcgrifllich höchst kompliziert, auch so beschrieben werden
kann, daß es jeder jugendliche oder jeder Bürger einer Innenstadt im
Zustand des Zusammenbruchs begreift. Es ist ein Konzept mit großer
Reichweite.
Allgemeine Forschungsergebnisse
Was wissen wir über Empathic aus der Forschung? Die Antwort
lautet: sehr viel, und ich will versuchen, einige Ergebnisse vorzustel
len, wobei ich mit den allgemeinen anfange. Danach werde ich die
Auswirkungen eines cmpathischcn Klimas auf die Dynamik und das
Verhalten des Klienten analysieren. Die folgenden allgemeinen
Behauptungen können als gesichert gelten.
Der ideale Therapeut ist zuallererst empathisch. Psychotherapeuten ver
schiedenster Orientierung, danach befragt, wie sie sich den idealen
Therapeuten, den Therapeuten, der sie gerne sein möchten, vorstel
len, stimmen weitgehend darin überein, daß sie von zwölf Variablen
der Empathic den höchsten Rang einräumen. Dies ist das Ergebnis
einer Untersuchung, die Raskin (1974) an 83 praktizierenden Thera
peuten mindestens acht verschiedener Richtungen durchgeführt hat.
Dabei wurde Empathic ganz ähnlich wie in diesem Artikel definiert.
Die Untersuchung bestätigt und erhärtet eine frühere Untersuchung
von Fiedler (1950 b). Wir können also daraus schließen: Die Thera
peuten erkennen an, daß die wichtigste Eigenschaft eines Therapeu
ten darin besteht, »zu versuchen, mit soviel Einfühlungsvermögen
und soviel Genauigkeit wie möglich den Klienten zu verstehen, und
zwar von dessen Standpunkt aus« (Raskin, 1974-).
Empathie korreliert mit Selbsterkundung und Fortschritt im Proz�ß. Wir
wissen, daß ein Beziehungsklima mit einem hohen Maß an Empathie
82
mit verschiedenen Aspekten von Prozeß und Fortschritt in der Thera
pie verknüpft ist. Solch ein Klima steht sicher in Relation zu einem
hohen Maß an Selbsterkundung durch den Klienten (Bcrgin und
Strupp, 1972; Kurtz und Grummon, 1972; Tausch u. a., 1970).
Empathie in einem ji-ühen Stadium der Beziehung läßt den späteren Ei:folg
voraussehen. Das Maß an Empathie, das es in einer Beziehung geben
wird, kann bereits zu einem frühen Zeitpunkt bestimmt werden, und
zwar beim fünften oder sogar manchmal schon beim zweiten
Gespräch. Solche frühen Messungen lassen den späteren Erfolg oder
Mißerfolg der Therapie voraussehen (Barret-Lcnnard, 1962; Tausch,
1973). Aus diesen Resultaten ergibt sich, daß wir viel erfolglose
Therapie vermeiden könnten, wenn wir frühzeitig messen würden,
wieviel Empathic der Therapeut aufbringt.
In e,jolgreiclzen Fällen nimmt der Klient mehr Empathie wahr. In einer
erfolgreichen Therapie nimmt der Klient mit der Zeit immer besser
wahr, daß in der Beziehung Empathie herrscht, und zwar Empathic,
die auch von objektiven Beurtcilern gemessen werden kann (Cart
wright und Lerner, 1966; van der Vccn, 1970).
Verstehen geht vom Therapeuten aus und wird ihm nicht abverlangt. Wir
wissen, daß Empathie etwas ist, was der Therapeut anbietet und nicht,
was durch eine bestimmte Art von Klient ans Licht gebracht wird
(Tausch u. a., 1970; Truax und Carkhuff, 1967). Man hat bereits das
Gegenteil vermutet, daß nämlich ein ansprechender oder verführeri
scher Klient dem Therapeuten dieses Verstehen entlocken könne. Der
Augenschein unterstützt diese Vermutung nicht. Man kann vielmehr
ziemlich genau das Maß an Empathic in einer Beziehung dadurch
ermitteln, daß man nur den Reaktionen des Therapeuten zuhört,
ohne die Aussage des Klienten zu kennen (Quinn, 1953). Wenn also
in einer Beziehung ein cmpathischcs Klima herrscht, liegt es wahr
scheinlich am Therapeuten.
