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Nach einem Flug von insgesamt zwölf Stunden kam ich am Morgen des 30. Sep.
in Shanghai an. Es war warm und relativ schwül. Der Himmel war nicht sehr klar, was
nicht am „Smog“ liegt (wie manche vermuten könnten), sondern am Nebel, der sehr
oft über der Region hängt. Der neblige Himmel, so heißt es im Volksmund, ist eine
besonders schöne Naturerscheinung der Region, die die Provinz Zhejiang und die
Stadt Shanghai umfasst, denn er schaffe eine besänftigende, verklärende Atmosphäre
und lasse alles unter dem Himmel geheimnisvoller erscheinen. Gärten, Brücken,
Seen… Alles schmeckt länger nach, wenn man es nicht von Anfang an durchschaut.
      Aber in wie fern das moderne Stadtbild dadurch romantisiert werden kann, lässt
sich stark bezweifeln. Die Strecke vom Flughafen zur Stadt bewältigte ich auf einer
endlosen Straßenbrücke, zu deren Seiten ganze Wälder von Hochhäusern
emporstreben. So ist der erste, unvermeidliche Eindruck von Shanghai, für alle aus der
Ferne Eingeflogenen: ein unaufhaltsamer Bauboom, der durch seine überwältigende
Größe und bedrückende Monotonie alles dominiert.




                            Straßenbrücken in Shanghai


      Das soll aber nicht heißen, dass die Stadt nur von Beton bedeckt ist. Im
Gegenteil, ich war von der Anzahl der Grünflächen positiv überrascht. Fast alle großen
Straßen werden von Baumreihen flankiert. Auch befinden sich überall gärtnerisch
gestaltete Grünflächen, die aus Bäumen, kleineren Büschen und Zierpflanzen aller Art

                                                                                    1
bestehen. Die Art und Weise wie diese angelegt sind, kann den meisten Europäern, die
an naturbelassene Stadtwälder gewöhnt sind, ein wenig maniert und kitschig
vorkommen. Aber zumindest sieht man das Bestreben der Stadt Shanghai, ihren
Bewohnern einen möglichst grünen, angenehmen urbanen Raum zu schaffen, welches
vielleicht gerade durch das Kitschige auffallen sollte. Die Grünflächen werden
tatsächlich viel benutzt – vor allem von älteren Menschen, die nicht mehr an Chinas
„Goldrausch“ teilhaben können, wollen oder müssen. Für diese ist der Park ein Ort für
Sport, Fitness und Musizieren. Jeden morgen machen sie dort Gerätsport, üben Taiji,
Qigong oder tanzen und singen in Gruppen. Tja, die chinesischen und deutschen
Rentner können sich nur schwer ein Bild von den Vergnügungen der jeweils anderen
machen…




                                Straße in Shanghai




                                                                                   2
Gehweg




kleiner Park

               3
Parkgänger und ihre Haustiere – Vögel im Käfig


      Auffallen oder nicht Auffallen, darin liegt ein wesentlicher Unterschied
zwischen öffentlichen Projekten in China und in Europa. In China sind sie fast immer
so gemacht, dass man gleich die Arbeit dahinter und den „Erfolg“ dadurch sehen und
schätzen soll. Ich kann mir vorstellen, dass Stadtwälder mit großen, dichten Bäumen
und weiten Wiesen den meisten Chinesen zwar natürlicher, aber doch zu „plump“ und
„einfach“ vorkommen könnten. Sie weisen trotz ihrer Schönheit „zu wenig
menschliches Geschick“ auf. Das ist allerdings nur eine subjektive Vermutung, die auf
keinen Fall auf alle Chinesen zutreffen kann, denn man kann kaum von „den
Chinesen“     sprechen.     Aufgrund     sehr     verschiedener     Bildungsniveaus,
Weltanschauungen und Einkommen ist die chinesische Bevölkerung ein sehr buntes
Gemisch, welches in Großstädten wie Shanghai und Beijing besonders deutlich in
Erscheinung tritt. Ein sicherer Grund für das gerade erwähnte „Auffallen der
öffentlichen Projekte“ ist das Repräsentationsbedürfnis der Urheber: Die Regierung
zeigt ihre Errungenschaften, Macht und Dominanz; andere ihren Ruhm und Reichtum.
Es sind dies vor allem große Immobilienunternehmen, die zahlreiche neue

