1. Aufblasbare Möbel aus Weich-PVC Folien
Möglichkeiten der Konservierung und Restaurierung
Diplomarbeit
vorgelegt dem
Institut für Restaurierungs-
und Konservierungswissenschaft
der Fakultät für Kulturwissenschaften
an der Fachhochschule Köln
von: Stephanie Dirks
am: 20. September 2004
3. 3
Eileen Gray auf die Frage hin, ob es ihr missfällt, sich mit Kunststoffen
auseinander zusetzen:
Nein überhaupt nicht. Es muss sein. Ansonsten könnte man sich umbringen.
Wissen Sie, gegen manche modernen Materialien hege ich Zweifel. Zum
Beispiel die aufblasbaren Sessel. Ich war im Pavillion Marsan. Ich habe
einen gesehen, der platt war. Man schaffte es nicht, ihn zu reparieren. Also
hege ich Zweifel.
(in: Connaissance des Arts, no. 258, aôut 1973)
4. 4
Zusammenfassung/Abstract
Weich-PVC Folien, wie sie seit den 1960er Jahren zur Herstellung von zahlreichen
Kunst- Design- und Alltagsgegenständen verwendet wurden, gehören aufgrund
ihrer chemischen Instabilität und geringen Materialstärke mit zu den
empfindlichsten modernen Kunststoffen. Die Auswirkungen von Konsolidierungs-
und Reinigungsmaßnahmen mit lösemittelhaltigen Substanzen auf Weich-PVC
Folien sind nur wenig erforscht, konservatorische Empfehlungen beschränken sich
daher weitestgehend auf eine Optimierung der Aufbewahrungssituation
entsprechender Objekte.
Um sich einem Behandlungskonzept zur Restaurierung von beschädigten
Objekten aus Weich-PVC Folien anzunähern, wurde an einem aufblasbaren Sessel
aus den 1980er Jahren und an neuer Weich-PVC Folie untersucht, inwieweit
Feuchtreinigungsmaßnahmen und Verklebungen, mit in der Restaurierung an
traditionellen Werkstoffen erprobten Materialien, das Alterungsverhalten der
Kunststofffolien unter künstlichen Alterungsbedingungen beeinflussen.
Since the 1960s plasticized PVC films have been widely used for producing art-
and design objects as well as consumer goods. Due to the chemical instability and
minor thickness of films this material must be seen as one of the most sensible
modern plastics.
Little ground work has been done on the effects of cleaning and the use of
adhesives on aged soft PVC objects, conservation treatments focus on optimising
storage conditions.
As a step towards active conservation treatments, this paper will examine the
influence of solvent cleaning and solvent containing adhesives on artificially aged
soft PVC films taken from an inflatable armchair dating from the 1980s and on
one type of new PVC film.
5. 5
Danksagung
Ohne Julia Becker und ihre unermüdlichen und wertvollen Korrekturen würde hier
an dieser Stelle keine Danksagung stehen, daher soll sie auch an erster Stelle
erwähnt werden. Danke Jule.
Danken möchte ich auch meiner Professorin und Erstprüferin Frau Dr. Friederike
Waentig. Eine bessere Betreuung und größere Motivationsleistung ist schwerlich
denkbar – die Zeitplanung werde ich wohl schuldig bleiben.
Thea van Oosten möchte ich besonders für die Einladung nach Gent und natürlich
für die durchgeführten Untersuchungen danken. Die Gespräche am Aeromodeller
und die FTIR Analysen trugen nicht unwesentlich dazu bei, dass diese Arbeit mehr
enthält als ein bisschen Luft.
Danken möchte ich nicht zuletzt auch Irin von Meyer für die wunderbare
Praktikumsbetreuung – die bis zum Diplom andauerte und die hoffentlich damit
auch nicht aufhört. Ohne die zwei Jahre Narrenfreiheit während meines
Vorpraktikums in der Werkstatt des MKG wäre ich heute vermutlich eine
schlechtere Restauratorin.
Meinen Eltern möchte ich für ihre unendliche Geduld und Unterstützung während
meiner gesamten langen Ausbildungszeit danken – wenn man das denn überhaupt
kann.
6. 6
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung/Abstract....................................................................................... 4
Einleitung................................................................................................................... 8
1 Weich-PVC Folien als gestalterisches Mittel ......................................... 10
1.1 Die Designgeschichte des Blow.................................................................. 14
2 Weich-PVC – chemische Struktur und Herstellung ............................. 20
2.1 PVC ............................................................................................................ 20
2.2 Weich-PVC................................................................................................. 22
2.3 Herstellung der Folien ................................................................................ 26
2.4 Alterungsmechanismen von PVC............................................................... 28
3 Restaurierungstheoretische Überlegungen ............................................ 30
3.1 Patina bei Kunststoffen?............................................................................. 30
3.2 Veränderungen an Objekten aus Weich-PVC Folien................................. 34
3.3 Schaden oder Patina?.................................................................................. 36
4 Technische Aspekte bei der Restaurierung gealterter Kunststoffe ..... 40
4.1 Forschungsstand zur Restaurierung von Objekten aus Weich-PVC .......... 40
4.2 Die aktive Restaurierung ............................................................................ 44
4.3 Die präventive Konservierung.................................................................... 47
4.4 Anforderungen an ein Restaurierungsmaterial........................................... 49
4.5 Überlegungen zur Reinigung...................................................................... 50
4.6 Überlegungen zur Klebung......................................................................... 54
4.6.1 Derzeitige Reparaturmöglichkeiten und ihre Bewertung unter
konservatorischen Gesichtspunkten ........................................................... 57
4.6.2 Vor- und Nachteile einer Klebung beschädigter Möbel aus Weich-
PVC Folie. .................................................................................................. 60
5 Versuchsteil............................................................................................... 62
5.1 Teil 1 – Die künstliche Alterung polymerer Materialien ........................... 65
5.1.1 Überlegungen zur künstlichen Alterung von Weich-PVC Proben 67
5.2 Teil 2 – Versuche zur Reinigung von Weich-PVC Folien......................... 69
5.2.1 Ausgewählte Reinigungsmittel und ihre Anwendung................... 69
5.2.2 Erste Auswertung der Reinigungsversuche................................... 70
5.2.3 Die Anwendung von Lösemittelgelen........................................... 71
5.2.4 Auswertung der Reinigung mit Lösemittelgelen........................... 73
7. 7
5.2.5 Auswertung der Ergebnisse der thermischen Alterung ................. 74
5.2.6 Zusammenfassung ......................................................................... 78
5.3 Teil 3 – Versuche zur Verklebung von Weich-PVC Folien....................... 80
5.3.1 Vorüberlegungen zur Auswahl der Klebematerialien ................... 80
5.3.2 Ausgewählte Klebstoffe ................................................................ 82
5.3.3 Versuchsreihe zur Verklebung ...................................................... 84
5.3.4 Bewertung der Klebeverbindungen nach der Trocknung.............. 85
5.3.5 Praktische Versuche zur Verklebung ............................................ 85
5.3.6 Alterung der Klebeversuche.......................................................... 86
5.3.7 Zusammenfassung ......................................................................... 87
5.4 Teil 4 – Auswertung der künstlichen Alterung .......................................... 88
5.4.1 Dimensionsveränderungen bei der künstlichen Alterung.............. 88
5.4.2 Tests zur Biegesteifigkeit .............................................................. 89
5.4.3 Beurteilung der künstlichen Alterung ........................................... 89
6 Resümee und Ausblick............................................................................. 91
7 Verzeichnisse............................................................................................. 94
7.1 Literaturverzeichnis.................................................................................... 94
7.2 Zitierte Internetseiten.................................................................................. 97
7.3 Abbildungsverzeichnis ............................................................................... 99
8 Anhang.....................................................Fehler! Textmarke nicht definiert.
8.1 Bildtafeln ..............................................Fehler! Textmarke nicht definiert.
8.2 Diagramme ...........................................Fehler! Textmarke nicht definiert.
8.3 Tabellen ................................................Fehler! Textmarke nicht definiert.
8.4 Analysebericht......................................Fehler! Textmarke nicht definiert.
8.5 Verwendete Materialien .......................Fehler! Textmarke nicht definiert.
8.6 Produktdatenblätter...............................Fehler! Textmarke nicht definiert.
8.7 Ausdrucke zitierter Internetseiten.........Fehler! Textmarke nicht definiert.
8. 8
Einleitung
Im Zentrum dieser Arbeit stand zu Beginn die Idee, Behandlungskonzepte für
beschädigte und verschmutzte aufblasbare Möbel aus Weich-PVC Folien zu
entwickeln. Die zu untersuchende Objektgruppe wurde eingegrenzt auf einen
Designentwurf des italienischen Studio DDL aus den sechziger Jahren des 20.
Jahrhunderts, dem so bezeichneten Blow Chair. Dieser Entwurf von 1967 gilt als
das erste in Serie produzierte aufblasbare Möbel und er war ein großer
kommerzieller Erfolg für die ausführende Firma Zanotta. Die Produktion wurde
bereits 1969 wieder eingestellt, jedoch entschied sich Zanotta 1988 aufgrund des
steigenden Interesses am Design der sechziger Jahre zu einer Re-Edition dieses
inzwischen zum Designklassiker ernannten Sitzmöbels. Da sich nur wenige
Originale der ersten Produktionsserie erhalten haben, befinden sich heute
stellvertretend auch zahlreiche Sessel der Re-Edition in den Sammlungen, darunter
zahlreiche beschädigte Objekte, die nicht mehr ausstellungsfähig sind.
Der Umgang mit beschädigten oder verschmutzten aufblasbaren Möbeln und
Objekten aus Weich-PVC stellt den Restaurator jedoch vor zahlreiche
Schwierigkeiten. Besonders die ehemals genutzten Sessel der 1960er Jahre weisen
neben leichten und schweren Verschmutzungen vielfach alterungsbedingte
Veränderungen der Oberfläche auf, die sowohl mit der Vorstellung des
Ausstellungsmachers vom makellosen, glänzenden Designobjekt aus Kunststoff,
als auch mit der konservatorischen Forderung des good house-keeping kollidieren
und somit den Wunsch nach einer Reinigung aufkommen lassen. Die notwendige
Differenzierung zwischen Patina, Zerfallserscheinung oder Verschmutzung vor der
in Angriffnahme einer Konservierung oder Restaurierung erscheint aufgrund der
geringen Erfahrungen mit dem gealterten Material jedoch als schwierig. Ein erster
Versuch zur Definition von Patina und Schaden bei aufblasbaren Weich-PVC
Objekten soll im Rahmen dieser Arbeit unternommen werden, um die Frage, was
restauriert werden soll vor der Frage nach dem wie und womit restauriert werden
kann zu klären.
Inwieweit eine Feuchtreinigung die Alterung des Materials positiv beeinflusst,
oder ob Degradationsprozesse der Folien durch eine derartige Maßnahme
beschleunigt werden, ist bisher weitestgehend ungeklärt. Für die
schwerwiegendste Beeinträchtigung, die Beschädigung der Folie in Form von
Löchern oder Schnitten, wurde gleichfalls noch kein restauratorisch akzeptables
Behandlungskonzept vorgelegt. Die Verwendung von industriellen oder
kommerziellen Klebesystemen zur Reparatur von Weich-PVC erscheint als
unumgänglich, jedoch aufgrund der Irreversibilität der Systeme auch als ethisch
nur schwer vertretbar.
9. 9
Um Lösungsvorschläge für die vorgestellten Problematiken zu entwickeln,
sollte zunächst konkret ein beschädigtes Objekt in den Mittelpunkt der Arbeit
gestellt werden. Es zeigte sich jedoch bereits bei der Literaturrecherche und der
Konzeption der Versuche, dass gesicherten Grundlagen, insbesondere in Bezug
auf die Langzeitwirkung von Maßnahmen fehlen. Daher wurde davon abgesehen,
die in den Versuchen an Probekörpern erzielten Ergebnisse auf ein Objekt zu
übertragen. In dieser Arbeit soll daher vielmehr versucht werden, eine praktische,
wie auch theoretische Basis für weitere Untersuchungen zu schaffen, aus denen
sich möglicherweise in Zukunft Restaurierungsmaßnahmen für Objekte aus
Weich-PVC Folien, insbesondere für pneumatische Objekte, ableiten lassen. Die
transparenten aufblasbaren Sessel und ihre Anforderungen an eine Restaurierung
stehen dabei im Zentrum der Überlegungen und Untersuchungen.
10. 10
1 Weich-PVC Folien als gestalterisches Mittel
Nur wenige Materialien verbinden wie Weich-PVC Folien die Eigenschaften
Flexibilität und Transparenz.1
Diese ungewöhnliche Kombination macht das
Material seit den 1960er Jahren nicht nur für die Verpackungsindustrie, sondern
auch für Künstler, Architekten und Designer interessant.
In der bildenden Kunst werden die Weich-PVC Folien vielfältig verwendet, so
zum Beispiel als Trägermaterial für Grafiken, Collagen, Siebdrucke oder Malerei,
jedoch auch als plastisch gestaltendes oder konstruktives Element.2
Die Folien
werden jedoch für gewöhnlich nicht selber thematisiert, sie steuern den
Kunstwerken lediglich ihre spezifischen Eigenschaften bei. Entsprechend vielfältig
sind die aus ihnen gefertigten Kunstwerke. Der belgische Künstler Panamarenko
konstruierte aus Weich-PVC Folien Fluggeräte, wie den 1969 entstandenen
Zeppelin The Aeromodeller3
(Abb. 1), Christo verpackte seit den frühen sechziger
Jahren die verschiedensten Alltagsgegenstände in transparente Folien4
(Abb. 2)
und Joseph Beuys verwendete Weich-PVC Folien und Platten sowohl für
grafische Arbeiten, wie auch für Collagen5
.