Je mehr Erfahrung der Therapeut hat, desto stärker neigt er zu emj1athischem
Verhalten. Erfahrene Therapeuten bringen ihren Klienten mehr
Empathie entgegen als weniger erfahrene, ganz gleich, ob wir dies an
der Wahrnehmung des Klienten messen oder ob wir geschulte Beob
achter dies messen lassen (Barrctt-Lennard, 1962; Fiedler, 194·9, 1950
a; Mullen und Abelcs, 1972). Offensichtlich lernen Therapeuten im
Laufe derJahre, ihrem Idealbild näherzukommen und einfühlsameres
Verständnis zu entwickeln.
Empathie ist eine besondere Eigensclzafl in einer Beziehung, und Therapeuten
bringen einem Klienten mit Sicherheit mehr davon entgegen als hilji-eiclze Freunde
(van der Vccn, 1970). Das ist beruhigend.
83
6. Je mehr der Therapeut mit sich selbst übereinstimmt, desto mehr Empatlzie zeigt
er. Persönlichkeitsstörungen im Therapeuten gehen einher mit einem
geringeren empathischenVerstehen; ist der Therapeutjedoch frei von
Störungen und vertraut er auf interpersonale Beziehungen, dann zeigt
er mehrVerständnis (Bergin undJasper, 1969; Bergin und Solomon,
1970). Daraus und aus meiner eigenen Erfahrung bei der Schulung
von Therapeuten komme ich zu dem etwas unbehaglichen Schluß,
daß die Beziehung, die ein Therapeut herstellt, um so hilfreicher ist,je
reifer und ausgeglichener er ist. Das stellt hohe Forderungen an den
Therapeuten als Person.
Erfahrene Therapeuten sind ofl weit davon entfernt, empatlzisclz zu sein. Selbst
erfahrene Therapeuten unterscheiden sich stark im Hinblick auf das
Maß an Empathie, das sie zeigen. Raskin (1974-) hat gezeigt, daß bei
einer Beurteilung von aufgezeichneten Gesprächen von sechs erfahre
nen Therapeuten durch andere erfahrene Therapeuten die Differen
zen bei zwölfVariablen auf dem 0,001-Niveau signifikant waren, und
daß die Unterschiede an Empathie am zweitgrößten waren. Das
hervorstechendste Merkmal des klient-zentrierten Therapeuten war
seine Empathie. Andere therapeutische Richtungen zeigten andere
hervorstechende Merkmale: Betonung des Kognitiven, Führung
durch den Therapeuten und ähnliches. Obwohl also die Therapeuten
empathisches Zuhören als wichtigstes Merkmal eines idealen Thera
peuten betrachteten, kamen sie dem in ihrer tatsächlichen Praxis bei
weitem nicht nach. Tatsächlich förderten die Bewertungen der aufge
zeichneten Gespräche dieser sechs Experten durch 83 andere Thera
peuten überraschende Ergebnisse zutage. Nur in zwei Fällen korre
lierte die Arbeit der Experten positiv mit ihrer Beschreibung des
idealen Therapeuten. In vier Fällen war die Korrelation negativ, das
Extrem lag bei- 0,66! So viel darüber, wie Therapie praktiziert wird.
Klienten können das Maß an Empatlzie besser einschätzen als Therapeuten.
Vielleicht ist es deshalb nicht allzu überraschend, daß sich Therapeu
ten bei der Einschätzung ihres eigenen Maßes an Empathie in einer
·Beziehung als ziemlich ungenau erweisen. Die Wahrnehmung des
Klienten stimmt, was Empathie angeht, ziemlich genau mit der
unbefangener Beurteiler überein, die Übereinstimmung von Klienten
und Therapeuten oder Beurteilern und Therapeuten istjedoch gering
(Rogers, Gendlin u. a., 1967, Kapitel 5 und 8). Wenn wir bessere
Therapeuten werden wollen, sollten wir vielleicht unsere Klienten
auffordern, uns zu sagen, ob wir sie genau verstehen.