                                                                                   4
Wohnsiedlungen erbauen, die normalerweise folgendermaßen aussehen: eine in der
Stadt oder am Stadtrand von Mauern umschlossene Zone, mit mehrere Toren, die von
Sicherheitsmännern überwacht sind. Darin befinden sich einige Hochhäuser, die
meistens über mehr als 20 Stockwerke verfügen. In der Mitte der Siedlung ist oft ein
großer Garten, sodass die Bewohner dort spazieren, sich entspannen oder ihre Hunde
ausführen können. Unabdingbar ist natürlich ein unterirdisches Parkhaus. Die
Immobilienunternehmen, vertreten durch ein Büro in der Siedlung, bieten den
Wohnungseigentümern verschiedene Arten von Service an: Sicherheit, Hygiene,
Wartung und Reparatur der Wasser- und Stromleitung usw.…




                               Wohnsiedlung in China


      Wie die Tore und der Garten der Wohnsiedlungen aussehen, finde ich, ehrlich
gesagt, ziemlich geschmacklos. Pompös aber geistlos, organisiert aber unorganisch,
mit chinesischen und europäischen Dekorationselementen, aber weder chinesisch noch
europäisch. Es ist nichts anderes als Erregung für die Sinne, etwas Sensationelles. Das
ist wahrscheinlich auch das wichtigste für die Entwerfer dieser Werke.
      „Sensation“ und „Sinnesrausch“ können sich wohl nirgendwo anders auf der
Erde so viel Beifall erfreuen wie im heutigen China. Es scheint mir so, als hätten
                                                                                     5
Chinesen nur noch Empfinden für das Große, das Laute, das unglaublich Alte, das
symbolträchtige, das unglaublich Neue, das Extreme und das Ungewöhnliche, eben
das „Beste“. Dieses Phänomen durchdringt ja fast alle Bereiche, von der
Selbstdefinition der Nation auf weltpolitischer Bühne bis zum Werbespruch kleinster
Geschäfte am Straßenrand. So soll z.Bsp. die Expo 2010 in Shanghai, laut offiziellen
Angaben, viele Weltrekorde geschaffen haben: Sie hat die meisten teilnehmenden
Länder, die meisten Pavillons, das größte Gelände, die höchsten Kosten, sowie die
höchste Besucherzahl… Auf der Straße schmeißt jedes winzige Bekleidungsgeschäft
höchstprahlerische Werbesprüche den Passanten ins Gesicht: Wir haben die neueste
Mode, die coolsten Kleidungsstücke in bester Qualität für das wenigste Geld… Und
das immer mit einem hässlichen Werbeplakat oder sogar mit Lautsprechern.
       Die „Sucht“ nach Sensation hat sich sogar in einigen kulturellen Bereichen
durchgesetzt. Nehmen wir den chinesischen Pavillon auf der Expo als Beispiel: Der
sehr hohe Bau weist eine ziemlich ungewöhnliche, ja fantastische Form auf. Sie
kommt nicht von ungefähr, sondern ist eine vergrößerte Darstellung mehrerer

„Dougongs“ ( 斗 拱 ) auf vier Säulen. Ein „Dougong“ ist ein Bauelement der

traditionellen chinesischen Holzarchitektur, welches sich durch das Ineinandergreifen
(im Grunde) zweier Arten von Bauteilen kennzeichnet, nämlich „Dou“ und „Gong“.
Es befindet sich zwischen der Säule und den Balken und dient dazu, die Last des
Daches sowie anderer horizontaler Bauteile auf die Säule abzuleiten, da die Wände der
traditionellen chinesischen Holzbauten keine Lasttragende, sondern nur Raumbildende
Funktion haben. Ein mehrfach kombiniertes Dougong ermöglicht zudem die
Verlängerung des Daches, sodass dies weit über die Wände hinaus reichen kann. Auf
diese Weise erhält der Bau einen großräumigen, vornehmen Eindruck und die Wände
werden vom Regenwasser geschont. Zudem hat „Dougong“ die Eigenschaft, die
Energie eines Erdbebens in sich aufzunehmen und dadurch den Bau eventuell vor dem
Einstürzen zu schützen, weil Dou und Gong, beides aus Holz, aufeinander gelegt sind
und Dougong dadurch elastisch ist.
       Eine andere symbolische Bedeutung des Baus besteht in seiner äußerlichen