1
Vgl. ROTHEISER 1999, S. 106
2
WAGNER bezeichnet Plastikfolien als das in den sechziger Jahren in der Kunst am
häufigsten verwendete Kunststoffprodukt. (Vgl. WAGNER 2002, S. 191)
3
Panamarenkos Versuch, den Zeppelin für eine Ausstellung nach Sonsbeek (Niederlande) zu
fliegen, wurde von den örtlichen Behörden untersagt und auch dem Künstler selbst erschien
das mit Wasserstoff befüllte Fluggerät schließlich zu gefährlich, um tatsächlich einen
Flugversuch zu wagen. Anschließend an den gescheiterten Flugversuch wurde der Zeppelin
in mehreren Museen gezeigt und befindet sich heute im Besitz des SMAK, Gent.
<www.counton.org/museum/gallery3/gal4p1.html> (21.08.2004)
4
Christos Hinwendung zu den transparenten Folienmaterialien fällt in eine Zeit, in der die
amerikanische Verpackungsindustrie verstärkt begann, Waren des täglichen Gebrauchs in
Plastikfolien einzuhüllen, um ihren Vertrieb zu vereinfachen. (Vgl. WAGNER 2002, S. 256)
Die derartig verpackten Produkte waren für den Verbraucher zugleich sichtbar und dennoch
unzugänglich. Ähnlich verhält es sich mit den in Folien verpackten Objekten Christos.
Diese sind für den Betrachter in ihrer Funktion zwar noch klar zu erkennen, sie werden
einer Nutzung jedoch durch die trennende Folie entzogen. Trotz dieser Parallelen haben
Christos Objekte keine Ähnlichkeit mit den perfekt verpackten Waren der Industrie. Seine
Gegenstände wirken, als ob sie hastig aber dennoch gewissenhaft mit zufällig vorhandenen
Materialien verpackt und zum Weitertransport beiseite gestellt wurden. Christo wählte die
Materialien für seine Verpackungen einzig aufgrund optischer Eigenschaften wie
Transparenz, Textur und Flexibilität aus. (Vgl. ABRAMS 1972, S.16) So erklärt sich auch,
warum in Katalogen zu Christos Werk konkrete Materialangaben bezüglich der
verwendeten Folien häufig fehlen.
5
So zum Beispiel für seine Multiples ‚Phosphorsäureschlitten’ von 1972/1977. Diese
Objekte bestehen aus zwei mit einer Dichtungsmasse verklebten quadratischen Weich-PVC
Platten mit einer Einlage aus Phosphor. An der Oberkante werden die Weich-PVC Platten
von einer Metallklammer zusammengehalten, die wiederum in einem Holzkasten mit
Sichtscheibe befestigt ist. (Vgl. WAENTIG 2004, S. 251)
11. 11
Die zu Beginn der fünfziger Jahre noch kritisch betrachtete
‚Charakterlosigkeit’ der synthetischen Materialien eröffnete den Künstlern völlig
neue Gestaltungsmöglichkeiten. Die zuvor als eine negative Eigenschaft
angesehene ‚will=fährigkeit’ der Kunststoffe wandelte sich in den sechziger
Jahren zum positiven Charakteristikum der modernen Kunst.6
Auch die Modedesigner setzten in den sechziger Jahren Weich-PVC Folien ein,
um bis dahin in der Mode noch nicht gekannte Effekte von Glanz, Transparenz
und Extravaganz zu erreichen. Die französische Designer André Courrèges, Pierre
Cardin und Pacco Rabanne verwendeten Vinyl7
beziehungsweise Weich-PVC
Folien und Fasern auf der Basis von Polyvinylchlorid für ihre Haute Couture
Modelle, um einen space look zu kreieren. Vielfach wurden die neuen Materialien
auch neben traditionellen Materialien wie Wolle oder Seide in Form von
akzentuierenden Applikationen eingesetzt und besonders die klaren,
geometrischen Formen der so bezeichneten A-Linie ließen sich mit den steifen
Materialien wirkungsvoll umsetzen.8
Auch zog mit der Verwendung der Weich-
PVC Folien erstmals das Element des Humors in die bis dahin konservative Haute
Couture ein.9
So entwarf Courrèges ein Kleid aus Vinylfolie mit aufblasbarem
Rock (Abb. 3).
Doch nicht nur die Haute Couture entdeckte die Folienmaterialien für sich. In
Form von Regenmänteln, Gummistiefeln oder Überschuhen erreichten die neuen
Kunststofftextilien ein breites Publikum. Zahlreiche Accessoires wurden aus
Weich-PVC Folien gefertigt, zum Beispiel Gürtel, Hüte, Handtaschen, Schuhe
(Abb. 4) oder Regenschirme. Die verwendeten Materialien waren wasserfest,
leicht, transparent und fröhlich bunt, wodurch sie sich von den bis dahin üblichen
schweren gummibeschichteten oder geölten Textilien unterschieden.
Gänzlich aus der Mode verschwanden Weich-PVC Folien nur für eine kurze
Zeit auf dem Höhepunkt der ökologischen Bewegung. Im Zuge der modischen
Adaption der Punkbewegung kehrten die Kunststofffolien zunächst durch die
englische Designerin Vivienne Westwood wieder in die Haute Couture zurück und
experimentierfreudige Designer wie Jean Charles de Castelbajac, Galliano, oder
Jean Paul Gaultier integrieren bis heute immer wieder Folienelemente in ihren
Kollektionen. In der Alltagsmode konnten sich lediglich Accessoires wie Taschen
oder Gürtel aus Weich-PVC Folien wieder behaupten, als Bekleidung sind die
Folien lediglich in der Fetischmode von größerer Bedeutung, da der Tragekomfort
hier nur eine untergeordnete Rolle spielt.
6
Vgl. WAGNER 2002, S. 187 f.
7
Vinyl ist die unspezifische Bezeichnung für Weich-PVC Folien, auch werden PVC
beschichtete Gewebe im Textilbereich so benannt.
8
Vgl. KOCH-MERTENS 2000, S. 207-212
9
Vgl. KOCH-MERTENS 2000, S. 208
12. 12
In der Architektur gelangte die Konstruktionstechnik Folien zu aufblasbaren
Gebilden zu verschweißen zeitgleich mit dem Ausbruch der Studentenproteste in
Europa und Amerika in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Monotonie der
Nachkriegsarchitektur, die besonders das Gesicht der großen Städte dauerhaft
veränderte, evozierte radikale Architekturkonzepte, die auf impermanente urbane
Strukturen setzten. Gruppen wie Ufo in Italien, Archigram in England und Utopie
in Frankreich verbanden Architektur und Konsumkritik mit sozialen und
politischen Forderungen.10
“Many of these collectives embraced inflatable forms as the perfect tool
with which to subvert traditional notions of architecture. They conceived
inflatable entertainment complexes, housing projects, and whole expandable
cities in an effort to draw attention to the value of impermanent structures.
[…] It comes as no surprise, with widespread discontent emanating from the
ugly housing estates and the bleak prospect of a career designing yet more
boring buildings, that a new generation of architects were more than a little
annoyed.” 11
Die Umsetzbarkeit der utopisch anmutenden Entwürfe wurde auf der Expo von
1970 im japanischen Osaka bewiesen, auf der zahlreiche Nationen aufblasbare
Pavillons präsentierten.12
Die aus Folien konstruierte Architektur erwies sich
besonders für temporäre Veranstaltungseinrichtungen als ideal. Aufgrund des
geringen Materialeinsatz im Verhältnis zum geschaffenen Raumvolumen waren
derartige Architekturen zum einen preisgünstig und zum anderen schnell zu
errichten beziehungsweise wieder abzubauen (Abb. 5).
Der ganzheitliche Ansatz von Gruppen wie Utopie oder auch Archizoom in
Italien zeigte sich in Form von Ausstellungen wie Les Structures Gonflables in
Paris und auf der Triennale in Mailand, beide 1968. Utopische
Architekturkonzepte trafen hier auf aktuelle technische Neuerungen und moderne
Designobjekte. Der Allgegenwärtigkeit pneumatischer Projekte gab BENHAM
13
in
seinem Artikel Monumental Wind-Bags von 1968 Ausdruck:
„The inflatable scene is getting pretty densely populated, and spreads wide:
from a window-full of Blow-up furniture at Habitat, to a contract between
Cedric Price, Frank Newby and the M of PBW for advanced research in
inflatable structures: from aluminized Warhol Clouds floating round Robert
Fraser’s gallery, to the close-packed maths of Frei Otto’s Zugbeanspruchte
Konstruktionen: from a nude in a transparent Quasar Khan chair on the
10
Vgl. DESSAUCE 1999, S. 7-25
11
TOPHAM 2002, S. 55
12
Vgl. GUIDOT 1994, S. 234 f.
13
Reyner BENHAM war zeitweise Mitglied der englischen Gruppe Archizoom, sein Artikel
Monumental Wind-Bags erschien im April 1968 in der linksliberalen Wochenzeitschrift
New Society. (BENHAM 1968, S. 569)
13. 13
cover of Zeta, to an exhibition of Structures Gonflables last month in
Paris.”14
Übertragen wurden die Konzepte zur neuen urbanen Architektur auch auf die
Innenarchitektur. Neben den zuvor genannten Architektengruppen widmeten sich
auch zahlreiche Designer dem Entwurf pneumatischen Designs. In Italien lancierte
die Firma Zanotta, die ersten in Serie produzierten aufblasbaren Sessel aus Weich-
PVC Folie, auf die später näher eingegangen werden soll, daneben existierten in
Europa und Amerika zahlreiche weitere erfolgreiche Firmen, wie zum Beispiel
A.J.S.Aerolande und Quasar in Frankreich, Mass Art Inc. New York in den USA,
Hagaplast in Dänemark oder Habitat und Rees, Stein &Co. in Großbritannien. Das
umfangreichste Programm entstammt den Entwürfen Quasar Khanhs, dessen
Firma Quasar nicht nur aufblasbare Möbel, sondern auch aufblasbare Lampen,
Tische und Wandsysteme aus verschweißten Weich-PVC Folien produzierte (Abb.
6). Die Begeisterung über die neuen Designobjekte hielt sich innerhalb der breiten
Bevölkerung jedoch in Grenzen, da die Möbel zwar vordergründig praktisch, aber
tatsächlich unbequem und empfindlich gegen Beschädigungen waren. So gibt
BENHAM seiner Enttäuschung gegenüber der pneumatischen ‚Kleinarchitektur’ in
seinem zuvor bereits zitierten Artikel Ausdruck:
„There seems to be quite a lot of slightly apprehensive talent and capital
waiting to rush into inflatable furniture as soon as a really reliable material
and simple jointing method are available at economical prices. But they
aren’t quiete there yet, […] Hagaplast’s Blow-up furniture is cheap, but a
bit too close to the ground for most’s people comfort; Quasar Khanh’s is
expensive, elaborately engineered – and quite shatteringly uninspired, just
conventional representations of a conventional three-piece suite.”15
Die Gründe für die kurzzeitige Popularität des aufblasbaren Designs – besonders
unter jungen Leuten – mögen zum einen in der Novität der transparenten,
glänzenden und bunten Materialien zu suchen sein, zum anderen werden die
aufblasbaren Objekte leicht mit Freizeitartikeln, wie Schlauchbooten,
Wasserbällen, aufblasbaren Schwimmtieren oder Luftmatratzen, die für Spaß und
Lebensfreude stehen, assoziiert. Dem spannenden Moment des Aufblasens
derartiger Objekte wird treffend von TOPHAM beschrieben:
„The ability of an air bed to transform from a limp, passive blob of PVC
into a primed, firm, air-filled raft is part of the appeal of pneumatic toys: the
act of inflation is an unfolding drama where the inflatable item develops
from one condition to the exact opposite. The spectacle of swelling as the air
bed reaches ripeness is overtly sexual […]”16
14
BENHAM 1968, S. 569
15
BENHAM 1968, S. 570
16
TOPHAM 2002, S. 8
14. 14
Was heute nur noch in Form von aufblasbaren Sesseln oder
Dekorationsgegenständen mit zweifelhaftem Nutzen gegenwärtig ist, war in seinen
Anfängen Mittel zum Ausdruck einer gesellschaftlichen und architektonischen
Utopie und gleichzeitig das geistige Kind des technischen Optimismus der späten
sechziger Jahre, der mit der Ölkrise von 1973 sein Ende fand. Die Nachfrage nach
aufblasbaren Produkten aus Weich-PVC Folien ging bereits zu Beginn der
siebziger Jahre aufgrund des wachsenden Umweltbewusstseins zurück und die
durch die Ölkrise steigenden Materialkosten für Kunststoffe, die auf die Produkte
umgelegt wurden, taten ihr Übriges. Zwar waren aufblasbare Möbel oder
Architekturen nur während weniger Jahre von Bedeutung, ganz aus dem Alltag
verschwanden Weich-PVC Folien jedoch nie. In Form von Schwimmflügeln,
Planschbecken oder Wasserspielzeug erobern sie Sommer für Sommer wieder den
Freizeitbereich und Duschvorhänge aus Weich-PVC Folien verhindern in
Badezimmern täglich größere Überschwemmungen.
Trotz der beschriebenen vielseitigen Verwendungsmöglichkeiten wird Weich-PVC
Folie jedoch auch heute noch hauptsächlich als ein minderwertiges und
kurzlebiges Material wahrgenommen. Aufblasbare Designobjekte werden kaum
als ernsthaftes Design, eher als ein temporäres dekoratives Accessoire angesehen,
das sobald es ausgedient hat, weggeworfen werden kann. Auch das seit den 1980er
Jahren gestiegene ökologische Bewusstsein trägt zur negativen Rezeption der
Weich-PVC Folien bei. So haben sich bis heute nur wenige Originale des
aufblasbaren Designs aus den 1960er Jahren erhalten können, die inzwischen zu
gesuchten Sammlungsgegenständen wurden.
