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Familien© K l e t t - C o t t a Ve r l a g , J . G . C o t t a ’s c h e B u c h h a n d l u n g
N a c h f o l g e r G m b H , R o t e b ü h l s t r. 7 7 , 7 0 1 7 8 S t u t t g a r t
Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
Das Interview
Warum die meisten Therapeuten nur durchschnitt-
lich sind (und was wir dagegen tun können)
1
Tony Rousmaniere im Gespräch mit Scott Miller
An diesem Punkt begann ich, nach
einer anderen Erklärung für jene Er
gebnisse zu suchen, welche folgenden
Schluss zuließen: faktisch alles, was
Therapeuten taten, schien trotz aller
Unterschiedlichkeit zu funktionieren,
und zwar unabhängig davon, wie man
die Methoden und Ansätze benannte.
Auf der Suche nach einer Erklärung
hierfür stieß ich wieder auf die Allge
meinen Wirkfaktoren – jene Theorie,
wonach es bestimmte Faktoren gibt,
die von den verschiedenen Methoden
in der Psychotherapie geteilt werden.
Diese gemeinsamen Elemente begüns
tigen einen positiven Therapieverlauf
stärker als solche, die einzig für einen
bestimmten Ansatz oder eine bestimm
te Schule stehen. Mein Kollege Mike
Lambert hatte diese These schon früh
formuliert, aber ich hatte sie als wenig
reizvoll, ja uninteressant verworfen.
Damals dachte ich noch: Das kann
doch nicht stimmen.
Zu dieser Zeit lernte ich Mark Hub
bleundBarryDuncankennen.Gemein
sam haben wir einige Bücher zu die
sem Thema geschrieben, etwa Jenseits
von Babel. In diesem Band argumentie
ren wir gerade nicht, dass Allgemeine
Wirkfaktoren den Weg auf
zeigen, wie man Therapie
macht. Sie sind vielmehr der
Rahmen für Therapeuten, die
unterschiedliche Sprachen
sprechen, um sich zu ver
ständigen und zu begegnen.
Um das Jahr 1999 herum
wurde mir jedoch klar, dass
immer mehr Menschen, ein
schließlich der Mitglieder unseres eige
nen Teams, die Allgemeinen Wirkfak
toren wie ein Modell verwendeten und
sie als Therapiemöglichkeit betrachte
ten. Aber ein Therapiemodell auf der
Grundlage Allgemeiner Wirkfaktoren
ist unlogisch. Die Allgemeinen Wirk
faktoren basieren ja gerade auf allen
Ansätzen. Diese Erkenntnis rief zu
nächst eine gewisse Fassungslosigkeit
hervor und führte zu vielen, auch
schwierigen Diskussionen. Schließlich
vertrat ich dem Team gegenüber die
Ansicht, dass die Art und Weise, wie
Jenseits von Babel
Tony Rousmaniere: Sie haben viel auf
dem Gebiet der Allgemeinen Wirkfakto-
ren geforscht. Können Sie uns erklären,
was Allgemeine Wirkfaktoren sind? Und,
daran anschließend, warum Sie sich in
letzter Zeit anderen Themen zugewandt
haben?
Scott Miller: So altmodisch es klingen
mag – ich bin an der Wahrheit interes
siert. Welche Faktoren sind für eine
wirksame Behandlung entscheidend?
Schon früh habe ich die lösungsorien-
tierte Therapie kennengelernt, mich für
diese Behandlungsmethode
eingesetzt und sie zusammen
mit anderen weiterentwi
ckelt. Gegen Ende meiner Zeit
am »Family Center« in Mil
waukee kamen einige Wis
senschaftler zu uns, die Fol
gendes herausfanden: Das,
was wir machten, war zwar
wirksam, aber eben nicht ef
fektiver als die Methoden irgendeines
anderen Modells oder einer Schule. Für
mich, der ich die Ansicht vertrat, dass
lösungsorientierte Arbeit eine höhere
Wirksamkeit bei gleichzeitig geringe
rer Therapiedauer ermöglichte, waren
diese Ergebnisse ein gewaltiger Schock.
Scott Miller, PhD, ist
Mitbegründer des
»Institute for the
Study of Therapeutic
Change«, einer priva-
ten, aus Klinikern und
Wissenschaftlern zu-
sammengesetzten Arbeitsgruppe.
Sie beschäftigt sich mit der Frage, was
bei der Behandlung von psychischen
Störungen und Drogenmissbrauch
»funktioniert«. Scott Miller leitet
Workshops und Ausbildungskurse
und hält weltweit Vorträge. Er hat
zahlreiche Fachartikel verfasst und ist
Co-Autor von The Heart and Soul of
Change: What Works in Therapy, The
Heroic Client: A Revolutionary Way to
Improve Effectiveness through Client-
Directed, Outcome-Informed Therapy
und dem in Kürze erscheinenden
Band What Works in Drug and Alcohol
Treatment.
Tony Rousmaniere,
PsyD, ist Direktor am
»Student Health and
Counseling Center«
der University of
Alaska Fairbanks, wo
er die klinische Aus-
bildung von Doktoranden leitet. Sein
Spezialgebiet ist die Intensive Kurz-
fristige Dynamische Psychotherapie
(ISTDP). Den Schwerpunkt seiner
Forschungsarbeit bilden klinisch-
praktische Supervision und Ausbil-
dung.
1
Zuerst veröffentlicht in Psychotherapy.net,
http://www.psychotherapy.net/inter
view/scott-miller-interview. Übersetzt und
abgedruckt mit freundlicher Genehmigung
der Herausgeber. Aus dem Amerikanischen
von Angelika Engberding, Heidelberg.
Alle Ansätze
sind gleichwer-
tig. Suchen Sie
sich deshalb
einenaus, der
Ihnen und
IhremPatienten
zusagt
2. 161dynamik
Familien © K l e t t - C o t t a Ve r l a g , J . G . C o t t a ’s c h e B u c h h a n d l u n g
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
Therapeuten arbeiten, keinen großen
Unterschied mache. Entscheidend sei
vielmehr, ob die Therapie zwischen ei
nem bestimmten Patienten und einem
bestimmten Therapeuten zu einer be
stimmten Zeit funktioniere. Mike Lam
bert forschte bereits in diese Richtung
und meinte: »Wir können das messen.
