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Wolfgang Greif, GPA-djp

Gewerkschaften in China. Einschätzungen, Thesen, Annäherungen


Verlängerter Arm der Kommunistischen Partei, staatstragende Agentur zur Sicherstel-
lung gesellschaftlicher Harmonie und Partner wirtschaftlicher Prosperität

Eines gleich vorweg: Die Gewerkschaftsorganisation in China ist nicht mit Gewerkschaften in
Österreich oder Europa vergleichbar. Jeder Versuch den All-Chinesischen Gewerkschafs-
bund (= ACFTU, All China Federation of Trade Unions) und seine Teilorganisationen etwa
mit dem ÖGB als sozialpartnerschaftlichen Akteur in der politischen Willensbildung des Lan-
des vergleichen zu wollen muss scheitern. Auch Anstrengungen, den ACFTU bzw. seine
Unterorganisationen als Akteur bei Lohnverhandlungen ausfindig machen zu wollen, wie dies
zum Kerngeschäft der österreichischen Gewerkschaften gehört, stoßen rasch an Grenzen.
Ebenso schnell hinkt der Vergleich zwischen Betriebsräten, wie wir sie in österreichischen
Unternehmen finden, und den so genannten ‚Arbeiterkomitees‘, wie die gewerkschaftlichen
Organisationen genannt werden, die in den meisten staatlichen Unternehmen in China anzu-
treffen sind. Andere Systeme, andere gesellschaftliche Grundlagen, andere Ziele.

Wenn ein Vergleich passt, dann jener mit der Rolle der Gewerkschaft in den realsozialisti-
schen Staaten vor der politischen Wende. Die Gewerkschaftsorganisation in China muss in
diesem Sinn als klassischer sozialistischer Transmissionsriemen der Kommunistischen Par-
tei im Betrieb und wohl auch darüber hinaus angesehen werden. Der ACFTU ist ein Teil der
regierenden Parteibürokratie. Ihre Aufgabe besteht heute, angesichts der wachsenden Kluft
zwischen Arm und Reich in hohem Ausmaß zweifellos darin, für soziale Stabilität zu sorgen;
oder wie es im Selbstverständnis der Gewerkschaften in China lautet: mitzuhelfen, dass die
„gesellschaftliche Harmonie“ im Lande nicht aus dem Ruder gerät. Der ACFTU nimmt sich in
diesem Sinn auch sozialpolitischer Brennpunkte an; aktuell etwa der zunehmenden Polari-
sierung der Gesellschaft - am deutlichsten sichtbar am zunehmend wachsenden Einkom-
mensgefälle sowie den enormen sozialen Disparitäten zwischen städtischer und ländlicher
Entwicklung; aber auch den aktuellen Anstrengungen zur Einführung einer flächendecken-
den Krankenversicherung im Land.

In den Unternehmen agieren die chinesische Gewerkschaft als doppelter Partner: für die
Unternehmensleitungen einerseits, für die Kommunistische Partei andererseits. Eine zur rea-
len Vertretung der Beschäftigteninteressen notwendige Autonomie ist kein konstituierendes
Element der betrieblichen Gewerkschaftsorganisation in China. Für die Beschäftigten in den
Unternehmen sind sie in erster Linie als Veranstalter „sozialer Events“ wie etwa Betriebsfei-
ern und Berufswettbewerbe sowie als Anbieter sozialer Wohlfahrtseinrichtungen spürbar. In
der Provinz übernimmt die gewerkschaftliche Organisation darüber hinaus auch soziale Ba-
sisdienste für Gewerkschaftsmitglieder und ihre Familien wie etwa Arbeitsvermittlung oder
die Führung von dezentralen Anlaufstellen zur sozialen Hilfe. Im für uns klassischen und so
selbstverständlichen Kerngeschäft der Gewerkschaften, der Lohnfindung inklusive der Aus-
tragung und Organisation von Arbeitskonflikten spielen die Gewerkschaften in China eine
marginale Rolle: Der von Provinz zu Provinz und teilweise von Kommune zu Kommune
merklich variierende und amtlich festgesetzte Mindestlohn wird in erster Linie von politischen
Autoritäten, d.h. letztlich unter maßgeblichen Vorgaben der Kommunistischen Partei auf der
jeweiligen Ebene festgelegt. Eine unmittelbare und systematische Beteiligung der Gewerk-
schaften gibt es dabei bislang kaum. Nur am Rande agieren sie als Interessenvertretung,
etwa bei der Verteilung zusätzlicher Leistungen, die über den Lohn hinaus an Gewerk-
schaftsmitglieder aus den in der Regel von den Arbeitgebern kommenden und im Betrieb
verbliebenen Gewerkschaftsbeiträgen ausgezahlt werden; ersichtlich an den in aller Regel
stattfindenden Überzahlungen zum nominell zumeist niedrigen Entgelt in den Unternehmen.
Hier nehmen die Arbeiterkomitees - so im Unternehmen vorhanden - zunehmend eine be-
deutendere Rolle ein, insbesondere was den Umfang der Zusatzleistungen betrifft (Prämien,
zusätzliche Versicherungsleistungen, Verpflegung im Betrieb, Firmenbusse etc).