1.1 Die Designgeschichte des Blow
1967 verfassten die italienischen Architekten D’Urbino, De Pas und Lomazzi ein
polemisches Manifest, in dem sie ihre Forderungen nach einem zeitgemäßen, an
der Jugendkultur orientierten, Möbeldesign formulierten.17
Die Zeitschrift Die
Form schrieb im gleichen Jahr über die Entwerfer:
„Was sie tun, greift über die konventionelle Vorstellung des fest gefügten
Möbels hinaus. Sie experimentieren mit Luft und dünnen Folien […] und
denken in pneumatischen Formen. […] Bei ihnen geht es nicht mehr um
Sessel, Sofa, Tisch, sie wollen […] 'Möbel, die zu neuen physiologisch-
psychologischen Funktionen stimulieren'. Es sind Konstruktionen […], die
durch optische und akustische Eindrücke den Benutzer in überirdische
17
CASCIANI 1988, S. 69
15. 15
Sphären der Entspannung, der Glückseligkeit, der Liebe transponieren
wollen.“18
Als Studio DDL – der Name setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der
Nachnamen der drei Architekten zusammen – setzten sie ihre Forderungen im
gleichen Jahr zusammen mit Carla Scolari in erste Möbelentwürfe um, die sich
zunächst nicht an industriellen Produktionserfordernissen orientierten, schließlich
aber in Zusammenarbeit mit der Firma Zanotta zur Entwicklung des ersten,
preisgünstigen, serienproduzierbaren, aufblasbaren Möbels führten.19
Der
italienische Möbelhersteller Zanotta hatte in den Jahren zuvor schon verschiedene
Möbelentwürfe produziert, die sich besonders durch ein platzsparendes, flexibles
Design auszeichneten. Diese falt- und zusammenlegbaren Möbel20
orientierten
sich in ihren Formen an den Möbeln des Militärs und an Campingmöbeln. Die
Gestelle bestanden aus Holz oder Stahlrohr, die Sitzflächen aus Stoff oder
Kunststoff. 21
Inspiriert von den Arbeiten der Gruppen Archizoom und Utopie übertrugen die
Architekten des Studio DDL die Idee der luftgefüllten Strukturen auf Möbel und
verbanden somit die Forderung nach flexiblen Wohnformen mit den aktuell
diskutierten pneumatischen Strukturen. Die Form des Entwurfes entlehnten sie der
Form von Schlauchbooten:
“The most direct conceptual, technical and even formal inspiration for the
Blow came from the micro-enviroment represented by the inflatable dinghy.
The seating type, enveloping shape and outsized structure were all taken
over. Chopped off transversally and doubled to give a raised and
comfortable seat, the ordinary dinghy became the first inflatable
armchair.”22
Die Umsetzung dieses Designs in transparenten Materialien – entsprechend den in
der Architektur von den zuvor genannten Gruppen wie Archigram und Utopie
aufgestellten Forderungen nach Transparenz23
und Leichtigkeit – gestaltet sich
zunächst schwierig: Neopren, das für Schlauchboote verwendete Material kam
aufgrund der optischen Eigenschaften dieses Materials nicht in Frage. Nach
18
SIEVERS/SCHRÖDER 2001, S. 191
19
Vgl. CASCIANI 1988, S. 69
20
So das Modell April 210 entworfen von Gae Aulenti von 1965 und das Modell Navy
entworfen von Sergio Asti von 1968. Vgl. CASCIANI 1988, S. 69
21
Vgl. CASCIANI 1988, S. 69
22
CASCIANI 1988, S. 86
23
Wie wichtig Transparenz für das Design der späten 1960 Jahre war, lässt sich daran
erkennen, dass der Sitzsack Sacco zunächst gleichfalls in transparentem Weich-PVC
hergestellt werden sollte. Der Prototyp zeigte jedoch, dass das Material den Belastungen
nicht standhalten konnte, so wurden schließlich PVC-beschichtete Stoffe oder Segeltuch
verwendet.
16. 16
einigen Experimenten erschien die Mitte der sechziger Jahre neu entwickelte
Technik des Hochfrequenzschweißens als geeignet, um Weich-PVC-Folien
dauerhaft und belastbar zu verbinden und der Sessel konnte nun kostengünstig in
Serie produziert werden.
Trotz der maritimen Vorlage ähnelt die Form des Blow der Gestaltung
traditioneller Armlehnsessel, sie erinnert aber auch an Eileen Grays Bibendum, ein
Entwurf der klassischen Moderne, der wiederum seinen Namen der Michelin
Werbefigur entlehnte, mit der für Autoreifen geworben wurde. Der traditionelle
Armlehnsessel, der im Vergleich zu anderen Einzelsitzmöbeln eine ausgesprochen
statische Form aufweist – prädestiniert für einen unverrückbaren Platz im
Wohnzimmer – wurde bei De Pas, D’Urbino, Lomazzi und Scolari zum Symbol
für Flexibilität und Mobilität. Durch die klare Farbigkeit und die ausladende, auf
geometrischen Körpern basierende Form erscheint der Entwurf wie die
Comicvariante eines Armlehnsessels. Obwohl die Designer dem italienischen
Radical Design nahe standen, wird der Entwurf aufgrund dieser formalen
Erscheinung stiltechnisch oftmals der Pop Art zugeordnet.
Einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt wurde der Blow Chair noch im Jahr
1967 auf der Mailänder Möbelmesse, wo der Entwurf große Aufmerksamkeit
erregte und damit der Firma Zanotta zum ersten großen kommerziellen Erfolg,
weit über Italien hinaus, verhalf, dem noch zahlreiche weitere Folgen sollten, so
z.B. der Sitzsack Sacco oder der Sessel Joe, der einem gigantischen
Baseballhandschuh gleicht.
„Although the only mass-produced object resulting from De Pas, D’Urbino,
Lomazzi’s work with pneumatic structures was the Blow, they did open a
period experimentation with anti-traditional furniture in which Zanotta took
the role of the manufacturer most open to technological innovation. In this
phase the avant-garde architectural groups were attempting to “reconstruct
the universe” starting from the inside, moving from furniture to the actual
building.”24
Der Blow wurde, wie andere aufblasbare Strandartikel auch, in flach
zusammengelegter Form in einem handlichen Karton zusammen mit einer
Luftpumpe und einem Reparaturset für den Preis von 11 400 Lire verkauft. Dies
entsprach ungefähr dem damaligen Preis von 20 US-Dollar. Die Modelle der
ersten Serie waren in klar-transparent, transparentem Rot, Gelb und Blau und in
opakem Weiß erhältlich.
Als Wohnraummöbel konzipiert (Abb. 7) konnte Blow auch - luftleer und
zusammengelegt - von seinem Besitzer zu Ausflügen an den Strand oder aufs Land
mitgenommen werden (Abb. 8 und 9). Das glatte abwaschbare Material machte
das Reinigen leicht und der Sessel konnte nach der Rückkehr wieder als
24
CASCIANI 1988, S. 70
17. 17
Wohnraummöbel eingesetzt oder luftleer und platzsparend verstaut werden. Der
verhältnismäßig niedrige Preis erlaubte einen sorglosen Umgang mit dem Möbel,
das bei leichten Beschädigungen selbst repariert oder bei schweren
Beschädigungen einfach durch ein Neues ersetzt werden konnte.
Ausgestellt wurde der Entwurf in den folgenden Jahren in zahlreichen
Ausstellungen, so zum Beispiel im Pariser Stadtmuseum (Structures Gonflables,
ausgerichtet von der Gruppe Utopie (Abb. 10), auf der XIV. Mailänder Triennale
und der Eurodomus Turin (Abb. 11).
Zwar erfüllte sich in der Form des Blow Marcel Breuers Utopie vom Sitzen auf
einer Säule aus Luft im weitesten Sinne, und das Modell sollte zahlreiche auch
sehr erfolgreiche Nachahmer finden25
, dennoch währte der Erfolg nur wenige
Jahre und die Produktion wurde bereits 1969 wieder eingestellt. Die Mailänder
Möbelmesse von 1969 bildete für die Firma Zanotta den Wendepunkt in der
Produktion von Designobjekten, man wandte sich vom Radical Design ab und
widmete sich fortan klassischeren Formen:
„The experience of the Furniture Fair marked a change in the direction of
Zanotta production and of the evolution of furniture design in general:
technological experimentation was checked and brought back to the
creation of recognizably “classical” forms. Evidently the image of furniture
needed to remain reasonably familiar even when it was being subjected to
new ideas and used as an architectural “reminder” in an interior.”26
Diese Entscheidung mag auch durch das sich wandelnde Verhältnis des
Verbrauchers zu Kunststoffprodukten beeinflusst worden sein, dass sich bereits
Ende der sechziger Jahre abzeichnete.
„Plastik, der Stoff der Wegwerfartikel, macht auch Designobjekte zu
Wegwerfartikeln. Das gerade noch gefeierte Material vereint alle
Widersprüche. Kunststoff wird der perfekte Ausdruck der
Konsumgesellschaft – glatt, bunt, schön, oberflächlich und überflüssig.“27
Der Verzicht auf derartige Designobjekte fiel dem Konsumenten leicht, denn der
tatsächliche Nutzwert und besonders die Bequemlichkeit der aufblasbaren Möbel
wurde stark eingeschränkt durch die spezifischen haptischen Eigenschaften des
Weich-PVCs, das sich selbst im neuen Zustand leicht klebrig anfühlt (Quasar, der
französische Hersteller von aufblasbaren Möbeln, umging dieses Problem durch
ein Beflocken der Oberfläche mit textilen Fasern). Die mangelnde
Atmungsaktivität des Materials machte zudem längeres Sitzen zu einem
zweifelhaften Vergnügen und die Sessel vermittelten selbst im straff
aufgeblasenen Zustand dem Besitzer ein Gefühl von Instabilität bis hin zur
25
So zum Beispiel die Modelle der französischen Firma Quasar.
26
CASCIANI 1988, S. 72
27
SIEVERS/ SCHRÖDER 2001, S. 192
18. 18
Seekrankheit. Als nachteilig erwies sich auch die Tendenz der PVC-Folien, sich
elektrostatisch aufzuladen. Die Möbel zogen Staub geradezu an und vermittelten
schnell einen ungepflegten Eindruck, und besonders die klar-transparenten Sessel
– die die Idee des Designs am Besten zum Ausdruck brachten – erwiesen sich als
anfällig für Verfärbungen, die das makellose Erscheinungsbild der schimmernden,
klaren Oberfläche wesentlich beeinträchtigten. So verschwand Blow nach nur
wenigen Jahren aus den Wohnzimmern und wurde in die Kinderzimmer verbannt
oder im Freizeitbereich ‚verbraucht’. Der Wunsch nach Mobilität und Flexibilität
überwog letztlich nicht den Wunsch des Konsumenten nach Komfort, Stabilität
und Sicherheit im eigenen Heim.
Das Interesse am Design des Blow ließ trotz Produktionseinstellung und dem
Wandel im Verhältnis der Öffentlichkeit zu den Erzeugnissen der
Kunststoffindustrie nicht nach; der Sessel wurde zum festen Bestandteil von
Designausstellungen, zum Beispiel im Victoria and Albert Museum (The Modern
Chair 1918-1970, 1970) und im New Yorker Museum of Modern Art (Italy – The
New Domestic Landscape, 1972).
Das Urteil, dass SIEVERS/SCHRÖDER über den zeitgleich produzierten Sacco –
ebenfalls eine weiteren Ikone des Designs der sechziger Jahre – fällen, scheint
gleichfalls für den Blow Gültigkeit zu haben:
„Sacco ist ein echter 68er. Die Erinnerung an ideologische
Auseinandersetzungen tröstet über seinen geringen Nutzwert hinweg.“28
Im Zuge des steigenden Interesses am Design der 1960er Jahre und der
beginnenden Verklärung dieser Zeit entschied sich Zanotta bereits 1988, neben
anderen Designklassikern, Blow nahezu unverändert in rot, gelb und klar-
transparent wieder ins Programm zu nehmen (Abb. 12). Im Gegensatz zu 1968 war
das Marketingziel der Produktion nunmehr nicht das eines preisgünstigen
Massenprodukts mit sozialkritischen, ideologischen Anspruch im Dienste einer
konkreten Utopie, vielmehr wurde der Sessel zum Designklassiker erhoben – mit
entsprechender Preisgestaltung29
. Um diesen Anspruch zu untermauern gelangte
Blow als Re-Edition ab 1988 in Form von Schenkungen des Herstellers in
zahlreiche museale Sammlungen30
, wo diese nun mangels nicht erhaltener oder
beschädigter Originale präsentiert werden. Dass es sich bei den ausgestellten
Exponaten oder Abbildungen um Replikate handelt wird selten erwähnt.
Eine annähernde Datierung und Zuordnung der Objekte zu den verschiedenen
Produktionsphasen ist aufgrund verschiedener konstruktions- und produktions-
bedingter Details leicht möglich. Die Sessel der ersten Serie waren neben den
28
SIEVERS/ SCHRÖDER 2001, S. 192
29
Die Preise liegen z. Z. bei ungefähr € 275.
Vgl. <www.europebynet.com/detail.asp?sku=ZNACH001> (04.09.2004)
30
So verweist die Firma auf ihrer Internetseite auf die Museen, die Designobjekte von
Zanotta in ihren Sammlungen ausstellen. Vgl. <http://www.ete.it/zanotta/31530071.htm>
(06.07.2004)
19. 19
gelben, roten und weiß-transparenten Ausführungen auch noch in blau und opak-
weiß (Abb. 11) erhältlich. Auch unterscheiden sich die Dimensionen der ersten
Modelle von denen ihren Nachfolger; sie sind deutlich breiter und voluminöser.
Die ersten Modelle der Re-Edition aus den späten 1980er Jahren wirken,
verglichen mit den ersten Modellen oder den z. Z. produzierten, kantiger und
steifer (Abb. 13). Sie sind weniger voluminös und die einzelnen Elemente sind so
präzise zugeschnitten, dass es zu keinerlei Faltenbildung entlang der Nähte
kommt. Der optische Effekt ist, dass diese Modelle sobald sie stramm mit Luft
befüllt werden, fast so streng linear wirken, wie Marcel Breuers Freischwinger.
Die seit der Mitte der neunziger Jahre hergestellten Sessel erscheinen dagegen im
prallgefülltem Zustand vergleichsweise rundlich, dies ist auf ‚Abnäher’ im
Übergangsbereich zwischen den Seitenteilen und den runden Stirnflächen
zurückzuführen (Abb. 14).