Lass uns das herausfinden. Wen küm
mert es, welches Modell du anwen
dest? Wichtig ist, dass es für den Pati
enten stimmig ist und ihm hilft.« So
fingen wir an, Daten zu erheben. Sehr
schnell stellten wir fest, dass einige
Therapeuten erfolgreicher arbeiten als
andere.
Seit ungefähr 2004 untersuchen
Mark Hubble und andere am »Interna
tional Center for Clinical Excellence«
(ICCE) die Behandlungsmuster von
sehr erfolgreich arbeitenden Therapeu
ten. Im Grunde weiß ich ja, dass die
Allgemeinen Wirkfaktoren ausschlag
gebend sind für eine gelingende Psy
chotherapie. Doch eine Erklärung,
weshalb etwas wirkt, unterscheidet
sich von einer Strategie. Ich denke,
dass die Allgemeinen Wirkfaktoren
niemals als Strategie dienen können.
Alle Ansätze sind gleichwertig. Suchen
Sie sich deshalb einen aus, der Ihnen
und Ihrem Patienten zusagt.
Der Gesang der Sirenen
Tony Rousmaniere: Mithilfe der Allge-
meinen Wirkfaktoren kann man also die
Wirksamkeit von Psychotherapien unter-
suchen; sie bieten aber keine Möglich-
keit, ein Modell zu implementieren?
Scott Miller: Es ist per Definition un
möglich, ein Modell aus den Allgemei
nen Wirkfaktoren abzuleiten, weil es
dann eben nicht mehr allgemein, son
dern spezifisch wäre. Ich sage keines
wegs, dass Allgemeine Wirkfaktoren
keine Rolle spielen, aber sie führen in
eine therapeutische Sackgasse. Sie hel
fen Therapeuten nicht bei der Arbeit,
denn diese brauchen nach wie vor eine
Behandlungsmethode. Die Allgemei
nen Wirkfaktoren sind aber keine Me
thode. Warum nicht? Sind die Daten
erhoben und die Methoden in einer
randomisierten kontrollierten Studie
verglichen worden, so ergibt sich für
alle Behandlungsansätze die gleiche
Wirksamkeit. Man braucht also immer
noch eine Form, um die Allgemeinen
Wirkfaktoren zu operationalisieren.
Und warum sollten wir ein neues
therapeutisches Verfahren erfinden,
wenn wir bereits 400 unterschiedliche
Therapieansätze haben? Manchmal
kommt es mir so vor, als müsste auf
unserem Gebiet jeder sein eigenes
Süppchen kochen. Ein verheißungs
volles neues Modell ähnelt
dem Gesang der Sirenen, so
dass es Therapeuten schwer
fällt, das eigene Schiff nicht
dorthin zu steuern. Ich bin
der Auffassung, dass ein The
rapeut sich einen aus den
400 bestehenden Ansätzen,
der ihm geeignet erscheint, auswählen
sollte. Dann sollte er sorgfältig prüfen,
ob er auch seinem Patienten guttut.
Wenn nicht, ist es an der Zeit, dass sich
der Therapeut ändert – und nicht der
Patient.
Tony Rousmaniere: In der Zeitschrift
Psychotherapy haben Sie einen Beitrag
veröffentlicht, in dem Sie drei Schlüssel
benennen, mit deren Hilfe Therapeuten
ihre Arbeit erfolgreicher gestalten kön-
nen. Ihr Hauptaugenmerk scheint nun
darauf zu liegen, wie Therapeuten ihre
Arbeit mit jedem einzelnen Patienten
verbessern können. Könnten Sie diese
drei Schlüssel beschreiben?
Scott Miller: Der erste Schlüssel be
steht darin, seine Ausgangssituation zu
prüfen. Man kann seine Arbeit nur ver
bessern, wenn man weiß, wie gut man
sie tatsächlich macht. Wir Therapeuten
denken, dass wir das wissen. Aber die
erhobenen Daten zeigen, dass wir un
sere Wirksamkeit generell um 65 Pro
zent überschätzen. Man sollte also als
Erstes wissen, wie effektiv man unterm
Strich ist. Das heißt, dass man irgendei
ne Art von Messmethode haben sollte,
um die Wirksamkeit der Arbeit mit den
Patienten im Laufe der Zeit zu über
prüfen.
Der zweite Schlüssel ist ein wohl
durchdachtes Feedback. Wenn man
einmal weiß, wie wirksam die eigene
Arbeit ist, dann ist es an der Zeit für
Coaching und Feedback. Diese kann
man auf zweierlei Weisen bekommen.
Zum einen kann man genau dieselben
Messmethoden verwenden, die man
angewendet hat, um selbst die eigene
Wirksamkeit zu ermitteln. So kann
man ein Feedback von den einzelnen
Patienten bekommen. Vor allem geht
es darum zu sehen, wann man tatsäch
lich hilfreich ist und wann nicht. Die
gewonnenen Erkenntnisse
kann man dazu nutzen, den
Therapieverlauf für einen be
stimmten Patienten zu modi
fizieren. Zum anderen kann
man ein Feedback von jeman
dem erbitten, dessen Arbeit
man schätzt und der bzw. die
etwas breiter qualifiziert ist als man
selbst. Man kann ihn oder sie bitten,
insbesondere jene Fälle zu kommentie
ren, bei denen die eigene Arbeit nicht
zufriedenstellend verlaufen ist. Man
sucht also nach Mustern im eigenen
Material, wann man nicht besonders
hilfreich gewesen ist, und hält nach
jemandem Ausschau, der ein guter
Coach sein könnte. Es ist wie beim Gol
fen: Wenn man einmal weiß, welches
Handicap man hat, kann man einen
Coach anheuern, der gute Verbesse
rungsvorschläge macht. Es geht also
nicht darum, den gesamten Arbeitsstil
umzukrempeln oder einen ganz neuen
Behandlungsansatz zu erlernen. Im
Grunde geht es darum, die eigenen
Fertigkeiten auf die nächste Leistungs
stufe zu heben.
