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MS-Version. Erschien 2012 in: Diethardt, U., Korbei, L. & Pelinka, B. (Hrsg.). Klientenzentrierte
Psychotherapie - quo vadis? Wien: facultas. S. 63 - 69
Traumarbeit in der Personzentrierten Psychotherapie
Anmerkungen aus der Perspektive Personzentrierter Systemtheorie
Für Wolfgang Keil zum 75. Geburtstag
Jürgen Kriz, Osnabrück
Es ist eines der Verdienste von Wolfgang Keil, auf die Relevanz von Träumen in der Arbeit mit
Klienten (auch) in der Psychotherapie nach dem Personzentrierten Ansatz (PZA) hingewiesen und die
darin enthaltene Potentiale skizziert zu haben (Keil 2002). Leider sind seine Anregungen zu einer
vermehrten Auseinandersetzung mit diesem Thema wenig aufgegriffen worden. Diese Festschrift ist
kein schlechter Anlass, aus der spezifischen Perspektive der „Personzentrierten Systemtheorie“ ( PZS
- Kriz 2004, 2008, 2010) einige Aspekte dazu beizutragen und so Keils Einladung zum Diskurs zu
erneuern.
Gemäß dem zentralen Konzept des PZA sind wesentliche Gründe für leidvolles psychisches und
psychosoziales Geschehen eines Menschen in der Inkongruenz zwischen zwei Prozessstrukturen zu
sehen: Auf der einen Seite geht es um die Strukturen unseres organismischen Lebens und Erlebens.
Auf der der anderen Seite stehen die Strukturen der symbolisierenden Repräsentation dieses Erlebens
im Bewusstsein in Form von bewusstem „Gewahrwerden“. Nur bei der fully functioning person –
einem fiktiven Zielpunkt am Horizont, der zwar die Richtung vorgibt, aber nie erreicht werden kann –
wird der gesamte organismische Lebensprozess, der gewahr werden könnte tatsächlich auch in
angemessener Weise bewusst (wobei z.B. Stoffwechselprozesse in der Leber, kleine Blutergüsse im
Gehirn und viele andere Prozesse mangels Re- und Interozeptoren gar nicht direkt bewusstseinsfähig
sind – höchstens ihre ggf. massiveren Auswirkungen auf andere Prozesse).
Bei realen Personen sind die Bewusstseinsprozesse aufgrund der aktualisierten Strukturen das Selbst
nicht nur Symbolisierungen des eigenen (organismischen) Erlebens. Vielmehr sind sie mehr oder
weniger auch von solchen Beschreibungen und Verstehensweisen der inneren und äußeren Vorgänge
durchsetzt, die dem Menschen – besonders im Laufe der frühkindlichen Entwicklung – von außen
vorgegeben und/oder die mit Zuwendung und Beachtung belohnt wurden. Denn die
Strukturierungsprinzipien, welche die Beziehung zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst
gestalten, sind ja nur in ihren Möglichkeiten angeboren: deren konkrete Aktualisierung findet als
selbstorganisierte Adaptation an die Mitwelt statt. Bewusstsein ist bekanntlich daran gekoppelt, aus
der Position eines anderen auf sich selbst zurückblicken zu können. Und damit werden eben die Sinn-
Perspektiven der Eltern, der Subkulturen und der Gesellschaft als wesentliche Metastrukturen für das
Bewusstsein hoch bedeutsam. Zu solchen Anteilen in den (Er-)Lebensprozessen, die von anderen
unterdrückt und entwertet wurden und/oder die unverstandenen blieben, kann auch keine sinnvolle
Beziehung hergestellt werden. Andererseits können systematische (Fehl-)deutungen des Erlebens
durch signifikante Andere als scheinbar angemessene und sinnvolle Strukturen übernommen werden –
selbst wenn sie den eigenen organismischen Lebensprozessen nicht zuträglich sind.
Dabei sei angemerkt, dass man „Inkongruenz“ je nach typischen Erscheinungsformen und/oder
bedeutsamen Erklärungszusammenhängen in weitere Aspekte analytisch unterteilen kann: Dies ist das
Anliegen störungsspezifischer Ausdifferenzierungen. Ferner sei angesichts aktueller Diskurse betont,
dass mit dem obigen Verweis auf „wesentliche Gründe“ keineswegs die Relevanz weiterer
Bedingungen ignoriert wird – etwa körperliche Gebrechen und Schädigungen, materiell und sozial
beeinträchtigende Bedingungen wie Arbeitsplatzverlust, Gewalt, Schicksalsschläge etc. Sie sind aber
unmittelbar nicht Gegenstand von Psychotherapie - sondern z.B. von Sozialarbeit - und werden daher
erst mittelbar, in ihren Auswirkungsformen auf das Erleben und dessen Symbolisierungen, im Rahmen
von Psychotherapie zum Anliegen
Ein zentraler Aspekt in der PZS – der leider im PZA recht kurz kommt – ist die Stabilisierung von
Selbststrukturen auch und gerade über die kindliche Entwicklung hinaus durch sog. „Sinnattraktoren“:
Damit verweist die PZS auf die für den Menschen wesentliche Tatsache, dass die unfassbare
Komplexität von Reizströmen notwendig zu einer sinnvollen Lebenswelt reduziert werden muss,
damit physisches wie psychisches (Über-)Leben überhaupt möglich wird. So beschreibt auch Friedrich
Cramer, langjähriger Direktor am Göttinger Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, dass die
Prozessen des Lebens, wie der „Proteinbiosynthese bis hinauf zu komplexen biologischen Vorgängen,
ja, sogar bis hin zu den kognitiven Schöpfungen wie Kunst und Ästhetik“, von „Chaosvermeidungs-
strategien“ beherrscht werden. Und er betont: „Ordnung, Formenbildung, Schöpferkraft sind das
Resultat einer inhärenten Chaosvermeidung, im Kosmos wie auch im Leben des einzelnen“ (Cramer
1988: 268). Vor allem die Verwendung von Sprache mit ihren Begriffen, Metaphern und Narrationen,
ihren reifizierenden, grammatikalischen Strukturen, ihren semiotisch-pragmatischen
Verwendungsstrukturen, sorgt dafür, dass wir nicht im Chaos physikalischer Reizfluten untergehen
und auch nicht im immer noch zu komplexen Chaos von sinnlich erfassbaren Einzelmomenten.