Heute fehlt der Sessel in keinem Katalog und keiner Ausstellung zum
(italienischen) Design der sechziger Jahre und die Nachfrage nach den Re-
Editionsmodellen hält bereits seit 16 Jahren an, nahezu achtmal solange wie die
erste Produktionsphase.
20. 20
2 Weich-PVC – chemische Struktur und Herstellung
Im folgenden Kapitel sollen zur Einführung kurz die chemische Struktur und die
gängigsten Verarbeitungsverfahren von Polyvinylchlorid und Weich-
Polyvinylchlorid dargestellt werden, bevor im Anschluss die
Alterungsmechanismen des Kunststoffes beschrieben werden. Die folgenden
Angaben zur chemischen Struktur und zur Herstellung von PVC und Weich-PVC
wurden drei Standardwerken zur Kunststoffchemie und Kunststofftechnologie
entnommen: BRYDSON
31
, DOMININGHAUS
32
und STOECKHERT
33
, ergänzt werden
diese im Abschnitt zur Alterung des Kunststoffes durch Angaben, die aus der
Arbeit von SHASHOUA
34
übernommen wurden.
2.1 PVC
Ausgangsmaterial für alle PVC Formulierungen ist Vinylchlorid, das durch die
Anlagerung von Chlor an Ethylen oder durch die Reaktion von Acetylen und
Chlorwasserstoff gewonnen wird.35
Das Polymerisieren geschieht auf
radikalischem Wege, der Polymerisationsgrad bzw. die molare Masse wird mit
Hilfe der Reaktionstemperatur gesteuert. Die Anordnung der Chloratome im
Polymer ist ataktisch.36
Formel von Vinylchlorid
Cl
│
HC═CH2
Weiterverarbeitet wird das Vinylmonomer zu Polyvinylchlorid nach drei
verschiedenen Verfahren, der Emulsions-, der Suspensions- und der Masse-
Polymerisation, wobei 85% des Weltbedarfs an PVC durch das
Suspensionsverfahren37
produziert wird.38
Der Vorteil des zuletzt genannten
31
BRYDSON 1999
32
DOMININGHAUS 1998
33
STOECKHERT 1981
34
SHASHOUA 2001
35
Zur Herstellung von Vinylchlorid siehe BRYDSON 1999, S. 313–314, STOECKHERT 1981, S.
535 und DOMININGHAUS 1998, S. 260.
36
Vgl. DOMININGHAUS 1998, S 260
37
„Suspensionspolymerisation. Oberbegriff für Arten der Polymerisation, bei denen das
Polymere in mehr oder weniger fein verteilter Form im Dispergiermittel, in der Regel
Wasser, für das Monomere anfällt.“ (STOECKHERT 1981, S. 493) Schutzkolloide in Mengen
von 0,1% (bezogen auf VC) verhindern das Zusammenfließen der Tröpfchen. Vinyllösliche
Aktivatoren lösen die Polymerisation aus, die so entstandenen Polymerteilchen werden
21. 21
Verfahrens besteht darin, dass im Gegensatz zur Emulsionspolymerisation39
salz-
und emulgatorfreie Polymere gewonnen werden können, die zur Herstellung von
glasklaren Folien und anderen hochwertigen PVC Produkten dienen. Nachteilig ist
bei diesem Verfahren lediglich, dass geringe Mengen des, zur Stabilisierung der
Suspension, eingesetzten Schutzkolloids im Polymer verbleiben, die das Polymer
in seiner chemischen Stabilität beeinträchtigen können.
Sehr reines PVC kann durch die so bezeichnete Massepolymerisation40
gewonnen werden. Dieses Verfahren stellt eine Weiterentwicklung des ersten
großtechnischen Verfahrens zur Massepolymerisation von Vinylchlorid dar, das
Ende der fünfziger Jahre entwickelt wurde. Auf diese Weise produziertes PVC
zeichnet sich durch eine geringe Korngröße und durch gute Verarbeitbarkeit aus,
das heißt, das Polymer ist aufnahmefähiger für Weichmacher und flüssige
Additive, als die durch das Suspensions- oder Emulsionsverfahren hergestellten.41
Reines Polyvinylchlorid ist weitestgehend von amorpher Struktur42
, glasklar
und zeichnet sich durch hohe mechanische Festigkeit, Steifheit, Härte sowie durch
eine hohe Beständigkeit gegen Chemikalien aus. Der Erweichungspunkt liegt im
Bereich von 75 bis 80 °C und aufgrund des hohen Chlorgehalts von 56,8 % ist das
Material schwer entflammbar.
Strukturformel von Polyvinylchlorid
durch Zentrifugieren vom Wasser getrennt und anschließend getrocknet. (Vgl.
DOMININGHAUS 1998, S. 260)
38
Vgl. BRYDSON 1999, S. 315
39
„Bei der Emulsionspolymerisation wird das Monomere mit Hilfe von Emulgatoren und ggf.
Schutzkolloiden […] in Wasser emulgiert. Als Katalysatoren benutzt man wasserlösliche
Per-Verbindungen. Nach Beendigung der Polymerisation liegt das Polymerisat in Form
einer Dispersion ([…]) vor. Die gewonnenen Dispersionen werden entweder direkt
verwendet oder zur Gewinnung des Polymerisats durch geeignete Mittel koaguliert.“
(STOECKHERT 1981, S.157 f.)
40
“Als Initiatoren dienen monomerlösliche Peroxide. In der ersten Stufe beträgt der VC-
Umsatz 5 bis 10 % bei sehr hoher Rührgeschwindigkeit in einem vertikalen Autoklaven.
Diese Suspension wird einem zweiten horizontalen Autoklaven mit weiterem VC und
Initiatorzusatz bis zu einem Endumsatz von 80 % polymerisiert. das monomerfeuchte
Polymere wird ausgegast, gesiebt und den Silos zugeführt.“ (DOMININGHAUS 1998, S. 261)
41
Vgl. DOMININGHAUS 1998, S. 260 f.
42
Der Anteil an kristallinen Bereichen liegt bei circa 5%. (Vgl. DOMININGHAUS 1998, S. 262)
22. 22
Wirtschaftliche Bedeutung konnte das an sich instabile Polymer erst durch die
Entwicklung verschiedener Additive wie Stabilisatoren und Inhibitoren
erreichen.43
Diese erlauben es zum einen, dass das Polymer die hohen
Verarbeitungstemperaturen von 150 bis 200 °C aushält, zum anderen können
durch die Zusätze witterungsbeständige Baumaterialien, wie Fensterrahmen,
Regenrinnen oder Wasserleitungen hergestellt werden, die neben den Weich-PVC
Folien die wichtigsten PVC Produkte darstellen.44
Zwar ist PVC, neben Polyethylen, Polypropylen und Polyethylenterephthalat
einer der am weitesten verbreiteten und am meisten produzierten Kunststoffe,
jedoch gehört dieses Material auch zu den umstrittensten. Zu Beginn der 1970er
Jahre häuften sich die Anzeichen, dass der Kontakt mit monomeren Vinyl eine
Anzahl schwerer Erkrankungen auslöst, unter anderem auch eine seltene
Krebsform der Leber, dem Angiosarkom. Dies führte in der Mitte der siebziger
Jahre, nach dem Auftreten von mehreren Todesfällen im Zusammenhang mit der
Herstellung von Vinylchlorid, zu einer Verbesserung der
Sicherheitsvorkehrungen45
und zu einer Umstellung der Produktionsformen. Trotz
des negativen Images in der Öffentlichkeit sanken die Produktionszahlen nur
kurzzeitig und auch die Kritik an den ökologischen Folgen der Produktion und
Entsorgung von PVC46
zeigt kaum Auswirkungen auf die Produktionsmengen
weltweit.
2.2 Weich-PVC
Zu den wichtigsten Modifikationen, neben dem Zusatz von Stabilisatoren, gehört
bei Polyvinylchlorid das Einbringen von Weichmachern, deren Anteil (bezogen
auf das Gesamtgewicht), je nach Verwendungszweck des Produkts, zwischen 16
und 50 % liegen kann.47
Verschiedene Anforderungen werden dabei je nach
Verwendungszweck an die Weichmacher gestellt: Sie sollten mit dem PVC
verträglich sein, nicht ausschwitzen, gut gelieren, nicht flüchtig und extrahierbar
sein, gute elektrische Eigenschaften aufweisen, geruchs- und geschmacksneutral
und physiologisch unbedenklich sein.48
Die Weichmacher können dem Kunststoff in Form von inneren und/oder
äußeren Weichmachern zugesetzt werden. Von innerer Weichmachung spricht
man, wenn der Weichmacher in Form eines Co-polymers fest mit dem Kunststoff
43
Vgl. DOMININGHAUS 1998, S. 259
44
Vgl. STOECKHERT 1981, S. 404
45
So wurde der Wert für die maximale Arbeitsplatzkonzentration für monomeres Vinyl von
300–400 ppm im Jahr1976 auf 2–5 ppm gesenkt. (Vgl. BRYDSON 1999, S. 312)
46
Vgl. weiterführend dazu http://de.wikipedia.org/wiki/PVC (07.09.2004)
47
Vgl. SHASHOUA 2001, S. 16
48
Vgl. DOMININGHAUS 1998, S. 282
23. 23
verbunden vorliegt. Vorraussetzung für eine weichmachende Wirkung ist dabei,
dass die Glasübergangstemperaturen der beiden Polymere weit auseinander liegen.
Besonders bei polaren Polymeren, wie PVC, ist der Einsatz äußeren
Weichmachern jedoch von größerer wirtschaftlicher Bedeutung. Diese äußeren
Plastifikatoren, so eine weitere Bezeichnung, sind in der Regel schwerflüchtige
Flüssigkeiten mit einem hohen Siedepunkt (das heißt mit einem Molekulargewicht
von mindestens 300 u), deren Löslichkeitsparameter in der Nähe der
Löslichkeitsparameter des PVCs liegen. Die Weichmacher fungieren daher als
nicht- bis schwerflüchtige Lösemittel, die den Kunststoff in eine Art Gelphase
überführen.49
Vermischt werden die Weichmacher im Laufe des
Produktionsprozesses mit dem pulverförmigen PVC Polymerisat, wodurch
gießfähige Massen entstehen, die so bezeichneten Plastisole. Dabei werden die
Dipolkräfte des, aufgrund der Chloratome stark polaren Makromoleküls des PVCs
durch den Weichmacher gelockert, die Wirkungsweise lässt sich wie folgt kurz
beschreiben:50
„Weichmacher dienen dazu, die Härte und die Sprödigkeit von Polymeren
herabzusetzen. Sie vergrößern den Abstand der Molekülketten, verringern so
die Nebenvalenzkräfte und verschieben den Einfrierbereich zu tieferen
Temperaturen.“51
Möglicherweise fungieren die Weichmacher jedoch nicht nur als ein
nichtflüchtiges Lösemittel für den Kunststoff und als Abstandhalter zwischen den
Molekülketten, theoretisch kann es bei der Herstellung von Weich-PVC zu echten
Dipolverbindungen zwischen den Chloratomen der Chlor-Kohlenstoff-Dipole des
Vinyls und der Estergruppen des Weichmachers kommen.52
Erstrecken sich diese
Verbindungen vom Weichmacher aus über mehr als ein Molekül, spricht man von
polarer Quervernetzung (polar cross-linking).53
Eine weitere Theorie zur
Wirkungsweise von Plastifikatoren besagt, dass die Verbindung zwischen
Weichmacher und Kunststoff auch über Wasserstoffbrückenbindungen zu Stande
kommen können:
„In the case of PVC the hydrogen on the same carbon as the chlorine atom
is activated so that the polymer molecule acts as a proton donor. Certain
chemical groups in plasticiser molecules are proton acceptors.“54
Wie sehr die Zugabe von Weichmachern die Eigenschaften des Materials
verändert, wird ersichtlich, wenn man den Einfluss der Weichmachermenge auf
49
Vgl. BRYDSON 1999, S. 87
50
Vgl., DOMININGHAUS 1998, S. 282
51
DOMININGHAUS 1998, S. 64
52
Vgl. DOMININGHAUS 1998, S. 282
53
Vgl. BRYDSON 1999, S. 132
54
BRYDSON 1999, S. 132
24. 24
die Einfriertemperatur55
betrachtet. Der entsprechende Wert von Hart-PVC liegt
bei 75-80°C, ein Zusatz von 25 % Gewichtsanteilen Diotylphthalat (DOP)
resultiert in einem Material mit einem Erweichungsbereich von 0 bis 25 °C, das
heißt, das PVC ist in diesem Bereich gummiartig und flexibel (Vgl. Grafik 1).
Grafik 1: Abhängigkeit der Glasübergangs-
temperatur vom Weichmacher (DOP)-Gehalt.56
Nachteilig ist beim Einsatz von äußerlich eingebrachten Weichmachern, dass sie
im Gegensatz zu den chemisch mit den Monomeren fest verbundenen internen
Plastifikatoren über Kontaktflächen in andere Materialien migrieren können. Als
Folge dieser Weichmacherwanderung nimmt die Weichmacherkonzentration im
PVC selber ab, es kann zu einer deutlichen Versprödung kommen, das
angrenzende (saugfähige) Material hingegen wird durch die ungewollte
Weichmachung geschädigt.57
Zu den am häufigsten verwendeten Weichmachern von PVC gehören die
Phthalsäureester, wobei der Einsatz von Dioctylphthalat (DOP)58
am weitesten
verbreitet ist. Dieser Weichmacher fand sich auch in den analysierten Proben der
Versuchsreihen und wird daher hier exemplarisch erwähnt, ausführlich
beschrieben wird die Herstellung von DOP bei SHASHOUA.59
DOMININGHAUS
charakterisiert die Eigenschaften dieses Weichmachers wie folgt:
55
Die Einfriertemperatur bezeichnet die mittlere Temperatur des Einfrierbereichs einer
hochmolekularen, amorphen Substanz, in dem die mikrobrownsche Bewegung von
Molekülketten-Teilstücken einfriert und das Material in den Glaszustand übergeht. (Vgl.