Der dritte Schlüssel ist bewusstes
Üben. Das Schlüsselwort ist hier »be
wusst«. Wir alle üben. Wir gehen näm
lich zur Arbeit. Es stellt sich allerdings
heraus, dass die Anzahl der Stunden,
die wir bei der Arbeit verbringen, kein
guter Prädiktor für die Wirksamkeit ei
ner Behandlung ist. Es geht darum, die
Generell über-
schätzen wir
Therapeuten
unsere Wirk-
samkeit um
65 Prozent
3. 162 dynamik
Familien© K l e t t - C o t t a Ve r l a g , J . G . C o t t a ’s c h e B u c h h a n d l u n g
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
Grenze des Bereiches, in dem man ak
tuell zuverlässig Leistung erbringt, zu
markieren. Mit anderen Worten: An
welcher Stelle machen Sie Ihre Arbeit
nicht ganz so gut? Und dann
sollten Sie einen Plan entwi
ckeln, wie Sie sich die nötigen
Fähigkeiten aneignen kön
nen, um besser zu werden.
Diese Fertigkeiten gilt es ein
zuüben und anzuwenden.
Dann können Sie Ihre Arbeit
erneut überprüfen, um zu
sehen, ob Sie sich verbessert
haben.
Übrigens habe ich diese
drei Schritte nicht selbst ent
wickelt. Wir haben sie voll
ständig der Performance-Literatur ent
nommen, insbesondere den Arbeiten
von Anders Ericsson, die in der Ausbil
dung von Piloten, im Schachtraining,
in der Ausbildung von Programmie
rern, Chirurgen etc. Anwendung ge
funden haben. Sollten wir irgendeinen
Anspruch auf Ruhm haben, so deshalb,
weil wir die Erkenntnisse zum ersten
Mal auf das Gebiet der Psychotherapie
übertragen haben.
Tony Rousmaniere: Eine meiner ersten
Reaktionen auf Ihre Ausführungen ist die
Frage: Kommen manche nicht einfach als
die besseren Therapeuten auf die Welt?
Scott Miller: Ericsson hat herausgefun
den, dass die Suche nach genetischen
Faktoren, die man als ausschlaggebend
für die Leistung herausragender Indi
viduen betrachtete, überraschender
weise nicht erfolgreich war. Im Sport
denken wir oft: »Hier spielen geneti
sche Aspekte eine Rolle«, oder wir
sagen: »Ihm wurde die Musik in die
Wiegegelegt«. Es wurde jedoch nach
gewiesen, dass bei praktisch nieman
dem, den die Forscher auf genetische
Disposition untersuchten, diese für den
Erfolg ausschlaggebend war. Selbst
Mozart spielte 17 Jahre lang Klavier,
bevor er mit ungefähr 21 Jahren etwas
komponierte, das einzigartig war. Er
begann mit vier Jahren, Klavier zu
spielen. Sein Vater übte schon als Baby
Tonleitern mit ihm. Wenn man also
einmal die Komponente »Übung« au
ßer Acht lässt, lässt sich kein Beleg für
die entscheidende Bedeutung
genetischer Faktoren finden –
von sehr wenigen Ausnah
men abgesehen.
Beim Boxen zum Beispiel
scheint es so zu sein, dass
die Sportler mit einer etwas
größeren Reichweite einen
leichten Vorteil haben. Beim
Baseball wiederum ist es so:
Fangen Werfer in einem be
stimmten Alter nicht an zu
üben, entwickeln sich ihre
Arme nicht entsprechend,
um den Ball so schnell und präzise zu
werfen, wie dies professionelle Pitcher
können.
In einer weiteren Studie wurden so
ziale Kompetenzen untersucht. Oft ist
ja zu hören, dass gute Therapeuten –
zusätzlich zu ihrer genetischen Dispo
sition – »einfach nur besonders ausge
prägte soziale Kompetenzen haben«.
Im Rahmen der Studie konnte dies al
lerdings nicht nachgewiesen werden.
Der Grund hierfür ist, dass diese Art
von Ideen ein zu hohes oder zu all
gemeines Abstraktionsniveau hat. Der
eigentliche Unterschied zwischen den
besten Therapeuten und den übrigen
besteht darin, dass die besten ein tiefe
res fachspezifisches Wissen besitzen.
Sie haben eine höchst kontextualisierte,
breite Wissensbasis, auf die sie bei ent
sprechenden Anhaltspunkten aus dem
Kontext gut zugreifen können.
Kontextualisierte,
breite Wissensbasis
Tony Rousmaniere: Könnten Sie uns
ein Beispiel dafür geben, wie sich eine
breite, kontextualisierte Wissensbasis in
einem Behandlungsraum auswirkt?
Scott Miller: Das klassische Beispiel –
ich sage das im Spaß – ist der Non-Sui
zid-Vertrag. Oder das Suizid-Präven
tions-Interview. Jemand kommt und
sagt: »Ich werde Selbstmord begehen«.
Und wir antworten: »Haben Sie schon
einen Plan? Haben Sie das schon jemals
zuvor versucht?« Bla, bla, bla. Das ist
dekontextualisiertes Wissen. Sie könn
ten diese Fragen auch einem Stock
stellen.
Ein Top-Therapeut stellt solche Fra
gen anders, nuancierter, abhängig vom
Auftreten des Patienten. Aufgrund sei
nes komplexeren und gut organisier
ten Wissens ist es ihm möglich, Ver
haltensmuster zu erkennen, die uns
Übrigen entgehen und auf die wir auf
eine sehr viel unspezifischere Art re
agieren. Die eigentliche Frage ist also:
Wie kann man Therapeuten helfen,
diese kontextualisierte, breite Wissens
basis zu erlangen? Wenn man einmal
darüber verfügt, kann man dieses Wis
sen nicht nur im entscheidenden Mo
ment abrufen, sondern auch auf einzig
artige Weise Verbindungen herstellen
und diese therapeutisch nutzen. Dies
käme einem durchschnittlichen Thera
peuten niemals in den Sinn – und wenn
er solche Verbindungen fände, dann
höchstens zufällig.
Tony Rousmaniere: Was Sie sagen, legt
nahe, dass Behandlungsmanuale nicht
unbedingt der beste Weg sind, Therapeu-
ten zu schulen.
Scott Miller: Wir wissen, dass die Be
handlung nach einem Manual weder
eine bessere Wirksamkeit garantiert
noch die Variabilität der Therapeuten,
die ein und dasselbe Manual benutzen,
reduziert. Es zeigen sich nach wie vor
viele unterschiedliche Behandlungser
gebnisse, auch wenn jeder von ihnen
nach derselben Methode behandelt.