Ähnlichkeit mit dem chinesischen Schriftzeichen „ 華 “ (wie „hua“ ausgesprochen),

dieses Zeichen steht symbolisch für das chinesische Volk und die chinesische Kultur,
ja für fast alles, was mit Chinas „Ursprung“ konnotiert ist.
                                                                                   6
Diese Tendenz oder „Machart“ der kulturellen Selbstbetrachtung bereitet mir
Besorgnis und Nachdenken. Denn die Suche nach nur einem oder ein paar wenigen
Symbolen führt, meines Erachtens, unausweichlich dazu, die kulturelle Vielfältigkeit
zu unterdrücken. Wie kann man die chinesische Kultur, die älteste noch lebende
Hochkultur, die ein gigantisches geographisches und ethnisches Gebiet umfasst, in ein
oder zwei Symbole „verpacken“? Wie viel Kleines aber Feines muss man ignorieren,
um sich ganz dem „Großen“ und „Wunderbaren“ zu widmen? Außerdem sind
kulturelle Symbole häufig von herrschenden Schichten ausgesucht und gezüchtet, d. h.,
mit politischer Manipulation engst verwandt.




                          chinesischer Pavillon auf der Expo


      Aber auch rein ästhetisch wird der chinesische Pavillon vom Volk viel kritisiert.
Er ist nichts anderes als eine viel tausend fache Vergrößerung eines Bauteiles und
wirkt plump und schwer. Außerdem ist die seltsame Form völlig unverständlich für
Beschauer, die sich nicht mit chinesischer Architektur näher auseinander gesetzt haben.
Das Volk pflegt zu sagen, dass diese und ähnliche Entscheidungen nicht von
Intellektuellen, sondern von unintelligenten Politikern getroffen wurden.




                                                                                     7
Dougong in Dachecke, von unten gesehen




                                         8
isometrische Darstellung eines Dougongs


      Ein anderes Beispiel ist das Shanghai-Museum für chinesische Kunst. Die
Architektur weist kreisrunde Oberteile sowie quadratische Unterteile auf und sollte das
alte chinesische Weltbild symbolisieren: Der runde Himmel wölbt sich über die flache,
scheibenförmige Erde.
      An sich ist das mitten in der Stadt gelegene Museum, das Schätze aus
verschiedenen Kunstgattungen wie Tuschemalerei, Kalligraphie, Porzellan, Keramik,
Jade, Möbelbau und Siegelkunst zeigt, ein „Muss“ für jeden Besucher in Shanghai.
      Die meisten großen öffentlichen Museen in China können bei freiem Eintritt
besucht werden. Wie soll man das interpretieren? Will der Staat auf diese Weise
öffentliche Bildung fördern, oder haben Chinesen nur so wenig Interesse an Museen,

                                                                                     9
dass sie diese nur ohne „Geldverlust“ besuchen möchten? Sicher ist, dass man in den
Gratismuseen in China den unterschiedlichsten Menschen begegnet – auch
Wanderarbeitern, denen man normalerweise nicht unbedingt einen Museumsbesuch
zutrauen würde. Entsprechend variiert auch die Art der Kunstbetrachtung von
Besucher zu Besucher sehr stark. Manche haken nur die „wichtigsten“ Sachen ab,
andere dagegen studieren alles sorgfältig und langwierig. Oft sieht man auch Eltern,
die ihren kleinen, ungeduldigen Kindern das eine oder andere Objekt minutenlang
erklären.
       Eine Warnung für Kunstinteressierten: Vor den beiden Eingängen des
Shanghai-Museums stehen fast immer lange Schlangen und man muss oft bis zu 45
Minuten lang warten. Also, der Museumsbesuch kostet zwar kein Geld, aber er fordert
eine gewisse Fitness und eine Menge Geduld...




                     Shanghai-Museum für Chinesische Kunst


      So viel sei gesagt in meinem ersten Beicht über China. Es ist schwierig, das
gigantische Land „durch die Lupe“ zu betrachten. Daher werhe ich in meinem

                                                                                 10
nächsten Bericht versuchen, China „aus der Vogelperspektive“ zu sehen – nämlich
China und Chinesen in gewisser Hinsicht zu „charakterisieren“, um einen leichten
Überblick über das Land zu geben.