STOECKHERT 1981, S. 147)
56
DOMININGHAUS 1998, S. 281
57
Vgl. STOECKHERT 1981, S. 550
58
Eine weitere Bezeichnung für Dioctylphthalat ist Di-2-ethylhexylphthalat, daher auch die
im deutschsprachigen Bereich seltener verwendete Kurzbezeichnung DEHP.
59
Vgl. SHASHOUA 2001, S. 14
25. 25
„DOP zeichnet sich durch hohes Geliervermögen, gute Verträglichkeit,
Lichtstabilität, geringe Flüchtigkeit, hohe Wasserfestigkeit und günstige
elektrische Eigenschaften aus.“60
DOP gilt darüber hinaus als ein effektiver, kostengünstiger all-round
Weichmacher, dementsprechend liegt sein Anteil am Gesamtverbrauch in Europa
bei circa 30 %. Damit gehört DOP, wie bereits erwähnt, zwar zu den heute am
häufigsten verwendete Weichmachern, jedoch sollte, wenn möglich, vor einer
Restaurierung der Weichmacher bestimmt werden, da besonders bei billigen
Produkten oder bei dünnen Folien kostengünstigere, jedoch weniger stabile
Plastifikatoren wie z.B. Dioctyladipat (DOA) verwendet werden. Dioctyladipate
gelten als weniger stabil als Dioctylphthalate, denn sie sind um ein vielfaches
empfindlicher gegen Feuchtigkeit, Fette, Öle, Tenside und Lösemittel.61
Da sie
jedoch kostengünstig sind, werden sie oftmals in weniger qualitätsvollen
Produkten eingesetzt, an die eine geringere Anforderung an die Haltbarkeit gestellt
wird.62
Ein weiterer häufig eingesetzter, da kostengünstiger Weichmacher ist das
Dibuthylphthalat (DBP). Dieser Weichmacher gehört zu den ältesten effektiven
Weichmachern für Weich-PVC63
, er ist jedoch verhältnismäßig leicht flüchtig.
Besonders die unterschiedlichen Löslichkeiten und Flüchtigkeiten der
Weichmacher spielen bei der Entwicklung eines Restaurierungskonzeptes eine
wichtige Rolle und das Vorhandensein leichter flüchtiger Weichmacher kann eine
Erklärung für am Objekt vorgefundene Schäden sein.
Neben Dioctylphthalat, Dioctyladipat und Dibuthylphthalat gibt es noch
zahlreiche andere Weichmacher für PVC Produkte, auf die an dieser Stelle jedoch
nicht weiter eingegangen werden soll, da sie zum Teil nur für
Spezialanwendungen wie zur Steigerung der Kältefestigkeit eingesetzt werden.
Die Unterschiede in den Eigenschaften der Weichmacher werden auf den
jeweiligen Grad an Interaktion zwischen den Weichmachern und dem PVC
zurückgeführt, ihre allgemeine Wirkungsweise ist vergleichbar mit der zuvor
beschriebenen.64
60
DOMININGHAUS 1998, S. 65
61
Vgl. <http://www.mindfully.org/Plastic/PVC-Plasticizers-Volatility-Extractability.htm>
und <http://www.devicelink.com/mddi/archive/01/04/004.html> (28.07.2004)
62
Dieser Weichmacher konnte als Bestandteil der Weich-PVC Folien in Multiples von Joseph
Beuys (‚Phosphorsäureschlitten’) nachgewiesen werden. Die Untersuchung wurde
durchgeführt, nachdem an einigen Objekten dieser Werkreihe Weichmacher nahezu
zeitgleich jedoch in verschiedenen Sammlungen austraten, die einen geschlossenen
klebrigen Film an der Oberfläche bildeten.
63
Die ersten Patenterwähnungen im Zusammenhang mit Weich-PVC stammen aus den USA
aus den Jahren 1930/31. (Vgl. KAUFMAN 1969, S. 102)
64
Vgl. BRYDSON 1999, S. 330
26. 26
Ungeklärt ist, inwieweit Weichmacher eine gesundheitliche Gefahr für den
Verbraucher darstellen.65
Informationen diesbezüglich sind selten neutral,
Verbraucherschützer und Industrie verweisen jeweils auf ihre eigenen
Untersuchungen, um die Gefährlichkeit, bzw. Ungefährlichkeit der Weichmacher
nachzuweisen. Im Brennpunkt der Diskussionen steht dabei besonders die Frage
nach geeigneten Prüfmethoden, die verlässliche Daten über die Migration von
Weichmachern liefern. Aufgrund des öffentlichen Drucks ist die Zahl der
weichmacherhaltigen Lebensmittelverpackungen und Kinderspielzeugen
rückläufig, für letztere sind nur noch Plastifikatoren zugelassen, die auch für den
medizinischen Sektor Verwendung finden – unter anderem DOP. Solange keine
gesicherten, unabhängigen Erkenntnisse vorliegen ist jedoch besonders im
Umgang mit geschädigten Weich-PVC Objekten, die Weichmacher ausschwitzen,
Vorsicht geboten. Das Tragen von geeigneten Handschuhen ist dringend zu
empfehlen.
2.3 Herstellung der Folien
Zur Herstellung von Weich-PVC Folien werden heute hauptsächlich zwei
Verfahren angewendet: das Kalander- und das Extrusionsverfahren. Das
Kalanderverfahren ist das älteste maschinelle Verfahren zur Herstellung von
Folien oder folienähnlichen Erzeugnissen. Entwickelt wurde der erste Kalander
1835, um Gummi ohne Zusatz von Lösemitteln auf Textilien und andere
Untergründe zu applizieren. Ab 1935 wurde das Verfahren auch zur Herstellung
von PVC Folien und zur PVC-Beschichtung von Textilien und anderen
Trägermaterialien verwendet, nachdem entdeckt wurde, dass PVC ohne Zusatz
von Lösemitteln in eine verarbeitbare Gelphase bei Temperaturen ab 150° C
übergeht. Die für diese Prozesse notwendige Temperaturbeständigkeit wurde durch
das Zusetzen von Stabilisatoren erreicht.66
Beim Kalandrieren wird die Weich-
PVC-Masse zunächst in einem Extruder67
unter Einwirkung von Hitze und Druck
vorverdichtet und schließlich über die Walzen des Kalanders transportiert, wo sie
bei 180 bis 200° C zu Folienbahnen ausgewalzt wird. Diese Bahnen werden
gegebenenfalls noch gereckt68
und schließlich beschnitten auf Rollen
aufgewickelt.69
65
Vgl. weiterführend dazu die Mitteilungen des Bundesinstitutes für Risikobewertung (BfR):
<http://www.bfr.bund.de/cd/2247> (06.08.2004)
66
Vgl. KAUFMAN 1969, S.155-158.
67
Im Extruder wird das Kunststoffgranulat kontinuierlich aufgeschmolzen und über eine
Schneckenwinde zum Ausgang des Extruders befördert. Die Schmelze wird dann
anschließend dem entsprechenden Formwerkzeug zugeführt. (Vgl. NENTWIG 1994, S. 49)
68
Recken, auch Verstrecken genannt, umfasst ein Verfahren, bei dem Kunststofffolien oder
Kunstfasern mono- oder biaxial im Bereich des Glasüberganges gestreckt und unter
27. 27
Schema 1: Kalandrierstraße
a: Pulvermischer, b: Extruder, c: Transportband, d: Vierwalzen-L-Kalander,
e: Temperier- und Kühlwalzen, f: Wickler
70
Auf diese Weise werden auch heute noch die Folien hergestellt, aus denen der
Blow gefertigt wird. Bezogen auf die Gesamtmenge an produzierten Weich-PVC
Folien ist das Kalanderverfahren jedoch von geringer Bedeutung. Das
Extruderverfahren, das besonders für die Herstellung von Verpackungsfolien von
Bedeutung ist, wurde soweit fortentwickelt, dass heute der Großteil der Folien
entweder als Flachfolien mit so bezeichneten Breitschlitzdüsen oder als Blasfolien
hergestellt wird. Beim letztgenannten Verfahren wird die Kunststoffschmelze
durch eine Ringdüse zu einem Schlauch geformt, der durch das Einblasen von Luft
geweitet wird. Im weiteren Prozess wird dieser Folienschlauch über Kühlwalzen
geführt, gepresst, aufgeschnitten und schließlich auf Rollen gewickelt.71
Die Herstellungsverfahren beeinflussen die Eigenschaften der Folien nicht
unwesentlich. Besonders unbeabsichtigte Reckprozesse führen zu einer
Orientierung der Folien, die sich störend bemerkbar machen kann. Folien die im
Kalanderverfahren hergestellt wurden, weisen insofern sie nicht zusätzlich gezielt
gereckt wurden, eine Verstreckung in Produktionsrichtung auf, die dazu führt, dass
die Folien bei Wärme in dieser Richtung schrumpfen. Blasfolien können
produktionsbedingt sowohl in Längs- wie in Querrichtung verstreckt sein, so dass
Schrumpfvorgänge in beide Richtungen stattfinden.
Spannung abgekühlt werden. Dieser Vorgang führt zu einer Orientierung der Moleküle,
wodurch Folieneigenschaften, wie Elastizitätsmodul oder Reißfestigkeit wesentlich
beeinflußt werden. (Vgl. STOECKHERT 1981, S. 426)
69
Vgl. NENTWIG 1994, S. 47-49
70
NENTWIG 1994, S. 48
71
Ausführlich dazu NENTWIG 1994, S. 54-61.
28. 28
2.4 Alterungsmechanismen von PVC
Die genauen Vorgänge bei der Alterung von Polyvinylchlorid sind noch nicht
abschließend geklärt, die zur Zeit favorisierten Theorien soll hier nur kurz
zusammengefasst werden; die Angaben wurden BRYDSON
72
und SHASHOUA
73
entnommen. Die hier zusammengetragenen Informationen sollen nur ein
Verständnis für die grundlegenden Alterungsmechanismen des Weich-PVCs
geben.
Die Schwachstellen des PVC Polymers liegen nicht in den Bereichen der
Vinylgruppen, vielmehr stellen strukturelle Unregelmäßigkeiten, wie Kohlenstoff-
Kohlenstoff-Doppelbindungen an Kettenenden, tertiäre Chloride, sauerstoffhaltige
Strukturen und Rückstände des Produktionsprozesses Angriffspunkte für
chemische Reaktionen dar.
„It is usually assumed that dehydrochlorination starts at imperfections in
the PVC structure and that the breaking of the first C-Cl bond may follow
either a free radical or ionic mechanism. … Loss of a chlorine atom is
followed almost immediately by abstraction of a hydrogen atom and a shift
of electrons in the polymer to form a double bond.” 74
Zu den ersten sichtbaren Veränderungen zählt die Vergilbung bzw. Verdunklung
des Kunststoffes, die auf die Bildung konjungierter Doppelbindungen
zurückzuführen sind.
“The process is prompted by imperfections in the chain and by impurities
such as solvents or metal ions. Discoloration can occur early in the life of a
polymer, long before physical properties are affected.“ 75
Bei fortschreitender Bildung dieser Systeme verändern sich die
Absorptionsbereiche vom ultravioletten Spektrum hin zu größeren Wellenlängen.
Ungefärbtes oder unpigmentiertes PVC ist zu Beginn klar-transparent und farblos,
bedingt durch die Alterung verändert sich dieser Farbton über hellgelb, orange und
braun hin zu schwarz. Das Ausmaß der Dehydrochlorierung und somit der
Schädigung des Polymers lässt sich daher am Grad der Verfärbung annähernd
feststellen.
Schema der Bildung der konjungierten Doppelbindungen76
72
Vgl. BRYDSON 1999, S. 325 f.
73
Vgl. SHASHOUA 2001, S. 17–19
74
HORIE 1994, S. 32
75
HORIE 1994, S. 32
76
BRYDSON 1999, S. 326
29. 29
Dem Licht ausgesetztes PVC kann bereits bei Raumtemperatur seine Farbe
verändern, dieser Prozess wird durch die Abspaltung von HCL noch verstärkt,
dabei werden die Zerfallsreaktionen durch den Sauerstoffgehalt der Luft noch
gefördert.
Auslösende Faktoren die zu einer Alterung und einem Verlust der
Funktionstüchtigkeit führen sind Hitze, Sauerstoff und UV Strahlung. Hitze
bedeutet bei unstabilisierten Erzeugnissen, Temperaturen über 70 °C. Da die
Produktionstemperaturen von Polyvinylchlorid aber zwischen 150-200 °C liegen,
werden Stabilisatoren und Inhibitoren dem Polymer zugefügt, um ein
gebrauchsfähiges Material produzieren zu können.
Bei weichmacherhaltigem PVC bildet auch der Weichmacher selber eine
Angriffsfläche für chemische Veränderungen, die zu Degradationsprozessen
führen. Plastifikatoren auf der Basis von Phthalaten sind aufgrund ihrer
Estergruppierungen anfällig für durch stark alkalische oder stark saure Einflüsse
ausgelöste Hydrolyseprozesse. Eine weitere Schwachstelle bilden auch die
Alkylgruppen des DOP Moleküls, sie können schon unter Raumbedingungen mit
Sauerstoff zu Phthalsäure reagieren.77
Weichmacherverluste können auf verschiedene Weise zustande kommen,
wobei die genauen Ursachen für Phänomene wie das Ausschwitzen von
Weichmachern noch nicht ganz geklärt sind. Zum einen kann der Kontakt mit
saugfähigen Substraten zu einer Migration von Plastifikatoren führen, so dass es
zu einer Versprödung und Schwächung des Weich-PVCs kommt. Weichmacher
können vermutlich auch infolge von Alterungsprozessen des PVCs an die
Oberfläche auswandern, wo sie dann einen klebrigen Film bilden. Denkbar ist,
dass sich durch eine fortschreitende Dehydrochlorierung die Polarität des PVC
soweit verändert, dass der über Dipolverbindungen eingebundene Weichmacher
durch die abnehmende Polarität ‚abgestoßen’ wird und an die Oberfläche austritt.