Der ACFTU in der internationalen Gewerkschaftsbewegung: Zwischen offizieller Blo-
ckade, vermehrter meist informeller Diplomatie und zunehmender Kooperation

Kein Zweifel: Der All-Chinesische Gewerkschaftsbund ist eine Parteiorganisation und als
solches – obgleich finanziell und organisatorisch in gewissem Grad mit Autonomie ausges-
tattet – von der Kommunistischen Partei politisch alles andere als unabhängig. Der ACFTU
besitzt ein Gewerkschaftsmonopol und ist basierend auf der Verfassung der Volksrepublik
China und entsprechender arbeitsrechtlicher Gesetze de jure als einzige Organisation legiti-
miert, die Anliegen der Beschäftigten im Land zu vertreten. Das politische Primat liegt bei der
Partei und den von dieser geleiteten staatlichen Autoritäten. Diese nehmen auf allen Ebenen
maßgeblichen Einfluss auf die Ausrichtung und politische Schwerpunktsetzung gewerk-
schaftlicher Aktivitäten und wohl auch auf die Besetzung der Führung und der Funktionen in
den Gremien. Die gewerkschaftliche Organisation entlang der Partei spiegelt sich auf allen
Ebenen wieder: in den bundesweiten Zentralorganisationen des ACFTU mit Hauptsitz in Pe-
king, in den Provinzen, Kommunen und wohl auch im Unternehmen selbst. Unabhängige
Gewerkschaften und geduldete autonome gewerkschaftliche Organisationen gibt es bis heu-
te in China de facto keine.

Somit ist auch klar: Im Koordinatensystem der unter dem Dach des Internationalen Gewerk-
schaftsbundes (IGB) zusammengefassten internationalen Gewerkschaftsbewegung und
auch gemessen am Normenkatalog der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) steht der
ACFTU deutlich im Abseits. Die Volksrepublik China hat bislang vier der acht IAO-
Kernarbeitsnormen nicht ratifiziert, darunter auch die Konventionen zur Vereinigungsfreiheit
und zur Kollektivvertragsfreiheit. Folglich ist der ACFTU auch nicht Mitglied des IGB und sah
sich bis vor kurzem in maßgeblichen Kreisen der internationalen Gewerkschaftsbewegung in
der OECD-Welt einer deutlichen Ausgrenzungspolitik gegenüber. Bemerkenswerter Weise
ist der All-Chinesische Gewerkschaftsbund aber auch nicht mehr Mitglied des Weltgewerk-
schaftsbundes, des globalen Dachverbandes der Gewerkschaftsverbände in den kommunis-
tischen Ländern.

Nichtsdestotrotz nehmen diplomatische Aktivitäten und internationale Kooperationen für die
Gewerkschaften in China einen hohen Stellenwert ein, in Richtung westlicher Gewerkschaf-
ten ebenso wie in Richtung ‚Süd-Ost’. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, dass
auf Initiative des All-Chinesischen Gewerkschaftsbundes seit einiger Zeit Anstrengungen
unternommen werden, abseits des IGB eine globale gewerkschaftliche Plattform zur Kon-
taktnahme mit nationalen und internationalen Organisationen aufzubauen. Auch der bilatera-
le Kontakt und Austausch zu immer mehr Gewerkschaften, in Entwicklungs- und Schwellen-
ländern sowieso, zunehmend aber auch in den ‚kapitalistischen‘ Zentren erleben eine lebhaf-
te Konjunktur, wenngleich diese „Diplomatie“ zumeist auf informeller Grundlage verbleibt.



Zwei Welten: starke gewerkschaftliche Präsenz in den Staatsbetrieben, marginale Or-
ganisierung in der Privatwirtschaft und bei den WanderarbeitnehmerInnen

Der Gewerkschaftsbeitrag setzt sich – wie im Arbeitsgesetz festgeschrieben – aus 2 Prozent
der Lohnsumme zusammen, die vom Arbeitgeber gezahlt werden, ergänzt um einen Beitrag
von bis zu 0,5 Prozent, der von den Gewerkschaftsmitgliedern selbst - gestuft nach Einkom-
men – aufgebracht wird. Obgleich jede lokale Gewerkschaftsgründung der Bewilligung der
nächst höheren Ebene bedarf und weitgehend politisch von oben gelenkt ist, so ist die ge-
werkschaftliche Organisation, was die praktischen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten
betrifft, in hohem Maß betriebsbezogen. Dafür spricht zumindest die Verwendung der Ge-
werkschaftsmittel. Der gewerkschaftliche Mitgliedsbeitrag verbleibt in aller Regel zu 60 Pro-
zent im Unternehmen selbst und dient als Verteilungsmasse für das Arbeiterkomitee und
somit wohl auch als ein wichtiges Rekrutierungsmittel zum Gewerkschaftsbeitritt. Etwa 35
Prozent der Einnahmen gehen an die Provinz- und die Branchengewerkschaft und etwa 5
Prozent verbleiben bei der Zentralorganisation des ACFTU.