Brillanz und diagnostischer Scharfsinn haben nichts mit Empatlzie zu tun. Es ist
wichtig zu wissen, daß vom Therapeuten ausgehende Empathie unab-
84
hängig ist von seiner wissenschaftlichen Leistung oder seinen intellek
tuellen Fähigkeiten (Bergin und Jasper, 1969; Bergin und Solomon,
1970). Auch besteht keine Beziehung zu der Genauigkeit seiner
Wahrnehmung oder zu seiner diagnostischen Fähigkeit. Es ist sogar
möglich, daß zu letzterer eine negative Korrelation besteht (Fiedler,
1953). Das ist ein höchst bedeutsames Ergebnis. Wenn weder wissen
schaftliche Brillanz noch diagnostisches Geschick von Bedeutung
sind, dann gehört die Fähigkeit zur Empathie ganz klar in einen
Bereich, der sich sowohl vom psychologischen als auch vom psychia
trischen klinischen Denken unterscheidet. Ich glaube, daß wir noch
immer zög�rn, diese Folgerupgev zu akzeptieren..
Empatlzisclzes Verhalten kann von empatlzisclzen J1ensclzen gelernt werden. Die
vielleicht wichtigste Aussage ist die, daß die Fähigkeit zur Empathie
durch Schulung entwickelt werden kann. Therapeuten, Eltern und
Lehrer können lernen, empathisch zu werden. Dies kann besonders
dann eintreten, wenn ihre Lehrer undVorgesetzten selbst Menschen
mit einfühlsamemVerständnis sind (Aspy, 1977; Aspy und Roebuck,
1975; Bergin und Solomon, 1970; Blocksma, 1951; Guerney u. a.,
1970). Zu wissen, daß diese subtile, schwer faßbare und in der
Therapie doch so wichtige Eigenschaft nicht angeboren ist, sondern
erlernt werden kann, und zwar am schnellsten in einem empathischen
Klima, ist sehr ermutigend. Möglicherweise lassen sich überhaupt
nur zwei therapeutischeVerhaltensweisen kognitiv und erlebensmä
ßig trainieren: Empathie und Kongruenz.
Die Folgen des empathlschen Klimas
Soviel darüber, was wir über Empathie wissen. Wie aber wirken
empathische Reaktionen auf den »Empfänger« dieser Reaktionen?
Das Ergebnis ist überwältigend. Empatlzie stelzt ganz klar in Beziehung zu
einem positiven Resultat.Vom schizophrenen Patienten bis zum Schüler,
vom Klienten in einem Beratungszentrum bis zum Lehrer in Ausbil
dung, vom Neurotiker in Deutschland bis zum Neurotiker in den
Vereinigten Staaten, das Ergebnis ist das gleiche:Je einfühlsamer und
verstehender der Therapeut oder Lehrer ist, desto eher sind konstruk
tives Lernen undVeränderung möglich (Aspy, 1972, Kapitel 4; Aspy
und Roebuck, 1975; Barrett-Lennard, 1962; Bergin undjasper, 1969;
Bergin und Strupp, 1972; Halkides, 1958; Kurtz und Grummon,
1972; Minsel u. a., 1972; Mullen und Abeles, 1971; Rogers, Gendlin
u.a., 1967, Kapitel 5 und 9; Tausch u. a., 1970; Truax, 1966). Wie
85
7. Bergin und Strupp (1972) festgestellt haben, zeigen verschiedene
Untersuchungen »eine positive Korrelation zwischen Empathic des
Therapeuten, Selbsterkundung des Patienten und unabhängigen Kri
terien der Veränderung des Patienten« (S. 25).
Dennoch glaube ich, daß diesen Ergebnissen zu wenig Aufmerksam
keit zuteil geworden ist.Die täuschend einfache cmpathischc Interak
tion, die hier beschrieben wurde, hat viele und weitreichende Konse
quenzen. Diese möchte ich ausführlicher diskutieren.