Eine Rolle spielt bei derartigen Prozessen mit Sicherheit auch die Art der
Nutzung und Aufbewahrung der Objekte, jedoch auch die Materialqualität des
PVCs, sowie die Menge und Art des eingebrachten Weichmachers.
Ist der Kunststoff durch den Abbau des PVC Polymers oder des Weichmachers
vorgeschädigt, kann es durch physikalische Einwirkungen zu weiteren Schäden am
Material kommen. Eine Nutzung bei einer verminderten Elastizität des Weich
PVCs oder auch durch das Eigengewicht des Objektes allein kann zur Bildung von
Rissen und schließlich zum Auftreten von Brüchen führen.
77
Vgl. ausführlich dazu SHASHOUA 2001, S. 19-22.
30. 30
3 Restaurierungstheoretische Überlegungen
Um ein objektgerechtes Konservierungs- oder Restaurierungskonzept entwickeln
zu können, ist es nicht nur notwendig, sich mit den physikalischen und chemischen
Eigenschaften der Kunststoffe auseinanderzusetzen, auch die Bedeutung des
Materials und seiner Alterungserscheinungen für die Gesamtwahrnehmung des
Objektes bedarf einer näheren Betrachtung, der sich in diesem Kapitel gewidmet
werden soll.
3.1 Patina bei Kunststoffen?
Zu den Aufgaben eines Restaurators gehört es, auch bei Reinigungsmaßnahmen
die Patina eines Objektes zu bewahren, um diese, für die Rezeption des Objektes
wertvolle Information, zu erhalten. Die Auffassung, dass auch Kunststoffe eine
schützenswerte Patina ausbilden ist jedoch noch nicht weit verbreitet. Die Frage,
inwieweit sich die Idee einer Patina bei Kunststoffen einem breiten Publikum
vermitteln lässt, oder ob diese Einschätzung lediglich einem kleinen Kreis von
spezialisierten Sammlern, Kunsthistorikern und Restauratoren zugänglich ist, ist
schwierig zu beantworten. So konstatiert BRACHERT in der Einleitung seiner
Publikation zur Patina:
„Zeugnisse des Kunstgewerbes erfuhren im Zeitalter der Maschinenware
plötzlich eine ungeahnte Aufwertung, als mahnend utopisches Zeichen
dessen, was Fülle, was Ornament, was tüchtig umgebende Phantasie
war[…] Die Maschine hat andere Bedingungen geschaffen, als sie die
handwerklichen waren, denen alle Antiquitäten entstammen.“78
Patina wird hier als ein Ausdruck des Schönen und Echten gesehen, des
‚beseelten’ Gegenstandes, dessen Formgebung durch Gefühl geprägt wird und
nicht durch die Bedingungen einer Maschine. Den modernen, maschinellen
Erzeugnissen wird aufgrund des Mangels an ‚tüchtig umgebender Phantasie’ eine
Patina, gar der Antiquitätenwert, abgesprochen. Die Erwartungshaltung des
Verbrauchers gegenüber Kunststoffprodukten wurde diesbezüglich von der
Kunststoff produzierenden Industrie, zusammen mit den Produktdesignern, über
Jahrzehnte geprägt. So haben besonders hochglänzende Kunststoffe79
eine glatte
und makellose Oberfläche zu haben, einfarbige Produkte sollten eine gleichmäßige
78
BRACHERT 1985, S. 12
79
Matte Kunststoffoberflächen, wie sie vor allem bei Objekten aus Polyethylen vertraut sind
– es seien hier nur die zahlreichen Haushaltsprodukte der Firmen Tupperware und
Authentics genannt – sind zwar vergleichsweise unempfindlich gegen Kratzer, jedoch sind
derartige Oberflächen schwerer zu reinigen als hochglänzende, was sich wiederum
nachteilig auf die Ausbildung einer echten Patina auswirkt.
31. 31
Farbigkeit aufweisen. Damit verbunden sind Assoziationen wie hygienisch,
pflegeleicht, sauber, neuwertig, die der Idee von Patina entgegenstehen.
„Moreover, while in traditional materials deterioration phenomena such as
yellowing, matness and patina are recognised and accepted, the various
appearances of degrading plastics are not yet fully understood – or
appreciated.”80
Kann das Produkt diesen Anforderungen nicht mehr standhalten, wird es
weggeworfen und durch ein ähnliches oder baugleiches ersetzt, so die Vorstellung
und das Interesse der Industrie. Möglich ist dieses Konzept aufgrund der
maschinellen seriellen Produktion, die es erlaubt kostengünstige Produkte von
gleichbleibender Qualität zu erzeugen.81
Werden Kunststoffobjekte zu Sammlungsgegenständen, so wird der Sammler,
mehr noch der Restaurator, mit der Diskrepanz zwischen der eigenen Vorstellung
von Kunststoffoberflächen und der tatsächlichen Erscheinungsform eines
gealterten Gegenstandes konfrontiert. Der Wunsch, das Objekt möglichst seiner
ursprünglichen Erscheinungsform wieder anzunähern, zum Beispiel durch ein
Polieren der Oberfläche, um verlorenen Glanz zurückzugewinnen, steht diametral
der Idee von Patina gegenüber.
Erst das Bewusstsein um die eigene, kulturell geprägte Erwartungshaltung
bezüglich der Kunststoffe ermöglicht es dem Restaurator, ein objektgerechtes
Behandlungskonzept, unabhängig von den eigenen Sehgewohnheiten, zu
entwickeln und den Sammler für die veränderte Erscheinungsform zu
sensibilisieren, bzw. sie als eine positive Veränderung umzudeuten. Erlaubt doch
häufig erst das Vorhandensein einer Patina bei seriell produzierten Objekten oder
bei Re-Editionen dem Sachkundigen die sichere Zuordnung zu einer weiter
zurückliegenden Produktionsphase, wodurch das Objekt möglicherweise eine
wertsteigernde Aura der Authentizität gegenüber jüngeren Produkten erlangt.
Welche Art und welcher Grad von Patina an einem Objekt akzeptiert wird,
hängt von den Vorstellungen ab, die der Betrachter mit dem Gegenstand
verknüpft. Diese können zum einen höchst individuell sein und auf persönlichen
Erfahrungen und Werten basieren, jedoch auch in Form von
‚Geschichtsbewusstsein’ und durch Mythenbildung geprägt worden sein. So kann
einem Sitzsack Sacco von 1968 eine Patina zugestanden werden, die durchaus
auch von einem unpfleglichen Umgang stammen kann. Derartige Spuren würden
80
VAN OOSTEN 1999, S. 158
81
Gleichbleibende Qualität kann, muss dabei aber nicht für eine lange Haltbarkeit bürgen.
Zwar lassen sich bei vollständig automatisierten Prozessen Fehler durch menschliches
Versagen weitestgehend vermeiden, jedoch liegt eine hohe Qualität nicht unbedingt im
Interesse des Handels. Eine stetige Nachfrage nach den Erzeugnissen kann auf zweierlei
Weise erreicht werden: Indem die Haltbarkeit des Produkts begrenzt ist, oder indem über
das Design modische ‚Mindesthaltbarkeitszeiten’ eingeführt werden.
32. 32
vom ‚ideologisch korrektem’ Umgang mit dem Objekt zeugen, dem ‚feinsinnigen’
Betrachter wird ein Einblick in den Zeitgeist von 1968 gewährt. Das Objekt kann
im Betrachter auf diese Weise ein von seiner Gestaltung unabhängiges Gefühl
erwecken:
„Patina verbindet sich mit Nostalgie. Sie bildet gewissermaßen einen
nostalgischen Abglanz der Vergangenheit, die sich über die Zeiten hinweg
fortsetzt.“ 82
Die Akzeptanz von Patina hängt unter Umständen auch vom Wert eines Objektes,
besonders von seinem Sammlerwert ab. Einem raren, namhaften Designobjekt mit
hohem Wiedererkennungswert, einer ‚Design-Ikone’, wird womöglich eher eine
Patina zugestanden, als einem Nutzgegenstand eines unbekannten Produzenten
und Designers.83
„Generell, darf man sagen, hängt die Eignung eines Gegenstandes, Patina
anzusetzen, mit seinem Wert und mit seiner ideellen Betrachtung zusammen.
Ein Gegenstand kann um so eher Patina ansetzen, je ‚wertvoller’, kostbarer,
fester, glänzender etc. das Material seiner Oberfläche ist. Und das was die
frühen Kunststoffe auszeichnet ist der Glanz, dieser verblasst im Laufe der
Zeit. Doch auch die veränderte Erscheinung hat nicht nur seinen Reiz,
sondern verbirgt auch Wissen.“84
Patina kann somit nicht nur eine Zusatzinformation darstellen, sie kann auch
wichtige Informationen über das Objekt verdecken. Die Problematik des
‚verborgenen Wissens’ findet sich jedoch nicht nur bei Kunststoffobjekten. So
können die ehemals farbigen Marketerien als Beispiel für Objekte aus
traditionellen Materialien angeführt werden, bei denen die Patina Informationen
verbirgt. Besonders bei Raumausstattungen, die als Gesamtkunstwerk verstanden
werden können, bleibt dem heutigen Betrachter das Wissen um die ehemalige
Farbigkeit und subtilen Farbdifferenzierungen verborgen. Dieser Mangel wird
jedoch selten als störend empfunden, die altersbedingte Farbgebung wird sogar als
Abglanz einer ‚goldenen Zeit’ umgedeutet.
Inwieweit Wissen tatsächlich im Falle gealterter pneumatischer Objekte aus
Weich-PVC Folien dem Betrachter verborgen bleibt, lässt sich schwer sagen. Die
zahlreichen aufblasbaren Gegenstände, Re-Editionen und Plagiate, die bis heute
hergestellt werden, prägen jedoch die Vorstellung vom Oberflächeneindruck
dieser Objekte: glatt, glänzend, prall. Die Novität von flexibler Transparenz, wie
sie in den sechziger Jahren mit dem Aufkommen der Weich-PVC Folien
empfunden wurde, hat sich heute verloren und ist für den Betrachter aufgrund
ihrer Alltäglichkeit nur noch schwer nachvollziehbar. Das die hochglänzenden
82
WAENTIG 2004, S. 136
83
Vgl. BRACHERT 1985, S. 12
84
WAENTIG 2004, S. 135
33. 33
makellosen Oberflächen nicht von allen begrüßt wurden, verdeutlicht ein Zitat von
BENHAM von 1968:
“Designed by Peter Murray and Tony Gwilliam for Nova magazine […] this
dome had the general aesthetic virtue of being transparent, qualified by a
fine grain of wrinkles (caused by wear, age, and constant folding, unfolding
and being lugged around), which had the additional aesthetic virtue of
breaking up the rather slick oily highlights that often appear on sheet plastic
goods, and giving something of a sparkle under studio lighting.”85
Ob eine Veränderung der ehemals makellosen, glänzenden Oberflächen toleriert
werden kann, hängt von der Information ab, die das Objekt transportieren soll. Zur
Präsentation der reinen Idee des Designs ist eine makellose Oberfläche sicher
besser geeignet, als eine gealterte, matte oder gar vergilbte. Als Zeitzeugnis und
historisches Dokument ist hingegen genau diese veränderte Oberfläche von
Aussagekraft. Sie verdeutlicht den zeitlichen Abstand zwischen den sechziger
Jahren und heute – eine Zeitspanne von fast vierzig Jahren. Ein glänzendes
Replikat würde eine zeitliche Unmittelbarkeit suggerieren, die nicht besteht. Allein
eine gealterte Oberfläche kann so in einer Zeit der Re-Editionen dem Betrachter
vermitteln, dass es sich um ein Relikt der sechziger Jahre handelt.
Wie groß der Abstand zwischen dem heutigen und dem Publikum der
sechziger Jahre ist, wird deutlich beim Betrachten von der Idee des space-age
geprägten Designs. Die zur damaligen Zeit aus ‚high-tech’ Materialien
produzierten Objekte und Ausstattungen vermitteln heute mit ihren ehemals
leuchtenden Farben, glänzenden Oberflächen, organischen Formen und plakativen
Mustern den Eindruck von Naivität, Talmi, Tand und Flitter, sie versprühen den
angestaubten Charme des Sortiments einer ‚Second Hand Boutique’. In Form des
so bezeichneten Retro-Designs kehren die Objekte zurück, jedoch nicht als ein
optimistisches Sinnbild der Zukunft, sondern entweder als ein nostalgischer
Rückblick auf die Utopien der Vergangenheit oder als ‚Designikone’, die als
Kunstobjekt präsentiert wird. In einem Interview mit Barbara Til erläutert Ingo
Maurer die Beweggründe, die seiner Ansicht nach dem heutigen Interesse am
Design der späten sechziger Jahre zugrunde liegen:
„Ich bin überzeugt, daß das Interesse an den 60er Jahren so gestiegen ist,
weil im Design dieser Jahre Visionen zu spüren sind, auch wenn wir jetzt
diese Visionen aus den inzwischen gewonnenen Erfahrungen teilweise
belächeln. Es sind wie gesagt, sehr gute Dinge entstanden, und das
revolutionäre Element, das sie in sich tragen, hat offenbar Langzeitwirkung.
Manches aus jenen Jahren würde ich gerne beschützen gegen hochnäsige
Betrachtungen und Kommentare. Heute, in einer Zeit der großen
Unsicherheit, zieht sich eine große Mehrheit auf Traditionen zurück, weil
diese die Illusion vermitteln, sich in Sicherheit wiegen zu können. Schocker,
Aufrüttler und wirkliche Provokationen im positiven Sinne sind äußerst
85
BENHAM 1968, S. 32
34. 34
selten. Die 60er Jahre waren einfach aufregender, und das ist noch immer
zu spüren.“86
3.2 Veränderungen an Objekten aus Weich-PVC Folien
Im Folgenden sollen die häufigsten Veränderungen beschrieben werden, die an
Objekten aus Weich-PVC Folien auftreten können. Die Beschreibungen basieren
auf Beobachtungen, die bei der Untersuchung der Objektgruppe der aufblasbaren
Sessel gemacht wurden wobei diese nur einen kleinen Ausschnitt aus der
Gesamtheit der Weich-PVC Erzeugnisse darstellen. Aufgrund der zahlreichen
Modifikationsmöglichkeiten können neben den beschriebenen weitere
Veränderungen an Objekten aus Weich-PVC Folien auftreten.