Sondern wir reduzieren diese konkret sinnlich erfahrbare Welt auf einen abstrakt-kategoriellen „Sinn“.
Nicht das Einmalige jedes Momentes ist dann wesentlich, sondern das kategoriell Vertraute und
Vorhersagbare.
Wie u.a. in Chaos, Angst und Ordnung (Kriz 1997) ausgeführt, hat dieses beruhigend Vertraute,
Vorhersagbare, Bekannte – das wir daher gerade in den Schlaflieder aller Kulturen finden – eine
tückische zweite Seite: Die Beschreibungswelt droht nämlich zu verkrusten und zu versteinern, da
alles Neue, Kreative und Lebendige immer durch die „Brille“ bekannter Kategorien wahrgenommen
wird. Paartherapeuten hören auf die typische Frage: „Haben Sie eigentlich gehört, was Ihr Partner
gerade gesagt hat?“ ebenso typisch die Antwort: „Oh – nein – aber wie er anfing und mich ansah,
wusste ich sowieso schon, was er sagen würde!“ Dies zeigt nicht nur die Wirkung der Kategorien auf
unserer Beschreibungswelt, sondern auch, wie damit die Erlebenswelt gleichermaßen reduziert wird.
Äußerungen des Partners, oder andere Ereignisse des Lebens, werden dann nur noch als Trigger für
das Abspulen innerer Filme genommen.
Das Konzept des „Sinnattraktors“ in der PZS thematisiert also, wie der Raum aus einer schillernden
Vielfalt unfassbar polysemantischer (Er-)Lebensmomente sich auf eher monosemantische Sinnkerne
zusammenzieht. Zahlreiche polysemantische Momente, in denen uns der Partner begegnet, wird dann
auf: „ach, jetzt hat der wieder schlechte Laune“, oder: „...der erwartet schon wieder…“, oder: „…
immer ist er …“, reduziert und stabilisiert.
Es ist eigentlich erstaunlich, wie stark die semiotischen Stabilisierungswirkungen in den konkret
ausgedrückten Symbolisierungen bei der Kommunikation zwischen Menschen gerade im PZA so
„unterbelichtet“ ist, obwohl es im PZA doch primär um Beziehung und Verstehen geht. Das gilt auch
für die Unterschätzung von sozialen Strukturen - bis hin zu deren Einbettung in kulturelle Muster.
Rogers war wohl zu stark auf das Individuum und dessen Selbststruktur in Relation zum
organismischen Erleben fokussiert, als dass er tieferes Interesse an jenen Prozessen und deren
Strukturen gezeigt hätte, mit denen die Klient-Therapeut-Interaktion in die gesellschaftlichen und
semiotischen Prozesse stabilisierend eingewoben ist. Der „innere Bezugsrahmen“ ist aber immer
schon – weil entwicklungspsychologisch so entstanden – eingewoben in den familiären und
kulturellen Bezugsrahmen (eben mit entsprechenden Begriffen, Metaphern, Narrationen etc.). Und
gerade diese Dynamik zwischen den Prozessebenen ist aus Sicht der PZS bedeutsam.
Klassische Beispiele aus dem Alltag finden sich hierfür in der psychologischen Literatur seit langem:
Unter dem Begriff „funktionelle Gebundenheit“ (Maier 1931) wird z.B. beschrieben, dass
Gegenstände, die für uns eine bestimmte Funktion erlangt haben – sei es durch Vorerfahrung oder
auch nur durch Vorinformation anhand von Skizzen oder Beschreibungen - schwerer für andere
Aufgaben eingesetzt werden können. Mit „situativer Gebundenheit“ bezeichnet man mangelhafte
Transferleistungen von guten Strategien und Lösungen in einen anderen oder neuen Bereich, in dem
man dies „nicht gewohnt“ ist. Oder mit „Rigidität“ den Hang, von einmal gefundenen und
verwendeten Lösungswegen – z.B. Rechenaufgaben, oder Befehlsabfolgen bei der Bedienung von
Handy bzw. Computer – selbst dann abzusehen, wenn es in neuen Konstellationen einfachere Wege
gibt, oder die bisherigen gar nicht mehr funktionieren (Luchins 1942). In allen Fällen handelt es sich
um „Sinnattraktoren“ welche die Komplexität der Situation zwar eine Zeit lang erfolgreich reduziert
und das Leben effizienter gestaltet haben. Doch nun, bei veränderten Bedingungen und neuen, anderen
Aufgaben bleibt man in dieser reduzierten Deutung gefangen. Auch der gesamte Formenkreis
neurotischer Störungen kann so verstanden werden, dass einmal gefundene „Lösungen“ (meist für
belastende, traumatisierende Bedingungen) beibehalten werden, obwohl das Leben inzwischen ganz
andere Entwicklungsaufgaben konstelliert. Übereinstimmend mit den Prinzipien interdisziplinären
Systemtheorie müsste in all diesen Fällen mehr Komplexität, etwas mehr Chaos, ein Zurücktreten von
den „naheliegenden“ Lösungen und Deutungen, zugelassen werden, damit sich Wahrnehmungs-,
Denk- und Fühl, Erfahrungs-, Deutungs- und Handlungsprozesse dann überhaupt neu ordnen können.
Daher kommen neue Einsichten und Lösungen bevorzugt in Situationen, wenn man die kognitiven
Ordnung einmal „loslässt“: beim Einschlafen oder Aufwachen, unter der Dusche, beim Joggen etc.
Dieses notwendige Loslassen von einigen alten Prozessstrukturen, (vorübergehendes) Zulassen von
mehr Komplexität und Chaos – und damit auch von bedrohlicher Instabilität der bisher so stabilen
Deutungen und Lösungen – damit überhaupt neue Sicht-, Denk-, Lösungs-, Verhaltens- und letztlich
Lebensweisen möglich werden, nennt man in der interdisziplinären Systemtheorie übrigens Phasen-
übergang: Dies entspricht dem „stirb und werde!“ von Übergängen zwischen unterschiedlichen
Anforderungsstrukturen im individuellen wie auch interpersonellen Leben (z.B. Kleinkind – Schulkind
– Berufstätiger – Rentner, oder Single- Partner – Eltern – Partner etc.). Deren Bedeutsamkeit wird oft
mit Ritualen und Feierlichkeiten unterstrichen. Und dies entspricht übrigens auch dem Konzept des
„Wachstums“ in der Humanistischen Psychologie (im Gegensatz zum pervertierten „immer mehr!“
des vordergründigen Verständnisses von Wachstum in der Wirtschaft).