Gesamt zählt der ACFTU heute nach Eigenangaben 210 Mio. Mitglieder. Das entspricht bei
einer Anzahl von ca. 800 Mio. ArbeitnehmerInnen in China einer gewerkschaftlichen Organi-
sationsrate von etwa 25 Prozent. Von einer völligen gewerkschaftlichen Durchorganisierung
der chinesischen Wirtschaft kann selbst in den Staatsbetrieben keine Rede sein. Vielmehr
sieht sich der ACFTU hinsichtlich der gewerkschaftlichen Organisierung zunehmend mit ei-
ner geteilten Wirtschaft konfrontiert: Gewerkschaften sind de facto in den großen Staatsbe-
trieben und in der staatlichen Verwaltung präsent. Obgleich ein eigenes Gewerkschaftsge-
setz festlegt, dass es in jedem Unternehmen Gewerkschaften geben soll, sind die gewerk-
schaftsfreien Zonen weitreichend und umfassen nicht nur die Klein- und Mittelbetriebe son-
dern v.a. auch den überwiegenden Teil des enorm wachsenden Privatsektors. Das gilt fast
ausnahmslos in den in chinesischer bzw. süd-ost-asiatischer Eigentümerschaft stehenden
und im niedrigsten Lohnsegment angesiedelten Zulieferbetrieben für multinationale Konzer-
ne, in denen bedenklichste Arbeitsbedingungen herrschen. Der Grad der Absenz einer Ge-
werkschaft bzw. einer betrieblichen Vertretung der Beschäftigten ist bei den durch ausländi-
sche Investitionen hervorgegangenen Joint-Venture-Unternehmen jedoch nicht wesentlich
anders. Darüber hinaus nimmt sich die Gewerkschaftsorganisation bislang erst in Ansätzen
der Masse der auf Saison arbeitenden und sozial äußerst prekär abgesicherten Wanderar-
beitnehmerInnen an, die mit nahezu 200 Mio. einen sehr hohen Anteil der Gesamtbeschäfti-
gung in China ausmachen.

Dort wo es außerhalb des staatlichen Sektors eine Gewerkschaftsorganisation im Unter-
nehmen gibt, wurde dies in hohem Maß den zumeist ausländischen Investoren von außen,
wahrscheinlich unter starker Intervention der Kommunistischen Partei, auferlegt, gewisser-
maßen als Bedingung für den Zugang zum Markt, zur Ansiedlung von Betriebsstätten, zur
Bewilligung von Anlagebau etc. Der US-amerikanische Handelsriese Walmart, in dem im
Anschluss eines Besuches des Präsidenten der größten US-Dienstleistungsgewerkschaft
SEIU auf höchste Intervention durch die Partei- und Staatsführung in allen Niederlassungen
gewerkschaftliche Arbeiterkomitees eingerichtet wurden, wird hier seitens des ACFTU stets
und gerne als Paradefall gepriesen. Offensichtlich galt es hier gegenüber den USA ein para-
doxes Exampel zu statuieren, bekämpft doch Walmart bislang mit allen Mitteln und erfolg-
reich überall sonst auf der Welt die Gründung von Gewerkschaften im Unternehmen. Glei-
ches darf auch für weitere prominente „Herzeige-Multis“ wie Coca-Cola, Carrefour, McDo-
nalds, Motorola, Samsung, Nestlé u.a.m. angenommen werden, in denen es heute Gewerk-
schaftsvertretungen gibt. Zunehmend finden sich auch weniger prominente Joint-Venture-
Unternehmen, wie etwa die österreichische Lenzing AG, bei der die Einrichtung einer ge-
werkschaftlichen Basisorganisation im Unternehmen allem Anschein nach ebenfalls auf eine
externe Auflage im Zuge der Investitionsplanung zurückging.

Doch auch dieser Weg, im Joint-Venture-Vertrag entsprechende Bestimmungen einzufügen,
die den Zugang der Gewerkschaften sicherstellt und eine Arbeitnehmervertretung im Unter-
nehmen konstituiert, scheint nicht die Regel, sondern bislang vielmehr die Ausnahme zu
sein. So reihen sich auch die meisten prominenten österreichischen Unternehmen mit gut
funktionierender und praktizierter betrieblicher Sozialpartnerschaft im Heimatland selbst, in
die Riege gewerkschaftsfreier Unternehmen in China ein. Genau hier tut sich ein enormes
Handlungsfeld für „westliche“ Gewerkschaften auf, in deren Ländern die zentralen Leitungen
jener Unternehmen sitzen, die zumeist basierend auf Joint-Venture-Verträgen sämtliche
Standortvorteile des besonderen chinesischen Entwicklungspfades so profitabel nutzen. Wa-
rum sollen in der prekären und hochprozentig gewerkschaftsfreien Privatwirtschaft nicht Ge-
werkschafterInnen bzw. Betriebsräte der nach China expandierenden Konzerne Anwälte
entsprechender Vertragsklauseln sein, die in Kooperation mit chinesischen Gewerkschafts-
vertretungen Wegbereiter bei der Etablierung von Arbeitnehmervertretungen im Unterneh-
men sein können. Warum nicht Kooperation, Austausch und Vernetzung zwischen Betriebs-
räten und Gewerkschaften im „westlichen Hauptsitz“ und der „chinesischen Peripherie“ of-
fensiv angehen und fördern. Positive Beispiele dazu gibt es, allerdings bislang vereinzelt. Ein
systematisches Vorgehen in diese Richtung fehlt bislang.



Herausforderungen der Gewerkschaften in China: Anschlussfähigkeit in der dyna-
misch wachsenden Privatwirtschaft bedingt Wandel hin zu realer Interessenvertretung

Was die gewerkschaftliche Repräsentanz in der chinesischen Wirtschaft und damit wohl ins-
gesamt deren politische Bedeutung betrifft, muss der ACFTU aufpassen, dass er nicht in
immer größeren Anteilen der Wirtschaft marginalisiert wird. Nach eigener Ansicht liegen die
großen Herausforderungen der Gewerkschaft heute neben der Erweiterung der gewerk-
schaftlichen Mitgliedschaft, und hier vor allem in der Privatwirtschaft, im Bereich der Klein-
und Mittelbetriebe, aber auch bei Jugendlichen und besser Ausgebildeten. Weiters gilt es,
sich verstärkt dem Heer der aus den Provinzen in die industriellen Zentren wandernden Sai-
sonkräfte anzunehmen, die in hohem Maß in prekären Arbeitsverhältnissen und ohne stete
soziale Absicherung am Arbeitsort auskommen müssen.