In erster Linie hebt Empathic die Entfremdung auf. Der Empfänger
empfindet sich, für einen Augenblick wenigstens, als Glied des Men
schengeschlechts. Die Erfahrung verläuft etwa folgendermaßen, auch
wenn sie der Klient zunächst noch nicht artikuliert: »Ich habe über
verborgene Dinge geredet, die mir selbst zum Teil unbekannt waren,
seltsame, vielleicht sogar abnorme Gefühle, Gefühle, die ich noch nie
jemand anders eingestanden habe, noch nicht einmal richtig mir
selbst. Und doch hat der Therapeut verstanden, sogar besser als ich
selbst. Wenn er weiß, daß ich wirklich über das spreche, was ich
meine, dann bin ich gar nicht so seltsam oder anders oder aus der
Reihe. Ich ergebe Sinn für den anderen. Ich bin also in Berührung,
sogar in Beziehung zu anderen. Ich bin nicht mehr isoliert.«
Vielleicht crkliirt dies eines der Hauptergebnisse unserer Untersu
chung von Psychotherapie bei Schizophrenen. Wir fanden heraus,
daß sich bei den Patienten, die von ihrem Therapeuten ein hohes Maß
an Empathic - wie es sich von unvoreingenommenen Bcurtcilcrn
bewerten läßt - empfangen hatten, ein deutlicher Rückgang der
Krankheitssymptome, meßbar nach dem MMPI, zeigte (Rogers,
Gendlin u.a., 1967, S. 85). Dies läßt vermuten, daß einfühlsames
Verstehen durch den anderen das wirkungsvollste Element ist, um
den Schizophrenen aus seiner Entfremdung herauszuholen und in die
Welt der Beziehungen zurückzuführen. Jung sagt, daß der Schizo
phrene aufhört, schizophren zu sein, wenn er aufjcmandcn trifft, von
dem er sich verstanden fühlt. Unsere Untersuchung liefert den empi
rischen Beweis für diese Behauptung.
Andere Untersuchungen sowohl von Schizophrenen als auch von
Klienten in den Beratungszentren zeigen, daß geringe Empathic in
Beziehung steht zu einer leichten Verschlechterung der Anpassung
oder des Krankheitsbildes. Auch hier ergeben die Resultate einen
Sinn. Es ist so, als ob das Individuum den Schluß ziehen würde:
»Wenn niemand mich versteht, wenn niemand erfassen kann, was
diese Erfahrungen bedeuten, dann steht es wirklich schlecht um mich
- ich bin wohl abnormer, als ich gedacht habe.« Auch einer von
86
Laings Patienten bestätigt dies, als er rückblickend frühere Begegnun
gen mit Psychiatern beschreibt:« Es ist ein schreckliches Gefühl, wenn
man merkt, daß der Arzt einen nicht richtig sehen kann, daß er nicht
verstehen kann, was man fühlt und daß er einfach mit seinen Ideen
weitermacht. Ich hatte dann immer das Gefühl, ich wäre unsichtbar
oder überhaupt nicht da« (Laing, 1965/1972).
Die Bedeutung cmpathischen Verstehens liegt für den Empfänger
auch darin, daß jemand ihn schätzt, sich für ihn interessiert, die
Person, die er ist, akzeptiert. Es mag so aussehen, als ob wir hier ein
anderes Gebiet beträten und daß von Empathic nicht mehr die Rede
sein könne. Aber dem ist nicht so. Sich in die Wahrnehmungswelt
eines anderen hineinzufinden ist unmöglich, solange man den anderen
und seine Welt nicht schätzt- solange man sich nicht in irgendeiner
Weise für ihn interessiert. Dann nämlich gelangt die Botschaft zum
Empfänger: »Dieser andere setzt auf mich, vielleicht bin ich wirklich
etwas wert. Vielleicht kann ich mich für etwas wert halten. Vielleicht
kann ich mich selbst gern haben.«
Ein beredtes Beispiel dafür ist einjunger Mann, dem viel einfühlsa
mes Verstehen entgegengebracht wurde und der sich nun im letzten
Stadium der Therapie befindet:
Klient: Ich könnte mir dabei sogar vorstellen, daß es möglich ist, daß
ich für mich selbst eine Art zärtliche Besorgnis hege.
Aber wie kann ich zärtlich sein, wie kann ich um mich besorgt sein,
wenn beides ein und dasselbe ist? Ich kann es aber ganz klar.fühlen...