Außerdem glaube ich, dass es ent
scheidend ist, dass Therapeuten einen
bestimmten Ansatz kennenlernen und,
zumindest am Anfang, daran festhal
ten. Warum? Wenn Sie zu früh begin
nen, Ihre Methode zu variieren, redu
zieren sich Ihre Möglichkeiten, Ihre
Leistung später zu verbessern. Ein
Beispiel: Ich bekam Unterricht in klas
sischer Gitarre bei einem hochinter
essanten Lehrer. Die ganze erste Unter
Was unterschei-
det die besten
Therapeuten
von den übri-
gen? Sie haben
ein tieferes
fachspezifisches
Wissen und
eine höchst
kontextuali
sierte, breite
Wissensbasis
4. 163dynamik
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
richtsstunde verbrachten wir damit,
dass er mich anhielt, den Gitarrenhals
mit meiner linken Hand zu greifen –
und das als Rechtshänder. Er sagte:
»Wenn du versuchst, deinen Griff von
Anfang an zu variieren, wirst du später
nie die gleichen Möglichkeiten haben,
dein Spiel bewusst flexibel zu gestal
ten. Deshalb ist es wichtig, mit einer
Grundhaltung zu beginnen.« Ich glau
be, dass Therapeuten häufig auf eine
hochkomplexe, nuancierte Weise be
ginnen und in ihre Arbeitsweise will
kürlich Variationen einführen – ohne
groß darüber nachzudenken.
Tony Rousmaniere: Es wäre also bes-
ser, mit einem festen Rahmen oder einer
Struktur zu beginnen, die eine stabile
Grundlage schafft, und kontextualisiertes
Wissen später zu erwerben.
Scott Miller: Und die Arbeit in einer
Weise zu variieren, die es erlaubt, die
Wirkung eines neuen Elementes ge
genüber dem, was jemand normaler
weise macht, zu überprüfen. Das ist
der Schlüssel. Andernfalls hat man
eine Trickkiste. Man kann alle Tricks
anwenden, aber dann gibt es keinen
Zusammenhang, und man kann nicht
erklären, warum man hier die Arbeit
verändert hat, dort aber nicht.
Tony Rousmaniere: Es ist also nicht un-
bedingt eine schlechte Idee, mit einem
Manual zu beginnen.
Scott Miller: Keineswegs. Ich würde
sogar vorschlagen: Nehmen Sie sich
ein Handbuch, und machen Sie dort
eine Ausbildung, wo ein spezifischer
Ansatz gelehrt wird, der es Ihnen er
möglicht zu üben. Auch ist es gut, an
dere durch einen Einwegspiegel zu be
obachten. Wenn Sie die Grundlagen
erst einmal »draufhaben«, können Sie
selbstständig eigene Variationen ein
führen.
Tony Rousmaniere: Ich höre Therapeu-
ten sagen: »Ich habe zwanzig, dreißig
Jahre Erfahrung«. Geht aus der Forschung
hervor, dass Erfahrung an sich jemanden
besser macht?
Scott Miller: Nein. Wir kennen das
nicht nur aus der Therapie, sondern
von vielen Dingen. Wenn Sie genauer
darüber nachdenken, verstehen Sie
auch, warum das so ist. Steckt jemand
mitten in der Arbeit, hat er nicht genug
Zeit, seine Fehler sorgfältig zu korri
gieren. Wir haben herausgefunden –
und das finde ich sehr schockierend –,
dass der Unterschied zwischen den
Besten und den Übrigen darin besteht,
was sie tun, bevor sie einen Patienten
behandeln und nachdem sie ihn behan
delt haben. Es geht also nicht darum,
was sie während der Therapiestunde
tun. Ich möchte das anhand eines
Beispielsaus dem Eiskunstlaufen ver
anschaulichen. Wenn Sie einen Welt
meister im Eiskunstlaufen be
obachten, der gerade eine
goldmedaillenwürdige Vor
stellung zeigt, können Sie be
schreiben, was er gemacht
hat. Doch das verrät Ihnen
noch lange nicht, wie Sie
selbst solche Fertigkeiten er
langen können. Um eine sol
che Leistung zu erbringen,
muss der Eiskunstläufer et
was tun, bevor er auf das Eis
geht und nachdem er das Eis
verlassen hat. Das ist die Zeit, die ihn
eine solch überragende Leistung erzie
len lässt. Man kann aufs Eis gehen und
versuchen, so viele Dreifach-Axel zu
springen, wie man will. Das allein wird
einen nicht besser machen. Man muss
planen, üben, ausführen und danach
das eigene Tun reflektieren. Die meis
ten von uns sehen nicht die Anstren
gung, die in dieser tollen Leistung
steckt. Wir anerkennen nur, wie her
ausragend sie ist.
Tony Rousmaniere: Ich sehe allerdings
einen Unterschied zum Eiskunstlauf,
der die Sache schwierig macht. Wir ver-
suchen, jedem Patienten zu helfen.
Und wenn wir etwas Neues ausprobie-
ren, werden wir unweigerlich Fehler
machen. Und das ist nicht so leicht, weil
wir einen Fehler bei einem echten Men-
schen machen, der uns gerade gegen-
übersitzt.
Scott Miller: Wir alle machen Fehler.
Und die Fehler, die ich meine, sind im
Allgemeinen klein und nicht gravie
rend. Das heißt, Ihre Leistung verbes
sert sich nicht, wenn Sie nur auf grobe
Fehler oder auf Fertigkeiten im Großen
und Ganzen achten. Ihre Leistung wird
besser, wenn Ihre üblicherweise ange
wandten Methoden versagen – wenn
sie nicht fruchten. Entscheidend ist,
dass Sie sich merken, was nicht funkti
oniert hat, darüber nach der Sitzung
nachdenken und einen Plan entwi
ckeln, was Sie anders machen könnten.
Auf diese Weise vollzieht sich Verbes
serung.
Wenn Menschen den von Ihnen ge
nannten Einwand vorbringen, glaube
ich, dass sie denken, dass die
Fehler weit gröber sind als
das, worüber ich spreche.
Wenn Therapeuten sich erst
einmal ihre Grundhaltung er
arbeitet haben, werden die
meisten – vielleicht zu ihrer
Überraschung – feststellen,
dass sie im Hinblick auf ihre
Ergebnisse durchschnittlich
oder leicht unterdurch
schnittlich sind. Es geht nicht
darum, unsere Leistung auf
ein durchschnittliches Niveau zu brin
gen. Es geht darum, sie auf die nächste
Ebene zu heben. Um das zu erreichen,
muss der Blick auf kleine Fehler im
Vorgehen gerichtet werden.