Um sich in den am Markt tätigen Unternehmen zu etablieren, muss der ACFTU jedoch ein
gehöriges Stück weit seine traditionelle Identität überprüfen: Die des vornehmlichen „Event-
managers im Betrieb“ wird hier wohl nicht ausreichen. Da muss wohl ein großes Stück realer
Interessenvertretung her, inklusive Emanzipation von den subalternen Bindungen an Mana-
gement und Partei. Verteilungsspielraum für ein offensiveres Vorgehen vor allem in Lohnfra-
gen ist jedenfalls in Chinas Volkswirtschaft und auch in den Unternehmen gehörig vorhan-
den. Und mit den neuen Arbeitsgesetzen wurden auch die gewerkschaftlichen Mitsprache-
rechte zumindest ex lege erweitert und gewerkschaftliche AktivistInnen in Arbeitskomitees
unter Kündigungsschutz gestellt. Zudem wurde dabei auch die Möglichkeit geschaffen, kol-
lektive Arbeitsverträge rechtlich durchzusetzen. Zweifellos wurden damit wesentliche Grund-
lagen für einen besseren Schutz der Beschäftigten und ein erleichterter Zugang zum Recht
und somit die Basis für konsequente Interessenvertretung geschaffen.

Wohl im Wissen um die Notwendigkeit auch „neue Wege“ zu bestreiten wie auch als Reakti-
on der regierenden KP auf die wachsende Anzahl von Konflikten und Protesten in Unter-
nehmen, unterstützte der ACFTU auch die neuen Arbeitsgesetze (Arbeitsvertrags- und Ar-
beitskonfliktrecht) im Jahr 2008, die den Gewerkschaften im Prinzip eine Basis für eine weit
robustere und pragmatischere Politik, inklusive der Instrumente zur kollektiven Interessen-
vertretung in die Hand gibt. Eine solche neue Rolle hin zu einer echten interessenpolitischen
Identität, würde aber auch die Bereitschaft zum Austragen von Konflikten beinhalten. Etwas
wovor private und staatliche Arbeitgeber, die Kommunistische Partei und bislang wohl auch
die chinesische Gewerkschaft selbst gehörig zurückschrecken. Hier begegnen stets die glei-
chen Stereotypen: Aus Sicht der KP wird das Zulassen gewerkschaftlicher Autonomie – so-
wohl von der Partei wie auch von der Arbeitgeberseite - schnell als ‚polnische Krankheit’
buchstabiert: Wer Gewerkschaften echte Interessenpolitik betreiben lässt, legt den Grund-
stein für politische Opposition - siehe Solidarnosc in Polen. Und im Betrieb führt das Anspre-
chen und gegebenenfalls auch Austragen von Interessen – so die allgemeine Sichtweise der
Offiziellen - zwangsläufig zu Streik. Und das ist wohl unvereinbar mit der herrschenden Iden-
tität des ACFTU „in Harmonie als Partner von Wirtschaft und Partei“ zu agieren; - für das
Auslandskapital dzt. jedenfalls keine schlechte Standortbedingung.

Was in diesem Zusammenhang das zunehmende Auftreten von Protestmaßnahmen v.a. in
der Zulieferkette für multinationale Unternehmungen bis hin zu „wilden Streiks“ in ebendie-
sen selbst betrifft, ist festzuhalten, dass diese spontanen Auseinandersetzungen zumeist
nicht politisch motiviert sind. Hier steht nicht das Aufbegehren gegen Staat und Partei im
Vordergrund. Hier geht es um Interessen: Lohn, Einhaltung von Arbeitspausen, Schutz bei
der Arbeit mit gefährlichen Stoffen u.a. Arbeitsbedingungen, das sind die Themen, an denen
sich die zunehmende Anzahl lokaler und betrieblicher Konflikten entzünden. Die AktivistIn-
nen wollen in hohem Maß lediglich die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten verbessern
und ihre Rechte durchsetzen. Sie sind dabei zumeist bereit, mit den Autoritäten und auch der
ACFTU zusammen zu arbeiten, um wirkungsvolle Intervention beim Arbeitgeber zu bewe-
gen. Und sie enden zumeist auch, wenn der Missstand beseitigt ist. Wo dies nicht gelingt -
namentlich v.a. im Bereich der WanderarbeitnehmerInnen - finden sich auch Kooperationen
mit NGOs, die ArbeitnehmerInnen aufklären und gegebenenfalls über Rechte informieren
und Anklagen und Prozesse gegen Unternehmen führen.

Gelingt es den Gewerkschaften in China nicht, hier dabei zu sein dann wird die Anzahl auto-
nomer    Arbeitskonflikte   nicht   nur   in   Zulieferunternehmen   europäischer   und   US-
amerikanischer Multis weiter zunehmen. Proteste gegen Nichtausbezahlung der Löhne, Kor-
ruption und Bankrotte im Zuge von Privatisierungsprozessen u.a.m. werden perspektivisch
nicht mehr, wie bisher durch Intervention staatlicher Autoritäten und zunehmend auch durch
Austragung von Gerichtsfällen zu schlichten sein. Als abschreckendes Beispiel kann die
Entwicklung der Gewerkschaften in den Ländern Mittel- und Osteuropas seit Beginn der
90er-Jahre gelten, wo die gewerkschaftliche Repräsentanz im Zuge der enorm dynamischen
wirtschaftlichen Transformation in hohem Maß auf die Staatswirtschaft und den öffentlichen
Sektor limitiert wurde. Sollte dem ACFTU und seinen untergeordneten Organisationen dieser
„interessenpolitische Relaunch“ nicht gelingen, dann droht sich Ähnliches in der chinesi-
schen Gesellschaft zu wiederholen. Damit aber wäre wohl auch insgesamt die politische Be-
deutung der Gewerkschaften Chine in Frage gestellt.