Wissen Sie, es ist so, wie wenn man sich um ein Kind kümmert.,Man
will ihm dies und man will ihm das geben... Ich kann schon irgend-
wie sehen, daß das bei anderen möglich ist... aber nicht bei... mir
selbst, daß ich das für mich tun kann, wissen Sie. Ist es möglich, daß
ich Lust habe, mich wirklich um mich selbst zu kümmern, und daß
ich daraus einen Hauptzweck meines Lebens machen kann? Das heißt
doch, daß ich mit der ganzen Welt so umgehen müßte, als ob ich der
Wächter eines sehr geliebten und sehr begehrten Besitzes wäre, daß
dieses Ich zwischen diesem kostbaren Nlich, um das ich mich kümmern
will, und der ganzen Wclt wäre. Es ist fast so, als ob ich mich selbst
lieben würde- wissen Sie- es ist seltsam- aber es ist wahr.
Therapeut: Das scheint schon eine seltsame Vorstellung zu sein. Es
würde bedeuten:Ich stehe der Welt gegenüber, als ob ein Teil meiner
Hauptverantwortung darin bestehen würde, mich um das kostbare
Individuum zu kümmern, das ich selbst bin- das ich liebe.
Klient: Das ich gern habe - dem ich mich so nahe fühle. Mensch!
Schon wieder so etwas Seltsames.
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8. Therapeut: Es ist schon sonderbar.
Klient: Ja, irgendwie trifft es die Sache. Die Vorstellung, daß ich mich
liebe und daß ich mich um mich kümmere... (seine Augen werden
feucht.) Das ist sehr schön, wirklich sehr schön.
Das besorgte Verstehen des Therapeuten hat es, glaube ich, diesem
Klienten gestattet, für sich selbst Hochachtung, ja sogar Liebe zu
empfinden. Einfühlsames Verstehen hat außerdem die Eigenschaft,
daß es nicht urteilt. Der höchste Ausdruck von Empathic ist
Annahme und nicht Beurteilung. Wir können nämlich unmöglich die
innere Welt des anderen genau wahrnehmen, wenn wir uns eine
wertende Meinung von ihm gebildet haben.Wenn Sie dies bezweifeln,
suchen Sie sich jemanden, mit dem Sie in entscheidenden Fragen
nicht übereinstimmen und der Ihrer Meinung nach falsch liegt.
Versuchen Sie nun, seine Ansichten, Annahmen und Gefühle so
genau zu formulieren, daß er sie als eine einigermaßen zutreffende
Beschreibung seines Standpunktes akzeptieren kann. Sie werden, das
prophezeie ich Ihnen, in neun von zehn Fällen scheitern, weil Ihr
Urteil über seine Auffassungen in die Beschreibung, die Sie davon
geben, einfließen wird.
Folglich ist wahre Empathie immer frei vonjeglicher Beurteilung oder
Diagnose. Der Empfänger nimmt dies mit Überraschung wahr.
»Wenn ich nicht beurteilt werde, bin ich vielleicht nicht so schlecht
oder abnorm, wie ich gedacht habe. Vielleicht brauche ich selbst nicht
so hart über mich zu urteilen.« So wird ihm allmählich die Möglich
keit zur Selbstannahme gegeben.
Das erinnert mich an einen Psychologen, dessen Interesse an der
Psychotherapie aus seinen Forschungen über visuelle Wahrnehmun
gen hervorging. Er befragte Studenten und bat sie, ihm ihre visuelle
und perzeptuelle Geschichte zu erzählen, darunter etwaige Schwierig
keiten beim Sehen, Lesen, wie sie auf Brillentragen reagierten usw.
Der Psychologe hörte einfach interessiert zu, urteilte nicht über das,
was er hörte, und vervollständigte so seine Daten. Zu seiner großen
Überraschung kamen eine Reihe von Studenten spontan zu ihm
zurück, um ihm für all die Hilfe zu danken, die er ihnen gegeben
hatte. Seiner Auffassung nach hatte er ihnen überhaupt keine Hilfe
gegeben. Er mußte aber anerkennen, daß interessiertes, nicht-urtei
lendes Zuhören eine wirkungsvolle therapeutische Kraft ist, selbst
wenn sie sich nur auf einen ganz kleinen Lebensbereich richtet und
überhaupt nicht die Absicht besteht, helfen zu wollen.
Vielleicht kann man es auch so sagen: Von einem anderen Indivi
duum verstanden werden gibt dem Klienten seine Identität. Laing
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(1965) sagt, daß Identität das Vorhandensein eines anderen voraus
setze, dem man bekannt ist. Auch Buber spricht von der Notwendig
keit, unsere Existenz durch einen anderen bestätigt zu finden. Diese
notwendige Bestätigung, daß man als geschätzte Person für sich
existiert und eine eigene Identität hat, liefert die Empathic.