Ein weiteres Beispiel: Auf einer un
serer Konferenzen spielte eine junge
Pianistin. Sie war erst acht Jahre alt und
eine unglaublich begabte Konzertpia
nistin. Sie trug ein sehr schwieriges
Stück vor. Hinterher fragte ich sie, ob
sie irgendwelche Fehler gemacht habe.
Sie sagte: »Natürlich, jede Menge«. Ich
antwortete ihr, dass ich keinen Fehler
gehört hätte, und sie erwiderte: »Das
liegt daran, dass Sie nicht gut sind auf
diesem Gebiet.« Darauf sagte ich: »Und
was machst du jetzt?« Sie sagte: »Die
Sache ist die: Ich habe viele Fehler ge
macht, aber ich kann während des Auf
Entscheidend
ist, sich zu mer-
ken, was nicht
funktioniert hat,
darüber nach
der Sitzung
nachzudenken
und einen Plan
zu entwickeln,
was man anders
machen könnte
5. 164 dynamik
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
tritts nichts daran ändern«. Das sagte
eine Achtjährige. Ich fragte noch ein
mal: »Was machst du also?« Sie ant
wortete: »Ich bemerke die kleinen Feh
ler in meinem Spiel. Ich speichere sie
ab. Mein Lehrer im Publikum hört sie,
und ich konzentriere mich, wenn ich
zwischen den Auftritten übe, ganz dar
auf, sie zu korrigieren.«
Die meisten von uns sind
durchschnittlich
Tony Rousmaniere: Wie viele Thera-
peuten üben wirklich zwischen den
Sitzungen? Ich glaube, sehr wenige.
Was meinen Sie?
Scott Miller: Die meisten von uns
sind durchschnittlich. Und die Hälfte
von uns liegt unter dem Durchschnitt,
stimmt’s? Es üben also nur sehr weni
ge, doch Übung ist das eigentliche
Geheimnis von Kompetenz und Ex
zellenz. Warum betreiben einige Thera
peuten diesen zusätzlichen Aufwand?
Finanziell rechnet sich das jedenfalls
nicht. Ich denke, das wird sich in
Zukunft ändern, aber derzeit ist es
schlichtweg egal, ob du durchschnitt
lich arbeitest, schlecht oder wirklich
gut bist. Die Preise richten sich nach
der erbrachten Dienstleistung.
Tony Rousmaniere: Das ist ein großes
Problem. Ich hoffe, dass sich das in Zu-
kunft ändern wird.
Scott Miller: Ich glaube, die Dinge
geratenhier in Bewegung. In unserem
Bereich wird es so werden wie in an
deren Gebieten, wo die Bezahlung vom
Ergebnis und nicht von der gelieferten
Leistung abhängig ist.
Tony Rousmaniere: Zurück zum Üben.
Therapeuten lesen Bücher und gehen zu
Workshops, aber das ist eine Art passives
Lernen. Was halten Sie davon?
Scott Miller: Das gehört zum Üben
dazu. Darryl Chow, mit dem ich zu
sammengearbeitet habe, hat gerade an
der University of Perth/Australien pro
moviert und seine Doktorarbeit über
dieses Thema geschrieben. Er hat her
ausgefunden, dass die besten Thera
peuten überdurchschnittlich viel Zeit
damit verbringen, Bücher und Fach
artikel zu lesen. Wir wissen auch, dass
die besten Therapeuten mehr Zeit
daraufverwenden, fachtherapeutische
Texte noch einmal zu durchdenken.
Therapeuten suchen oft nach einer
Möglichkeit, wie sie ihre Arbeit verän
dern können, um an einen Patienten,
mit dem sich die Arbeit schwierig
gestaltet, heranzukommen.
Top-Therapeuten tun nicht
nur das, sondern sie verge
wissern sich darüber hinaus
kontinuierlich bestimmter
Grundkenntnisse. So stellen
sie sicher, dass sie diese auch
in ihrer Arbeit berücksichti
gen. Sie verwenden Zeit dar
auf, Fachliteratur zu lesen, die
enorm langweilig sein kann,
aber trotzdem sehr hilfreich
ist. Gerard Eagins »The Skilled Hel
per«, Corey Hammonds Buch über
die Therapeutische Kommunikation –
diese Titel sind Grundlagenliteratur.
Sie erinnern uns an Dinge, die wir in
der Hektik des Alltags mit den vielen
Patienten, die wir jede Woche behan
deln, vergessen.
Tony Rousmaniere: Lesen ist also wich-
tig. Was ist mit Workshops?
Scott Miller: Was Workshops betrifft,
bin ich Zyniker. Einfach, weil ihre übli
che Struktur die Gesetzmäßigkeiten,
die die Forschung in den letzten drei
ßig Jahren über das menschliche Ler
nen herausgefunden hat, missachtet.
Sechs Stunden, ausgesucht von dem
jenigen, der sich weiterbilden muss,
ohne dass seine Fertigkeiten überprüft
würden, ohne dass neue Fertigkeiten
erworben würden, ohne Bewusstsein
für bestimmte Defizite in der Praxis.
Die Forschungsarbeiten von Greg
Neimeyerbefassen sich ein Stück weit
hiermit, und es gibt wirklich keinen
einzigen Beweis dafür, dass unsere
aktuellen Weiterbildungsstandards zu
einer verbesserten Leistung führen.
Tony Rousmaniere: Der Psychothera-
pie-Ausbilder Jon Frederickson lässt
seineStudenten psychotherapeutische
Übungen machen in einer Art von Rol-
lenspiel im Kreis. Entspricht das Ihren
Vorstellungen von einer Übung?
Scott Miller: Das kommt darauf an,
aber es klingt erst einmal gut. Es ist also
keine Übung, in der ein ganzes langes
Spiel gespielt wird, sondern die Leute
üben bestimmte, ganz spezifische Fer
tigkeiten innerhalb einer kurzen thera
peutischen Sequenz. Das deckt sich mit
den Grundsätzen der Erics
son-Forscher. Wenn man ein
erfahrener Profi ist, kann die
Motivation, zu einem CE-
Event zu gehen, sehr ver
schieden sein. Von mir selbst
weiß ich, dass ich oft dankbar
bin für einen freien Tag, an
dem ich mich mit Freunden
treffe. Der eigentliche Inhalt
eines Workshops – ich schä
me mich, das zuzugeben – in
teressiert mich weniger. Die Leistungs
anreize sind einfach allesamt falsch.