Auch der PZA bietet – aus dieser Perspektive betrachtet – eine Komplexitätsanreicherung an, damit
viel zu rigide und enge, überstabile Ordnungsstrukturen in einem „stirb und werde!“ sich an neue Be-
dingungen und Anforderungen adaptieren können, die das Leben inzwischen konstelliert hat. Wobei
angemerkt sei, dass solche Phasenübergänge und Neuorientierungen durch Adaptation inhärenter
Möglichkeiten üblicherweise ohnedies ständig stattfinden. Denn neben den oben genannten Entwick-
lungsaufgaben gibt es ja zahlreiche weitere Veränderungen der Bedingungen im Laufe eines Lebens.
Meist gelingen solche Übergänge aber recht problemlos. Wir haben es in Therapie, Beratung und
Coaching daher nur mit jener hoch selektiven Auswahl zu tun, wo dies eben nicht gelingt.
Die Von Rogers beschriebene Grundhaltung bietet quasi eine Entschleunigung der in die Sinn-
Abstraktion geratenen, viel zu reduzierten Erlebens-, Denk- und Fühl-, Wahrnehmungs- und
Reflexionsprozesse. Genau hinfühlen, hinhören, hinsehen, kleinmaschiges gegenseitiges Ringen um
detailliertes Verstehen dessen, was gerade stattfindet, bringt den reduzierenden abstrakten „Sinn“
wieder zurück in die größere Komplexität sinnlich erfahrbaren Erlebens. Das freilich ist verun-
sichernd, weil nun nicht mehr für alles die allzu schnellen „Standarderklärungen“ und „Standard-
lösungen“ bereit stehen. – Eine Verunsicherung, die nur im Rahmen einer sicheren therapeutischen
Beziehung eingeh- und aushaltbar ist. Wie stark auch bei Therapeuten anderer Ausrichtung die
Bedeutsamkeit dieser Prozessbegleitung inzwischen erkannt worden ist, zeigen aber aktuelle Begriffe
wie z.B. Dezentrierung oder Achtsamkeit.
Da der PZA keine Verbotsschilder aufstellt, sondern eine zentrale Grundhaltung beschreibt, auf
welcher der konkrete Therapeut für einen bestimmten Klienten passungsgerechte Kompetenzen
entfalten kann, ist wohl kaum etwas dagegen einzuwenden, diesen Komplexitätsanreichung durch
genaueres Hinfühlen, Hinsehen etc. dadurch zu fördern, dass neben „reiner“ Sprache (was immer das
genau sein soll) auch andere Wege angeboten werden, um die Begegnung mit der Welt, anderen
Menschen (u.a. dem therapeutischen Gegenüber) und sich selbst besser erfahrbar zu machen. Ähnlich
wie unter der Dusche oder beim Einschlafen und Aufwachen kann so zusätzlich der Macht der Spra-
che entkommen werden - einer Macht, die mit reifizierenden Kategorien und Syntax, mit eingeschlif-
fenen Metaphern und Narrationen, die Vielfalt möglichen Erlebens immer wieder durch die alten „
Sinnattraktoren“ reduziert und stabilisiert und damit kreativ-neue Aspekte des (Er-)Lebens verhindert.
Focusing (Gendlin 1998) ist beispielsweise ein solche Möglichkeit: Durch das explizite Angebot, sich
weniger schnell von den sprachlichen „Sinnattraktoren“ verführen zu lassen, sondern sich auf den
vorsprachlichen Sinn einer „Stimmigkeit“ im Körper als „felt sense“ einzulassen, wird zu einer inten-
siven Begegnung mit sich selbst eingeladen. Diese ist weniger schnell und massiv von der Alltäglich-
keit effektiver Kategorisierungen in ihrer Bedeutungsvielfalt eingeschränkt und wird weniger leicht in
die alten, ausgetretenen Deutungsbahnen gelenkt.
Eine andere Art der Einladung bezieht sich auf den Einsatz künstlerischer Medien. Es ist dies eine
Möglichkeit, „sich“ – d.h. Gefühle und Gedanken, Wertungen und Beziehungen, Ängste und
Erwartungen, Vergangenheits- und Zukunftsperspektiven – durch Tanz, Musik, Malen, etc.
auszudrücken. Zwar haben durchaus viele Menschen in unserer Kultur zunächst Hemmungen und
ziehen sich auf die Abwehr von Unsicherheit („ich bin doch kein Künstler!“) oder auf Klischees
zurück. Und deren Reduktionen können anfänglich vielleicht sogar noch stärker sein als die durch
unsere Alltagssprache. Doch werden diese Vorbehalte erfahrungsgemäß meist schnell überwunden.
Dazu ist allerdings ebenfalls ein sicherer Rahmen notwendig, der über die sichere therapeutische
Beziehung auch noch einen zusätzlichen sicheren und geordneten Rahmen bietet, in dem dann die
„Unordnung“ stattfinden darf. Natalie Rogers (1997) ist beispielsweise eine Therapeutin, die eine
solche Arbeit im Rahmen des PZA anbietet - wenn auch eher praxeologisch elaboriert als theoretisch
fundiert.