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  • 1. Wolfgang Greif, GPA-djp Gewerkschaften in China. Einschätzungen, Thesen, Annäherungen Verlängerter Arm der Kommunistischen Partei, staatstragende Agentur zur Sicherstel- lung gesellschaftlicher Harmonie und Partner wirtschaftlicher Prosperität Eines gleich vorweg: Die Gewerkschaftsorganisation in China ist nicht mit Gewerkschaften in Österreich oder Europa vergleichbar. Jeder Versuch den All-Chinesischen Gewerkschafs- bund (= ACFTU, All China Federation of Trade Unions) und seine Teilorganisationen etwa mit dem ÖGB als sozialpartnerschaftlichen Akteur in der politischen Willensbildung des Lan- des vergleichen zu wollen muss scheitern. Auch Anstrengungen, den ACFTU bzw. seine Unterorganisationen als Akteur bei Lohnverhandlungen ausfindig machen zu wollen, wie dies zum Kerngeschäft der österreichischen Gewerkschaften gehört, stoßen rasch an Grenzen. Ebenso schnell hinkt der Vergleich zwischen Betriebsräten, wie wir sie in österreichischen Unternehmen finden, und den so genannten ‚Arbeiterkomitees‘, wie die gewerkschaftlichen Organisationen genannt werden, die in den meisten staatlichen Unternehmen in China anzu- treffen sind. Andere Systeme, andere gesellschaftliche Grundlagen, andere Ziele. Wenn ein Vergleich passt, dann jener mit der Rolle der Gewerkschaft in den realsozialisti- schen Staaten vor der politischen Wende. Die Gewerkschaftsorganisation in China muss in diesem Sinn als klassischer sozialistischer Transmissionsriemen der Kommunistischen Par- tei im Betrieb und wohl auch darüber hinaus angesehen werden. Der ACFTU ist ein Teil der regierenden Parteibürokratie. Ihre Aufgabe besteht heute, angesichts der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in hohem Ausmaß zweifellos darin, für soziale Stabilität zu sorgen; oder wie es im Selbstverständnis der Gewerkschaften in China lautet: mitzuhelfen, dass die „gesellschaftliche Harmonie“ im Lande nicht aus dem Ruder gerät. Der ACFTU nimmt sich in diesem Sinn auch sozialpolitischer Brennpunkte an; aktuell etwa der zunehmenden Polari- sierung der Gesellschaft - am deutlichsten sichtbar am zunehmend wachsenden Einkom- mensgefälle sowie den enormen sozialen Disparitäten zwischen städtischer und ländlicher Entwicklung; aber auch den aktuellen Anstrengungen zur Einführung einer flächendecken- den Krankenversicherung im Land. In den Unternehmen agieren die chinesische Gewerkschaft als doppelter Partner: für die Unternehmensleitungen einerseits, für die Kommunistische Partei andererseits. Eine zur rea- len Vertretung der Beschäftigteninteressen notwendige Autonomie ist kein konstituierendes Element der betrieblichen Gewerkschaftsorganisation in China. Für die Beschäftigten in den Unternehmen sind sie in erster Linie als Veranstalter „sozialer Events“ wie etwa Betriebsfei- ern und Berufswettbewerbe sowie als Anbieter sozialer Wohlfahrtseinrichtungen spürbar. In der Provinz übernimmt die gewerkschaftliche Organisation darüber hinaus auch soziale Ba- sisdienste für Gewerkschaftsmitglieder und ihre Familien wie etwa Arbeitsvermittlung oder
  • 2. die Führung von dezentralen Anlaufstellen zur sozialen Hilfe. Im für uns klassischen und so selbstverständlichen Kerngeschäft der Gewerkschaften, der Lohnfindung inklusive der Aus- tragung und Organisation von Arbeitskonflikten spielen die Gewerkschaften in China eine marginale Rolle: Der von Provinz zu Provinz und teilweise von Kommune zu Kommune merklich variierende und amtlich festgesetzte Mindestlohn wird in erster Linie von politischen Autoritäten, d.h. letztlich unter maßgeblichen Vorgaben der Kommunistischen Partei auf der jeweiligen Ebene festgelegt. Eine unmittelbare und systematische Beteiligung der Gewerk- schaften gibt es dabei bislang kaum. Nur am Rande agieren sie als Interessenvertretung, etwa bei der Verteilung zusätzlicher Leistungen, die über den Lohn hinaus an Gewerk- schaftsmitglieder aus den in der Regel von den Arbeitgebern kommenden und im Betrieb verbliebenen Gewerkschaftsbeiträgen ausgezahlt werden; ersichtlich an den in aller Regel stattfindenden Überzahlungen zum nominell zumeist niedrigen Entgelt in den Unternehmen. Hier nehmen die Arbeiterkomitees - so im Unternehmen vorhanden - zunehmend eine be- deutendere Rolle ein, insbesondere was den Umfang der Zusatzleistungen betrifft (Prämien, zusätzliche Versicherungsleistungen, Verpflegung im Betrieb, Firmenbusse etc). Der ACFTU in der internationalen Gewerkschaftsbewegung: Zwischen offizieller Blo- ckade, vermehrter meist informeller Diplomatie und zunehmender Kooperation Kein Zweifel: Der All-Chinesische Gewerkschaftsbund ist eine Parteiorganisation und als solches – obgleich finanziell und organisatorisch in gewissem Grad mit Autonomie ausges- tattet – von der