                                                                             11

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China-Tagebuch

  • 1. Nach einem Flug von insgesamt zwölf Stunden kam ich am Morgen des 30. Sep. in Shanghai an. Es war warm und relativ schwül. Der Himmel war nicht sehr klar, was nicht am „Smog“ liegt (wie manche vermuten könnten), sondern am Nebel, der sehr oft über der Region hängt. Der neblige Himmel, so heißt es im Volksmund, ist eine besonders schöne Naturerscheinung der Region, die die Provinz Zhejiang und die Stadt Shanghai umfasst, denn er schaffe eine besänftigende, verklärende Atmosphäre und lasse alles unter dem Himmel geheimnisvoller erscheinen. Gärten, Brücken, Seen… Alles schmeckt länger nach, wenn man es nicht von Anfang an durchschaut. Aber in wie fern das moderne Stadtbild dadurch romantisiert werden kann, lässt sich stark bezweifeln. Die Strecke vom Flughafen zur Stadt bewältigte ich auf einer endlosen Straßenbrücke, zu deren Seiten ganze Wälder von Hochhäusern emporstreben. So ist der erste, unvermeidliche Eindruck von Shanghai, für alle aus der Ferne Eingeflogenen: ein unaufhaltsamer Bauboom, der durch seine überwältigende Größe und bedrückende Monotonie alles dominiert. Straßenbrücken in Shanghai Das soll aber nicht heißen, dass die Stadt nur von Beton bedeckt ist. Im Gegenteil, ich war von der Anzahl der Grünflächen positiv überrascht. Fast alle großen Straßen werden von Baumreihen flankiert. Auch befinden sich überall gärtnerisch gestaltete Grünflächen, die aus Bäumen, kleineren Büschen und Zierpflanzen aller Art 1
  • 2. bestehen. Die Art und Weise wie diese angelegt sind, kann den meisten Europäern, die an naturbelassene Stadtwälder gewöhnt sind, ein wenig maniert und kitschig vorkommen. Aber zumindest sieht man das Bestreben der Stadt Shanghai, ihren Bewohnern einen möglichst grünen, angenehmen urbanen Raum zu schaffen, welches vielleicht gerade durch das Kitschige auffallen sollte. Die Grünflächen werden tatsächlich viel benutzt – vor allem von älteren Menschen, die nicht mehr an Chinas „Goldrausch“ teilhaben können, wollen oder müssen. Für diese ist der Park ein Ort für Sport, Fitness und Musizieren. Jeden morgen machen sie dort Gerätsport, üben Taiji, Qigong oder tanzen und singen in Gruppen. Tja, die chinesischen und deutschen Rentner können sich nur schwer ein Bild von den Vergnügungen der jeweils anderen machen… Straße in Shanghai 2
  • 4. Parkgänger und ihre Haustiere – Vögel im Käfig Auffallen oder nicht Auffallen, darin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen öffentlichen Projekten in China und in Europa. In China sind sie fast immer so gemacht, dass man gleich die Arbeit dahinter und den „Erfolg“ dadurch sehen und schätzen soll. Ich kann mir vorstellen, dass Stadtwälder mit großen, dichten Bäumen und weiten Wiesen den meisten Chinesen zwar natürlicher, aber doch zu „plump“ und „einfach“ vorkommen könnten. Sie weisen trotz ihrer Schönheit „zu wenig menschliches Geschick“ auf. Das ist allerdings nur eine subjektive Vermutung, die auf keinen Fall auf alle Chinesen zutreffen kann, denn man kann kaum von „den Chinesen“ sprechen. Aufgrund sehr verschiedener Bildungsniveaus, Weltanschauungen und Einkommen ist die chinesische Bevölkerung ein sehr buntes Gemisch, welches in Großstädten wie Shanghai und Beijing besonders deutlich in Erscheinung tritt. Ein sicherer Grund für das gerade erwähnte „Auffallen der öffentlichen Projekte“ ist das Repräsentationsbedürfnis der Urheber: Die Regierung zeigt ihre Errungenschaften, Macht und Dominanz; andere ihren Ruhm und Reichtum. Es sind dies vor allem große Immobilienunternehmen, die zahlreiche neue 4