Aus Sicht der PZS ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die durch die Systemtheorie mögliche
Differenzierung in Ordnung und Ordner hier zu beachten gilt (Kriz 2004): Wenn jemand z.B. ein Bild
malt, ist (im therapeutischen Kontext) nicht das Bild als solches interessant, d.h. die Ordnung der
Farben und Linien auf dem Papier. Vielmehr geht es um die Ordner, also die Strukturierungsprinzipien
der inneren Prozesse dieses Menschen, die dieses Bild hervorgebracht haben. Denn im Gegensatz zu
den Zufälligkeiten, die der einmaligen Ordnung auf dem Papier ja auch anhaftet, verweisen die
Ordnungsprinzipien auf jene Art und Weise, wie dieser Mensch „in der Welt ist“ d.h. wie er seine
Beziehungen zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst gestaltet. Wobei das Bild im PZA nur
als Fokus für die Einladung dient, auf die (Er)-Lebensprozesse genauer hinzuspüren, hinzusehen und
hinzuhören - im Gegensatz etwa zur psychoanalytischen Kunst-Deutung.
Übrigens ist ja auch ein Kunstwerk dadurch ausgezeichnet, dass es im Betrachter einen artistic
response entfaltet, d.h. eine Erlebensdynamik, die aufgrund ihrer Polyvalenz und Polysemanik viele
Möglichkeiten hat. Diese werden dann, je nach Stimmung und Entwicklung des Betrachters jeweils
anders aktualisiert, was im hier und jetzt stets eine jeweils andere Realität herstellt. Gebrauchskunst,
die oft recht eingängig ist, da sie ja ähnlich wie die Alltagssprache von Klischees und vorgefertigten
Ordnungen lebt, kann dadurch eben auch schnell langweilig werden und zur Reaktion führen: “ach ja,
das kenne ich schon“. Hingegen wird ein gutes Kunstwerk eben nie langweilig, weil es eine
„Begegnung“ ermöglicht und unterstützt – eine Begegnung mit sich selbst. So wie ja auch die
Begegnung mit einem Musikinstrument, auf dem man spielt, oft unbestechlicher zu Ausdruck bringt,
wie man sich gerade wirklich fühlt, als ein oberflächlicher Blick auf die Befindlichkeit aus der
Alltagsperspektive.
Damit haben wir uns nun zur Arbeit mit Träumen vorgearbeitet: Denn unter dieser Perspektive kann
der Traum quasi als eine kreativ künstlerische Produktion des Organismus - ohne Anleitung von außen
- gesehen werden. Der Traum ist eine spezifische Aktualisierung der (Er-)lebensprinzipien des
Klienten. Im Gegensatz zu sprachlichen Konstruktionen ist der Traum weit weniger dem syntaktischen
und semantischen Regelwerk alltagsweltlicher Standardkultur unterworfen oder wird durch reifizie-
rende Kategorien beherrscht. Für Klient und Therapeut kann so sichtbar werden, wie die Beziehung
zum eigenen Erleben aufgenommen und gestaltet wird. Auch wenn vieles der Vorzensur des Ver-
gessens unterworfen ist, bleibt in der Regel noch genug „subversives“ Material, bei dem die eigenen
Bewertungen angeschaut werden können: Was erscheint wie schnell „plausibel“ und „sinnvoll“ – und
warum? Was ist zunächst fremd und unverständlich, berührend, ängstigend, ekelig, peinlich – und wie
wird im Alltag mit solchen inneren Prozessen umgegangen? Erscheinen Strukturgleichheiten zu
aktuellen Problemen, zu Lösungen, zu Wünschen oder zu vermeintlich längst Bekanntem?
Es mag sicherlich hilfreich sein, sich aus Richtungen in denen der Traum schon immer einen großen
Stellenwert in der therapeutischen Arbeit hatte – etwas der Jungschen Analyse oder der Gestalt-
therapie – Anregungen zu holen. Allerdings bedarf es im PZA eigentlich keiner anderen Perspektive:
Wichtig ist, dass der Therapeut (und/oder der Klient) nicht in eine Trance der Traumfiguren und –
inhalte gerät. Vielmehr gilt es, immer bei der Klärung der Beziehung und des Erlebens zu bleiben, um
inkongruentes Geschehen so verstehbar zu machen, dass es ins Selbst integrierbar wird. Aber die
Gefahr einer Figuren-, Problem- und Geschehnis-Trance besteht ja auch in der „normalen“ Arbeit des
PZA. Und ein erfahrener Therapeut hat längst gelernt, sich davon nicht einfangen oder mitreißen zu
lassen. Es geht darum, nicht so sehr auf die semantischen Inhalte zu achten, die die Klient äußert,
sondern stets der Frage nachzugehen: Wie geht es jemandem, der das sagt, was er sagt?
Es ist zu hoffen, dass Wolfgang Keils Plädoyer für eine stärkere konzeptuelle und praktische Entwick-
lung hinsichtlich der Einbeziehung von Träumen in den PZA besser gehört wird. Seine bereits 2002
vorgenommene Zusammenstellung and Analyse wichtiger Aspekte könnte dabei als eine gute Aus-
gangsbasis für entsprechende Diskurse genommen werden. Wenn die hier vorgetragenen Anmerkun-
gen aus der Perspektive der PZS zu einer solchen Belebung der Diskurse beitragen könnte, wäre das
Anliegen dieses kurzen Beitrags zu Ehren von Wolfgang Keils 75. Geburtstag voll erfüllt.
Literatur
Cramer, F. (1988): Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen. Stuttgart: DVA
Gendlin, E.T. (1998): Focusing. Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme. Reinbek:
Rowohlt
Keil, W. W. (2002): Der Traum in der Klientenzentrierten Psychotherapie. In: Keil, Wolfgang W. & Stumm,
Gerhard: Die vielen Gesichter der Personzentrierten Psychotherapie, Wien: Springer, 427-443
Kriz, J. (1997): Chaos, Angst und Ordnung. Wie wir unsere Lebenswelt gestalten. Göttingen: Vandenheock &
Ruprecht
Kriz, J. (2004): Personzentrierte Systemtheorie. Grundfragen und Kernaspekte. In: Schlippe, A.v. & Kriz, W.C.
(Hrsg): Personzentrierung und Systemtheorie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 13 – 67
Kriz, J. (2008): Self-Actualization: Person-Centred Approach and Systems Theory. Ross-on-Wye: PCCS-books,
UK
Kriz, J. (2010): Personzentrierte Systemtheorie. PERSON, 14, 2, S. 99-112
Luchins, A. (1942): Mechanization in problem solving. Psychol.Monogr. 54, Nr. 248.
Maier, R. (1931): Reasoning in humans II. The solution of a problem and its appearance in consciousness.