Kommunistischen Partei politisch alles andere als unabhängig. Der ACFTU besitzt ein Gewerkschaftsmonopol und ist basierend auf der Verfassung der Volksrepublik China und entsprechender arbeitsrechtlicher Gesetze de jure als einzige Organisation legiti- miert, die Anliegen der Beschäftigten im Land zu vertreten. Das politische Primat liegt bei der Partei und den von dieser geleiteten staatlichen Autoritäten. Diese nehmen auf allen Ebenen maßgeblichen Einfluss auf die Ausrichtung und politische Schwerpunktsetzung gewerk- schaftlicher Aktivitäten und wohl auch auf die Besetzung der Führung und der Funktionen in den Gremien. Die gewerkschaftliche Organisation entlang der Partei spiegelt sich auf allen Ebenen wieder: in den bundesweiten Zentralorganisationen des ACFTU mit Hauptsitz in Pe- king, in den Provinzen, Kommunen und wohl auch im Unternehmen selbst. Unabhängige Gewerkschaften und geduldete autonome gewerkschaftliche Organisationen gibt es bis heu- te in China de facto keine. Somit ist auch klar: Im Koordinatensystem der unter dem Dach des Internationalen Gewerk- schaftsbundes (IGB) zusammengefassten internationalen Gewerkschaftsbewegung und auch gemessen am Normenkatalog der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) steht der ACFTU deutlich im Abseits. Die Volksrepublik China hat bislang vier der acht IAO- Kernarbeitsnormen nicht ratifiziert, darunter auch die Konventionen zur Vereinigungsfreiheit und zur Kollektivvertragsfreiheit. Folglich ist der ACFTU auch nicht Mitglied des IGB und sah
  • 3. sich bis vor kurzem in maßgeblichen Kreisen der internationalen Gewerkschaftsbewegung in der OECD-Welt einer deutlichen Ausgrenzungspolitik gegenüber. Bemerkenswerter Weise ist der All-Chinesische Gewerkschaftsbund aber auch nicht mehr Mitglied des Weltgewerk- schaftsbundes, des globalen Dachverbandes der Gewerkschaftsverbände in den kommunis- tischen Ländern. Nichtsdestotrotz nehmen diplomatische Aktivitäten und internationale Kooperationen für die Gewerkschaften in China einen hohen Stellenwert ein, in Richtung westlicher Gewerkschaf- ten ebenso wie in Richtung ‚Süd-Ost’. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, dass auf Initiative des All-Chinesischen Gewerkschaftsbundes seit einiger Zeit Anstrengungen unternommen werden, abseits des IGB eine globale gewerkschaftliche Plattform zur Kon- taktnahme mit nationalen und internationalen Organisationen aufzubauen. Auch der bilatera- le Kontakt und Austausch zu immer mehr Gewerkschaften, in Entwicklungs- und Schwellen- ländern sowieso, zunehmend aber auch in den ‚kapitalistischen‘ Zentren erleben eine lebhaf- te Konjunktur, wenngleich diese „Diplomatie“ zumeist auf informeller Grundlage verbleibt. Zwei Welten: starke gewerkschaftliche Präsenz in den Staatsbetrieben, marginale Or- ganisierung in der Privatwirtschaft und bei den WanderarbeitnehmerInnen Der Gewerkschaftsbeitrag setzt sich – wie im Arbeitsgesetz festgeschrieben – aus 2 Prozent der Lohnsumme zusammen, die vom Arbeitgeber gezahlt werden, ergänzt um einen Beitrag von bis zu 0,5 Prozent, der von den Gewerkschaftsmitgliedern selbst - gestuft nach Einkom- men – aufgebracht wird. Obgleich jede lokale Gewerkschaftsgründung der Bewilligung der nächst höheren Ebene bedarf und weitgehend politisch von oben gelenkt ist, so ist die ge- werkschaftliche Organisation, was die praktischen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten betrifft, in hohem Maß betriebsbezogen. Dafür spricht zumindest die Verwendung der Ge- werkschaftsmittel. Der gewerkschaftliche Mitgliedsbeitrag verbleibt in aller Regel zu 60 Pro- zent im Unternehmen selbst und dient als Verteilungsmasse für das Arbeiterkomitee und somit wohl auch als ein wichtiges Rekrutierungsmittel zum Gewerkschaftsbeitritt. Etwa 35 Prozent der Einnahmen gehen an die Provinz- und die Branchengewerkschaft und etwa 5 Prozent verbleiben bei der Zentralorganisation des ACFTU. Gesamt zählt der ACFTU heute nach Eigenangaben 210 Mio. Mitglieder. Das entspricht bei einer Anzahl von ca. 800 Mio. ArbeitnehmerInnen in China einer gewerkschaftlichen Organi- sationsrate von etwa 25 Prozent. Von einer völligen gewerkschaftlichen Durchorganisierung der chinesischen Wirtschaft kann selbst in den Staatsbetrieben keine Rede sein. Vielmehr sieht sich der ACFTU hinsichtlich der gewerkschaftlichen Organisierung zunehmend mit ei- ner geteilten Wirtschaft konfrontiert: Gewerkschaften sind de facto in den großen Staatsbe- trieben und in der staatlichen Verwaltung präsent. Obgleich ein eigenes Gewerkschaftsge- setz festlegt, dass es in jedem Unternehmen Gewerkschaften geben soll, sind die gewerk- schaftsfreien Zonen weitreichend und umfassen nicht nur die Klein- und Mittelbetriebe son-