Eine Interaktion, in der sich das Individuum verstanden fühlt, hat
ein ganz bestimmtes Ergebnis: Das Individuum stellt fest, daß es
Dinge enthüllt, die es noch nie zuvor jemandem mitgeteilt hat, und
entdeckt dabei bisher unbekannte Seiten in sich. Zum Beispiel:
»Ich habe bisher nicht gewußt, daß ich mich über meinen Vater
ärgere.« Oder: »Mir war nie klar, daß ich Angst vor Erfolg habe.«
Solche Entdeckungen sind beunruhigend und aufregend. Einen
neuen Aspekt an sich wahrzunehmen ist der erste Schritt zur Ände
rung des Selbstkonzepts. Es ist, nach meiner Auffassung, die
Grundlage für Verhaltensänderungen, die sich aus der Psychothera
pie ergeben können. Verändert sich das Selbstkonzept eines Men
schen, dann verändert sich auch sein Verhalten und paßt sich dem
neu wahrgenommenen Selbst an.
Anzunehmen, daß Empathic nur in der Zweierbeziehung, welche wir
Psychotherapie nennen, wirksam ist, wäre ein großer Fehler. Sogar im
Unterricht wirkt sie sich aus.Wenn der Lehrer zu erkennen gibt, daß
er weiß, was die Unterrichtserfahrung für den Schüler bedeutet, dann
verbessert sich das Lernen. Untersuchungen von Aspy und seinen
Kollegen zeigen, daß sich das Lesen bei Kindern in signifikanter
Weise stärker verbessert, wenn der Lehrer ein hohes Maß an Verste
hen zeigt, als wenn er dies nicht tut (Aspy, 1972, Kapitel 4; Aspy und
Roebuck, 1975). Wie der Klient in psychotherapeutischer Behand
lung feststellt, daß Empathie ein Klima schafft, in dem er mehr über
sich selbst lernen kann, so bemerkt auch der Schüler im Unterricht,
daß das Lernklima weitaus besser ist, wenn er einen verständnisvollen
Lehrer hat.
Bisher war die Rede von den eher offensichtlichen Auswirkungen der
Empathie. Ich möchte mich nun einem Aspekt zuwenden, der mit der
Dynamik der Persönlichkeit zu tun hat. Ich werde zuerst einige
Behauptungen aufstellen und danach ihre Bedeutung und ihren Sinn
erläutern.
Brfogt man einer Person Einfühlungsvermögen entgegen und wird sie
verstanden, so kommt sie mit einem größeren Spektrum an Erfahrun
gen in Berührung. Dies gibt ihr ein erweitertes Bezugssystem, an das
sie sich zum Verständnis ihrer selbst und zur Lenkung ihres Verhal
tens halten kann. War die Empathie stark, ist sie auch imstande,
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9. einen Erlcbcnsfluß freizusetzen und ihm ungehindert seinen Lauf zu
lassen.
Was ist damit gemeint? Ich glaube, daß dies klarer wird durch den
Auszug aus einem Gespräch mit einer Frau im fortgeschrittenen
Stadium der Therapie. Ich habe diesen Auszug schon einmal zitiert,
aber er paßt auch sehr gut in diesen Zusammenhang:
Klientin: Ich empfinde es nicht als Schuld. (Pause. Sie weint.) Natür
lich meine ich, ich kann es noch nicht sagen. (Dann mit aufwallenden
Emotionen) Es ist nur,daß ich furchtbar verletzt bin!
Therapeut: M-hm. Es ist keine Schuldfrage außer in dem Sinn,daß Sie
irgendwie sehr verletzt sind.
Klientin: (Weinend) Es ist - wissen Sie,oft genug bin ich selber daran
schuld gewesen, aber wenn ich später hörte, wie Eltern zu ihren
Kindern sagten: »Hör auf zu weinen«, dann habe ich ein Gefühl
gehabt, da bin ich verletzt gewesen als ob - nun,was bringt sie dazu,
den Kindern zu sagen, sie sollen aufüörcn zu weinen? Sie tun sich
selbst leid, und wer kann sich denn selbst besser bedauern als das
Kind? Nun, das ist es ungefähr, was ich sagen wollte, in etwa- ich
meine, ich dachte, sie sollten es weinen lassen. Und - es auch
bedauern,vielleicht. Auf eine ziemlich objektive Art und Weise. Nun,
das ist- das ist in etwa das,was ich jetzt erlebe. Ich mcinc,jctzt eben
- gerade jetzt. Und in- in-
Therapeut: Das gibt etwas mehr den Geschmack der Empfindung
wieder,so daß es beinah ist, als würden Sie um sich selbst weinen.