J.comp.psychol, 12,181-194
Rogers, N. H. (1997): The Creative Connection: Expressive Arts as Healing. Paolo Alto: Science & Behavior
Books.

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  • 1. MS-Version. Erschien 2012 in: Diethardt, U., Korbei, L. & Pelinka, B. (Hrsg.). Klientenzentrierte Psychotherapie - quo vadis? Wien: facultas. S. 63 - 69 Traumarbeit in der Personzentrierten Psychotherapie Anmerkungen aus der Perspektive Personzentrierter Systemtheorie Für Wolfgang Keil zum 75. Geburtstag Jürgen Kriz, Osnabrück Es ist eines der Verdienste von Wolfgang Keil, auf die Relevanz von Träumen in der Arbeit mit Klienten (auch) in der Psychotherapie nach dem Personzentrierten Ansatz (PZA) hingewiesen und die darin enthaltene Potentiale skizziert zu haben (Keil 2002). Leider sind seine Anregungen zu einer vermehrten Auseinandersetzung mit diesem Thema wenig aufgegriffen worden. Diese Festschrift ist kein schlechter Anlass, aus der spezifischen Perspektive der „Personzentrierten Systemtheorie“ ( PZS - Kriz 2004, 2008, 2010) einige Aspekte dazu beizutragen und so Keils Einladung zum Diskurs zu erneuern. Gemäß dem zentralen Konzept des PZA sind wesentliche Gründe für leidvolles psychisches und psychosoziales Geschehen eines Menschen in der Inkongruenz zwischen zwei Prozessstrukturen zu sehen: Auf der einen Seite geht es um die Strukturen unseres organismischen Lebens und Erlebens. Auf der der anderen Seite stehen die Strukturen der symbolisierenden Repräsentation dieses Erlebens im Bewusstsein in Form von bewusstem „Gewahrwerden“. Nur bei der fully functioning person – einem fiktiven Zielpunkt am Horizont, der zwar die Richtung vorgibt, aber nie erreicht werden kann – wird der gesamte organismische Lebensprozess, der gewahr werden könnte tatsächlich auch in angemessener Weise bewusst (wobei z.B. Stoffwechselprozesse in der Leber, kleine Blutergüsse im Gehirn und viele andere Prozesse mangels Re- und Interozeptoren gar nicht direkt bewusstseinsfähig sind – höchstens ihre ggf. massiveren Auswirkungen auf andere Prozesse). Bei realen Personen sind die Bewusstseinsprozesse aufgrund der aktualisierten Strukturen das Selbst nicht nur Symbolisierungen des eigenen (organismischen) Erlebens. Vielmehr sind sie mehr oder weniger auch von solchen Beschreibungen und Verstehensweisen der inneren und äußeren Vorgänge durchsetzt, die dem Menschen – besonders im Laufe der frühkindlichen Entwicklung – von außen vorgegeben und/oder die mit Zuwendung und Beachtung belohnt wurden. Denn die Strukturierungsprinzipien, welche die Beziehung zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst gestalten, sind ja nur in ihren Möglichkeiten angeboren: deren konkrete Aktualisierung findet als selbstorganisierte Adaptation an die Mitwelt statt. Bewusstsein ist bekanntlich daran gekoppelt, aus der Position eines anderen auf sich selbst zurückblicken zu können. Und damit werden eben die Sinn- Perspektiven der Eltern, der Subkulturen und der Gesellschaft als wesentliche Metastrukturen für das Bewusstsein hoch bedeutsam. Zu solchen Anteilen in den (Er-)Lebensprozessen, die von anderen unterdrückt und entwertet wurden und/oder die unverstandenen blieben, kann auch keine sinnvolle Beziehung hergestellt werden. Andererseits können systematische (Fehl-)deutungen des Erlebens durch signifikante Andere als scheinbar angemessene und sinnvolle Strukturen übernommen werden – selbst wenn sie den eigenen organismischen Lebensprozessen nicht zuträglich sind. Dabei sei angemerkt, dass man „Inkongruenz“ je nach typischen Erscheinungsformen und/oder bedeutsamen Erklärungszusammenhängen in weitere Aspekte analytisch unterteilen kann: Dies ist das Anliegen störungsspezifischer Ausdifferenzierungen. Ferner sei angesichts aktueller Diskurse betont, dass mit dem obigen Verweis auf „wesentliche Gründe“ keineswegs die Relevanz weiterer Bedingungen ignoriert wird – etwa körperliche Gebrechen und Schädigungen, materiell und sozial beeinträchtigende Bedingungen wie Arbeitsplatzverlust, Gewalt, Schicksalsschläge etc. Sie sind aber unmittelbar nicht Gegenstand von Psychotherapie - sondern z.B. von Sozialarbeit - und werden daher
  • 2. erst mittelbar, in ihren Auswirkungsformen auf das Erleben und dessen Symbolisierungen, im Rahmen von Psychotherapie zum Anliegen Ein zentraler Aspekt in der PZS – der leider im PZA recht kurz kommt – ist die Stabilisierung von Selbststrukturen auch und gerade über die kindliche Entwicklung hinaus durch sog. „Sinnattraktoren“: Damit verweist die PZS auf die für den Menschen wesentliche Tatsache, dass die unfassbare Komplexität von Reizströmen notwendig zu einer sinnvollen Lebenswelt reduziert werden muss, damit physisches wie psychisches (Über-)Leben überhaupt möglich wird. So beschreibt auch Friedrich Cramer, langjähriger Direktor am Göttinger Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, dass die Prozessen des Lebens, wie der „Proteinbiosynthese bis hinauf zu komplexen biologischen Vorgängen, ja, sogar bis hin zu den kognitiven Schöpfungen wie Kunst und Ästhetik“, von „Chaosvermeidungs- strategien“ beherrscht werden. Und er betont: „Ordnung, Formenbildung, Schöpferkraft sind das Resultat einer inhärenten Chaosvermeidung, im Kosmos wie auch im Leben des einzelnen“ (Cramer 1988: 268). Vor allem die Verwendung von Sprache mit ihren