  • 4. dern v.a. auch den überwiegenden Teil des enorm wachsenden Privatsektors. Das gilt fast ausnahmslos in den in chinesischer bzw. süd-ost-asiatischer Eigentümerschaft stehenden und im niedrigsten Lohnsegment angesiedelten Zulieferbetrieben für multinationale Konzer- ne, in denen bedenklichste Arbeitsbedingungen herrschen. Der Grad der Absenz einer Ge- werkschaft bzw. einer betrieblichen Vertretung der Beschäftigten ist bei den durch ausländi- sche Investitionen hervorgegangenen Joint-Venture-Unternehmen jedoch nicht wesentlich anders. Darüber hinaus nimmt sich die Gewerkschaftsorganisation bislang erst in Ansätzen der Masse der auf Saison arbeitenden und sozial äußerst prekär abgesicherten Wanderar- beitnehmerInnen an, die mit nahezu 200 Mio. einen sehr hohen Anteil der Gesamtbeschäfti- gung in China ausmachen. Dort wo es außerhalb des staatlichen Sektors eine Gewerkschaftsorganisation im Unter- nehmen gibt, wurde dies in hohem Maß den zumeist ausländischen Investoren von außen, wahrscheinlich unter starker Intervention der Kommunistischen Partei, auferlegt, gewisser- maßen als Bedingung für den Zugang zum Markt, zur Ansiedlung von Betriebsstätten, zur Bewilligung von Anlagebau etc. Der US-amerikanische Handelsriese Walmart, in dem im Anschluss eines Besuches des Präsidenten der größten US-Dienstleistungsgewerkschaft SEIU auf höchste Intervention durch die Partei- und Staatsführung in allen Niederlassungen gewerkschaftliche Arbeiterkomitees eingerichtet wurden, wird hier seitens des ACFTU stets und gerne als Paradefall gepriesen. Offensichtlich galt es hier gegenüber den USA ein para- doxes Exampel zu statuieren, bekämpft doch Walmart bislang mit allen Mitteln und erfolg- reich überall sonst auf der Welt die Gründung von Gewerkschaften im Unternehmen. Glei- ches darf auch für weitere prominente „Herzeige-Multis“ wie Coca-Cola, Carrefour, McDo- nalds, Motorola, Samsung, Nestlé u.a.m. angenommen werden, in denen es heute Gewerk- schaftsvertretungen gibt. Zunehmend finden sich auch weniger prominente Joint-Venture- Unternehmen, wie etwa die österreichische Lenzing AG, bei der die Einrichtung einer ge- werkschaftlichen Basisorganisation im Unternehmen allem Anschein nach ebenfalls auf eine externe Auflage im Zuge der Investitionsplanung zurückging. Doch auch dieser Weg, im Joint-Venture-Vertrag entsprechende Bestimmungen einzufügen, die den Zugang der Gewerkschaften sicherstellt und eine Arbeitnehmervertretung im Unter- nehmen konstituiert, scheint nicht die Regel, sondern bislang vielmehr die Ausnahme zu sein. So reihen sich auch die meisten prominenten österreichischen Unternehmen mit gut funktionierender und praktizierter betrieblicher Sozialpartnerschaft im Heimatland selbst, in die Riege gewerkschaftsfreier Unternehmen in China ein. Genau hier tut sich ein enormes Handlungsfeld für „westliche“ Gewerkschaften auf, in deren Ländern die zentralen Leitungen jener Unternehmen sitzen, die zumeist basierend auf Joint-Venture-Verträgen sämtliche Standortvorteile des besonderen chinesischen Entwicklungspfades so profitabel nutzen. Wa- rum sollen in der prekären und hochprozentig gewerkschaftsfreien Privatwirtschaft nicht Ge- werkschafterInnen bzw. Betriebsräte der nach China expandierenden Konzerne Anwälte entsprechender Vertragsklauseln sein, die in Kooperation mit chinesischen Gewerkschafts-
  • 5. vertretungen Wegbereiter bei der Etablierung von Arbeitnehmervertretungen im Unterneh- men sein können. Warum nicht Kooperation, Austausch und Vernetzung zwischen Betriebs- räten und Gewerkschaften im „westlichen Hauptsitz“ und der „chinesischen Peripherie“ of- fensiv angehen und fördern. Positive Beispiele dazu gibt es, allerdings bislang vereinzelt. Ein systematisches Vorgehen in diese Richtung fehlt bislang. Herausforderungen der Gewerkschaften in China: Anschlussfähigkeit in der dyna- misch wachsenden Privatwirtschaft bedingt Wandel hin zu realer Interessenvertretung Was die gewerkschaftliche Repräsentanz in der chinesischen Wirtschaft und damit wohl ins- gesamt deren politische Bedeutung betrifft, muss der ACFTU aufpassen, dass er nicht in immer größeren Anteilen der Wirtschaft marginalisiert wird. Nach eigener Ansicht liegen die großen Herausforderungen der Gewerkschaft heute neben der Erweiterung der gewerk- schaftlichen Mitgliedschaft, und hier vor allem in der Privatwirtschaft, im Bereich der Klein- und Mittelbetriebe, aber auch bei Jugendlichen und besser Ausgebildeten. Weiters gilt es, sich verstärkt dem Heer der aus den Provinzen in die industriellen Zentren wandernden Sai- sonkräfte anzunehmen, die in hohem Maß in prekären Arbeitsverhältnissen und ohne stete soziale Absicherung am Arbeitsort auskommen müssen. Um sich in den am Markt tätigen Unternehmen zu etablieren, muss der ACFTU jedoch ein gehöriges Stück weit seine traditionelle