Tony Rousmaniere: Das führt uns zu-
rück zu der Frage nach der Motivation.
Scott Miller: Ich glaube nicht, dass
auf unserem Fachgebiet Anreize für so
etwas geschaffen werden. Tatsächlich
kann es passieren, dass man bestraft
wird.
Tony Rousmaniere: Ein starker Anreiz
für mich in meiner eigenen Praxis war
der hohe Prozentsatz an Klienten, die
ihre Therapie abbrachen. Dies motivierte
mich, weiter zu üben. Es kann sein, dass
andere Therapeuten dieses Problem
nicht haben, aber mich motivierte es
gewaltig.
Scott Miller: Wenn Klienten ihre The
rapie abbrechen, kann dies positiv oder
negativ sein. Zum Beispiel reizt unser
derzeitiges System die Therapeuten, zu
jeder verfügbaren und abrechenbaren
Stunde einen Patienten im Sessel zu
haben. Das heißt, es kann für die Thera
peuten auch ein Anreiz sein – und auch
Die besten The-
rapeuten ver-
bringen über-
durchschnittlich
viel Zeit damit,
Bücher und
Fachartikel zu
lesen und diese
zu durch
denken
6. 165dynamik
Familien © K l e t t - C o t t a Ve r l a g , J . G . C o t t a ’s c h e B u c h h a n d l u n g
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Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
dazu gibt es Datenmaterial –, Patienten
zu halten, egal, ob eine Veränderung
stattgefunden hat oder nicht. Das ist es,
was ich meine, wenn ich sage, dass das
Anreizsystem versagt. Es gibt hin und
wieder motivierte Menschen – wie Sie
selbst –, die sich sagen: »Moment mal,
das kann’s doch nicht sein«. Aber das
erfordert ein Maß an Reflexion, das die
meisten von uns als schwierig empfin
den, vor allem dann, wenn wir gute
Ausreden parat haben. In den Augen
dieser Leute brechen Patienten ihre
Therapie ab, weil sie ihre eigenen Prob
leme verleugnen, und nicht deshalb,
weil die Therapeuten selbst etwas
falsch gemacht haben könnten. Man
fügt diese Dinge zusammen, und das
kann eine fatale Kombination sein. Als
diejenigen, die Dienstleistungen emp
fangen und dafür zahlen, müssen wir
einen Schritt zurücktreten und über die
Anreize in unserem aktuellen System
nachdenken. Ich weiß, dass das furcht
bar wirtschaftsorientiert klingt, aber
ich glaube, dass solch eine Orientie
rung für unseren Bereich wichtig ist.
Tony Rousmaniere: Das erscheint mir
sinnvoll. Was ist mit Psychotherapie-
Videos? Videos von Experten, wie sie
psychotherapy.net produziert? Ist das für
Sie eine Übung?
Scott Miller: Ja. Vor allem amAnfang,
wenn Sie feststellen, dass Sie in einem
bestimmten Bereich Unterstützung
brauchen, oder wenn Sie merken, dass
bestimmte Fertigkeiten noch nicht aus
reichend ausgebildet sind. Im Wesent
lichen verbringen Sie oft mehr Zeit
damit, dass Sie »ins Schwimmen kom
men«, anstatt zu reflektieren, was ge
nau abläuft. Dies wäre viel wichtiger.
Tony Rousmaniere: Könnten Sie
weitereBeispiele für gezielte Übungen
nennen?
Scott Miller: Es gibt beispielsweise
die Stopp-Start-Strategie von Darryl
Chow. Und Chris Hall führt zurzeit
eine Studie an der UNC durch, an der
wir beteiligt sind. Bei dieser Studie se
hen Therapeuten kurze Sequenzen ei
nes Videos und müssen dann augen
blicklich auf eine Weise reagieren, die
maximal empathisch, unterstützend
und nicht-distanzierend ist. So werden
die Therapeuten darin ausgebildet,
kompetent mit einigermaßen unkom
plizierten Patienten umzugehen.
Dann kann man den emotionalen
Kontext oder den physischen Kontext,
in welchem die Leistung erbracht wird,
verändern. Etwa sagt der Patient nicht
einfach nur: »Ich bin traurig«. Er droht
damit, auszusteigen oder Suizid zu be
gehen. Das sind Dinge, die schwieriger
sind. Eine Strategie, um damit umzu
gehen, besteht darin, sich Zeit zu neh
men, um außerhalb des Behandlungs
raumes darüber nachzudenken und
spezielle Fälle, die einen herausfor
dern, mit Kollegen oder Beratern zu be
sprechen. Darryl Chow hat in seiner
überaus spannenden Arbeit herausge
funden, dass diejenigen Therapeuten
die besten Ergebnisse erzielen, die in
nerhalb der ersten acht Berufsjahre ca.
sieben Mal mehr Stunden auf diese
Weise verbringen als die Therapeuten,
die qualitativ in den unteren zwei
Drittelnanzusiedeln sind. Sieben Mal
mehr! Jetzt, wo wir das wissen, können
wir entsprechend früh damit beginnen,
dieArbeit so auszurichten. Die schlech
te Nachricht ist: Wenn Sie schon einige
Zeit dabei sind, ist es unmöglich, zu
den Besten aufzuschließen. Wir sind
dafür schlichtweg zu alt. Wir schaffen
es nicht mehr. Der Schlüssel ist, wirk
lich früh zu beginnen und rechtzeitig
etwas zu investieren. Es ist in etwa so,
wie wenn man Ihnen rät, für den Ruhe
stand Rücklagen zu bilden. Nicht in
den letzten fünf Jahren. Nicht in den
ersten fünf Jahren, aber jedes Jahr ein
wenig.
Tony Rousmaniere: Große Sportler ha-
ben den Vorteil, dass ihre Trainer ihnen
Tag für Tag vorgeben, welche Bewegun-
gen sie auszuführen und welche Leistun-
gen sie zu erbringen haben. Ich bin Aus-
bilder hier an der University of Alaska
Fairbanks, am »University Center for
StudentHealth and Counseling«, und ich
wähle die Patienten, die Tag für Tag hier-
her kommen, nicht aus. Das Problem,
das sie zu uns führt, können Angstzu-
stände sein, Depressionen, alle mögli-
chen Erkrankungen. Ich mache also eine
Übung, bei der es – sagen wir – um
Angstzustände geht, aber der Patient, der
hereinkommt, hat eine Depression. Was
tun?