Begriffen, Metaphern und Narrationen, ihren reifizierenden, grammatikalischen Strukturen, ihren semiotisch-pragmatischen Verwendungsstrukturen, sorgt dafür, dass wir nicht im Chaos physikalischer Reizfluten untergehen und auch nicht im immer noch zu komplexen Chaos von sinnlich erfassbaren Einzelmomenten. Sondern wir reduzieren diese konkret sinnlich erfahrbare Welt auf einen abstrakt-kategoriellen „Sinn“. Nicht das Einmalige jedes Momentes ist dann wesentlich, sondern das kategoriell Vertraute und Vorhersagbare. Wie u.a. in Chaos, Angst und Ordnung (Kriz 1997) ausgeführt, hat dieses beruhigend Vertraute, Vorhersagbare, Bekannte – das wir daher gerade in den Schlaflieder aller Kulturen finden – eine tückische zweite Seite: Die Beschreibungswelt droht nämlich zu verkrusten und zu versteinern, da alles Neue, Kreative und Lebendige immer durch die „Brille“ bekannter Kategorien wahrgenommen wird. Paartherapeuten hören auf die typische Frage: „Haben Sie eigentlich gehört, was Ihr Partner gerade gesagt hat?“ ebenso typisch die Antwort: „Oh – nein – aber wie er anfing und mich ansah, wusste ich sowieso schon, was er sagen würde!“ Dies zeigt nicht nur die Wirkung der Kategorien auf unserer Beschreibungswelt, sondern auch, wie damit die Erlebenswelt gleichermaßen reduziert wird. Äußerungen des Partners, oder andere Ereignisse des Lebens, werden dann nur noch als Trigger für das Abspulen innerer Filme genommen. Das Konzept des „Sinnattraktors“ in der PZS thematisiert also, wie der Raum aus einer schillernden Vielfalt unfassbar polysemantischer (Er-)Lebensmomente sich auf eher monosemantische Sinnkerne zusammenzieht. Zahlreiche polysemantische Momente, in denen uns der Partner begegnet, wird dann auf: „ach, jetzt hat der wieder schlechte Laune“, oder: „...der erwartet schon wieder…“, oder: „… immer ist er …“, reduziert und stabilisiert. Es ist eigentlich erstaunlich, wie stark die semiotischen Stabilisierungswirkungen in den konkret ausgedrückten Symbolisierungen bei der Kommunikation zwischen Menschen gerade im PZA so „unterbelichtet“ ist, obwohl es im PZA doch primär um Beziehung und Verstehen geht. Das gilt auch für die Unterschätzung von sozialen Strukturen - bis hin zu deren Einbettung in kulturelle Muster. Rogers war wohl zu stark auf das Individuum und dessen Selbststruktur in Relation zum organismischen Erleben fokussiert, als dass er tieferes Interesse an jenen Prozessen und deren Strukturen gezeigt hätte, mit denen die Klient-Therapeut-Interaktion in die gesellschaftlichen und semiotischen Prozesse stabilisierend eingewoben ist. Der „innere Bezugsrahmen“ ist aber immer schon – weil entwicklungspsychologisch so entstanden – eingewoben in den familiären und kulturellen Bezugsrahmen (eben mit entsprechenden Begriffen, Metaphern, Narrationen etc.). Und gerade diese Dynamik zwischen den Prozessebenen ist aus Sicht der PZS bedeutsam. Klassische Beispiele aus dem Alltag finden sich hierfür in der psychologischen Literatur seit langem: Unter dem Begriff „funktionelle Gebundenheit“ (Maier 1931) wird z.B. beschrieben, dass Gegenstände, die für uns eine bestimmte Funktion erlangt haben – sei es durch Vorerfahrung oder auch nur durch Vorinformation anhand von Skizzen oder Beschreibungen - schwerer für andere Aufgaben eingesetzt werden können. Mit „situativer Gebundenheit“ bezeichnet man mangelhafte Transferleistungen von guten Strategien und Lösungen in einen anderen oder neuen Bereich, in dem man dies „nicht gewohnt“ ist. Oder mit „Rigidität“ den Hang, von einmal gefundenen und verwendeten Lösungswegen – z.B. Rechenaufgaben, oder Befehlsabfolgen bei der Bedienung von Handy bzw. Computer – selbst dann abzusehen, wenn es in neuen Konstellationen einfachere Wege gibt, oder die bisherigen gar nicht mehr funktionieren (Luchins 1942). In allen Fällen handelt es sich
  • 3. um „Sinnattraktoren“ welche die Komplexität der Situation zwar eine Zeit lang erfolgreich reduziert und das Leben effizienter gestaltet haben. Doch nun, bei veränderten Bedingungen und neuen, anderen Aufgaben bleibt man in dieser reduzierten Deutung gefangen. Auch der gesamte Formenkreis neurotischer Störungen kann so verstanden werden, dass einmal gefundene „Lösungen“ (meist für belastende, traumatisierende Bedingungen) beibehalten werden, obwohl das Leben inzwischen ganz andere Entwicklungsaufgaben konstelliert. Übereinstimmend mit den Prinzipien interdisziplinären Systemtheorie müsste in all diesen Fällen mehr Komplexität, etwas mehr Chaos, ein Zurücktreten von den „naheliegenden“ Lösungen und Deutungen, zugelassen werden, damit sich Wahrnehmungs-, Denk- und Fühl, Erfahrungs-, Deutungs- und Handlungsprozesse dann überhaupt neu ordnen können. Daher kommen neue Einsichten und Lösungen bevorzugt in Situationen, wenn man die kognitiven Ordnung einmal „loslässt“: beim Einschlafen oder Aufwachen, unter der Dusche, beim Joggen etc. Dieses notwendige Loslassen von einigen alten Prozessstrukturen, (vorübergehendes) Zulassen von mehr Komplexität und Chaos – und damit auch von bedrohlicher Instabilität der bisher so stabilen Deutungen und Lösungen – damit überhaupt neue Sicht-, Denk-, Lösungs-, Verhaltens- und letztlich Lebensweisen möglich werden, nennt man in der interdisziplinären Systemtheorie übrigens Phasen- übergang: Dies entspricht dem „stirb und werde!