Identität überprüfen: Die des vornehmlichen „Event- managers im Betrieb“ wird hier wohl nicht ausreichen. Da muss wohl ein großes Stück realer Interessenvertretung her, inklusive Emanzipation von den subalternen Bindungen an Mana- gement und Partei. Verteilungsspielraum für ein offensiveres Vorgehen vor allem in Lohnfra- gen ist jedenfalls in Chinas Volkswirtschaft und auch in den Unternehmen gehörig vorhan- den. Und mit den neuen Arbeitsgesetzen wurden auch die gewerkschaftlichen Mitsprache- rechte zumindest ex lege erweitert und gewerkschaftliche AktivistInnen in Arbeitskomitees unter Kündigungsschutz gestellt. Zudem wurde dabei auch die Möglichkeit geschaffen, kol- lektive Arbeitsverträge rechtlich durchzusetzen. Zweifellos wurden damit wesentliche Grund- lagen für einen besseren Schutz der Beschäftigten und ein erleichterter Zugang zum Recht und somit die Basis für konsequente Interessenvertretung geschaffen. Wohl im Wissen um die Notwendigkeit auch „neue Wege“ zu bestreiten wie auch als Reakti- on der regierenden KP auf die wachsende Anzahl von Konflikten und Protesten in Unter- nehmen, unterstützte der ACFTU auch die neuen Arbeitsgesetze (Arbeitsvertrags- und Ar- beitskonfliktrecht) im Jahr 2008, die den Gewerkschaften im Prinzip eine Basis für eine weit robustere und pragmatischere Politik, inklusive der Instrumente zur kollektiven Interessen- vertretung in die Hand gibt. Eine solche neue Rolle hin zu einer echten interessenpolitischen Identität, würde aber auch die Bereitschaft zum Austragen von Konflikten beinhalten. Etwas wovor private und staatliche Arbeitgeber, die Kommunistische Partei und bislang wohl auch die chinesische Gewerkschaft selbst gehörig zurückschrecken. Hier begegnen stets die glei-
  • 6. chen Stereotypen: Aus Sicht der KP wird das Zulassen gewerkschaftlicher Autonomie – so- wohl von der Partei wie auch von der Arbeitgeberseite - schnell als ‚polnische Krankheit’ buchstabiert: Wer Gewerkschaften echte Interessenpolitik betreiben lässt, legt den Grund- stein für politische Opposition - siehe Solidarnosc in Polen. Und im Betrieb führt das Anspre- chen und gegebenenfalls auch Austragen von Interessen – so die allgemeine Sichtweise der Offiziellen - zwangsläufig zu Streik. Und das ist wohl unvereinbar mit der herrschenden Iden- tität des ACFTU „in Harmonie als Partner von Wirtschaft und Partei“ zu agieren; - für das Auslandskapital dzt. jedenfalls keine schlechte Standortbedingung. Was in diesem Zusammenhang das zunehmende Auftreten von Protestmaßnahmen v.a. in der Zulieferkette für multinationale Unternehmungen bis hin zu „wilden Streiks“ in ebendie- sen selbst betrifft, ist festzuhalten, dass diese spontanen Auseinandersetzungen zumeist nicht politisch motiviert sind. Hier steht nicht das Aufbegehren gegen Staat und Partei im Vordergrund. Hier geht es um Interessen: Lohn, Einhaltung von Arbeitspausen, Schutz bei der Arbeit mit gefährlichen Stoffen u.a. Arbeitsbedingungen, das sind die Themen, an denen sich die zunehmende Anzahl lokaler und betrieblicher Konflikten entzünden. Die AktivistIn- nen wollen in hohem Maß lediglich die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten verbessern und ihre Rechte durchsetzen. Sie sind dabei zumeist bereit, mit den Autoritäten und auch der ACFTU zusammen zu arbeiten, um wirkungsvolle Intervention beim Arbeitgeber zu bewe- gen. Und sie enden zumeist auch, wenn der Missstand beseitigt ist. Wo dies nicht gelingt - namentlich v.a. im Bereich der WanderarbeitnehmerInnen - finden sich auch Kooperationen mit NGOs, die ArbeitnehmerInnen aufklären und gegebenenfalls über Rechte informieren und Anklagen und Prozesse gegen Unternehmen führen. Gelingt es den Gewerkschaften in China nicht, hier dabei zu sein dann wird die Anzahl auto- nomer Arbeitskonflikte nicht nur in Zulieferunternehmen europäischer und US- amerikanischer Multis weiter zunehmen. Proteste gegen Nichtausbezahlung der Löhne, Kor- ruption und Bankrotte im Zuge von Privatisierungsprozessen u.a.m. werden perspektivisch nicht mehr, wie bisher durch Intervention staatlicher Autoritäten und zunehmend auch durch Austragung von Gerichtsfällen zu schlichten sein. Als abschreckendes Beispiel kann die Entwicklung der Gewerkschaften in den Ländern Mittel- und Osteuropas seit Beginn der 90er-Jahre gelten, wo die gewerkschaftliche Repräsentanz im Zuge der enorm dynamischen wirtschaftlichen Transformation in hohem Maß auf die Staatswirtschaft und den öffentlichen Sektor limitiert wurde. Sollte dem ACFTU und seinen untergeordneten Organisationen dieser „interessenpolitische Relaunch“ nicht gelingen, dann droht sich Ähnliches in der chinesi- schen Gesellschaft zu wiederholen. Damit aber wäre wohl auch insgesamt die politische Be- deutung der Gewerkschaften Chine in Frage gestellt.