  • 5. Wohnsiedlungen erbauen, die normalerweise folgendermaßen aussehen: eine in der Stadt oder am Stadtrand von Mauern umschlossene Zone, mit mehrere Toren, die von Sicherheitsmännern überwacht sind. Darin befinden sich einige Hochhäuser, die meistens über mehr als 20 Stockwerke verfügen. In der Mitte der Siedlung ist oft ein großer Garten, sodass die Bewohner dort spazieren, sich entspannen oder ihre Hunde ausführen können. Unabdingbar ist natürlich ein unterirdisches Parkhaus. Die Immobilienunternehmen, vertreten durch ein Büro in der Siedlung, bieten den Wohnungseigentümern verschiedene Arten von Service an: Sicherheit, Hygiene, Wartung und Reparatur der Wasser- und Stromleitung usw.… Wohnsiedlung in China Wie die Tore und der Garten der Wohnsiedlungen aussehen, finde ich, ehrlich gesagt, ziemlich geschmacklos. Pompös aber geistlos, organisiert aber unorganisch, mit chinesischen und europäischen Dekorationselementen, aber weder chinesisch noch europäisch. Es ist nichts anderes als Erregung für die Sinne, etwas Sensationelles. Das ist wahrscheinlich auch das wichtigste für die Entwerfer dieser Werke. „Sensation“ und „Sinnesrausch“ können sich wohl nirgendwo anders auf der Erde so viel Beifall erfreuen wie im heutigen China. Es scheint mir so, als hätten 5
  • 6. Chinesen nur noch Empfinden für das Große, das Laute, das unglaublich Alte, das symbolträchtige, das unglaublich Neue, das Extreme und das Ungewöhnliche, eben das „Beste“. Dieses Phänomen durchdringt ja fast alle Bereiche, von der Selbstdefinition der Nation auf weltpolitischer Bühne bis zum Werbespruch kleinster Geschäfte am Straßenrand. So soll z.Bsp. die Expo 2010 in Shanghai, laut offiziellen Angaben, viele Weltrekorde geschaffen haben: Sie hat die meisten teilnehmenden Länder, die meisten Pavillons, das größte Gelände, die höchsten Kosten, sowie die höchste Besucherzahl… Auf der Straße schmeißt jedes winzige Bekleidungsgeschäft höchstprahlerische Werbesprüche den Passanten ins Gesicht: Wir haben die neueste Mode, die coolsten Kleidungsstücke in bester Qualität für das wenigste Geld… Und das immer mit einem hässlichen Werbeplakat oder sogar mit Lautsprechern. Die „Sucht“ nach Sensation hat sich sogar in einigen kulturellen Bereichen durchgesetzt. Nehmen wir den chinesischen Pavillon auf der Expo als Beispiel: Der sehr hohe Bau weist eine ziemlich ungewöhnliche, ja fantastische Form auf. Sie kommt nicht von ungefähr, sondern ist eine vergrößerte Darstellung mehrerer „Dougongs“ ( 斗 拱 ) auf vier Säulen. Ein „Dougong“ ist ein Bauelement der traditionellen chinesischen Holzarchitektur, welches sich durch das Ineinandergreifen (im Grunde) zweier Arten von Bauteilen kennzeichnet, nämlich „Dou“ und „Gong“. Es befindet sich zwischen der Säule und den Balken und dient dazu, die Last des Daches sowie anderer horizontaler Bauteile auf die Säule abzuleiten, da die Wände der traditionellen chinesischen Holzbauten keine Lasttragende, sondern nur Raumbildende Funktion haben. Ein mehrfach kombiniertes Dougong ermöglicht zudem die Verlängerung des Daches, sodass dies weit über die Wände hinaus reichen kann. Auf diese Weise erhält der Bau einen großräumigen, vornehmen Eindruck und die Wände werden vom Regenwasser geschont. Zudem hat „Dougong“ die Eigenschaft, die Energie eines Erdbebens in sich aufzunehmen und dadurch den Bau eventuell vor dem Einstürzen zu schützen, weil Dou und Gong, beides aus Holz, aufeinander gelegt sind und Dougong dadurch elastisch ist. Eine andere symbolische Bedeutung des Baus besteht in seiner äußerlichen Ähnlichkeit mit dem chinesischen Schriftzeichen „ 華 “ (wie „hua“ ausgesprochen), dieses Zeichen steht symbolisch für das chinesische Volk und die chinesische Kultur, ja für fast alles, was mit Chinas „Ursprung“ konnotiert ist. 6