“ von Übergängen zwischen unterschiedlichen Anforderungsstrukturen im individuellen wie auch interpersonellen Leben (z.B. Kleinkind – Schulkind – Berufstätiger – Rentner, oder Single- Partner – Eltern – Partner etc.). Deren Bedeutsamkeit wird oft mit Ritualen und Feierlichkeiten unterstrichen. Und dies entspricht übrigens auch dem Konzept des „Wachstums“ in der Humanistischen Psychologie (im Gegensatz zum pervertierten „immer mehr!“ des vordergründigen Verständnisses von Wachstum in der Wirtschaft). Auch der PZA bietet – aus dieser Perspektive betrachtet – eine Komplexitätsanreicherung an, damit viel zu rigide und enge, überstabile Ordnungsstrukturen in einem „stirb und werde!“ sich an neue Be- dingungen und Anforderungen adaptieren können, die das Leben inzwischen konstelliert hat. Wobei angemerkt sei, dass solche Phasenübergänge und Neuorientierungen durch Adaptation inhärenter Möglichkeiten üblicherweise ohnedies ständig stattfinden. Denn neben den oben genannten Entwick- lungsaufgaben gibt es ja zahlreiche weitere Veränderungen der Bedingungen im Laufe eines Lebens. Meist gelingen solche Übergänge aber recht problemlos. Wir haben es in Therapie, Beratung und Coaching daher nur mit jener hoch selektiven Auswahl zu tun, wo dies eben nicht gelingt. Die Von Rogers beschriebene Grundhaltung bietet quasi eine Entschleunigung der in die Sinn- Abstraktion geratenen, viel zu reduzierten Erlebens-, Denk- und Fühl-, Wahrnehmungs- und Reflexionsprozesse. Genau hinfühlen, hinhören, hinsehen, kleinmaschiges gegenseitiges Ringen um detailliertes Verstehen dessen, was gerade stattfindet, bringt den reduzierenden abstrakten „Sinn“ wieder zurück in die größere Komplexität sinnlich erfahrbaren Erlebens. Das freilich ist verun- sichernd, weil nun nicht mehr für alles die allzu schnellen „Standarderklärungen“ und „Standard- lösungen“ bereit stehen. – Eine Verunsicherung, die nur im Rahmen einer sicheren therapeutischen Beziehung eingeh- und aushaltbar ist. Wie stark auch bei Therapeuten anderer Ausrichtung die Bedeutsamkeit dieser Prozessbegleitung inzwischen erkannt worden ist, zeigen aber aktuelle Begriffe wie z.B. Dezentrierung oder Achtsamkeit. Da der PZA keine Verbotsschilder aufstellt, sondern eine zentrale Grundhaltung beschreibt, auf welcher der konkrete Therapeut für einen bestimmten Klienten passungsgerechte Kompetenzen entfalten kann, ist wohl kaum etwas dagegen einzuwenden, diesen Komplexitätsanreichung durch genaueres Hinfühlen, Hinsehen etc. dadurch zu fördern, dass neben „reiner“ Sprache (was immer das genau sein soll) auch andere Wege angeboten werden, um die Begegnung mit der Welt, anderen Menschen (u.a. dem therapeutischen Gegenüber) und sich selbst besser erfahrbar zu machen. Ähnlich wie unter der Dusche oder beim Einschlafen und Aufwachen kann so zusätzlich der Macht der Spra- che entkommen werden - einer Macht, die mit reifizierenden Kategorien und Syntax, mit eingeschlif- fenen Metaphern und Narrationen, die Vielfalt möglichen Erlebens immer wieder durch die alten „ Sinnattraktoren“ reduziert und stabilisiert und damit kreativ-neue Aspekte des (Er-)Lebens verhindert. Focusing (Gendlin 1998) ist beispielsweise ein solche Möglichkeit: Durch das explizite Angebot, sich weniger schnell von den sprachlichen „Sinnattraktoren“ verführen zu lassen, sondern sich auf den vorsprachlichen Sinn einer „Stimmigkeit“ im Körper als „felt sense“ einzulassen, wird zu einer inten- siven Begegnung mit sich selbst eingeladen. Diese ist weniger schnell und massiv von der Alltäglich- keit effektiver Kategorisierungen in ihrer Bedeutungsvielfalt eingeschränkt und wird weniger leicht in die alten, ausgetretenen Deutungsbahnen gelenkt.
  • 4. Eine andere Art der Einladung bezieht sich auf den Einsatz künstlerischer Medien. Es ist dies eine Möglichkeit, „sich“ – d.h. Gefühle und Gedanken, Wertungen und Beziehungen, Ängste und Erwartungen, Vergangenheits- und Zukunftsperspektiven – durch Tanz, Musik, Malen, etc. auszudrücken. Zwar haben durchaus viele Menschen in unserer Kultur zunächst Hemmungen und ziehen sich auf die Abwehr von Unsicherheit („ich bin doch kein Künstler!“) oder auf Klischees zurück. Und deren Reduktionen können anfänglich vielleicht sogar noch stärker sein als die durch unsere Alltagssprache. Doch werden diese Vorbehalte erfahrungsgemäß meist schnell überwunden. Dazu ist allerdings ebenfalls ein sicherer Rahmen notwendig, der über die sichere therapeutische Beziehung auch noch einen zusätzlichen sicheren und geordneten Rahmen bietet, in dem dann die „Unordnung“ stattfinden darf. Natalie Rogers (1997) ist beispielsweise eine Therapeutin, die eine solche Arbeit im Rahmen des PZA anbietet - wenn auch eher praxeologisch elaboriert als theoretisch fundiert. Aus Sicht der PZS ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die durch die Systemtheorie mögliche Differenzierung in Ordnung und Ordner hier zu beachten gilt (Kriz 2004): Wenn jemand z.B. ein Bild malt, ist (im therapeutischen Kontext) nicht das Bild als solches interessant, d.h. die Ordnung der Farben und Linien auf dem Papier. Vielmehr geht es um die Ordner, also die Strukturierungsprinzipien der inneren Prozesse dieses Menschen, die dieses Bild hervorgebracht haben. Denn im Gegensatz zu den Zufälligkeiten, die der einmaligen Ordnung auf dem Papier ja auch