Scott Miller: Im Wesentlichen verlet
zen wir die Grundregel der Basketball-
Trainerlegende John Wooden, d. h. wir
erlauben den Studierenden zu »spie
len«, bevor wir sie »gedrillt« haben.
Und ich muss Ihnen sagen, alle Studen
ten möchten »spielen«, aber es ist wich
tig, sie vorher und währenddessen zu
»drillen«. Erinnern Sie sich an meinen
Musiklehrer: »So halten wir die Gitar
re.« Zunächst spielen wir sehr einfache
Songs, und dann beginnen wir, das
Üben komplexer zu gestalten, wenn
relativ einfache Aufgaben erfolgreich
bewältigt wurden.
Tony Rousmaniere: Sie würden also
eine längere Ausbildungszeit, mehr
Übung und mehr Training empfehlen?
Scott Miller: Ich würde gerne mehr
meisterhaftes Können sehen. Ich gebe
Ihnen ein Beispiel. Möchten Sie, dass
der Pilot auf dem Simulator bei schö
nem Wetter übt, bevor er ein Flugzeug
steuert? Bestimmt erwarten Sie, dass
er auf alle möglichen Komplikationen
vorbereitet ist: »Warte mal, es regnet«,
»Warte mal, es gibt Probleme mit dem
Steuerruder«. Da braucht man kom
plexe Fertigkeiten. Natürlich können
wir den Leuten beibringen, diese als
einmalige Situation zu managen. Dann
werden sie sie aber niemals in ein
zusammenhängendes Methodenpaket
integrieren können. Dieses erleichtert
es ihnen aber, Fertigkeiten schnell aus
dem Gedächtnis abzurufen, wenn sie
sie später einmal brauchen. Wenn es als
etwas Einmaliges, Isoliertes gesehen
wird – »Bei dem Angst-Patienten habe
ich das und das gemacht« –, ist es nicht
in einer organisierten Struktur veran
7. 166 dynamik
Familien© K l e t t - C o t t a Ve r l a g , J . G . C o t t a ’s c h e B u c h h a n d l u n g
N a c h f o l g e r G m b H , R o t e b ü h l s t r. 7 7 , 7 0 1 7 8 S t u t t g a r t
Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
kert und kann umso schlechter abge
rufen werden.
Tony Rousmaniere: Sie möchten also
im Lebenslauf eines Therapeuten nicht
nur konkrete Dienstleistungen sehen,
sondern auch viele Stunden des Übens
und Lernens.
Scott Miller: Oder, noch besser, je
manden, der seine Ergebnisse über
prüft hat, wie Sie selbst das getan ha
ben. Alles, was ich brauche, ist ein
durchschnittlicher Pilot. Ich brauche
nicht den besten der Welt, denn die
meiste Zeit gibt es keine großen Turbu
lenzen. Wenn Sie Ergebnisse vorlegen
können und wenn Sie diese mit mir
überprüfen, werden wir auf jeden Fall
die meisten Fehler finden. Und dann
wünsche ich mir Therapeuten, die ei
nen Plan haben, was ihre berufliche
Weiterentwicklung betrifft. Hier sollte
es darum gehen, über einen langen
Zeitraum hinweg kontinuierlich daran
zu arbeiten, kleine Verbesserungen zu
erreichen.
Tony Rousmaniere: Ich weiß, dass Sie
zur Überprüfung von Resultaten quanti-
tative Ergebnis-Maße empfehlen wie die
»Outcome Rating Scale« oder
den »Outcome Question-
naire«. Ich habe allerdings fest-
gestellt, dass es bestimmte Pa-
tienten gibt, für die quantitative
Maße einfach nicht geeignet zu
sein scheinen. Es gibt einige
Patienten, die die Probleme
zunächst nicht ganz offen dar-
legen. So kann es den Anschein
haben, dass diese sich ver-
schlimmern, obwohl sie sich in
Wirklichkeit verbessern. Kön-
nen Sie über die genannten
Maße hinaus qualitative Methoden oder
andere Methoden empfehlen, um Ergeb-
nisse genau zu erfassen?
Scott Miller: Ihrer Darstellung kann
ich nicht zustimmen. Ich persönlich
sehe das nicht so und würde das Ver
halten der Patienten ganz anders erklä
ren. Ein Beispiel: Wir wissen, dass jedes
Mal, wenn es eine Verschlechterung
der Scores gibt, die Wahrscheinlichkeit
steigt, dass der Patient die Therapie ab
bricht. Dabei ist es egal, ob der Thera
peut denkt oder nicht denkt, dass es ein
gutes Zeichen ist, dass der Patient »in
Kontakt mit der Realität ist und endlich
seine Probleme zulässt« oder die Wirk
lichkeit beim ersten Besuch übertrie
ben dargestellt hat. Die Schlüsselaufga
be besteht in diesem Fall nicht darin zu
sagen: »Es muss eine andere Art des
Messens und Erfassens geben«, son
dern herauszufinden, welche anderen
Fertigkeiten ich in dieser Situation be
nötige, um ein besseres Ergebnis zu er
zielen.
Vertiefen Sie den Ansatz,
den Sie gut kennen
Tony Rousmaniere: Das ist eine neue
Sichtweise – zu schauen, was ich in mei-
ner Arbeit verändern kann, anstatt eine
neue Messmethode zu wählen.
Scott Miller: Nun sehen Sie, warum
ich der Meinung bin, dass in unserem
Fach die Therapeuten ständig versu
chen, das Pferd von hinten aufzuzäu
men. Anstatt gänzlich mit unserer Ar
beit verbunden zu sein, sind wir
dauernd auf der Suche nach
dem Kunstgriff, der uns zu ei
nem herausragenden Thera
peuten machen soll.
Das ist wie bei einem Sän
ger, der den einen Song sucht,
der ihn berühmt machen
wird, anstatt zu lernen, gut
zu singen. Wir gehen ständig
auf Workshops, und was in
diesen Workshops geboten
wird, ist oft sehr elementar,
auch wenn sie »Für Fortge
schrittene« sind. Es ist einfach
so, dass man im psychotherapeuti
schen Bereich keinen Workshop für
Fortgeschrittene mit 100 Personen ver
anstalten kann. Das geht nicht. Der In
halt ist zu abstrakt und zu allgemein.