Zu den ersten sichtbaren Veränderungen, die an transparenten Objekten aus
Weich-PVC Folien als Schaden wahrgenommen werden, gehören Vergilbungen
und Verbräunungen der Folie (Abb. 15). Diese können bereits zu einem frühen
Zeitpunkt auftreten, ohne dass Eigenschaften, wie Elastizität und Gasdichte,
beeinträchtigt würden. Dennoch gilt für die Industrie, wie BRYDSON beschreibt,
eine Farbveränderung in vielen Fällen bereits das Ende der useful-lifetime eines
Produkts:
„For most commercial purposes, the ‘end-point’ is in fact the formation of
colour. With some applications some colour changes can be acceptable; in
other cases little or no change may be tolerated.”87
Die Vergilbungen der Folien treten nicht unbedingt gleichmäßig auf. So ist bei
dem als Versuchsmaterial erworbenen Blow und bei einem Sessel aus den
sechziger Jahren aus Privatbesitz festzustellen, dass exponierte Stellen tendenziell
stärkere Vergilbungen aufweisen, als verdeckte Bereiche. Dies mag zum einen auf
den Einfluss von Licht zurückzuführen sein, zum anderen jedoch auch auf
nutzungsbedingte Ablagerungen auf der Oberfläche, wie Hautfett, Handschweiß
oder Rückstände von Pflege- und Kosmetikprodukten. Am schnellsten werden
derartige Veränderungen bei den ungefärbten, klar-transparenten Objekten
wahrgenommen, die im neuen Zustand eher leicht bläulich wirken. Bei den
gefärbten Objekten fallen sie naturgemäß weniger und später auf.
Verfärbungen können auch von äußeren Faktoren herrühren. Aufgrund der
amorphen Struktur des Kunststoffes können farbige Substanzen in flüssiger oder
auch fester Form an Kontaktflächen in das Material eindringen und es dauerhaft
verfärben. Möglich ist auch eine Verfärbung der Folien durch eine mikrobielle
Besiedlung. So wurde an einem opak-weißen Sitzkissen eines Blow aus der
86
SCHEPERS 1998, S. 85
87
BRYDSON 1999, S. 326
35. 35
Sammlung des Vitra Design Museums eine durch Schimmelpilze verursachte
Fleckbildung festgestellt (Abb. 16).
Deutlicher beeinträchtigt wird die Nutzbarkeit von Weich-PVC Objekten
durch den Verlust von Weichmachern. Neben der zuvor bereits beschriebenen
alterungsbedingten Migration von Plastifikatoren (vgl. Abschnitt 2.4) kann
möglicherweise auch ein produktionsbedingter Überschuss an Weichmachern oder
die Art des verwendeten Weichmachers die Ursache für eine klebrige Oberfläche
sein.88
Betroffen ist davon nicht unbedingt das ganze Objekt. So beschränken sich
die klebrigen Bereiche bei dem schon erwähnten Sessel aus Privatbesitz auf den
vorderen Bereich der Armlehnen und der Auflagefläche der Kopfstütze.
Da die meisten Weichmacher nicht wasserlöslich sind, lassen sich diese
klebrigen Filme nicht einfach von der Oberfläche entfernen. Die Objekte fühlen
sich durch die Klebrigkeit unangenehm an, eingebundene Schmutzpartikel lassen
schnell einen ungepflegten Eindruck entstehen. Schreitet der Verfall weiter fort,
kann es neben der Ausbildung einer klebrigen Oberfläche zur Bildung kristalliner
Ausblühungen kommen. Dabei handelt es sich um die sauren Abbauprodukte der
Weichmacher, wie zum Beispiel Phthalsäure als Abbauprodukt von
Dioctylphthalat (DOP).89
Eine Minderung der Flexibilität des Kunststoffes kann auch unabhängig von
der Ausbildung einer klebrigen Oberfläche bereits zu einem frühen Zeitpunkt
auftreten und ist vermutlich auf den Verlust leichtflüchtiger Weichmacher
zurückzuführen. Größere Weichmacherverluste führen zum starken Verspröden
des Kunststoffes und letztlich zu einem völligen Verlust der Funktionstüchtigkeit
durch Brüche und Risse.
Neben den beschriebenen chemisch verursachten Veränderungen werden Weich-
PVC Objekte häufig auch durch mechanische Einwirkungen verändert. Zwar sind
die Objekte nicht besonders empfindlich gegen Kratzer, jedoch bilden sich leicht
Knickfalten, die nur schwer wieder zu entfernen sind. Deutlich wird dies
besonders bei aufblasbaren Sesseln, die luftleer gelagert wurden. Selbst nach dem
Befüllen der Sessel mit Luft zeichnen sich die Knicke deutlich ab und erscheinen
störend auf der ansonsten glatten, gespannten Oberfläche (Abb. 17).
Zwar sind die durch Alterungsvorgänge in ihrer Flexibilität reduzierten
Objekte bei mechanischen Belastungen schadensanfälliger, dennoch treten
88
Da Weichmacher kostengünstiger als das Basismaterial Polyvinylchlorid sind, kann es
vorkommen, dass sie im Übermaß Produkten zugesetzt werden, bei denen die
Gewinnmaximierung vor die Produktqualität gestellt wird. Auch ältere Weich-PVC
Objekte aus der Frühzeit der Produktion können einen Überschuss an Plastifikatoren
aufweisen, da die Kenntnis um die idealen Mischungsverhältnisse erst entwickelt werden
musste.
89
Vgl. SHASHOUA 2001, S. 39-41
36. 36
Schäden wie Perforationen der Folie bei unsachgemäßer Handhabung auch an
neuen Objekten auf. Besonders schwerwiegende Schäden sind die
Durchstoßungen der Folienhaut bei aufblasbaren Gegenständen. Diese verlieren
selbst durch kleinste Beschädigungen, die kaum mit dem Auge wahrnehmbar sind,
ihre Funktionstüchtigkeit und damit auch ihre Ausstellungsfähigkeit. Häufiger als
in den Flächen der Folien treten Undichtigkeiten im Bereich der Nähte auf. Dies
betrifft besonders gealterte Objekte, da die Nahtbereiche (‚Saumzugaben’) früher
als die Flächen in ihrer Flexibilität nachlassen. Wird ein gealtertes Objekt
weiterhin straff mit Luft befüllt, kann es vor allem im Bereich der formbedingten
Knickfalten zu Brüchen im Übergangsbereich von Naht – Fläche kommen. Durch
eine unachtsame Handhabung der Objekte beim Transport kann es zudem zur
Bildung von Rissen im Übergangsbereich zwischen den Stützsegmenten und den
luftgefüllten Seitenteilen kommen (Abb. 18). Diese beeinträchtigen zwar nicht die
Funktionsfähigkeit der Objekte, sie sind jedoch eine deutlich sichtbare ästhetische
Beeinträchtigung. Eine weitere Schwachstelle stellen bei den aufblasbaren Sesseln
der Firma Zanotta die Ventile dar. Sowohl ein Versenken der Stöpsel kann zu
Brüchen führen, wie auch ein Nichtversenken. Aufgrund der Konstruktion der
Sessel drückt das obere Segment bei Benutzung gegen herausragende Ventile des
unteren Segments. Der Stöpsel wird in diesem Bereich stark überdehnt, so dass es
schließlich zum Bruch kommt. Vermutlich war ein derartiger Bruch die Ursache
für einen fehlgeschlagenen Reparaturversuch an einem Sessel aus der Sammlung
des Vitra Design Museums, dessen Ventil heute durch einen ungeeigneten Kleber
vollständig zerstört ist (Abb. 24).
3.3 Schaden oder Patina?
Die Frage, welche Alterungserscheinungen von Objekten aus Weich-PVC als
Schaden, und welche hingegen als Patina einzuordnen sind, lässt sich nur schwer
beantworten. Dies liegt zum einen darin begründet, dass der Begriff Patina keine
strikte Definition darstellt, zum anderen darin, das die Abgrenzung zwischen
Schaden und Alterungsphänomen bei Kunststoffen nicht eindeutig möglich ist.
Patina beschreibt im allgemeinen Sprachgebrauch eine durch den Verlauf der
Zeit veränderte Oberfläche, die zur ideellen und/oder materiellen Wertsteigerung
des Objektes beitragen kann. Dabei wird die Ausbildung einer Patina durch eine
objektgerechte Nutzung gefördert, dass heißt durch sachgerechtem Gebrauch und
sorgfältiger Pflege. Patina historisiert das Objekt und verleiht ihm darüber hinaus
eine emotionale Komponente, da sie dem Betrachter gleichzeitig Beständigkeit
und Vergänglichkeit vermittelt und so eine Brücke zur Vergangenheit schlägt.
„Zusammenfassend kann man sagen, dass eine nicht schadhafte
Veränderung der Oberfläche, welche sich über Jahre oder Jahrzehnte
37. 37
gebildet hat, als Patina anzusehen ist; sie repräsentiert auch ein gewisses
Alter. Damit einher geht die Veränderung von einer vielleicht ehemals
perfekten Oberfläche zu einer unruhigeren, aber auch lebhafteren
Oberfläche, die die Spuren des Alters zeigt. Denn gerade die Oberfläche ist
der wichtigste und repräsentativste Teil eines Objektes.“90
Im Bereich der Gebrauchsgegenstände beschreibt der Begriff Patina das sichtbare
Ergebnis des Zusammenwirkens von natürlicher Materialalterung und
menschlichem Einfluss, oder wie BRACHERT schreibt:
„Unter Patina werden somit alle Alterungsvorgänge von Werkstoffen
verstanden.“91
Für einen Küchenstuhl aus Holz beinhaltet der Begriff Patina teils gegensätzliche
Veränderungen, die dennoch jeweils als wertsteigernd empfunden werden können.
So kann sowohl ein Ausbleichen wie auch ein Nachdunkeln der natürlichen
Holzfarbe oder des Schutzüberzuges als Patina gelten, jedoch können diese
Veränderungen auch als Schaden definiert werden. Auch eine durch mechanische
Einwirkungen verursachte Veränderung der Oberflächentextur kann je nach
Funktion des Objektes als Wertsteigerung oder als Beschädigung gelten. Die
Übergänge zwischen beiden Zustandsdefinitionen sind fließend, und der Umfang
der Restaurierung wird durch das ästhetische Empfinden des bearbeitenden
Restaurators wesentlich mitbestimmt. Absprachen zwischen Eigentümer, Kurator
und Restaurator werden behindert durch das jeweils subjektive Verständnis von
Begrifflichkeiten. So kann die Formulierung ‚gereinigte Oberfläche’ von
Restaurator zu Restaurator verschieden ausgelegt werden, noch stärker können
verschiedene Auffassungen von Begrifflichkeiten bei berufsübergreifenden
Kommunikationen zu Tage treten.
Die Erscheinungsform einer Patina wird von den Materialeigenschaften der
Holzart und der Art der Oberflächenveredelung oder des Oberflächenschutzes
wesentlich beeinflusst. So verursachen im Holz vorhandene Bestandteile wie
Gerbstoffe oder Lignin mit der Zeit ein natürliches Nachdunkeln der ursprünglich
hellen Hölzer. Stark farbige oder gebeizte Hölzer können unter dem Einfluss von
Licht und Sauerstoff verblassen. Beispielhaft für letzteren Vorgang sind besonders
die ursprünglich farbigen Marketerien an Möbeln, Raumausstattungen und
kunsthandwerklichen Erzeugnissen, die sich dem heutigen Betrachter heute
größtenteils monochrom in Brauntönen darstellen (Abb. 19). Diese
Farbveränderungen sind auch an den teuer gehandelten Objekten namhafter
Ebenisten weitestgehend akzeptiert, da sie den Sehgewohnheiten des Betrachters
entsprechen. Ein Nachfärben der Hölzer oder ein Abschleifen der verblichenen
90
WAENTIG 2004, S. 135
91
BRACHERT 1985, S. 10
38. 38
Oberfläche ist daher nicht gefragt und das ‚entpatinieren’92
bildet heute bei
verantwortungsbewussten Restaurierungen die Ausnahme.93
Licht und Oxidationsprozesse spielen ebenfalls eine Rolle bei den farblichen
Veränderungen von Objekten aus PVC. Hier führt die Bildung konjugierter
Doppelbindungen (Vergleiche Kapitel 2.4), die durch die Dehydrochlorierung
verursacht werden, zu einer Vergilbung bzw. Verbräunung des Kunststoffes. Diese
Farbveränderung beginnt bei unzureichend stabilisierten Materialien zu einem
frühen Zeitpunkt und verläuft fortschreitend. Ein wesentlicher Unterschied zumm
Werkstoff Holz besteht jedoch darin, dass sich die Veränderungen des PVCs nicht
durch chemische oder abrasive Mittel und Methoden reduzieren oder entfernen
lassen, sie sind unumkehrbar und verlaufen darüber hinaus vergleichsweise
schnell.
Charakteristisch für den Werkstoff Weich-PVC ist der Zusatz von
Weichmachern, die nur durch schwache Bindungskräfte mit dem PVC Polymer
verbunden sind. Auch bei sachgemäßer Nutzung kann es bei Objekten aus Weich-
PVC im Laufe der Zeit zu Trübungen und Vergilbungen (Abb. 20) und unter
Umständen auch zur bereits beschriebenen Migration von Weichmacher an die
Materialoberfläche kommen (siehe dazu Kapitel 2.3) (Abb. 21). Lediglich
Aufbewahrungsbedingungen, die das Objekt einer Nutzung vollständig entziehen,
können diese Alterungsphänomene stark verlangsamen oder sogar verhindern. So
lässt sich vielleicht BRACHERTs Erläuterung zur Metallpatina auf diese
Objektgruppe übertragen:
„Denn diese Patina, ganz gleich, ob sie als ‚Wunschpathos’ so etwas wie
nostalgische oder malerisch-ästhetische Lustgefühle zu stimulieren vermag
oder selbst im naturwissenschaftlichen Sinne nur als Korrosionsprodukt
verstanden wird, ist ein integraler Bestandteil des Ganzen und aus diesem
hervorgegangen.“94
Die genannten Veränderungen sind zwar gleichfalls, wie die Korrosion bei
Metallen, materialinhärent, so dass man in diesem Sinn von einer Patina sprechen
kann, verschiedene Aspekte sprechen aber auch gegen eine derartige Einordnung.