Klientin: Ja. Und sehen Sie, schon gibt's wieder Konflikte. Unser
ganzes Leben ist derart, daß- ich meine,man schwelgt eben nicht in
Selbstmitleid. Aber das ist es nicht- ich meine,ich empfinde,daß es
nicht ganz diesen Beigeschmack hat. Vielleicht.
Therapeut: Sie denken,daß es eine kulturbcdingtc Ablehnung des Sich
Bcmitleidcns gibt. Und dennoch finden Sie,daß das Gefühl, das Sie
erleben, auch wieder nicht ganz das ist, was die Kultur ablehnt.
Klientin: Und dann natürlich sehe ich inzwischen und spüre auch, daß
darüber- daß über dieses- sehen Sie,ich habe es zugedeckt.
(Weint.) Ich habe es doch mit so viel Verbitterung zugedeckt,die ich
dann auch wieder zudecken mußte. (Weint) Das ist es, was ich
loswerden will! Mir macht es fast nichts mehr aus, wenn es weh tut.
Therapeut: (Sanft und mit mitfühlender Zärtlichkeit wegen der von der
Frau erlebten Verletzthcit.) Sie spüren,daß hier auf dem Grund,wie
Sie es erleben, daß da ein Gefühl von wirklichen Tränen um Sie selbst
ist. Aber das können Sie, dürfen Sie nicht zeigen, und darum ist es mit
Vcrbittcrung zugedeckt, die Sie auch nicht mögen, die Sie los sein
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wollen. Sie drücken es beinah so aus, daß Sie fast lieber die Vcrlet
zung in Kauf nehmen möchten als- als die Verbitterung zu empfin
den. (Pause) Und was Sie sehr nachdrücklich zu sagen scheinen,ist:
Es tut weh,und ich habe versucht,es zuzudecken.
Klientin: Ich wußte es nicht.
Therapeut: M-hm. Eigentlich wie eine neue Entdeckung.
Klientin: (gleichzeitig) Ich wußte es eigentlich nie. Aber es ist -
wissen Sie, es ist beinahe etwas Körperliches. Es ist- es ist gewisser
maßen so, als wenn ich in mich hineinschaue auf allerlei- Nervenen
den und auf Stückchen von Dingen, die klcingcschlagcn wurden
(Weint).
Therapeut: Als wenn einige der empfindlichsten Seiten von Ihnen
beinahe physisch zerschmettert oder verletzt worden wären.
Klientin: Ja. Und wissen Sie, ich kriege wirklich das Gefühl,«O, du
armes Ding«.
Hier wird klar, daß die cmpathischc Reaktion des Therapeuten die
Klientin dazu ermutigt,ihre innersten Empfindungen zu erfahren und
sie besser kennenzulernen. Sie lernt sozusagen, ihren Eingeweiden zu
lauschen, um ein wenig schönes Wort zu benutzen. Sie hat ihr Wissen
um den Fluß ihres Erlebens erweitert.
Der nicht-verbalisierte innerste Fluß wird als Bezugspunkt benutzt.
Woher weiß sie, daß »Schuld« nicht das richtige Wort ist, um ihre
Gefühle zu beschreiben? Indem sie sich nach innen wendet und sich
diese Wirklichkeit, diesen fühlbaren Prozeß genauer »ansieht«. Und
so kann sie das Wort »verletzt« mit diesem Bezugspunkt vergleichen
und feststellen,daß es ihm näherkommt. Erst der Satz «O, du armes
Ding« paßt dann ganz zu der von ihr gefühlten Bedeutung von
Mitleid und Sorge fi.ir sich selbst; sie hat eine Erfahruhg gemacht, die
sie nun immer wieder anwenden kann. Und Empathic hat mit zu
dieser Erfahrung beigetragen.