Vielmehr muss man doch die Arbeit ei
nes Therapeuten anschauen und diese
verfeinern. So bewegen sich Therapeu
ten im Kreis und greifen ständig ir
gendwelche Techniken auf, die sie
dann in einer Art und Weise anwen
den, die unzuverlässig ist. Ihre Ergeb
nisse verbessern sich nicht, nur ihr
Selbstvertrauen wird größer.
Tony Rousmaniere: Anstatt jedes Jahr
eine neue Technik zu erlernen, wäre es
also besser, noch tiefer einzutauchen in
die Methode, die man kennt, vorzugs-
weise zusammen mit einem echten Ex-
perten. Außerdem wäre es gut, wenn
man einzeln oder in einer kleinen Grup-
pe bestimmte Dinge üben und trainieren
würde.
Scott Miller: Wenn man erst einmal
ein gewisses Leistungsniveau erreicht
hat, dann kann man sich meiner An
sicht nach nur dadurch verbessern,
dass man ein Feedback bekommt bzgl.
der eigenen Defizite. Und die unter
scheiden sich von Therapeut zu Thera
peut.
Tony Rousmaniere: Das klingt so,
als befürworteten Sie uneingeschränkt
Videoaufnahme-Sitzungen mit anschlie-
ßender Besprechung und Ähnliches.
Scott Miller: Nicht nur das – ich be
fürworte, mithilfe des Blicks eines
Experten kleine Sequenzen zu bespre
chen. Andernfalls wird die Flut von
Informationen aus dem Video dazu
führen, dass man sich selbst infrage
stellt, was wiederum die eigene Arbeit
beeinträchtigen kann.
Tony Rousmaniere: Was ist mit Live-
Supervisionen?
Scott Miller: Ich habe nichts dagegen,
aber ich denke, es ist ein bisschen wie
mit dem GPS – es kann deine Bewe
gungen in einem Moment korrigieren,
aber man wird GPS-abhängig und man
lernt das Gebiet, in dem man sich be
wegt, nicht kennen. Was man zum Ler
nen braucht, ist Reflexion. Wenn man
nicht reflektiert, kann man nicht ler
nen.
Als ich am »Family Therapy Center«
gearbeitet habe, habe ich erstklassige
Live-Supervisionen erlebt. Ich wurde
augenblicklich von zwei wirklich meis
Anstatt gänzlich
mit unserer Ar-
beit verbunden
zu sein, sind wir
dauernd auf der
Suche nach
dem Kunstgriff,
der uns zu
einemheraus
ragenden
Therapeuten
machen soll
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N a c h f o l g e r G m b H , R o t e b ü h l s t r. 7 7 , 7 0 1 7 8 S t u t t g a r t
Autorenexemplar – nur zur persönlichen Verwendung
terhaften Therapeuten korrigiert. Was
allerdings meiner Ansicht nach einen
wirklichen Unterschied machte, war,
hinter einem Spiegel zu sitzen, ganz
ohne finanzielle Sorgen, zahllose Stun
den lang psychotherapeutische Sitzun
gen zu beobachten und danach darü
ber zu sprechen. »Das wurde gesagt.
Was hättest du sagen können? Wie
kommt es, dass wir das gesagt haben?
Was musst du tun?« Es war eine himm
lische Erfahrung, und infolgedessen
konnte ich die Fähigkeit erwerben, die
ses Modell auf extrem nuancierte und
kontextbezogene Weise anzuwenden.
Und heute, wenn ich es auf meine
Scott-Miller-Art mache und feststelle,
dass ein bestimmter Patient in einem
bestimmten Augenblick nicht bei der
Sache war oder kein Interesse zeigte,
denke ich: »Was hätte ich anderes sa
gen können?« Auf dieser kleinen Mik
roebene – im Gegensatz zu einer gro
ben allgemeinen Ebene – kann ich mich
wahrscheinlich verbessern.
Leute gehen zu Workshops und sa
gen: »Ich hatte einige traumatisierte
Patienten. Vielleicht werde ich mal
EMDR (Eye Movement Desensitization
and Reprocessing) erlernen.«
»Wirklich?« Ich denke nach. »Wis
sen Sie, wie erfolgreich Sie bei der Ar
beit mit diesen Patienten sind?«
»Nein, keine Ahnung.«
»Warum, glauben Sie, müssen Sie
EMDR machen?«
»Es scheint mir interessant zu sein.«
Und ich denke: »Sie sind zum Schei
tern verurteilt.« Nicht, dass mit EMDR
etwas nicht stimmt, aber ehrlich, ich
habe Francine Shapiro praktizieren se
hen, und das sah um einiges anders aus
als das, was manche andere Leute ge
macht haben, denen ich zugeschaut
habe.
Tony Rousmaniere: Das Problem be-
steht darin, dass auf andere Techniken
umgeschaltet wird, anstatt zu versuchen,
bei der Technik, die man gerade anwen-
det, besser zu werden.
Scott Miller: Da sind wir wieder bei
der Suche nach einem Kunstgriff, an
statt darüber nachzudenken, was ich
noch hätte sagen können. Was hätte ich
noch tun können, was bereits zu mei
nem festen Repertoire an Methoden
und Techniken gehört? Oder ich hätte
hilfreiches Feedback von einem ver
trauenswürdigen Mentor bekommen
können.
Tony Rousmaniere: Ich weiß, dass Sie
diese Thesen in der ganzen Welt darle-
gen. Finden Sie Therapeuten, die offen
und empfänglich für diese Ideen sind?
Scott Miller: Ja, durchaus. Ich glaube,
dass es ganz gewiss einige echte Hin
dernisse gibt, die wir überwinden müs
sen; aber trotzdem, ja, ich finde welche.
Tony Rousmaniere: Danke, dass Sie
sich die Zeit genommen haben für dieses
wirklich spannende Gespräch.
Scott Miller: Ich beschäftige mich ein
fach gerne mit diesen Themen. Ich bin
fasziniert davon und voller Hoffnung
in Bezug auf die Richtung, in die die
Forschung geht. Insofern danke ich Ih
nen, dass Sie mir die Möglichkeit zu
diesem Gespräch gegeben haben.
Spiegel-Ei