So handelt es sich bei den Veränderungen des Weich-PVCs nicht um
passivierende Vorgänge, die zur Ausbildung einer Schutzschicht führen, sondern
um das Erscheinungsbild einer fortschreitenden Degradation. Vielleicht sind die
alterungsbedingten Veränderungen des Werkstoffes besser mit den schädlichen
92
BRACHERT benutzt den Begriff im Zusammenhang mit der Entfernung von
Oxidationsprodukten von Möbelbeschlägen und modernen Metallobjekten aus dem Umfeld
des Bauhauses. So spricht er sich bei Metallobjekten auch für Radikalreinigungen aus, da
Patinierungen hier „meist eine schwere Beeinträchtigung der Konzeption des Ganzen dar
[stellen].“ (Vgl. BRACHERT 1985, S. 140)
93
Vgl. BRACHERT 1985, S. 194
94
BRACHERT 1985, S. 13
39. 39
Korrosionserscheinungen an Metallen, wie zum Beispiel der Bronzekrankheit zu
vergleichen, wobei für diese erfolgreiche Behandlungskonzepte existieren.95
Die Schwierigkeit zwischen Patina und Beschädigung zu unterscheiden,
besteht auch vielfach bei Gegenständen aus traditionellen Materialien, und wo
genau Patina aufhört, bzw. wo ein Schaden beginnt, lässt sich häufig nur mit Hilfe
von Naturwissenschaften und innerhalb aktueller kulturphilosophischer
Strömungen und Tendenzen für den Moment definieren. Eine zeitlich universelle
Gültigkeit besitzt ein derartiges Urteil nicht. So wäre eine Definition möglich, die
beinhaltet, dass nicht mehr von Patina zu sprechen ist, wenn das Objekt durch die
Oberflächenveränderung akut gefährdet wird oder es in seiner Funktion nicht mehr
ablesbar, also entstellt ist.
In diesem Sinne wäre das alterungsbedingte Auswandern von Weichmachern
aus Weich-PVC an die Objektoberfläche keine Patina, sondern ein Schaden, wobei
noch nicht geklärt ist, ob eine geschlossene Weichmacherschicht nicht auch einen
passivierenden Einfluss auf die weitere Alterung des Objektes ausübt.96
Diesem
möglichen positiven Effekt gegenüber steht der Umstand, dass eine klebrige
Oberfläche Schmutz- und Schadstoffe anzieht und schließlich einbindet. Neben
der optischen Beeinträchtigung kann es zu physikalischen und chemischen
Reaktionen zwischen der Schmutzschicht, der Weichmacherschicht und dem PVC
kommen. Auch eine mikrobielle Besiedlung ist unter schlechten Lagerungs- oder
Ausstellungsbedingungen möglich (Abb. 16). Der weitere chemische Abbau des
ausgetretenen Weichmachers zu sauren Reaktionsprodukten führt, nicht zuletzt
durch Kristallausblühungen, zu einer weiteren Beeinträchtigung der Oberfläche.
Schlussendlich ist auch ein mögliches gesundheitliches Risiko nicht zu
vernachlässigen, dass von den ausgetretenen Weichmachern und den weiteren
Abbauprodukten des Weich-PVCs ausgehen könnte. Eine gesundheitsschädigende
Patina ist schwerlich akzeptabel.
So lässt sich abschließend sagen, dass ein Auswandern von Weichmachern an
die Oberfläche bei Objekten aus Weich-PVC zwar ein natürliches
Alterungsphänomen des Kunststoffes darzustellen scheint, die Zuordnung des
Begriffes Patina zu dieser Alterungserscheinung jedoch aufgrund der negativen
Aspekte unzutreffend ist. Es stellt sich daher die Frage, ob die Materialgruppe der
Kunststoffe sich mit der Terminologie zur Charakterisierung der traditionellen
Materialien erfassen und beschreiben lässt.
95
Die Bronzekrankheit wird durch Kupferchloridionen ausgelöst, die sich unter Einfluss von
Sauerstoff und Wasser autokatalytisch fortsetzt und schließlich zur völligen Zerstörung des
Objekts führt. Vgl. KOESLING 1999, S. 182
96
Vgl. SHASHOUA 2001, S. 84
40. 40
4 Technische Aspekte bei der Restaurierung gealterter Kunststoffe
Im folgenden Kapitel soll zunächst der aktuelle Forschungsstand zum
restauratorischen und konservatorischen Umgang mit Objekten aus Weich-PVC
vorgestellt werden, bevor die technischen Aspekte in Bezug auf die Reinigung,
Verklebung und Aufbewahrung von gealterten und beschädigten Objekten aus
Weich-PVC Folien diskutiert werden.
4.1 Forschungsstand zur Restaurierung von Objekten aus Weich-PVC
Grundlagenforschung zur Restaurierung von Objekten aus natürlich gealtertem
Weich-PVC existiert bis dato sehr wenig. Vorgestellt werden sollen hier nur die
für diese Arbeit wichtigsten Publikationen.
1988 erschien eine erste Untersuchung von Don SALE
97
, die Ergebnisse von
Lösemitteltests an Kunststoffen, unter anderem an neuen Weich-PVC Folien,
vorstellt. Um die Auswirkung von zehn in der Restaurierung gebräuchlichen
Lösemitteln auf Kunststoffe zu ermitteln, wurden Probekörper aus transparenter
Weich-PVC Folie von 1 cm x 3 cm Größe für eine Minute bzw. für eine Stunde in
Lösemitteln gebadet. Die Gewichtsveränderungen der Folien wurden anschließend
im Abstand von einer Minute, einer Stunde, 24 Stunden und 12 Tagen bis auf die
erste Dezimalstelle gemessen. Als Ergebnis dieser Untersuchung konnte
festgehalten werden, dass lediglich bei dem Netzmittel Orvus WA Paste98
in
destilliertem Wasser keine Gewichtsveränderungen eintraten.
Die von SALE publizierten Ergebnisse geben zwar eine Vorstellung von den
Auswirkungen der verschiedenen Lösemittel auf Kunststoffe, jedoch sind die
Resultate kritisch zu betrachten. So wurden keine Angaben über die
Zusammensetzung des Weich-PVCs, insbesondere über die Art des
Weichmachers, gemacht, noch wurden die verwendeten Proben zuvor auf
Produktionsrückstände untersucht. Auf der Oberfläche der Proben verbliebene
Gleit- und Trennmittel könnten so unbemerkt zu den gemessenen
Gewichtsverlusten beigetragen haben. Des Weiteren ist zu bemängeln, dass im
Rahmen der von SALE vorgestellten Untersuchungen pro Versuchsreihe lediglich
97
Vgl. SALE 1988
98
Es handelt sich bei dem Produkt um ein synthethisches, anionisches Detergenz auf der
Basis von Sodium-Lauryl-Sulfat und Lauryl-Alkohol mit einem neutralen pH-Wert der
Firma Procter und Gamble. Zahlreiche amerikanische Beiträge in der Conservation DistList
legen die Vermutung nahe, dass das ursprünglich zum Waschen von Pferden und Vieh
entwickelte Detergenz in Nordamerika in der Restaurierung als ein mildes, leicht
erhältliches all-round Waschmittel verwendet wird.
Vgl. <http://palimpsest.stanford.edu/cgi-bin/AT-cool_hypermailsearch.cgi> (04.08.2004)
41. 41
zwei relativ kleine Probekörper verwendet wurden. Die im Rahmen dieser
Diplomarbeit durchgeführten Versuche, die sich an denen SALES orientierten,
zeigten eine weite Streuung der bei den Probekörpern vergemessenen
Gewichtsveränderungen, so dass die Auswertung lediglich zweier Proben kein
statistisch sicheres Bild vermitteln kann. Die beobachtete Streuung der
Messergebnisse lässt sich auch bereits an den von SALE veröffentlichten Werten
ablesen.
Fraglich ist auch die Genauigkeit der publizierten Messwerte, deren
Veränderungen lediglich in Prozent angegeben wurden. Bei einer Probengröße von
1 cm x 3 cm lassen sich Gewichtsveränderungen im Bereich von zehntel Gramm
nur schwerlich genau feststellen. So zeigte sich im Verlaufe der Diplomarbeit,
dass sich Gewichtsveränderungen besonders bei einer kurzen Einwirkzeit des
Lösemittels, auch bei deutlich größeren Probekörpern (7 cm x 7 cm) nur im
Bereich der dritten und vierten Dezimalstelle ablesen ließen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die von SALE publizierten Werte
zwar statistisch gesehen nicht verlässlich sind, jedoch wurde in dieser Arbeit die
Lösemittelempfindlichkeit der in Museumssammlungen vielfach vertretenen
Kunststoffe bewiesen und zahlreiche Restauratoren dadurch im Umgang mit
diesen Materialien sensibilisiert. Der weitreichende Einfluss dieser Arbeit lässt
sich anhand der zahlreichen Verweise auf die von SALE durchgeführten
Untersuchungen in der Literatur der folgenden Jahre nachvollziehen.
1998 befassten sich zwei Restaurierungsprojekte mit Objekten aus Weich-PVC
Folien. Ingeborg SMIT
99
untersuchte in ihrer Abschlussarbeit am Stichting
Restauratie Atelier Limburg ein Werk des niederländischen Künstlers Jos
Manders, Communicatie aus dem Jahr 1967, dass aus PUR Weichschaumstoff,
Spanplatten und weißer Weich-PVC Folie gefertigt wurde. Im Aufbau ihrer Arbeit
orientiert sich SMIT am Model voor Besluitvorming bij Conservering en
Restauratie van Moderne Kunst, dass als Decision Making Model auf der Tagung
und in der Publikation Modern art, who cares? vorgestellt wurde. Eingangs stellt
sie daher den Künstlers und sein Werk vor, wobei besonders auf die Bedeutung
des vom Künstler verwendeten Materials eingegangen wird. Im Anschluss werden
sechs Kunstwerke des Künstlers unter materialtechnologischen und
konservatorischen Gesichtspunkten näher vorgestellt. Zur Entwicklung des
Restaurierungskonzeptes werden die vom Künstler verwendeten Materialien
eingehend beschrieben, bevor mögliche Restaurierungsmaßnahmen unter
ethischen und technischen Gesichtspunkten diskutiert werden. Das von SMIT
vorgestellte abschließende Restaurierungskonzept basiert neben den zuvor
beschriebenen Überlegungen auf von ihr durchgeführte Versuche zur Reinigung.
99
Vgl. SMIT 1998
42. 42
Die am Objekt festgestellten Verschmutzungen wurden, insofern es sich um lose
aufliegenden Staub handelte, mechanisch mit Pinsel und Staubsauger entfernt, das
Objekt anschließend mit entmineralisiertem Wasser und Wattestäbchen gereinigt.
Stärkere Verschmutzungen konnten mit einprozentiger Tri-ammoniumcitratlösung
reduziert werden, die entsprechenden Stellen wurden mit entmineralisiertem
Wasser nachgereinigt. Auf weitergehende Reinigungsmaßnahmen, ins besonderes
auf Versuche die Vergilbungen der ursprünglich rein-weißen Folie zu mindern,
wurde verzichtet, da diese als ein Bestandteil der Patina des Kunstwerkes
betrachtet wurden. Die kleineren Beschädigungen der Folie auf der Vorderseite
wurden belassen, Risse auf der Rückseite wurden nach Voruntersuchungen des
Instituut Collectie Nederland (ICN) mit einem Isolierband aus einem PVC
Trägermaterial und einer Naturgummiklebeschicht gesichert, da ein vergleichbares
Material bereits vom Künstler zur Konstruktion des Werkes verwendet wurde.
Entsprechend des zur Zeit der Erstellung der Arbeit aktuellen Forschungsstandes
empfiehlt SMIT, das Objekt gut belüftet aufzubewahren, um die Ansammlung
schädlicher Gase, die zu autokatalytischen Prozessen führen könnten, zu
verhindern.
In den Conservation News berichtet Clare WARD
100
von der Restaurierung dreier
bemalter Rikscha Dekorationen aus Bangladesch aus Weich-PVC Folie, die für die
ethnographische Abteilung des British Museum 1987 erworben wurden.
Die Bemalung der Folien wurde mit ölbasierten Farben ausgeführt und die
Malschicht anschließend mit einer zweiten selbstklebenden Folie, die vermutlich
aus einem Polyesterträgermaterial mit einer Polyvinylacetat (PVAC)
Klebebeschichtung besteht, geschützt.
Die Rikscha Dekorationen befanden sich zum Zeitpunkt der Untersuchungen
in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls. Als Schäden wurden leichte
Oberflächenverschmutzungen, eine leichte Klebrigkeit der Oberfläche,
Verwerfungen und Verformungen der Folie und besonders Haftungsverluste der
Deckfolien und der Malschichten beschrieben. Gereinigt wurden die Objekte mit
destilliertem Wasser unter Auslassung der beschädigten Malpartien. Zum Festigen
der Malschichten wurde eine PVAC Dispersion verwendet, da sich Polyvinylacetat
durch die Klebefolie vermutlich bereits im Objekt befand.101
Die teilweise noch
haftende Deckfolie wurde mechanisch entfernt und separat aufbewahrt, um weitere
Beschädigungen des Objektes durch die unterschiedlich alternden Materialien in
Zukunft auszuschließen. Für die Depotaufbewahrung wurden die restaurierten
Rikscha Dekorationen in Rahmen aus säurefreiem Karton mit einer Zwischenlage
100
Vgl. WARD 1998
101
Verwendet wurde Vinamul 3252, dabei handelt es sich um ein Polyvinylacetat/Polyethylen
Co-Polymer. (Vgl. SHASHOUA 1999, S. 31)