anhaftet, verweisen die Ordnungsprinzipien auf jene Art und Weise, wie dieser Mensch „in der Welt ist“ d.h. wie er seine Beziehungen zur Welt, zu anderen Menschen und zu sich selbst gestaltet. Wobei das Bild im PZA nur als Fokus für die Einladung dient, auf die (Er)-Lebensprozesse genauer hinzuspüren, hinzusehen und hinzuhören - im Gegensatz etwa zur psychoanalytischen Kunst-Deutung. Übrigens ist ja auch ein Kunstwerk dadurch ausgezeichnet, dass es im Betrachter einen artistic response entfaltet, d.h. eine Erlebensdynamik, die aufgrund ihrer Polyvalenz und Polysemanik viele Möglichkeiten hat. Diese werden dann, je nach Stimmung und Entwicklung des Betrachters jeweils anders aktualisiert, was im hier und jetzt stets eine jeweils andere Realität herstellt. Gebrauchskunst, die oft recht eingängig ist, da sie ja ähnlich wie die Alltagssprache von Klischees und vorgefertigten Ordnungen lebt, kann dadurch eben auch schnell langweilig werden und zur Reaktion führen: “ach ja, das kenne ich schon“. Hingegen wird ein gutes Kunstwerk eben nie langweilig, weil es eine „Begegnung“ ermöglicht und unterstützt – eine Begegnung mit sich selbst. So wie ja auch die Begegnung mit einem Musikinstrument, auf dem man spielt, oft unbestechlicher zu Ausdruck bringt, wie man sich gerade wirklich fühlt, als ein oberflächlicher Blick auf die Befindlichkeit aus der Alltagsperspektive. Damit haben wir uns nun zur Arbeit mit Träumen vorgearbeitet: Denn unter dieser Perspektive kann der Traum quasi als eine kreativ künstlerische Produktion des Organismus - ohne Anleitung von außen - gesehen werden. Der Traum ist eine spezifische Aktualisierung der (Er-)lebensprinzipien des Klienten. Im Gegensatz zu sprachlichen Konstruktionen ist der Traum weit weniger dem syntaktischen und semantischen Regelwerk alltagsweltlicher Standardkultur unterworfen oder wird durch reifizie- rende Kategorien beherrscht. Für Klient und Therapeut kann so sichtbar werden, wie die Beziehung zum eigenen Erleben aufgenommen und gestaltet wird. Auch wenn vieles der Vorzensur des Ver- gessens unterworfen ist, bleibt in der Regel noch genug „subversives“ Material, bei dem die eigenen Bewertungen angeschaut werden können: Was erscheint wie schnell „plausibel“ und „sinnvoll“ – und warum? Was ist zunächst fremd und unverständlich, berührend, ängstigend, ekelig, peinlich – und wie wird im Alltag mit solchen inneren Prozessen umgegangen? Erscheinen Strukturgleichheiten zu aktuellen Problemen, zu Lösungen, zu Wünschen oder zu vermeintlich längst Bekanntem? Es mag sicherlich hilfreich sein, sich aus Richtungen in denen der Traum schon immer einen großen Stellenwert in der therapeutischen Arbeit hatte – etwas der Jungschen Analyse oder der Gestalt- therapie – Anregungen zu holen. Allerdings bedarf es im PZA eigentlich keiner anderen Perspektive: Wichtig ist, dass der Therapeut (und/oder der Klient) nicht in eine Trance der Traumfiguren und – inhalte gerät. Vielmehr gilt es, immer bei der Klärung der Beziehung und des Erlebens zu bleiben, um inkongruentes Geschehen so verstehbar zu machen, dass es ins Selbst integrierbar wird. Aber die Gefahr einer Figuren-, Problem- und Geschehnis-Trance besteht ja auch in der „normalen“ Arbeit des PZA. Und ein erfahrener Therapeut hat längst gelernt, sich davon nicht einfangen oder mitreißen zu lassen. Es geht darum, nicht so sehr auf die semantischen Inhalte zu achten, die die Klient äußert, sondern stets der Frage nachzugehen: Wie geht es jemandem, der das sagt, was er sagt?
  • 5. Es ist zu hoffen, dass Wolfgang Keils Plädoyer für eine stärkere konzeptuelle und praktische Entwick- lung hinsichtlich der Einbeziehung von Träumen in den PZA besser gehört wird. Seine bereits 2002 vorgenommene Zusammenstellung and Analyse wichtiger Aspekte könnte dabei als eine gute Aus- gangsbasis für entsprechende Diskurse genommen werden. Wenn die hier vorgetragenen Anmerkun- gen aus der Perspektive der PZS zu einer solchen Belebung der Diskurse beitragen könnte, wäre das Anliegen dieses kurzen Beitrags zu Ehren von Wolfgang Keils 75. Geburtstag voll erfüllt. Literatur Cramer, F. (1988): Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen. Stuttgart: DVA Gendlin, E.T. (1998): Focusing. Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme. Reinbek: Rowohlt Keil, W. W. (2002): Der Traum in der Klientenzentrierten Psychotherapie. In: Keil, Wolfgang W. & Stumm, Gerhard: Die vielen Gesichter der Personzentrierten Psychotherapie, Wien: Springer, 427-443 Kriz, J. (1997): Chaos, Angst und Ordnung. Wie wir unsere Lebenswelt gestalten. Göttingen: Vandenheock & Ruprecht Kriz, J. (2004): Personzentrierte Systemtheorie. Grundfragen und Kernaspekte. In: Schlippe, A.v. & Kriz, W.C. (Hrsg): Personzentrierung und Systemtheorie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 13 – 67 Kriz, J. (2008): Self-Actualization: Person-Centred Approach and Systems Theory. Ross-on-Wye: PCCS-books, UK Kriz, J. (2010): Personzentrierte Systemtheorie. PERSON, 14, 2, S. 99-112 Luchins, A. (1942): Mechanization in problem solving. Psychol.Monogr. 54, Nr. 248. Maier, R. (1931): Reasoning in humans II. The solution of a problem and its appearance in consciousness. J.comp.psychol, 12,181-194 Rogers, N. H. (1997): The Creative Connection: Expressive Arts as Healing. Paolo Alto: Science & Behavior Books.