Hier wird auch klar, was es bedeutet, dem Erleben seinen Lauf zu
lassen. Es ist kein neues Gefühl, die Klientin hat es oft zuvor gefühlt,
aber nie ausgelebt, es ist immer abgeblockt worden. Mir ist die
Wirklichkeit und die Lebendigkeit des Loslasscns überdeutlich, denn
ich bin oft genug Zeuge davon gewesen,aber ich weiß nicht, wie ich es
am besten beschreiben soll. Mir scheint, daß man nur dann loslassen
kann, wenn eine tiefe innere Erfahrung ganz akzeptiert und auch
genau benannt wird. Dann kann die Person sie hinter sich lassen und
weitergehen.
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10. Folgerungen
Ich möchte nun zurückgehen und die Empathie noch aus einer
anderen Perspektive betrachten. Wir können sagen, daß eine Person,
die sich richtig verstanden fühlt, sich selbst gegenüber eine therapeu
tische Haltung einnimmt. Lassen Sie mich dies noch näher erläutern.
1. Der nicht-wertende sondern akzeptierende Charakter des empathi
schen Klimas ermöglicht es ihr, wie wir gesehen haben, sich selbst
gegenüber eine wertschätzende, besorgte Haltung einzunehmen.
2. Von einem verständnisvollen Menschen angehört zu werden,
macht es ihr möglich, sich selbst genauer zuzuhören und sich ihrem
eigenen innersten Erleben, ihren bisher nur vage gefühlten Bedeutun
gen mit mehr Empathie zuzuwenden.
3. Das größere Verständnis für sich selbst und die eigene höhere
Wertschätzung eröffnen neue Möglichkeiten des Erlebens; ihr Selbst
stimmt nun besser mit ihrem Erleben überein. Sie hat größeres
Verständnis für sich selbst, größere Wirklichkeit des Erlebens und
größere Kongruenz erreicht; und eben diese Eigenschaften zeichnen,
wie persönliche Erfahrung als auch die Forschung gezeigt haben,
einen erfolgreichen Therapeuten aus. Deshalb übertreiben wir wahr
scheinlich nicht, wenn wir behaupten, daß empathisches Verstanden
werden es einer Person ermöglicht, sich selbst gegenüber ein erfolgrei
cher Therapeut zu sein.
Ob wir also als Therapeut tätig sind oder als Helfer einer Encounter
gruppe, als Lehrer oder als Eltern, wir haben, wenn wir eine empathi
sche Haltung einnehmen können, ein machtvolles Instrument zur
Veränderung und Förderung in Händen.
Zum Schluß möchte ich das Gesagte in einen größeren Kontext
stellen. Wenn ich nur vom empathischen Prozeß gesprochen habe, so
heißt das nicht, daß allein er in einer Beziehung von Bedeutung ist.
Im normalen Leben - zwischen Ehepartnern, zwischen Lehrern und
Schülern, Arbeitgebern und Arbeitnehmern oder auch unter Kollegen
- ist wahrscheinlich Kongruenz das wichtigste Element. Man muß
den anderen wissen lassen, wo man gefühlsmäßig steht. Dies mag
häufig Konfrontation bedeuten, den ganz persönlichen und unge
schminkten Ausdruck sowohl negativer als auch positiver Gefühle,
aber Kongruenz ist dennoch die Grundlage für das Zusammenleben
in einem Klima der Glaubwürdigkeit.
Es gibt Situationen, da können sich Besorgtsein um den anderen und
Wertschätzung als am wichtigsten herausstellen. Dazu gehören nicht
verbale Beziehungen - Eltern und Kleinkind, Therapeut und
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stumme Psychoten, Arzt und sehr kranke Patienten. Besorgtsein ist
eine Haltung, die bekanntlich Kreativität fördert - ein Klima, in
dem neue Gedanken entstehen und fruchtbare Prozesse beginnen
können.
Und schließlich gibt es Situationen, in denen Empathie Priorität hat.
Wenn der andere verletzt, verwirrt, gequält, verängstigt, entfremdet,
erschreckt ist oder wenn er an seinem Selbstwert zweifelt, sich seiner
Identität nicht sicher ist, dann ist Verstehen nötig. In solchen Situa
tionen ist mitfühlendes Verständnis, glaube ich, das kostbarste
Geschenk, das man einem anderen machen kann.
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