  • 7. Diese Tendenz oder „Machart“ der kulturellen Selbstbetrachtung bereitet mir Besorgnis und Nachdenken. Denn die Suche nach nur einem oder ein paar wenigen Symbolen führt, meines Erachtens, unausweichlich dazu, die kulturelle Vielfältigkeit zu unterdrücken. Wie kann man die chinesische Kultur, die älteste noch lebende Hochkultur, die ein gigantisches geographisches und ethnisches Gebiet umfasst, in ein oder zwei Symbole „verpacken“? Wie viel Kleines aber Feines muss man ignorieren, um sich ganz dem „Großen“ und „Wunderbaren“ zu widmen? Außerdem sind kulturelle Symbole häufig von herrschenden Schichten ausgesucht und gezüchtet, d. h., mit politischer Manipulation engst verwandt. chinesischer Pavillon auf der Expo Aber auch rein ästhetisch wird der chinesische Pavillon vom Volk viel kritisiert. Er ist nichts anderes als eine viel tausend fache Vergrößerung eines Bauteiles und wirkt plump und schwer. Außerdem ist die seltsame Form völlig unverständlich für Beschauer, die sich nicht mit chinesischer Architektur näher auseinander gesetzt haben. Das Volk pflegt zu sagen, dass diese und ähnliche Entscheidungen nicht von Intellektuellen, sondern von unintelligenten Politikern getroffen wurden. 7
  • 8. Dougong in Dachecke, von unten gesehen 8
  • 9. isometrische Darstellung eines Dougongs Ein anderes Beispiel ist das Shanghai-Museum für chinesische Kunst. Die Architektur weist kreisrunde Oberteile sowie quadratische Unterteile auf und sollte das alte chinesische Weltbild symbolisieren: Der runde Himmel wölbt sich über die flache, scheibenförmige Erde. An sich ist das mitten in der Stadt gelegene Museum, das Schätze aus verschiedenen Kunstgattungen wie Tuschemalerei, Kalligraphie, Porzellan, Keramik, Jade, Möbelbau und Siegelkunst zeigt, ein „Muss“ für jeden Besucher in Shanghai. Die meisten großen öffentlichen Museen in China können bei freiem Eintritt besucht werden. Wie soll man das interpretieren? Will der Staat auf diese Weise öffentliche Bildung fördern, oder haben Chinesen nur so wenig Interesse an Museen, 9
  • 10. dass sie diese nur ohne „Geldverlust“ besuchen möchten? Sicher ist, dass man in den Gratismuseen in China den unterschiedlichsten Menschen begegnet – auch Wanderarbeitern, denen man normalerweise nicht unbedingt einen Museumsbesuch zutrauen würde. Entsprechend variiert auch die Art der Kunstbetrachtung von Besucher zu Besucher sehr stark. Manche haken nur die „wichtigsten“ Sachen ab, andere dagegen studieren alles sorgfältig und langwierig. Oft sieht man auch Eltern, die ihren kleinen, ungeduldigen Kindern das eine oder andere Objekt minutenlang erklären. Eine Warnung für Kunstinteressierten: Vor den beiden Eingängen des Shanghai-Museums stehen fast immer lange Schlangen und man muss oft bis zu 45 Minuten lang warten. Also, der Museumsbesuch kostet zwar kein Geld, aber er fordert eine gewisse Fitness und eine Menge Geduld... Shanghai-Museum für Chinesische Kunst So viel sei gesagt in meinem ersten Beicht über China. Es ist schwierig, das gigantische Land „durch die Lupe“ zu betrachten. Daher werhe ich in meinem 10
  • 11. nächsten Bericht versuchen, China „aus der Vogelperspektive“ zu sehen – nämlich China und Chinesen in gewisser Hinsicht zu „charakterisieren“, um einen leichten Überblick über das Land zu geben. 11